Über den Autor:

 

Jean Rolin, geb. 1949, hat als Journalist 25 Jahre lang aus den Krisengebieten der Welt berichtet, aus dem belagerten Beirut ebenso wie von den Bürgerkriegen in Afrika oder im ehemaligen Jugoslawien. Als einer der großen Stilisten der französischen Literatur hat er für seine mehr als 15 Romane und Bücher u. a. den Prix Roger-Nimier, den Prix Valéry-Larbaud und zuletzt den Prix Médicis erhalten. Von seinem Bruder Olivier Rolin wurde 1998 im Berlin Verlag der Roman Meroe veröffentlicht.

ANMERKUNGEN UND ERLÄUTERUNGEN

 

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Das Fenster geht auf den Périphérique: die »Boulevard Périphérique« genannte Stadtautobahn von Paris, die die Stadt parallel zur Stadtgrenze ringförmig umgibt, an manchen Stellen genau entlang der Stadtgrenze, an anderen in einem geringen Abstand von ihr.

zwischen Porte de la Villette und Porte de Pantin: Alle Zugänge von Paris, die für Fahrzeuge oder Fußgänger unter oder über dem Autobahnring aus der Stadt hinaus- oder in die Stadt hineinführen, werden »Porte« genannt und tragen meistens den Namen der Straße oder der Vorstadt, an der sie liegen: »Porte de la Villette« und »Porte de Pantin« liegen im Nordosten von Paris, die eine zwischen dem Pariser Stadtviertel La Villette und der Vorstadt Aubervilliers, die andere zwischen La Villette und dem Vorort Pantin.

auf dem Périphérique extérieur/intérieur: »Périphérique extérieur« heißt die gegen den Uhrzeigersinn um Paris führende und an die Vorstädte grenzende Außenbahn des Autobahnrings, »Périphérique intérieur« die im Uhrzeigersinn um die Stadt führende und ihr zugewandte Innenbahn.

 

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die Grands Moulins de Pantin: im 19. Jahrhundert erbauter, großer industrieller Mühlenkomplex vor den Toren von Paris; in 24 einzelnen Mühlen wurde dort bis 2003 das Mehl für einen Teil der Pariser Bevölkerung gemahlen. Seit 2003 wird der Komplex unter Erhaltung der alten Industriearchitektur in moderne Büros umgebaut, an der Stelle der ehemaligen Silos entsteht eine »Nationale Hochschule für Musik und Tanz«.

die Tour Essor: ein 80 Meter hohes Bürohochhaus bei der Porte de Pantin im Nordosten von Paris.

die Zwillingstürme der Tours Mercuriales: ein 122 Meter hoher Bürokomplex, bestehend aus zwei parallel stehenden Hochhäusern mit je 33 Stockwerken, Tour Levant und Tour Ponant, an der Porte de Bagnolet im Osten von Paris.

die Kuppel des Zénith und das Flachdach der Cité des Sciences: Der »Zénith« ist eines der größten, vom französischen Kulturministerium geschaffenen Konzert- und Veranstaltungshäuser für Pop- und Rockkonzerte in Paris, die »Cité des Sciences« ein hochmodernes Technikmuseum; beide befinden sich auf dem Gelände des Parc de la Villette im Nordosten von Paris, der im Westen vom Canal Saint-Denis, im Süden von der Avenue Jean-Jaurès, im Osten und Norden von den parallel zum Périphérique verlaufenden Boulevards Sérurier und Macdonald begrenzt wird.

mit den Gleisen, die zur Gare de l’Est führen: Die Gare de l’Est ist der Pariser Ostbahnhof, ein Kopfbahnhof für die Züge nach Reims, Nancy, Metz, Straßburg und Süddeutschland.

 

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einer seiner Mitgefangenen in der Conciergerie: ein zum »Palais de la Cité« auf der Pariser Seine-Insel Île de la Cité gehörendes Gebäude, im 14. Jahrhundert Sitz der französischen Könige, heute Justizpalast; vor und vor allem während der Revolution, aber auch nach der Restaurationszeit wurde es als Gefängnis genutzt (zu den berühmtesten Gefangenen zählen Marie Antoinette, Danton, Robespierre, Napoleon III. u. a.).

 

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die Silhouette der Kirche des Val-de-Grâce: 1621 von der französischen Königin Anna-Maria von Österreich gegründete Abtei, unter Ludwig XIV. durch Konvent und Kirche erweitert, die während der Französischen Revolution zu einem Militärhospital umgewandelt wurde; heute die größte Universitätsklinik der französischen Armee, in der ggf. auch der französische Präsident behandelt wird.

 

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über den unbedachten Bahnsteigen der Linie B des RER: Der »Reseau Express Régional« ist ein S-Bahn-Netz mit vier Hauptlinien (A bis D), die Paris durchqueren und mit den Vorstädten der »Banlieue«, dem Speckgürtel der Metropole, verbinden.

 

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von da an nehmen die HBM-Bauten: Von den achtziger Jahren des 19. bis zu den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden in Paris rund 200 000 Sozialwohnungen im Rahmen des Programms »Habitations à Bon Marché«. Von ihrer Lage und Architektur her sind die HBM-Blöcke bis heute sehr präsent im Stadtbild. Die wichtigsten Gebäudekomplexe wurden nahe den früheren Befestigungswällen um Paris gebaut, außerdem entlang der großen innerstädtischen Straßen, der Boulevards und des Périphérique. Das Viertel Charles-Hermite, das in den zwanziger Jahren im 18. Arrondissement zwischen Porte de la Chapelle und Porte d’Aubervilliers entlang des Boulevard Ney errichtet wurde, bietet ein gutes Beispiel für diesen Bebauungstyp: Er besteht aus sechsstöckigen Mietshäusern, die dreieckige Innenhöfe einschließen.

 

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unter Ausschluss aller anderen Abschnitte des Boulevard extérieur: Noch vor dem »Boulevard Périphérique«, aber parallel zu diesem, in einem mal geringeren, mal größeren Abstand, wird Paris von einer weiteren Ringstraße umgeben, die »Boulevard extérieur« heißt (obwohl sie im Verhältnis zum Périphérique »intérieur« also innen liegt) und aus vielen sich aneinanderreihenden Boulevards besteht; da die meisten von ihnen nach den Marschällen Napoleons benannt sind, spricht man häufig auch vom »Boulevard des Maréchaux«.

 

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an der Bushaltestelle des PC3: Der gesamte »Boulevard extérieur« wird von drei Pariser Stadtbuslinien befahren; der Stadtbus PC3, »Petite Ceinture 3«, fährt den nördlichen Teil des Boulevard extérieur ab, von der Porte de Champerret bis zur Porte des Lilas und zurück.

 

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Triumphgeschrei brandete aus dem Grande Stade hoch: Gemeint ist das »Stade de France«, das nördlich von Paris im Stadtteil La Plaine-Saint-Denis liegt und in dem 1998 das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft stattfand. Von dort fährt man auf der Autobahn A1 über die Porte de la Chapelle direkt ins Stadtzentrum von Paris.

 

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oben auf der Tour Pleyel: Das 143 Meter hohe Hochhaus am Carrefour Pleyel im Vorort Saint-Denis hat 28 Stockwerke, ist rundum aus 3 Kilometer Entfernung und damit von ca. 1 Million Menschen zu sehen. Auf dem Dach dreht sich Europas größtes Werbeschild, ein Dreieck mit drei Flächen von je 34 Metern Breite und 5,20 Metern Höhe, seit einigen Jahren prangt dort der blaue Schriftzug von Siemens.

 

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»Freiheit für Jacques Duclos und alle anderen gefangenen Patrioten«: Jacques Duclos (1896–1975), Mitbegründer des PCF (Parti Communiste Français), Mitglied der Komintern, legendärer Widerstandskämpfer, linientreuer Kommunist und zeitweiliger Generalsekretär der Partei.

beehrte Jacques Duclos zusammen mit Madeleine Riffaud den Eugène-Varlin-Jugendkreis des UJCF: Madeleine Riffaud (geb. 1924), Dichterin und Heldin der Pariser Résistance, besuchte in den sechziger Jahren gemeinsam mit Jacques Duclos Vietnam; beide berichteten von ihrer Reise auf Veranstaltungen des kommunistischen Jugendverbands UJCF (Union des Jeunesses Communistes de France).

 

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der kolossale Bäckermeister: Jacques Duclos, mit einer Körpergröße von 1 Meter 49 alles andere als ein Koloss, war von Beruf Konditor und führte von 1925 bis 1939 die Bäckergewerkschaft.

wurde Saïd zu einem Harki: Algerier, die in den Reihen der französischen Armee kämpften, wurden »Harkis« genannt.

hat er ein Buch geschrieben: Das Buch Un enfant dans la guerre (»Ein Kind im Krieg«) von Saïd Ferdi erlebte noch zwei Taschenbuchausgaben und wurde 2002 neu herausgegeben.

 

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gegenüber dem PMU-Wettlokal: Der »Pari Mutuel Urbain« ist eine 1930 gegründete staatliche Wettgesellschaft, heute Europas größter Anbieter von Pferdewetten mit 9400 Annahmestellen, 6800 Wettlokalen und einem Jahresumsatz von über 8 Milliarden Euro.

 

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die er als seinen »Salon d’été«, seinen Sommersalon, bezeichnet: euphemistische Bezeichnung der Franzosen für das Ensemble von einem Tisch und ein paar Stühlen, meist aus Plastik, das auf einem Balkon, einer Terrasse, irgendwo im Garten oder, besonders häufig, vor einem Wohnwagen steht.

 

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in einem Licht à la Claude Gelée: wie auf den Landschaftsbildern des Malers Claude Gelée, genannt Le Lorrain, weil er aus Chamagne in Lothringen stammte.

die Sonne hinter den Gebäuden der Magasins Généraux: großer Komplex von Lager- und Speicherhallen am nördlichen Stadtrand von Paris, gebaut im 19. Jahrhundert für Lebensmittel und Industrieprodukte, die sowohl über den Canal Saint-Denis wie über verschiedene Eisenbahnlinien geliefert wurden. In jüngster Vergangenheit hat man die Stahl-und Backsteingebäude renoviert, und nun beherbergen sie zahlreiche Handels- und Dienstleistungsunternehmen, vor allem aus dem Bereich der audiovisuellen Medien.

 

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den wir, um seine Anonymität zu wahren, Robert Lepieux nennen wollen: »Lepieux« ist ein »sprechender« Name, »le pieux« heißt auf Deutsch »der Fromme«.

 

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von einer EDF/GDF-Kolonne: »Électricité de France« und »gaz de France« waren zwei staatliche Unternehmen der Energieversorgung: Während die EDF Strom sowohl produziert als auch liefert und Netze betreibt, war die GDF Lieferant und Netzbetreiber von Erdgas; da beide Unternehmen viele Dienstleistungen im Verbund anbieten, werden sie in der Öffentlichkeit häufig als ein Unternehmen wahrgenommen; 2006 fusionierte die GDF mit dem Gasunternehmen Suez zum größten Gaslieferanten der Welt, an dem der französische Staat noch einen Anteil von ca. 35 Prozent hält.

 

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wie sich der Boulevard Sérurier zur Cité de la Musique (…) neigt: Die »Cité de la Musique« ist ein der Musik gewidmetes Kulturzentrum an der Porte de Pantin im Parc de la Villette, das Konzertsäle, ein Museum, Ausstellungsräume und eine große Mediathek beherbergt. Neben musikwissenschaftlichen und pädagogischen Projekten umfasst das Zentrum auch einen Musikverlag.

 

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die Teilnehmer am Fest von Lutte ouvrière: »Lutte ouvrière« (LO), wörtl. »Arbeiterkampf«, ist eine der beiden größten trotzkistischen Parteien Frankreichs, hervorgegangen in den sechziger Jahren aus den Nachfolgeorganisationen der IV. und der V. Internationale; ihre langjährige Führerin, Arlette Laguiller, hat bei einigen Präsidentschaftswahlen einen Stimmenanteil von über 5 Prozent erreicht; alljährlich zu Pfingsten veranstalt LO in der Umgebung von Paris ein großes Fest, zu dem viele Linke aus ganz Europa anreisen und das regelmäßig bis zu 50 000 Besucher zählt.

um gemeinsam nach Presles zu fahren: »Presles« ist ein kleiner Ort ungefähr 35 Kilometer nördlich von Paris an der Oise.

 

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der Zeilenschinder der Renseignements Généraux: Die »Renseignements Généraux« sind ein französischer Inlandsgeheimdienst, der nicht zum Militär gehört, sondern der Polizei unterstellt ist.

 

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um den Cassoulet zu bekommen: »Cassoulet« ist ein typisches Eintopfgericht aus dem Süden oder Südwesten Frankreichs mit weißen Bohnen, Speck und, je nach Region und Spezialität, Schweinefleisch, Lammfleisch, Ente, Gans oder Würstchen.

 

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Am Tag der »Fête de la Musique«: Seit 1982 findet auf Initiative des damaligen Kulturministers Jack Lang in vielen französischen Städten jedes Jahr zum Sommeranfang am 21. Juni ein Musikfest statt, bei dem professionelle Musiker ebenso wie Amateurmusiker kostenlos Konzerte auf Straßen und Plätzen geben – eine Idee, die sich mittlerweile über den ganzen Globus ausgebreitet hat und in mehr als hundert Ländern, darunter auch in vielen deutschen Städten, nachgeahmt wird.

 

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die dreifarbigen Rauchschwaden der Patrouille de France: Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe, die am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, zur großen Militärparade auf den Champs-Élysées über Paris donnert und Kondensstreifen in Blau, Weiß, Rot, den Farben der Trikolore, am Himmel hinterlässt.

 

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über dem Eingang zum Grand Garage des Abbatoirs: Gemeint ist die große Halle der Schlachthöfe im Nordosten von Paris.

 

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eine Art Mauer der Föderierten: Mauer auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris, vor der die Aufständischen der Pariser Commune erschossen wurden.

 

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im Fernsehen hat sich Das Irrlicht längst die Kugel gegeben: Film von Louis Malle (1963) nach dem gleichnamigen Roman von Pierre Drieu La Rochelle, in dem sich der Protagonist am Ende umbringt.

 

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OFPRA, das Französische Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Heimatlosen: Der OFPRA, Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides, ist vergleichbar mit dem deutschen BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

 

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geht Lito zunächst nach Colombes: Vorort im Nordwesten von Paris, an der Seine gelegen.

 

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Villepinte, alles beschauliche Ecken und leicht zu erreichen: Die Pariser Vororte Gonesse und Villepinte liegen in unmittelbarer Nähe des Flughafens Charles-de-Gaulle im Nordosten, Asnières im Nordwesten von Paris; von der Porte de Clignancourt aus liegen sie alle nicht gerade um die Ecke.

 

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Die Nacht bricht an, »die kleinen Löcher« werden immer mehr: Anspielung auf den Refrain in Serge Gainsbourgs Chanson über den Fahrkartenknipser (Le Poinçonneur de Lilas), der immerzu kleine Löcher knipst: »J’fais des trous, des p’tits trous, encor des p’tits trous, / Des p’tits trous, des p’tits trous, toujours des p’tits trous«.

 

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beim Bohnenlesen für William Saurin: Unter dem Markennamen William Saurin werden Lebensmittelkonserven hergestellt und vertrieben.

 

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durch den Gitterzaum der SNCF: die staatliche französische Eisenbahngesellschaft »Société Nationale des Chemins de fer Français.

 

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wird im Shaba-Krieg an die Front geschickt: Genau genommen waren es zwei Shaba-Kriege, der erste vom 8.3. bis 26.5.1977, der zweite vom 12. 5. bis 30. 5. 1978, durch die der FLNC (Front de Libération Nationale Congolais) von Angola aus versuchte, die wirtschaftlich bedeutendste Region Zaires, Shaba, zu erobern und dadurch das Mobutu-Regime zu stürzen (was in beiden Kriegen misslang).

 

 

 

Wenige Stunden vor Ende des 20. Jahrhunderts steht der Mann mit einer Zigarette zwischen zwei Fingern der linken Hand ein Stück zurückversetzt am offenen Fenster des Zimmers 611. Das Fenster geht auf den Périphérique* hinaus, genauer gesagt, auf die Kurve – ein leicht abgerundeter rechter Winkel –, die der Périphérique zwischen Porte de la Villette und Porte de Pantin* beschreibt.

Die Fahrzeuge, die auf dem Périphérique extérieur* aus der Kurve kommen oder auf dem Périphérique intérieur* in die Kurve einbiegen, fahren gleichmäßig mit erhöhter Geschwindigkeit, ohne zu stocken: Der Verkehr fließt.

Von der Autobahn steigt ein dumpfes und eintöniges Dröhnen auf, als Einziges sticht gelegentlich das Röhren der Motorräder mit großem Hubraum aus der unterschiedslosen Geräuschkulisse hervor.

Die Außentemperatur liegt einige Grade über dem jahreszeitlichen Durchschnitt, aber das ist heutzutage eine so häufige Erscheinung, dass man es für die neue Norm halten kann.

Von der Position aus, die der Mann an diesem Sonntag, dem 31. Dezember 2000, gegen drei Uhr nachmittags im sechsten Stock des Hotels Villages einnimmt, etwas zurückversetzt am offenen Fenster, könnte er, wenn er ein Gewehr mit Zielfernrohr sowie ein volles Magazin mit Patronen von hoher Durchschlagskraft hätte und damit umzugehen wüsste, nahezu unfehlbar den Fahrer eines jeden Fahrzeugs erschießen, das über den Périphérique rollt. Das Panorama, das er vor sich sieht, wenn er sich so weit aus dem Fenster lehnt, dass er beinahe das Gleichgewicht verliert, erstreckt sich vom Kampanile des alten Rathauses von Pantin bis zum rauchenden Kamin der Müllverbrennungsanlage von Saint-Ouen. Zwischen diesen beiden Polen streift sein Blick von Ost nach West nacheinander über die Sendemasten von Romainville, die Grands Moulins de Pantin*, die Tour Essor* oberhalb des Jules-Ladoumègue-Stadions, dahinter in der Ferne über die oberen Stockwerke des Robert-Debré-Krankenhauses und die Zwillingstürme der Tours Mercuriales* bei der Porte de Bagnolet sowie, näher gelegen, über die Kuppel des Zénith und das Flachdach der Cité des Sciences*, dann über die Orgelpfeifen-Hochhäuser an der Avenue de Flandre, die Eisenbahnbrücke über die Avenue Corentin-Cariou mit den Gleisen, die zur Gare de l’Est führen*, die großen Blöcke des Hochhausviertels Curial-Cambrai mit ihren sonderbaren Fensteröffnungen, die Basilika Sacré-Coeur, das allein stehende Hochhaus an der Rue des Fillettes, die beiden sich gegenüberstehenden Hochhäuser am Boulevard Ney, Ecke Rue de la Chapelle, und schließlich über die Leuchtreklamen, die sich von der Porte d’Aubervilliers bis zur Porte de Clichy zu beiden Seiten des Périphérique hinziehen. Durch die Perspektive eingeebnet, verschwimmt am Ende die ganze Außenwerbung und verschwindet schließlich ebenso wie die Stadtautobahn mit ihren Fahrzeugen in einem von der Neonreklame rot gefärbten Dunst aus Abgasen.

 

 

 

So, im unzureichenden Schein einer Antiklampe, die einen grellen Lichtkegel aus dem Schatten schnitt, der sich immer mehr zu einer dunklen Masse verdichtete, je mehr Zeit verging, beugte ich mich über das unvollendete Werk von General Henri Bonnal: drei am Vorabend des Ersten Weltkriegs veröffentlichte Quartbände, gewidmet der militärischen Laufbahn Marschall Neys, des Herzogs von Elchingen und Fürsten von der Moskwa (La Vie militaire du maréchal Ney, duc d’Elchingen, prince de la Moskova). Lesen wäre zu viel gesagt: Ich überflog die Seiten, häufig zerstreut, denn General Bonnal war ein ziemlicher Kotzbrocken. Wie ich im Übrigen feststellte, waren nur bei zweien der drei Bände aus der Bibliothek der Fondation Thiers die Seiten aufgeschnitten, und das, obwohl die Leser vor mir mit dem militärischen Schrifttum wahrscheinlich viel vertrauter waren als ich.

Michel Ney kam am 10. Januar 1769 – im selben Jahr wie Napoleon Bonaparte – in Saarlouis zur Welt. Sein Vater war Böttcher, zuvor hatte er allerdings unter Friedrich II. gedient und am Siebenjährigen Krieg teilgenommen. Fest steht auch, dass in der Familie Deutsch gesprochen wurde (um dies einzuräumen, braucht Bonnal fast einhundert12 fünfzig Seiten, und es muss ihm wirklich schwergefallen sein, zumal Elsass und Lothringen damals noch unter das Joch gebeugt waren). Da er für das Studium wenig begabt war, versuchte sich Michel Ney nacheinander im Metier eines Kontoristen und eines Aufsehers in einer Eisenhütte, bevor er mit neunzehn Jahren in ein Husarenregiment eintrat, das in Metz Quartier bezogen hatte.

Sechs Jahre später, nachdem er als Hauptmann in der Armee Klébers vor den Toren von Mainz verwundet worden war, hob ihn der Volksrepräsentant bei der Rheinarmee, Merlin de Thionville, in den Rang eines Brigadegenerals, was Ney zuerst ablehnte, weil er sich, ob aus Koketterie oder echtem Skrupel, für unwürdig hielt (dieselbe Komödie spielte er noch einmal, als ihn das Direktorium nach der Kapitulation von Mannheim 1799 zum Divisionsgeneral ernannte).

Über die Verwundung, die Ney bei der Belagerung von Mainz davongetragen hatte, erzählt Bonnal, Kléber, Merlin und weitere Kameraden seien nach Neys Rückkehr ins Feldlager, als dieser in tiefe Apathie verfallen war, auf die Idee gekommen, Musiker und Mädchen aus einem Nachbardorf zu holen, die an seinem Krankenbett eine Farandole tanzten, bis »Ney wieder besserer Stimmung war und sich den Ärzten überließ«.

Einundzwanzig Jahre später spielte Ney laut Lavalette – im Kaiserreich Generalpostmeister, nun einer seiner Mitgefangenen in der Conciergerie* – wenige Tage vor seiner Hinrichtung in seiner Zelle Flöte. Und zwar »recht gut«, wie Lavalette bemerkt, aber: »Das Instrument wurde ihm unter dem Vorwand weggenommen, es widerspreche der Hausordnung.« Und der Generalpostmeister fügt noch hinzu: »Er liebte es, eine Walzermelodie zu üben, an die ich mich noch lange Zeit erinnern konnte (…). Ich hatte sie nie woanders gehört, nur in Bayern ist sie mir einmal wieder begegnet: bei einem Tanzfest auf dem Lande, am Ufer des Starnberger Sees, als vor meinen Augen junge Bäuerinnen ihre Füße zu einer sanften und melancholischen Melodie fröhlich auf einen frischgemähten Rasen setzten.«

Das Zeugnis General Bonnals mag unzuverlässig sein, und das Lavalettes in einem geringeren Maß ebenso, mir gefällt, dass der eine wie der andere Tanz und Volksmusik an Neys Bett bescheinigen, zuerst vor den Mauern der Stadt Mainz zu einem Zeitpunkt, da sein Schicksal Gestalt annahm, dann hinter den Mauern der Conciergerie, als sein Schicksal besiegelt war. Denn dieser ein wenig kindische musikalische Hintergrund deutet, fernab von jeder Vorstellung, die man sich von einem Marschall des Kaiserreichs macht, zumindest auf einen der Gründe hin, warum ich ausgerechnet für ihn eine Schwäche habe. In den Jahren von der Revolution über das Kaiserreich bis zur Restauration waren tragische Schicksale nicht gerade selten. Bettelkind zu sein, die höchsten Ruhmesgipfel zu erklimmen und vor einem Exekutionskommando zu enden, selbst dieses Schicksal teilt er schon mit einem weiteren aus dem nicht sehr zahlreichen Club der Marschälle Napoleons (Marschall Brune nicht mitgezählt, der in Avignon vom royalistischen Pöbel ermordet und in die Rhone geworfen wurde). Aber es gibt bei Ney vielleicht noch mehr als bei Murat einen Hang zum Theatralischen und Operettenhaften, etwas, das sich sein Leben lang in unangebrachten Entscheidungen und Kehrtwendungen, Wutanfällen, Schmollen, Erschütterungen, Verweigerungen ausdrückte, etwas, das seiner Frau Églé gut bekannt gewesen sein musste und das sie am Vorabend seiner Hinrichtung als Letztes in die Waagschale warf, als sie sich bei einem Pair de France für ihren Ehemann verwendete mit den Worten, er sei »trotz seines Muts, trotz all seiner Siege« eigentlich »immer nur ein schwacher Mann und ein Kind gewesen«.

Das Kind, das der Ton seiner Flöte lenkt, der schwache Mann, der beim Rückzug aus Russland mit einer Kohorte von Gespenstern als Letzter die Memel überquert, der am Abend von Waterloo in seinem zerschlissenen Soldatenmantel das Schlachtfeld abschreitet, das Gesicht vom Pulver geschwärzt, das waren die Bilder, die mich bei der trockenen Lektüre General Bonnals und dem ziemlich weit gefassten und wirren Vorhaben lenkten, aus dem Blickwinkel des Boulevards, der seinen Namen trägt, über Marschall Ney zu schreiben. Oder, was (zumindest in Bezug auf das Ausmaß der Verwirrung) auf dasselbe hinausläuft, über den Boulevard zu schreiben, der die Porte de Saint-Ouen mit der Porte d’Aubervilliers verbindet, aber aus dem mutmaßlichen Blickwinkel Marschall Neys.

 

 

 

Die Bibliothek befindet sich im zweiten Stock jenes herrschaftlichen Hauses, das, einst im Besitz von Adolphe Thiers, während der Pariser Commune niedergebrannt und später wieder aufgebaut worden war. Auf halber Höhe der Treppe steht auf einem Postament eine Gloria Victis betitelte Skulptur, die eine allegorische Figur darstellt. Diese stützt eine andere, die verwundet ist und in der rechten Hand einen abgebrochenen Säbel hält (in derselben Pose, einen abgebrochenen Säbel am ausgestreckten Arm schwingend, war mir in den siebziger Jahren das Denkmal Marschall Neys erschienen, das man am Platz seiner Hinrichtung aufgestellt hat). Der Lesesaal verfügt an den beiden gegenüberliegenden Seiten eines langen Tisches nur über ungefähr zwanzig Plätze. Im Allgemeinen gibt es hier kein Gedränge. Von einer Seite bekommt der Saal Tageslicht durch ein Fenster, das auf herabhängendes Astwerk hinausgeht – es erinnert an das Geäst einer Trauerweide, ist aber kräftiger –, da ich die Bibliothek jedoch nur in den Herbst- oder Wintermonaten besuchte, habe ich den Baum immer nur kahl gesehen. Am anderen Ende des Saals geht ein zweites Fenster hinaus auf die Place Saint-Georges und auf die mit Guillochen ver zierte Fassade eines Gebäudes, in dem angeblich Gauguin gewohnt hat.

Zu den Werken, die ich neben den Erinnerungen General Bonnals am häufigsten zu Rate zog, gehörte eines jüngeren Datums, das Jean-Léon Gerôme gewidmet ist, einem Orient- und Historienmaler des 19. Jahrhunderts. Das am wenigsten dekorative und schlichteste Gemälde Gerômes, das einzige, das streng genommen an Manet heranreichen könnte, von dem ihn ansonsten alles trennt, stellt die Hinrichtung Marschall Neys dar, die unerwartet schnell am 7. Dezember 1815 kurz nach neun Uhr morgens stattfand.

Tatsächlich zeigt das Gemälde, heute im Besitz der städtischen Museen von Sheffield in Großbritannien, nicht die Hinrichtung, sondern die Situation unmittelbar danach. In einen schwarzen Mantel gekleidet liegt der Hingerichtete mit dem Gesicht am Boden vor einer Mauer, die vermutlich den Garten des Restaurants La Chartreuse begrenzte, sein ebenfalls schwarzer Zylinder ist ein paar Schritte weiter gerollt. Über der Mauer zeichnet sich in der Ferne dunkelgrau am bräunlichen Himmel die Silhouette der Kirche des Val-de-Grâce* ab. Die Kleidung des Toten, zivil und ziemlich schick, ebenso wie das fahle Morgenlicht, das fehlende Drumherum oder die Nähe eines viel besuchten Restaurants erinnern eher an die Umstände eines Duells, und nur die auf der linken Seite in der Rückenansicht aus dem Bild marschierende Gruppe von Soldaten mit geschulterten Gewehren, die sich anschickt, das Gelände zu verlassen, legt den Schluss nahe, dass der Staat für diese Tötung verantwortlich ist und es sich folglich um eine Vollstreckung der Todesstrafe handelt.

Aufgrund der Veränderungen, die das Viertel rund um das Pariser Observatorium seit 1815 erfuhr, ist die Suche nach dem genauen Ort der Hinrichtung heute dem Zufall überlassen. Wahrscheinlich ist der Ort verschwunden oder hat zumindest jede materielle Basis verloren und schwebt nun am Bahnhof Port-Royal über den unbedachten Bahnsteigen der Linie B des RER *.

Das Denkmal für Ney, ein von Rude geschaffenes und 1853 eingeweihtes Standbild, wurde in der Zwischenzeit auf die andere Seite des Boulevard Montparnasse auf den Vorplatz der Closerie des Lilas versetzt, wo ich in den siebziger und achtziger Jahren so oft und manchmal in einem so veränderten Bewusstseinszustand an ihm vorbeigegangen bin, dass man vielleicht auch darin eine Ursache meiner Vorliebe für den Flötenspieler sehen muss.

 

 

 

Den ganzen Boulevard entlang tragen nur zwei Bistrots den Namen des Marschalls: das erste an der Ecke zur Avenue de Saint-Ouen, das zweite am Rand der Cité Charles-Hermite. Man könnte noch die Lagerhallen zwischen der Porte de la Chapelle und der Porte d’Aubervilliers dazunehmen, die zum Logistikkonzern Geodis gehören. In der Avenue de la Porte-de-Montmartre betreibt ein Stadtteilverein ein Café unter dem Namen Le Petit Ney, und genauso heißt auch eine Zeitung, die der Verein herausgibt.