Alice Munro

Tanz der seligen
Geister

Fünfzehn Erzählungen

Aus dem Englischen
von Heidi Zerning

DÖRLEMANN

Die Originalausgabe »Dance of the Happy Shades« erschien
1968 bei The Ryerson Press in Toronto.


eBook-Ausgabe 2012
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 1968 by Alice Munro
© 2010 by Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer
Fotografie von David E. Perry
Porträt von Alice Munro: © Derek Shapton
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN epub 978-3-908778-02-8
ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-908777-55-7

www.doerlemann.com

>Munro.jpeg

Alice Munro

Der Walker Brothers-Cowboy

Nach dem Abendbrot sagt mein Vater: »Magst du runtergehen und nachschauen, ob der See noch da ist?« Wir lassen meine Mutter unter der Esszimmerlampe nähen, Sachen für mich zum Schulanfang. Sie hat dafür ein altes Kostüm und ein altes kariertes Wollkleid von sich aufgetrennt, sie muss sehr geschickt zurechtschneiden und zusammenheften, und ich muss für endlose Anproben dastehen und mich umdrehen, die warme Wolle juckt, ich schwitze und bin undankbar. Wir lassen meinen Bruder im Bett in dem kleinen Wintergarten auf der vorderen Veranda, und manchmal kniet er auf seinem Bett, presst das Gesicht ans Fliegengitter und ruft traurig: »Bring mir eine Eistüte mit!«, aber ich rufe zurück: »Dann schläfst du schon«, und drehe nicht mal den Kopf um.

Dann gehen mein Vater und ich gemächlich eine lange, ärmliche Straße entlang. Silverwoods Ice Cream-Schilder stehen auf dem Bürgersteig vor winzigen, erleuchteten Geschäften. Wir sind in Tuppertown, einem alten Getreidehafen am Huron-See. Die Straße ist an manchen Stellen schattig, da, wo Ahornbäume wachsen, deren Wurzeln den Bürgersteig aufgeworfen und gesprengt haben und sich wie Krokodile in die kahlen Vorgärten hinstrecken. Leute sitzen draußen, Männer in Hemdsärmeln oder Unterhemden und Frauen in Kittelschürzen – keine Leute, die wir kennen, aber wenn jemand uns zunickt und »Warmer Abend« sagt, dann nickt mein Vater auch und erwidert etwas in derselben Art. Kinder spielen noch. Die kenne ich auch nicht, denn meine Mutter lässt meinen Bruder und mich nur in unserem Garten spielen, sie sagt, er ist noch zu klein für draußen und ich muss auf ihn aufpassen. Es macht mich gar nicht besonders traurig, ihren abendlichen Spielen zuzusehen, denn diese Spiele sind zerfasert, lösen sich auf. Die Kinder trennen sich freiwillig, bilden allein oder zu zweit Inseln unter den alten Bäumen und gehen so einsamen Beschäftigungen nach, wie ich es den ganzen Tag lang tue, pflanzen Steinchen in den Sand oder schreiben darin mit einem Stöckchen.

Jetzt lassen wir diese Häuser hinter uns, wir kommen an einer Fabrik mit vernagelten Fenstern vorbei, an einem Holzhandel, dessen hohes Tor für die Nacht abgeschlossen ist. Dann zieht sich die Stadt zurück und zerfällt in ein Durcheinander aus Schuppen und kleinen Schrottplätzen, der Bürgersteig verendet, und wir gehen auf einem Sandweg weiter, mit Kletten, Wegerich und namenlosem, niedrigem Unkraut ringsum. Wir betreten ein leeres Grundstück, eigentlich so etwas wie ein Park, denn Abfälle werden weggeräumt und es gibt eine Bank, in deren Lehne eine Bohle fehlt, einen Platz, um sich hinzusetzen und aufs Wasser zu schauen. Das am Abend meistens grau ist, unter einem leicht bedeckten Himmel, keine Sonnenuntergänge, der Horizont verschwommen. Ein ganz leises Plätschern auf den Steinen am Ufer. Ein Stück weiter, zur Stadtmitte hin, ist ein Sandstrand, eine Wasserrutsche, Bojen, die um den geschützten Badebereich tanzen, der wacklige Thron eines Bademeisters. Auch ein langgestreckter dunkelgrüner Bau wie eine überdachte Veranda, er heißt Der Pavillon und ist sonntags voller Farmer und ihrer Frauen in ihrem steifen Staat. Das ist der Teil der Stadt, den wir früher kannten, als wir in Dungannon wohnten und im Sommer drei oder vier Mal hierherkamen, an den See. Dieser Teil und die Docks, zu denen wir gingen, um die schlingernden Getreideschiffe zu betrachten, so uralt und verrostet, dass wir uns fragten, wie sie es am Wellenbrecher vorbeischafften, geschweige denn bis nach Fort William.

Landstreicher lungern an den Docks herum, und gelegentlich stiefeln sie an diesen Abenden am Strand entlang, klettern dann, sich an verdorrtem Gesträuch festhaltend, den veränderlichen, riskanten Pfad hoch, den Jungs gebahnt haben, und sagen etwas zu meinem Vater, das ich, da ich mich vor Landstreichern fürchte, vor lauter Angst nicht mitbekomme. Mein Vater sagt, dass er selbst knapp bei Kasse ist. »Ich kann Ihnen eine Zigarette drehen, wenn Ihnen das was nützt«, sagt er, und er schüttet behutsam Tabak auf ein hauchdünnes Blättchen, leckt es an, klebt es zu und gibt es dem Landstreicher, der es nimmt und weitergeht. Mein Vater dreht auch für sich eine Zigarette und raucht sie.

Er erzählt mir, wie die Großen Seen entstanden sind. Überall, wo jetzt der Huron-See ist, sagt er, war früher flaches Land, eine weite, flache Ebene. Dann kam das Eis, kroch aus dem Norden herunter und schob sich weit vor in die tiefer gelegenen Stellen. So – er demonstriert es und drückt seine Hand mit gespreizten Fingern auf den harten Boden, auf dem wir sitzen. Seine Finger hinterlassen kaum einen Abdruck, und er sagt: »Na ja, in der guten alten Polkappe steckte eben wesentlich mehr Kraft als in meiner Hand.« Und dann ging das Eis zurück, zog sich zum Nordpol zurück, von dem es gekommen war, hinterließ seine Eisfinger in den Senken, die es sich gegraben hatte, deren Eis wurde zu Seen, und da sind sie also jetzt. Sie sind jung, zeitlich gesehen. Ich versuche, diese Ebene vor mir zu sehen, Dinosaurier, die herumspazieren, aber ich kann mir nicht einmal das Seeufer vorstellen, als die Indianer hier lebten, vor Tuppertown. Der winzige Anteil, den wir an der Zeit haben, erschreckt mich, auch wenn mein Vater ihn mit Gelassenheit zu betrachten scheint. Sogar mein Vater, der mir manchmal so vorkommt, als sei er von Anbeginn der Welt in ihr zu Hause, hat in Wirklichkeit nur ein klein bisschen länger gelebt als ich, im Vergleich zur Gesamtheit des Lebens auf der Erde. Er hat ebenso wenig wie ich eine Zeit gekannt, in der es noch keine Automobile und kein elektrisches Licht gab. Er war noch nicht am Leben, als dieses Jahrhundert begann. Ich werde kaum noch am Leben sein – alt, uralt –, wenn es endet. Ich mag nicht daran denken. Ich wünsche mir, dass der See immer nur ein See bleibt, mit seinen Bojen, dem Wellenbrecher und den Lichtern von Tuppertown.

Mein Vater arbeitet als Vertreter für Walker Brothers. Das ist eine Firma, die fast ausschließlich auf dem Lande verkauft, im Hinterland. Sunshine, Boylesbridge, Turnaround – das gehört alles zu seinem Gebiet. Dungannon, wo wir früher gewohnt haben, nicht, Dungannon liegt zu nah bei der Stadt, und dafür ist meine Mutter dankbar. Er verkauft Hustensaft, Eisentinktur, Hühneraugenpflaster, Abführmittel, Tabletten gegen Frauenbeschwerden, Mundwasser, Shampoo, Einreibemittel, Heilsalben, Zitronen-, Apfelsinen- und Himbeersirup für Erfrischungsgetränke, Vanille, Speisefarben, schwarzen und grünen Tee, Ingwer, Nelken und andere Gewürze, Rattengift. Er hat ein Liedchen darüber gemacht, mit folgenden beiden Zeilen:



Furunkel, Kropf und Wespenstich,

Die Kur für all das hab nur ich.

Kein sehr komisches Lied, fand meine Mutter. Das Lied eines Hausierers, und genau das ist er, ein Hausierer, der an die Küchentüren von Hinterwäldlern klopft. Bis zum letzten Winter hatten wir unser eigenes Unternehmen, eine Fuchsfarm. Mein Vater züchtete Silberfüchse und verkaufte ihre Felle an Leute, die daraus Mäntel, Stolen und Muffe anfertigten. Die Preise fielen, mein Vater machte weiter und hoffte, dass sie im nächsten Jahr wieder stiegen, aber sie fielen weiter, und er machte noch ein Jahr weiter und noch eins, und schließlich war es nicht mehr möglich, weiterzumachen, wir schuldeten alles der Futtermittelfirma. Ich habe meine Mutter das mehrere Male Mrs. Oliphant erklären hören, die einzige Nachbarin, mit der sie redet. (Mrs. Oliphant war auch einmal etwas Besseres, eine Lehrerin, die dann den Pedell heiratete.) Wir gaben alles hinein, was wir hatten, sagt meine Mutter, und es ist uns nichts geblieben. Viele Menschen könnten das in diesen Zeiten sagen, aber meine Mutter hat keine Augen für die nationale Katastrophe, nur für unsere. Das Schicksal hat uns in eine Straße der armen Leute verschlagen (es spielt keine Rolle, dass wir auch davor schon arm waren, das war eine andere Art von Armut), und sie kann das nur auf ihre Weise hinnehmen, mit Würde, verbittert, unversöhnlich. Kein Badezimmer mit löwenfüßiger Badewanne und Wasserklosett wird sie darüber hinwegtrösten, nicht das fließende Wasser aus dem Hahn, der Bürgersteig vor dem Haus und die Milch in Flaschen, nicht einmal die beiden Kinos, das Restaurant Venus und die prächtige Woolworth-Filiale, wo in von Ventilatoren gekühlten Ecken richtige Vögel singen und in grünen Aquarien Fische schwimmen, so winzig wie Fingernägel und so leuchtend wie Monde. Meine Mutter kümmert das nicht.

Nachmittags geht sie oft ins Lebensmittelgeschäft Simon und nimmt mich mit, damit ich ihr tragen helfe. Sie hat ein gutes Kleid an, marineblau mit Blümchen, hauchdünn, über einem marineblauen Unterkleid. Auch einen Sommerhut aus weißem Stroh, ein wenig schräg, und weiße Schuhe, die ich gerade erst auf der Hintertreppe auf einer Zeitung geweißt habe. Ich bin frisch frisiert, meine Haare sind zu feuchten Locken aufgedreht, die sich in der trockenen Luft hoffentlich bald auflösen werden, auf meinem Kopf sitzt eine große, steife Haarschleife. Es ist völlig anders als ein Spaziergang mit meinem Vater nach dem Abendbrot. Wir sind noch nicht an zwei Häusern vorbeigegangen, und schon habe ich das Gefühl, dass wir die Zielscheibe des allgemeinen Spotts sind. Sogar die Schimpfwörter, die mit Kreide auf den Bürgersteig gekritzelt worden sind, lachen uns aus. Meine Mutter scheint das nicht zu bemerken. Sie schreitet gemessen wie eine Dame zu ihren Einkäufen, wie eine feine Dame, vorbei an den Hausfrauen in weiten Kleidern ohne Gürtel, aber dafür mit Löchern unter den Armen. Mit mir, ihrem Geschöpf, scheußliche Locken und protzige Haarschleife, sauber gewaschene Knie und weiße Söckchen – all das, was ich nicht sein will. Ich hasse sogar meinen Namen, wenn sie ihn öffentlich ausspricht, mit hoher, stolzer, weit tragender Stimme, die sich absichtlich von den Stimmen aller anderen Mütter auf der Straße abhebt.

Meine Mutter bringt manchmal als besondere Leckerei eine Schachtel Eiscreme mit – blasses Fürst-Pückler-Eis; und weil wir keinen Kühlschrank im Haus haben, wecken wir meinen Bruder auf und verspeisen es sofort im Esszimmer, in das kaum Licht fällt, weil das Nachbarhaus so dicht daneben steht. Ich löffle mein Eis bedachtsam, hebe mir die Schokolade bis zum Schluss auf und hoffe, dass ich noch etwas übrig haben werde, wenn der Teller meines Bruders leer ist. Meine Mutter versucht dann, sich wieder so mit mir zu unterhalten wie damals in Dungannon und kehrt zu unserer allerersten, geruhsamsten Zeit zurück, bevor mein Bruder geboren wurde, als sie mir ein bisschen Tee mit viel Milch in einer Tasse wie der ihren gab und wir draußen auf den Stufen saßen, mit Blick auf die Pumpe, den Fliederbusch und die Fuchskäfige dahinter. Sie kann nicht anders, sie muss immer wieder von dieser Zeit reden. »Weißt du noch, wie wir dich auf deinen Schlitten gesetzt haben und Major dich gezogen hat?« (Major war unser Hund, den wir bei Nachbarn lassen mussten, als wir wegzogen.) »Erinnerst du dich noch an deine Sandkiste draußen vor dem Küchenfenster?« Ich tue so, als könnte ich mich kaum noch an etwas erinnern, auf der Hut davor, mich in die Falle der Zuneigung oder irgendeines anderen unerträglichen Gefühls locken zu lassen.

Meine Mutter hat häufig Kopfschmerzen. Sie muss sich oft hinlegen. Sie legt sich auf das schmale Bett meines Bruders in dem kleinen, schattigen Wintergarten mit den dichten Zweigen darüber. »Ich schaue in den Baum hoch und bilde mir ein, ich bin zu Hause«, sagt sie.

»Was du brauchst«, sagt mein Vater zu ihr, »das ist frische Luft und eine Fahrt aufs Land.« Er meint, sie soll ihn auf seiner Walker Brothers-Tour begleiten.

Das entspricht nicht der Vorstellung meiner Mutter von einer Fahrt aufs Land.

»Kann ich mitkommen?«

»Deine Mutter braucht dich vielleicht zur Anprobe.«

»Nähen geht heute Nachmittag über meine Kräfte«, sagt meine Mutter.

»Dann nehme ich sie mit. Ich nehme beide mit, dann kannst du dich ausruhen.«

Was haben wir an uns, dass man sich von uns ausruhen muss? Egal. Ich bin schon froh, dass ich meinen Bruder finde, ihn dazu bringe, auf die Toilette zu gehen, und uns beide ins Auto verfrachte, unsere Knie ungewaschen, meine Haare ungelockt. Mein Vater holt die zwei schweren braunen Koffer mit den vielen Flaschen aus dem Haus und legt sie auf den Rücksitz. Er trägt ein weißes Hemd, das in der Sonne leuchtet, eine Krawatte, eine helle Hose, die zu seinem Sommeranzug gehört (sein anderer Anzug ist schwarz, für Beerdigungen, und gehörte meinem verstorbenen Onkel) und einen cremefarbenen Strohhut. Seine Vertreterkleidung, mit Stiften in der Brusttasche. Er geht noch einmal zurück, wahrscheinlich, um sich von meiner Mutter zu verabschieden, sie zu fragen, ob sie bestimmt nicht mitkommen will, und sie sagen zu hören: »Nein. Nein, danke, es ist besser für mich, einfach hier mit geschlossenen Augen zu liegen.« Dann fahren wir vom Hof mit einer kleinen Hoffnung auf Abenteuer, die uns über den Huckel kurz vor der Straße hinwegträgt, die heiße Luft beginnt sich zu bewegen, verwandelt sich in eine Brise, die Häuser werden allmählich fremder, während mein Vater eine Abkürzung nimmt, den schnellen Weg aus der Stadt hinaus. Doch was erwartet uns den ganzen Nachmittag lang außer heiße Stunden auf den Höfen armseliger Farmen, vielleicht ein Halt vor einem Dorfladen und drei Tüten Eiscreme oder drei Flaschen Limo und die Lieder, die mein Vater singt? Er hat auch eines über sich selbst gemacht, es hat sogar einen Titel, »Der Walker Brothers-Cowboy«, und so fängt es an:



Der gute, alte Freddy Fields, er hat den Tod gefunden,

Jetzt reite ich von Hof zu Hof und drehe seine Runden.

Wer ist Freddy Fields? Auf alle Fälle der Mann, dessen Stelle er jetzt einnimmt und der also tatsächlich tot ist; doch die Stimme meines Vaters klingt traurig-fröhlich und macht aus seinem Tod etwas Ulkiges, ein komisches Missgeschick. »Wär ich doch wieder am Rio Grande, stapfte durch den dunklen Sand.« Mein Vater singt fast ständig, wenn er Auto fährt. Sogar jetzt, während wir aus der Stadt hinausfahren, die Brücke überqueren und in der engen Kurve auf den Highway einbiegen, summt er etwas vor sich hin, nur ein paar Takte, probiert etwas aus für ein neues Lied, denn auf dem Highway kommen wir gleich an dem Baptisten-Lager vorbei, dem Bibel-Ferienlager, und er legt los:



Wo sind die Baptisten, wo sind die Baptisten,

    wo sind die Baptisten alle hin?

Tauchen tief ins Wasser, ins Huron-See-Wasser,

    lassen ihre Sünden alle drin.

Mein Bruder nimmt das für die blanke Wahrheit, kniet sich auf und späht hinunter zum See. »Ich sehe keine Baptisten«, sagt er vorwurfsvoll. »Ich auch nicht, mein Sohn«, erwidert mein Vater. »Ich hab dir ja gesagt, sie tauchen tief in den See.«

Keine gepflasterten Straßen mehr, als wir den Highway verlassen. Wir müssen die Fenster wegen des Staubs hochkurbeln. Das Land ist eben, verdorrt, leer. Baumgruppen hinten auf den Farmen versprechen Schatten, schwarzen Föhrenschatten wie Teiche, die unerreichbar sind. Wir holpern über einen langen Feldweg, und was könnte an dessen Ende abweisender, verlassener aussehen als das hohe, ungestrichene Farmhaus mit Gras, das ungemäht bis zur Haustür wächst, grünen heruntergelassenen Rouleaus und einer Tür im Obergeschoss, die sich ins Nichts öffnet? Viele Häuser haben diese Tür, und ich habe nie herausfinden können, wozu. Ich frage meinen Vater, und er sagt, sie sind für Schlafwandler da. Was? Na ja, wenn ein Schlafwandler mal eben vor die Tür gehen will. Ich bin gekränkt, habe zu spät gemerkt, dass er wie üblich Witze macht, aber mein Bruder sagt unerschüttert: »Wenn er das täte, würde er sich den Hals brechen.«

Die dreißiger Jahre. Wie sehr gehören doch diese Art von Farmhaus, diese Art von Nachmittag für mich zu jenem Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, ebenso wie der Hut meines Vaters, sein breiter, bunter Schlips und unser Auto mit seinen breiten Trittbrettern (ein Essex, der seine beste Zeit lange hinter sich hatte). Ähnliche Autos, viele älter, keines staubiger, stehen auf den Höfen. Einige sind nur noch Schrott, haben keine Türen mehr, und ihre Sitze sind ausgebaut worden, um auf der Veranda benutzt zu werden. Kein lebendes Wesen ist zu sehen, keine Hühner, kein Vieh. Nur Hunde. Sie liegen in jedem Fleckchen Schatten, das sie finden können, und träumen, ihre mageren Flanken heben und senken sich rasch. Sie springen auf, wenn mein Vater die Autotür aufmacht, und er muss mit ihnen reden. »Feiner Hund, braver Hund, so ist’s gut.« Sie beruhigen sich, kehren in ihren Schatten zurück. Er muss schließlich wissen, wie man Tiere beruhigt, er hat tobende Füchse mit einer Zange am Hals festgehalten. Eine besänftigende Stimme für die Hunde und eine andere aufmunternde, fröhliche für den Hausbesuch. »Hallo, Missus, hier ist der Mann von Walker Brothers, wo fehlt’s denn heute?« Eine Tür geht auf, er verschwindet. Es ist uns verboten, ihm zu folgen oder auch nur aus dem Auto zu steigen, wir können bloß warten und rätseln, was er wohl sagt. Manchmal versucht er meine Mutter zum Lachen zu bringen, indem er so tut, als sitze er in einer Farmküche und breite seinen Musterkoffer aus. »Also, Missus, werden sie von Schmarotzern geplagt? Ich meine die Köpfe ihrer Kinder. Diese kleinen Krabbeltierchen, die wir aus Höflichkeit nicht nennen und die auf den Köpfen der besten Familien zu finden sind. Seife alleine hilft nichts, Benzin ist kein sehr hübsches Parfüm, aber ich habe hier …« Oder auch: »Glauben Sie mir, wer so wie ich den ganzen Tag lang im Auto sitzt, der kennt den Wert dieser feinen Pillen. Natürliche Erleichterung. Ein Problem, das auch alte Leutchen kennen, sobald ihre aktive Zeit vorbei ist … Wie steht’s bei Ihnen, Oma?« Dann wedelte er meiner Mutter mit einer imaginären Pillenschachtel vor der Nase herum, und sie musste schließlich unfreiwillig lachen. »Er sagt das doch nicht wirklich?«, fragte ich, und sie sagte, natürlich nicht, dazu ist er viel zu gut erzogen.

Ein Hof nach dem anderen also, alte Autos, Pumpen, Hunde, Ausblicke auf graue Scheunen, zerfallende Ställe und stillstehende Windmühlen. Falls die Männer auf den Feldern arbeiten, dann nicht auf Feldern, die wir sehen können. Die Kinder sind weit fort, folgen ausgetrockneten Bachbetten oder suchen Brombeeren, oder sie verstecken sich im Haus, beobachten uns durch einen Spalt im Rouleau. Der Autositz ist von unserem Schweiß glitschig geworden. Du traust dich nicht, auf die Hupe zu drücken, stachle ich meinen Bruder auf, weil ich eigentlich selbst hupen möchte, aber nicht die Schimpfe dafür kriegen will. Er durchschaut mich. Wir spielen »Ich sehe was, was du nicht siehst«, aber es fällt schwer, viele Farben zu finden. Grau für die Scheunen, Ställe, Toiletten und Häuser, Braun für den Hof und die Felder, Schwarz und Braun für die Hunde. Die verrostenden Autos haben bunt schimmernde Stellen, in denen ich ein bisschen Rot oder Grün suche; genauso suche ich auch auf den Türen nach abblätternder alter blauer oder gelber Farbe. Wir können nicht mit Buchstaben spielen, was besser wäre, denn mein Bruder kennt sie noch nicht. Das Spiel zerfällt ohnehin. Er behauptet, meine Farben seien ungerecht, und will außer der Reihe drankommen.

In einem Haus geht keine Tür auf, obwohl das Auto im Hof steht. Mein Vater klopft, pfeift und ruft: »Hallo! Hier ist der Mann von Walker Brothers!«, aber von nirgendwo kommt Antwort. Dieses Haus hat keine Veranda, nur einen kahlen, abschüssigen Betonsockel, auf dem mein Vater steht. Er dreht sich um, schaut umher, auch zur Scheune, deren Heuboden leer sein muss, weil man von unten den Himmel sehen kann, und beugt sich schließlich vor, um seine Koffer zu nehmen. Genau in diesem Augenblick geht oben ein Fenster auf, ein weißer Topf erscheint über dem Fensterbrett, wird ausgekippt, und sein Inhalt ergießt sich entlang der Wand. Das Fenster ist nicht direkt über dem Kopf meines Vaters, also bekommt er nur ein paar Spritzer ab. Er hebt seine Koffer auf, ohne besondere Eile, und kommt ohne zu pfeifen zum Auto. »Weißt du, was das war?«, frage ich meinen Bruder. »Pipi.« Er lacht sich schief.

Mein Vater dreht sich eine Zigarette und zündet sie an, bevor er den Motor anlässt. Das Fenster ist zugeknallt, das Rouleau zugezogen worden, ohne dass wir eine Hand oder ein Gesicht gesehen haben. »Pipi, Pipi«, singt mein Bruder entzückt. »Jemand hat Pipi runtergekippt!« – »Erzählt das bloß nicht eurer Mutter«, sagt mein Vater. »Sie versteht wahrscheinlich nicht, was daran so komisch ist.« – »Kommt das in deinem Lied vor?«, will mein Bruder wissen. Mein Vater sagt nein, aber er will mal sehen, ob er es einarbeiten kann.

Mir fällt nach einer Weile auf, dass wir nicht mehr in Feldwege einbiegen, obwohl wir auch nicht nach Hause zu fahren scheinen. »Ist das der Weg nach Sunshine?«, frage ich meinen Vater, und er antwortet: »Nein, Madam, ist es nicht.« – »Sind wir immer noch in deinem Gebiet?« Er schüttelt den Kopf. »Wir fahren schnell«, sagt mein Bruder anerkennend, und wir holpern tatsächlich so durch ausgetrocknete Pfützenlöcher, dass alle Flaschen in den Koffern vielversprechend klappern und gluckern.

Wieder ein Feldweg, ein Haus, auch nicht angestrichen, von der Sonne zu Silber gedörrt.

»Ich dachte, wir sind außerhalb deines Gebiets.«

»Sind wir auch.«

»Warum fahren wir dann hierher?«

»Ihr werdet schon sehen.«

Vor dem Haus hebt eine kleine, stämmige Frau Wäsche auf, die auf dem Rasen zum Trocknen und Bleichen ausgebreitet liegt. Als das Auto anhält, mustert sie es einen Augenblick streng, beugt sich vor, um zwei weitere Handtücher aufzuheben und zu dem Bündel unter ihrem Arm zu tun, kommt zu uns herüber und sagt mit ausdrucksloser, weder höflicher noch unfreundlicher Stimme: »Haben Sie sich verfahren?«

Mein Vater lässt sich Zeit damit, aus dem Auto zu steigen. »Ich glaube nicht«, sagt er. »Ich bin der Mann von Walker Brothers.«

»Unser Mann von Walker Brothers ist George Golley«, sagt die Frau, »und der war erst vor einer Woche hier. Ach du Schreck«, sagt sie schroff, »du bist es.«

»Ich war’s jedenfalls, als ich letztes Mal in den Spiegel gesehen habe«, sagt mein Vater. Die Frau sammelt alle Handtücher vor ihr auf und hält sie fest, drückt sie an ihren Magen, als tue er weh. »Dich hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Und dann sagst du mir auch noch, du bist der Mann von Walker Brothers.«

»Tut mir leid, wenn du dich auf George Golley gefreut hast«, sagt mein Vater bescheiden.

»Und schau mich an, ich wollte gerade den Hühnerstall ausmisten. Du wirst denken, das ist eine Ausrede, aber es stimmt. In dieser Aufmachung laufe ich nicht alle Tage rum.« Sie trägt einen Farmerstrohhut, durch den kleine Sonnentupfen dringen und auf ihrem Gesicht schweben, einen weiten, schmutzigen Kittel aus bedrucktem Kattun und Turnschuhe. »Wer sind die im Auto, Ben? Doch nicht etwa deine?«

»Ich hoffe und glaube sehr, es sind meine«, sagt mein Vater und nennt unsere Namen und unser Alter. »Kommt, ihr könnt aussteigen. Das ist Nora, Miss Cronin. Aber jetzt sag mal, Nora, muss es immer noch Miss Cronin heißen, oder hast du einen Ehemann im Holzschuppen versteckt?«

»Wenn ich einen Ehemann hätte, würde ich ihn woanders aufbewahren, Ben«, sagt sie, und beide lachen, sie abrupt und etwas unwirsch. »Ihr müsst ja denken, dass ich keine Manieren habe, noch dazu, wo ich rumlaufe wie eine Landstreicherin«, sagt sie. »Kommt rein, aus der Sonne raus. Im Haus ist es kühl.«

Wir gehen quer über den Hof (»Entschuldigt, wenn wir hintenrum reingehen, aber ich glaube, die Vordertür ist seit Papas Beerdigung nicht mehr aufgemacht worden, und ich habe Angst, sie fällt aus den Angeln«), die Verandastufen hinauf in die Küche, die tatsächlich kühl ist, mit hoher Decke, die Rouleaus natürlich heruntergelassen, ein schlichter, sauberer, verwohnter Raum mit gebohnertem, abgetretenem Linoleum, Geranientöpfen, Trinkwasserkübel mit Schöpfbecher und einem runden Tisch unter abgescheuerter Wachstuchdecke. Trotz der Sauberkeit, den sorgfältig abgewischten Oberflächen, hängt ein säuerlicher Geruch in der Luft – vielleicht von dem Spüllappen oder dem zinnernen Schöpfbecher oder der Wachstuchdecke oder der alten Dame, denn da ist eine, sitzt in einem Sessel unter der Küchenuhr an der Wand. Sie wendet uns den Kopf zu und fragt: »Nora? Haben wir Besuch?«

»Blind«, erklärt Nora rasch meinem Vater. Dann: »Du kommst nie drauf, wer da ist, Mama. Hör mal seine Stimme.«

Mein Vater tritt an ihren Sessel, beugt sich vor und sagt aufmunternd: »Guten Tag, Mrs. Cronin.«

»Ben Jordan«, sagt die alte Dame ohne Überraschung. »Du hast uns schon die längste Zeit nicht mehr besucht. Warst du außer Landes?«

Mein Vater und Nora sehen sich an.

»Er ist verheiratet, Mama«, sagt Nora fröhlich und etwas bissig. »Verheiratet, hat zwei Kinder, und hier sind sie.« Sie zieht uns nach vorn, damit jeder von uns die trockene, kühle Hand der alten Dame berührt, während sie jeweils unsere Namen nennt. Blind! Zum ersten Mal sehe ich von nahem jemanden, der blind ist. Ihre Augen sind geschlossen, die Lider eingesunken, als seien keine Augäpfel mehr darunter, nur leere Höhlen. Aus einer Höhle rinnt ein silbriger Tropfen, eine Medizin oder eine wundersame Träne.

»Ich gehe mir ein anständiges Kleid anziehen«, sagt Nora. »Rede mit Mama. Dann freut sie sich. Wir kriegen hier kaum je Besuch, was, Mama?«

»Sind nicht viele, die herfinden«, sagt die alte Dame friedlich. »Und die früher hier waren, unsere alten Nachbarn, da sind viele von weg.«

»Tja, so geht’s überall«, sagt mein Vater.

»Wo ist denn deine Frau?«

»Zu Hause. Sie mag die Hitze nicht besonders, dann geht’s ihr nicht gut.«

»Je nun.« Eine Angewohnheit der Leute vom Lande, der alten Leute, sie sagen »je nun« und meinen »ist wahr?«, wollen damit höfliche Anteilnahme bekunden.

Noras Kleid, als sie wiederkommt – auf hohen Absätzen laut die Treppe heruntersteigt –, ist heftiger geblümt als alles, was meine Mutter besitzt, grün und gelb auf braunem Grund, aus einer Art von schwebendem, hauchdünnem Krepp, ohne Ärmel. Ihre bloßen Arme sind mächtig, und jedes Stück ihrer Haut, das man sehen kann, ist mit kleinen dunklen Sprenkeln bedeckt wie mit Masern. Ihre Haare sind kurz, schwarz, dicht und kraus, ihre Zähne sehr weiß und kräftig. »Ich habe nie gewusst, dass es grüne Mohnblumen gibt«, sagt mein Vater und schaut dabei auf ihr Kleid.

»Du würdest staunen, was du noch alles nicht weißt«, sagt Nora, die bei jeder Bewegung Eau de Cologne-Duft verströmt und ihre Stimme dem Kleid angepasst hat, sie klingt jetzt umgänglicher und jugendlicher. »Außerdem sind das keine Mohnblumen, einfach nur Blumen. Du geh und pump mir gutes, kaltes Wasser hoch, dann mach ich den Kindern was zu trinken.« Sie holt aus dem Küchenschrank eine Flasche mit Walker Brothers-Orangensirup.

»Erzählt mir, er ist der Mann von Walker Brothers!«

»Das ist die Wahrheit, Nora. Geh und schau dir meine Musterkoffer im Auto an, wenn du mir nicht glaubst. Ich habe das Gebiet gleich südlich von hier.«

»Walker Brothers? Stimmt das? Du verkaufst für Walker Brothers?«

»Ja, Madam.«

»Wir hörten immer, du züchtest Füchse drüben in Dungannon.«

»Das habe ich auch gemacht, aber dann hat mich das Glück verlassen.«

»Wo wohnst du denn jetzt? Wie lange verkaufst du schon?«

»Wir sind nach Tuppertown gezogen. Ich mache das seit so zwei, drei Monaten. Hält den Wolf von der Tür fern. Scheucht ihn aber nur bis hintern Gartenzaun.«

Nora lacht. »Wahrscheinlich kannst du dich glücklich schätzen, die Arbeit zu haben. Isabels Mann in Brantford, der war lange arbeitslos. Ich dachte schon, wenn er nicht bald was findet, landen sie alle hier und ich muss sie durchfüttern, und ich kann dir sagen, ich habe mich nicht direkt drauf gefreut. Es reicht gerade so für Mama und mich.«

»Isabel ist also verheiratet«, sagt mein Vater. »Hat Muriel auch geheiratet?«

»Nein, sie arbeitet als Lehrerin draußen im Westen. Sie ist seit fünf Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Wahrscheinlich weiß sie mit ihren Ferien was Besseres anzufangen. Würde mir jedenfalls so gehen, wenn ich sie wäre.« Sie holt ein paar Fotos aus der Tischschublade und zeigt sie ihm. »Das ist Isabels ältester Junge bei der Einschulung. Hier ihr Baby im Kinderwagen. Isabel und ihr Mann. Muriel. Das neben ihr ist ihre Zimmergenossin. Das hier ist ein Bursche, mit dem sie mal gegangen ist, in seinem Auto. Er hat in einer Bank da draußen gearbeitet. Das ist ihre Schule, sie hat acht Klassenzimmer. Muriel unterrichtet die fünfte Klasse.« Mein Vater schüttelt den Kopf. »Ich kann sie mir gar nicht anders vorstellen, nur so wie damals, als sie zur Schule ging und ich sie auf der Straße mitgenommen habe, wenn ich zu dir unterwegs war, sie war so schüchtern, dass sie kein Wort herausgebracht hat, nicht mal ein Ja, wenn ich gesagt habe, schöner Tag heute.«

»Das hat sie überwunden.«

»Von wem redet ihr?«, fragt die alte Dame.

»Von Muriel. Sie hat ihre Schüchternheit überwunden.«

»Sie war letzten Sommer hier.«

»Nein, Mama, das war Isabel. Isabel ist mit ihrer Familie letzten Sommer hier gewesen. Muriel ist draußen im Westen.«

»Ich meine ja auch Isabel.«

Kurz darauf schläft die alte Dame ein, mit dem Kopf zur Seite und offenem Mund. »Entschuldigt ihre Manieren«, sagt Nora. »Das ist das Alter.« Sie legt ihrer Mutter eine Wolldecke um und sagt, wir können alle ins Wohnzimmer gehen, wo unsere Gespräche sie nicht stören.

»Ihr beide«, sagt mein Vater. »Wollt ihr nicht rausgehen und euch amüsieren?«

Womit amüsieren? Außerdem will ich bleiben. Das Wohnzimmer ist interessanter als die Küche, wenn auch kahler. Ich entdecke ein Grammophon und ein Harmonium und an der Wand ein Bild von Maria, der Mutter von Jesus – so viel weiß ich – in leuchtendem Blau und Rosa mit einem stacheligen Lichtband um den Kopf. Ich weiß, dass solche Bilder nur in den Häusern von Katholiken hängen, also muss Nora katholisch sein. Wir waren noch nie mit Katholiken näher bekannt, nie nah genug, um sie zu Hause zu besuchen. Mir fällt ein, was meine Großmutter und meine Tante Tena, drüben in Dungannon, immer sagten, um darauf hinzuweisen, dass jemand katholisch ist. Der Soundso kratzt mit dem falschen Fuß, sagten sie. Sie kratzt mit dem falschen Fuß. Das würden sie von Nora sagen.

Nora holt eine halbvolle Flasche aus dem oberen Teil des Harmoniums und gießt etwas daraus in die beiden Gläser, aus denen sie und mein Vater die Orangenlimo getrunken haben.

»Hast du die für den Fall, dass du krank wirst?«

»Nie im Leben«, sagt Nora. »Ich bin nie krank. Ich habe sie nur, weil ich sie habe. Eine Flasche reicht mir aber ziemlich lange, denn ich trinke nicht gern alleine. Prost!« Sie und mein Vater trinken, und ich weiß, was es ist. Whisky. Eins von den Dingen, die meine Mutter mir in unseren Zwiegesprächen erzählt hat, ist, dass mein Vater nie Whisky trinkt. Aber ich sehe, er tut es doch. Er trinkt Whisky und redet von Leuten, deren Namen ich noch nie zuvor gehört habe. Aber nach einer Weile wendet er sich einem bekannten Vorfall zu. Er erzählt von dem Nachttopf, der aus dem Fenster geleert wurde. »Stell dir vor, da stehe ich«, sagt er, »und schreie mir die Seele aus dem Leib. Junge Frau, hier ist Ihr Mann von Walker Brothers, jemand zu Hause?« Er spielt sich selbst, ruft, grient übers ganze Gesicht, schaut voll freudiger Erwartung hoch, und dann – er taucht jäh weg, hält sich schützend die Arme über den Kopf, zieht ein Gesicht, als bäte er um Gnade (in Wirklichkeit tat er nichts dergleichen, ich sah ja zu), und Nora lacht, fast so heftig wie mein Bruder vorhin.

»Das ist nicht wahr! Kein Wort davon ist wahr!«

»Aber ja, Madam. Wir haben durchaus Helden in den Reihen von Walker Brothers. Ich bin froh, dass du es komisch findest«, sagt er finster.

Ich bitte ihn schüchtern: »Sing das Lied.«

»Welches Lied? Bist du jetzt obendrein noch Sänger geworden?«

Verlegen sagt mein Vater: »Ach, nur das Lied, das ich mir unterwegs ausgedacht habe. Wenn ich mir Reime ausdenke, habe ich beim Fahren was zu tun.«

Aber nach einigem guten Zureden singt er es doch, schaut dabei Nora mit drolliger, entschuldigender Miene an, und sie lacht so sehr, dass er manchmal unterbrechen muss, bis sie sich wieder eingekriegt hat, aber auch, weil sie ihn selbst zum Lachen gebracht hat. Dann macht er Verschiedenes aus seiner Vertretertrickkiste vor. Wenn Nora lacht, quetscht sie ihren großen Busen unter die verschränkten Arme. »Du bist verrückt«, sagt sie. »Total verrückt.« Sie sieht meinen Bruder ins Grammophon spähen, springt auf und geht zu ihm hinüber. »Da sitzen wir und amüsieren uns und denken überhaupt nicht an dich, ist das nicht schrecklich?«, sagt sie. »Du möchtest, dass ich eine Schallplatte auflege, nicht wahr? Du möchtest eine schöne Platte hören? Kannst du tanzen? Aber deine Schwester doch bestimmt?«

Ich sage nein. »Ein großes Mädchen wie du und so hübsch und kann nicht tanzen!«, sagt Nora. »Höchste Zeit, dass du’s lernst. Du wirst bestimmt mal eine fabelhafte Tänzerin. Ich werde ein Stück auflegen, zu dem ich früher getanzt habe, sogar dein Daddy, als der noch das Tanzbein geschwungen hat. Du hast wohl gar nicht gewusst, dass dein Daddy mal getanzt hat? Tja, dein Daddy, das ist ein begabter Mann!«

Sie schließt den Deckel, packt mich unerwartet um die Taille, nimmt meine andere Hand und zwingt mich, rückwärts zu gehen. »So wird’s gemacht, ja, so wird getanzt. Folge mir. Diesen Fuß, siehst du. Eins und eins-zwei. Eins und eins-zwei. So ist’s gut, ganz prima, nicht auf die Füße schauen! Folge mir, so ist’s richtig, siehst du, wie leicht das ist? Du wirst eine fabelhafte Tänzerin! Eins und eins-zwei. Eins und eins-zwei. Ben, sieh mal, wie deine Tochter tanzt!« Flüstern, das dein Ohr betört, Flüstern, wo uns niemand hört …

Rund und rund auf dem Linoleum, ich stolz, eifrig, Nora lachend, schwungvoll, sie umgibt mich mit ihrer seltsamen Fröhlichkeit, ihrem Geruch nach Whisky, Eau de Cologne und Schweiß. Unter den Armen ist ihr Kleid feucht, auf ihrer Oberlippe bilden sich kleine Tropfen und bleiben in den weichen schwarzen Härchen an ihren Mundwinkeln hängen. Sie wirbelt mich vor meinem Vater herum – was mich ins Stolpern bringt, denn ich bin keineswegs eine so gelehrige Schülerin, wie sie vorgibt – und lässt mich los, außer Puste.

»Tanz mit mir, Ben.«

»Ich bin ein miserabler Tänzer, Nora, und das weißt du.«

»Der Meinung war ich nie.«

»Wärst du aber jetzt.«

Sie steht vor ihm, ihre Arme hängen hoffnungsvoll herunter, ihre Brüste, die mich eben noch mit ihrer warmen Fülle in Verlegenheit gebracht haben, heben und senken sich unter ihrem weiten, geblümten Kleid, ihr Gesicht leuchtet von der Anstrengung und vor Freude.

»Ben.«

Mein Vater senkt den Kopf und sagt leise: »Nein, Nora.«

Also kann sie nur gehen und die Schallplatte vom Teller nehmen. »Ich kann alleine trinken, aber ich kann nicht alleine tanzen«, sagt sie. »Außer ich bin noch viel verrückter, als ich denke.«

»Nora«, sagt mein Vater lächelnd. »Du bist nicht verrückt.«

»Bleib zum Abendessen.«

»Nein, nein. Wir wollen dir keine Mühe machen.«

»Das ist keine Mühe. Ich würde mich freuen.«

»Und ihre Mutter würde sich Sorgen machen. Sie würde denken, wir sind im Straßengraben gelandet.«

»Ach, so. Ja.«

»Wir haben schon viel von deiner Zeit beansprucht.«

»Zeit«, sagt Nora bitter. »Wirst du je wiederkommen?«

»Werd ich, wenn ich kann«, sagt mein Vater.

»Bring die Kinder mit. Bring deine Frau mit.«

»Ja, werd ich«, sagt mein Vater. »Werd ich, wenn ich kann.«

Als sie uns zum Auto folgt, sagt er: »Du komm uns auch mal besuchen, Nora. Wir wohnen direkt in der Grove Street, auf der linken Seite, wenn man reinkommt, also nach Norden fährt, das zweite Haus ostwärts von der Baker Street.«

Nora wiederholt diese Instruktionen nicht. Sie steht in ihrem weichen, leuchtenden Kleid dicht am Auto. Sie berührt den Kotflügel, hinterlässt in dem Staub darauf ein unverständliches Zeichen.

Auf dem Heimweg kauft mein Vater uns kein Eis und auch keine Limo, aber er geht in einen Dorfladen und holt ein Päckchen Lakritze, das er mit uns teilt. Sie kratzt mit dem falschen Fuß, denke ich, und die Worte kommen mir mit einem Mal traurig vor, dunkel, schlimm. Mein Vater verbietet mir mit keinem Wort, zu Hause etwas zu erzählen, aber ich weiß, allein von der Bedenkzeit, bevor er die Lakritze herumreicht, dass es etwas gibt, das nicht erzählt werden soll. Der Whisky, vielleicht auch das Tanzen. Keine Sorge wegen meines Bruders, der merkt nicht genug. Der erinnert sich höchstens an eine blinde alte Dame, an ein Bild von Maria.

»Sing«, befiehlt mein Bruder meinem Vater, aber mein Vater sagt ernst: »Ich weiß nicht, was, mir sind gerade die Lieder ausgegangen. Pass genau auf und sag mir, wenn du auf der Straße Kaninchen siehst.«

Und so fährt mein Vater, während mein Bruder nach Kaninchen Ausschau hält und ich ein Empfinden habe, als fließe das Leben meines Vaters aus unserem Auto in den schwindenden Nachmittag, werde dunkel und fremd, wie eine Landschaft, auf der ein Bann liegt, der sie freundlich, normal und vertraut macht, sie jedoch, sobald man ihr den Rücken kehrt, in etwas verwandelt, das man nie kennen wird, mit Wetter aller Art und mit Entfernungen, die man sich nicht vorstellen kann.

Als wir uns Tuppertown nähern, bildet sich am Himmel eine dünne Wolkendecke, wie immer, fast immer, an Sommerabenden am See.