Autorenvita:

Irene Zimmermann, lebt mit zwei Kindern und einer frechen Tigerkatze in Baden-Baden. Sie hat u.a. unter Zimmermann & Zimmermann zahlreiche Bücher veröffentlicht, die in 13 Sprachen übersetzt wurden.

 

 

Birgit Schössow gibt den frechen Mädchen ihr farbiges Gesicht. Illustratorin wollte sie schon als kleines freches Mädchen werden – und nun ist sie ein großes Mädchen – und immer noch frech.

Buchinfo:

Schmetterlinge im Bauch! Dieses Gefühl kennt Carlotta sehr gut. Besonders dann, wenn sie die schönsten Liebesbriefe der Welt liest – von Jannis, dem süßen Jannis mit seinen braunen Augen und den grünen Punkten darin. Schade nur, dass sie ihn seit vier langen Monaten nicht mehr gesehen hat. Liebesbriefe sind zwar nicht schlecht, findet Carlotta, aber Händchenhalten und Küssen wäre noch viel besser. Also setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihrem Ziel näher zu kommen. Doch da läuft ihr Lenni über den Weg und plötzlich ist alles anders ...

Ich zähle die Tage, bis

wir uns endlich wieder treffen. Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich den Vollmond. Wenn er das nächste Mal scheint, gehen wir Händchen haltend spazieren. Ganz bestimmt! Und ich werde Dir alles erzählen, was mir wichtig ist. Das Allerwichtigste aber bist Du!!!

 

»Autsch!«, ruft Natascha neben mir und holt mich aus diesem wunderschönen Liebesbrief zurück in die Realität: an unseren Abendbrottisch, wo sich Natascha gerade in den Finger gesäbelt hat.

»Carlotta, ein Pflaster! Kannst du bitte mal ein Pflaster holen?« Papa stößt mich an. »Sag mal, träumst du?«

Natascha wischt sich mit einem Taschentuch das Blut vom Finger. »Lass doch. Ich brauch kein Pflaster, es ist halb so schlimm, wie es aussieht.«

»Carlotta, ich möchte jetzt aber mal wissen, was mit dir los ist«, sagt Papa. »Seit Minuten starrst du vor dich hin. Was gibt’s denn da Interessantes zu sehen?«

Ich schiebe Jannis’ Brief unter meinen Teller und mache ein unschuldiges Gesicht. »Überhaupt nichts, Papa, ehrlich. Was meinst du denn überhaupt?«

Er schaut fragend zu Natascha hinüber. »Hast du eine Ahnung, was mit meiner Tochter los ist?«

»Ja sicher! Carlotta ist nämlich in einem Alter, in dem man Liebesbriefe bekommt. Das ist doch ganz natürlich. Jede Woche sind mindestens drei im Briefkasten! Und das schon seit einigen Monaten. Ich würde sagen: die ganz große Liebe! Hab ich recht?« Sie lächelt mich an, aber ich finde, dass sie irgendwie traurig aussieht, so wie sie gerade ihre blonden Haare zurückstreicht und dabei Papa verstohlen anschaut.

»Große Liebe, interessant!«, sagt er und es klingt, als erwarte er genauere Auskunft von mir.

Ich schiebe mir schnell den Rest meines Käsebrotes in den Mund und mache ein völlig unbeteiligtes Gesicht. Aus Erfahrung weiß ich, ein voller Mund ist die allerbeste Absicherung gegen ein Verhör. Denn jeder am Tisch sieht: Carlotta kann gerade nicht antworten, weil sie gut erzogen ist. Damit habe ich also mindestens eine Minute Zeit, mir eine passende Antwort zu überlegen. Und wenn ich sehr, sehr langsam kaue, dann sogar zwei Minuten.

»Interessant!«, wiederholt Papa und mustert mich kopfschüttelnd. »Liebesbriefe! Große Liebe! Wenn ich das schon höre! Du bist noch nicht mal vierzehn, mein Kind. Wie wäre es denn, wenn du zur Abwechslung deine große Liebe für die Schule entdecken würdest? Anstatt für irgendwelche pubertierenden Jungs!«

»Sieh das doch bitte nicht so eng«, murmelt Natascha. »Wir wollen doch die gute Stimmung nicht verderben. Es ist so ein wunderschöner Abend.«

Von wegen wunderschöner Abend! Ich bin so was von sauer! Jannis in die Kategorie »pubertierende Jungs« zu stecken, meinen Jannis, der ganz anders ist als die anderen Jungs und so romantische Liebesbriefe schreibt. Aber mit Papa kann man darüber nicht reden, vor allem dann nicht, wenn er so pädagogisch guckt wie im Moment. Und jetzt trommelt er auch noch mit den Fingern ungeduldig auf den Esstisch. Das ist kein gutes Zeichen.

Natürlich weiß ich mir zu helfen. Auf die Schnelle zwei Essiggurken auf einmal in den Mund geschoben, bringen mir mindestens noch mal ’ne Minute.

Doch die Geduld meines Vaters ist erschöpft. »Hör auf, alles Mögliche in dich reinzustopfen, Carlotta, und antworte lieber. Von wem sind die Liebesbriefe?«

Ich will mir gerade die nächste Gurke angeln, da versucht er, mir das Gurkenglas wegzunehmen.

Natascha ruft: »Hört auf mit dem Unsinn!«, und streckt ebenfalls die Hand nach dem Glas aus ...

Ich hätte den beiden gleich sagen können, dass eine so schwachsinnige Aktion nur schiefgehen kann.

»Himmeldonnerwetter!«, regt sich mein Vater auf, als ihm das Gurkenwasser auf die Hose tropft. »Muss es denn immer Ärger geben? Können wir nicht mal in Ruhe zu Abend essen, wie das in achtundneunzig Prozent aller Familien klappt?«

Weil ich nicht den Eindruck habe, dass er wirklich eine Antwort erwartet, bin ich lieber ruhig und schiebe Jannis’ Brief unauffällig in meine Hosentasche. Klar, ich bin selbst schuld, dass meine Post Thema ist. Wenn man wie ich mit verklärtem Gesichtsausdruck beim Abendessen sitzt und Liebesbriefe liest, muss man sich echt nicht wundern. Erziehungsberechtigte begreifen so was als ideale Steilvorlage, um erstens auf gute Manieren bei Tisch zu bestehen, und kommen zweitens garantiert immer auf das Thema Schule – egal ob es passt oder nicht. Bei mir passt es allerdings. Leider! Ich nehme mir vor, Briefe von Jannis in Zukunft nur noch unter verstärkten Sicherheitsmaßnahmen zu lesen: verriegelte Zimmertür, geschlossene Rollläden und so. Vorläufig bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, als mich möglichst unsichtbar zu machen.

Natascha zwinkert mir zu. Komm, alles halb so schlimm, soll das wohl heißen. Ist ja lieb von ihr, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Stimmung bei uns am Tisch so ziemlich im Keller ist.

Eine Weile sagt keiner ein Wort.

»Ich bin froh, wenn ich den Vorsprechtermin in Stuttgart hinter mir habe«, wechselt schließlich Natascha das Thema. »Wenn ich viel Glück habe, dann ...«

»Stuttgart?«, falle ich ihr ins Wort. »Heißt das, du fährst nach ...?«

»Nicht mit vollem Mund!«, unterbricht mich Papa. »Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass man den anderen ausreden lässt!«

Ich vermute stark, dass Papas schlechte Laune mit Natascha zusammenhängt. Dass zwischen den beiden dicke Luft herrscht, kriege sogar ich mit. Obwohl ich weiß Gott Wichtigeres zu tun habe, als mir Gedanken über die Beziehung zwischen meinem Vater und seiner Freundin zu machen. Ich muss nämlich jetzt unbedingt herauskriegen, wann Natascha nach Stuttgart fährt.

»Ja, ich fahre nach Stuttgart«, erklärt Natascha und klopft mit den Fingerknöcheln dreimal auf den Tisch. »Ich habe tatsächlich einen Vorsprechtermin am Theater bekommen. Für eine kleine Rolle nur, aber immerhin. Vielleicht klappt es ja endlich mal.«

»Das klappt bestimmt! Natascha, du bist nämlich eine tolle Schauspielerin«, sage ich und meine das auch wirklich so. »Weißt du was, ich komm einfach mit und klatsche dann begeistert, wenn du auf der Bühne stehst. Damit auch jeder kapiert, wie gut du bist.«

»Ach, Carlotta!«, lacht Natascha. »Das ist lieb von dir, aber du willst mir doch nicht weismachen, dass dich die Sprechprobe wirklich interessiert. Könnte es nicht eher sein, dass du Jannis in Stuttgart treffen möchtest?«

Papa mischt sich ein. »Meine liebe Carlotta, Stuttgart kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, meint er, bevor ich noch irgendwas erwidern kann. »Du hast Schule! Da gehst du auch gefälligst hin, wie das alle anderen Mädchen deines Alters tun, und triffst dich nicht mit irgendwelchen Jungs.«

»Pubertierenden«, füge ich hinzu und kann leider nicht vermeiden, dass ich dabei lachen muss.

Natascha scheint es ähnlich zu gehen, denn sie hält sich ihre Serviette vor den Mund.

Papa ist einen Augenblick schwer irritiert. Er scheint komplett den Faden verloren zu haben, denn das Einzige, was ihm noch einfällt, ist ein ziemlich lahmes »Das ist übrigens mein letztes Wort!«.

Das mit dem letzten Wort sagt er bestimmt nur deshalb, weil es gerade an der Haustür geklingelt hat und er jetzt nicht noch länger mit seiner Tochter herumdiskutieren möchte. Ich ahne, wer kommt und warum Papa plötzlich so weich gespült klingt.

Natascha weiß es ebenfalls. Sie ist aufgestanden, versucht zu lächeln und sagt dann, sie müsse noch einiges für den Termin in Stuttgart vorbereiten und ob ich vielleicht den Tisch abdecken könne.

»Kein Problem«, antworte ich und beschließe großzügig‚ Beziehung von Papa und Natascha retten in meine ganz aktuelle To-do-Liste aufzunehmen. Gleich hinter: Jannis treffen und ihn noch mehr in mich verliebt machen und Englischnote verbessern und Mein gelbes Sommerkleid finden, solange es mir noch passt und es Sommer ist.

Ich finde, Natascha hat es wirklich verdient, dass ich mich um ihre Beziehung zu Papa kümmere. Ich gebe zu, noch vor ein paar Monaten habe ich alles dafür getan, Natascha irgendwie loszuwerden. Aber inzwischen habe ich mich an sie gewöhnt und sie macht ihre Sache als Ersatzmutter wirklich prima. O.k., Haushalt ist vielleicht nicht so ihr Ding – sie findet Putzen und Kücheaufräumen ätzend –, aber immerhin kann sie einigermaßen kochen. Jedenfalls besser als Jenny, meine richtige Mutter, die sich nur für ihre Opern interessiert und kein bisschen dafür, ob ich zum Beispiel ein richtiges Frühstück in die Schule mitnehme.

Unsere Nachbarin Lorraine Deposito dagegen, die gerade hinter Papa her ins Esszimmer rauscht – und »rauscht« ist wortwörtlich zu nehmen, denn sie trägt tatsächlich einen Petticoat! –, wirkt eher so, als könne sie nicht mal eine Fertigpizza in den Backofen schieben. Davon abgesehen mag ich Leute nicht, die eigentlich Lore Lachenmayer heißen und sich dann Lorraine nennen! Und die zudem von sich behaupten, Künstlerin zu sein, sich ihre Sleek-Look-Haare signalrot färben und immer wahnsinnig begeistert tun, wenn sie mich sehen.

»Ihre Tochter ist ja so was von fascinating!«, jubelt Lorraine schon wieder los. Dabei schaut sie Papa an und ich habe den Eindruck, sie meint eher: »Herr Bergmann, Sie sind ja so was von fascinating!«

Fascinating! Ich krieg die Motten! Sogar Papa zuckt zusammen.

»Und so gut erzogen!«, fügt Lorraine hinzu. »Total fascinating, wie Sie das als alleinerziehender Vater hinbekommen haben!«

Papa lächelt etwas schräg. Wahrscheinlich fällt ihm gerade wieder die Diskussion von vorhin ein und er sagt lieber nichts zu dem Thema.

Was Lorraine wohl als Zustimmung zu deuten scheint. Jedenfalls meint sie: »Ich bin immer ganz begeistert, wenn ich Ihre Charlotte sehe! Fantastic!«

Charlotte?! ... Wie bitte? Ich höre wohl nicht richtig! Schade, dass wir das Gurkenglas schon beim Abendessen geliefert haben, sonst wäre es garantiert jetzt fällig!

»Carlotta!«, stelle ich mit eisiger Stimme richtig, während ich sehr geräuschvoll die Teller aufeinanderstaple. »Ich heiße immer noch Carlotta!«

Aber das hätte ich mir sparen können. Es interessiert überhaupt niemanden! Papa erzählt nämlich gerade irgendwas aus der Firma und diese affige Petticoatlorraine hat natürlich nur noch Augen und Ohren für ihn. Ich knalle Messer und Gabeln auf den Tellerstapel und erweitere in Gedanken meine To-do-Liste: Unbedingt Anti-Lorraine-Programm starten!

Und damit fange ich am besten sofort an! Deshalb lasse ich meinen Vater und diese Person keine Sekunde mehr aus den Augen. Wer weiß, was sonst passiert! Außerdem muss ich leider das Tischabräumen einstellen – kleine Opfer sind ab und zu nötig! – und setze mich direkt neben Papa aufs Sofa, damit ein für alle Mal klar ist: Zu ihm geht es nur über meine Leiche!

Lorraine will ihm die Entwürfe zeigen, die sie für eine Installation gemacht hat. Sie malt, was ich ja noch kapiere, aber dann macht sie eben auch diese Installationen, was immer das sein mag. Angeblich gilt sie in der Kunstszene als der kommende Star, behauptet jedenfalls mein Vater. Aber ich bezweifle schwer, dass er als Ingenieur da richtig durchblickt.

»Rückst du mal, Charlottchen?«, wagt sie zu sagen und zwängt sich mit einer riesigen Mappe zwischen mich und Papa.

»Wenn es sein muss«, murmle ich und rutsche ein Stückchen zur Seite. Ich habe das blöde Gefühl, dass ich mit Dasitzen und Beobachten überhaupt nichts erreiche. Bei Lorraine muss ich zu härteren Waffen greifen! »Kassi!«, rufe ich und krieche dabei halb unters Sofa. »Kassandra, wo bist du?«

»Pst«, zischt Papa und macht eine Handbewegung in meine Richtung. »Wolltest du nicht in dein Zimmer gehen?«

»Ich gehe ja gleich. Aber vorher muss ich noch Kassandra finden. Kassandra ist nämlich meine Spinne!« Den letzten Satz sage ich sehr laut und vernehmlich, damit auch wirklich jeder im Wohnzimmer kapiert, um was es geht.

Hätte ich mir aber schenken können, denn es kommt null Reaktion. Klar, mein Vater hat ja – im Gegensatz zu mir – keine Angst vor Spinnen. Und Lorraine gehört womöglich zu jenem verschwindend kleinen Prozentsatz von Frauen, die Spinnen sogar richtig süß finden. Zutrauen würde ich es ihr.

Aber so schnell gebe ich nicht auf! »Kassandra ist eine richtig verschmuste Vogelspinne«, erkläre ich, während ich wieder auftauche und versuche, mir den Platz zwischen Papa und Lorraine zurückzuerobern. »Ungefähr so groß!« Mit beiden Händen forme ich einen Kreis von mindestens zwanzig Zentimetern Durchmesser und füge hinzu, bevor Papa eingreifen kann: »Kassandra sitzt besonders gern unterm Sofa. Weil es da schön dunkel ist.«

Jetzt ist Lorraine doch blass geworden. Kompliment, ihre Vorvorgängerin ist schreiend aus dem Haus gerannt, als ich Kassandra erfunden habe, und tauchte nie wieder bei uns auf. So ähnlich habe ich mir Lorraines Reaktion natürlich auch erhofft, aber leider vergeblich, wie es aussieht.

Blöd, ich habe stattdessen ein echtes Eigentor geschossen, stelle ich fest, als Papa nun beruhigend den Arm um die inzwischen äußerst käsige Lorraine legt und sie mit tröstender Stimme darüber aufklärt, dass seine Tochter noch nie im Leben eine Vogelspinne besessen habe. »Carlotta hat nämlich panische Angst vor Spinnen, sogar vor ganz winzigen«, sagt er und wirft mir einen Blick zu, den man auch mit viel gutem Willen nur so interpretieren kann: jetzt aber ab in dein Zimmer!

Mach ich auch, aber nicht ohne oben an der Treppe noch mal zärtlich zu rufen: »Kassilein, wo bist du? Zeig dich, du Monster!« Das muss einfach sein, finde ich.

Lorraine scheint sich inzwischen wieder beruhigt zu haben. »Ich liebe animals«, höre ich sie lachen. »Ja, ich bin so schrecklich tierlieb. Das nächste Mal bringe ich Pinky mit.«

»Pinky?« Papas Stimme klingt nicht sehr begeistert.

»Ja, Pinky. Eigentlich müsste er Whitey heißen, weil er ein schneeweißer Pudel ist. Ich bin sicher, Pinky und Charlotte werden bestimmt dicke Freunde.«

Ich kann es mir nicht verkneifen, ich muss mich einfach laut räuspern. Pinky! Dass ich nicht lache!

»Carlotta?«, ruft Papa.

Ich halte es für besser, nicht zu antworten und mich stattdessen lieber endgültig zu verziehen.

Aus Nataschas Zimmer dringen merkwürdige Geräusche. Die Ärmste heult. Und wie! Das mit Lorraine hat sie wirklich nicht verdient, denke ich. Ich muss sie unbedingt trösten. Vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, diese superblöde Lorraine zu vertreiben!

Ich klopfe, aber Natascha scheint es nicht zu hören. Also reiße ich die Tür auf, wobei ich zuvor noch schnell ein zerknittertes Papiertaschentuch aus meiner Jeans zaubere. Ich weiß, was Natascha jetzt braucht! Mit Liebeskummer kenne ich mich nämlich aus!

Sie sitzt zusammengesunken auf dem Boden, mitten im Zimmer, und schaut sehr unwillig auf, als sie mich sieht.

»Kannst du nicht anklopfen?«, fragt sie. »Du machst immer gleich Theater, wenn bei dir mal nicht geklopft wird.«

Ich strecke ihr wortlos das Taschentuch entgegen. Mir ist klar, dass ich mit ihr behutsam umgehen muss. Sie ist bestimmt tief verletzt, weil Papa mit Lorraine auf dem Sofa sitzt und sie anflirtet.

»Ist vielleicht gar keine schlechte Idee«, meint sie nach kurzem Zögern und nimmt das Taschentuch. »Ich überlege bloß, ob ich am Schluss nicht doch noch zum Messer greife ...«

»Natascha!«, rufe ich entsetzt. »Das darfst du nicht tun! Papa verhält sich manchmal ziemlich blöd, das stimmt schon, aber er meint es nicht so. Die Sache mit Lorraine dauert keine zwei Wochen. Ich kenn meinen Vater. Und an ein Messer darfst du überhaupt nicht denken! Versprich mir das! Bitte!« Ich knie mich neben sie und lege ihr vorsichtig die Hand auf den Arm. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, denke ich. Es reicht, dass Natascha durchdreht.

Und jetzt lacht sie auch noch so verrückt. »Carlotta, du hast wirklich zu viel Fantasie!«, prustet sie und gibt mir das Taschentuch zurück. »Hast du etwa gemeint, ich würde mit dem Messer ...? Ach Quatsch, ich lerne doch bloß meinen Text fürs Vorsprechen! Das ist eine Rolle mit jeder Menge schräger Emotionen.«

Sie redet und redet und natürlich glaube ich ihr das mit der Rolle. Doch in ihren Augen glitzert es verdächtig. Das sind keine Theatertränen, ganz bestimmt nicht! Aber weil ich wirklich nicht weiß, wie ich sie trösten könnte, murmle ich, dass ich noch was für die Schule machen müsse, und verschwinde in mein Zimmer.

Komisch, im ganzen Haus ist es jetzt still. Kein »fantastic« oder so. Sollte Lorraine vielleicht schon gegangen sein?

Leider Fehlanzeige, stelle ich fest, als mein Blick aus dem Fenster fällt. Ich überlege zwei Sekunden und reiße es dann mit einem wahnsinnigen Karacho auf. Die beiden dort unten im Garten sollen ruhig mitkriegen, dass sie beobachtet werden!

Doch eigentlich müsste ich mich erst mal um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Um meine gute Tat des Tages und dann natürlich um die Sache mit Jannis! Sonst bleibt das mit ihm nämlich die nächsten hundert Jahre auf einer Drei-Briefe-pro-Woche-Ebene!

Da hab ich mir schon ein bisschen mehr vorgestellt, ehrlich gesagt. Zum Beispiel würde ich auch gern so verliebt neben Jannis stehen, wie ich das gerade bei meinem Vater und Lorraine sehe. Die beiden scheinen die Welt um sich herum vergessen zu haben. Jedenfalls reagieren sie nicht einmal, als ich – wieder mit Karacho – das Fenster zuschlage.

Lorraine flirtet Papa so heftig an, dass es sogar in meinem Zimmer oben im zweiten Stock vibriert. Ist natürlich total übertrieben, ich hab halt nur vergessen, den Vibrationsalarm an meinem Handy auszuschalten. Ich werfe noch einen ultrabösen Blick in den Garten – Lorraine lehnt inzwischen an Papas Schulter, so als würde sie da hingehören! –, dann nehme ich ab.

Meine Freundin Anke meldet sich.

Bevor sie noch etwas sagen kann, rufe ich: »Du bist das perfekte Opfer für meine gute Tat des Tages!«

»Nicht schon wieder!«, stöhnt sie. »Das musst du doch nicht so tierisch ernst nehmen. Bloß weil auf dem blöden Glückskeks stand, dass dir ein Wunsch erfüllt wird, wenn du jeden Tag eine gute Tat ...«

»Nicht Wunsch, Herzenswunsch!«, verbessere ich sie. »Ich glaub einfach dran. Außerdem hat es bei dir auch gestimmt. Du hast Sven kennengelernt.«

»Ach, Sven«, wehrt Anke ab. »Der ist bestimmt nicht meine große Liebe. Ehrlich gesagt, ich würde ihn am liebsten ganz schnell wieder loswerden. Platz für Neues schaffen, sozusagen! Hast du vielleicht ’ne Idee?«

»Spinnst du?«, frage ich. »Loswerden! Wie das schon klingt! Wie ’ne ansteckende Krankheit oder Akne oder so.«

»Akne passt total!« Meine Freundin kichert. »Sven ist wie Pickel. Die kommen auch immer wieder. Nee, ganz im Ernst. Das würde bestimmt als besonders gute Tat durchgehen, wenn du dir was einfallen lässt, wie ich Sven am besten loswerde. Hat aber auch noch bis morgen Zeit, wenn es dir heute nicht passt. Auf den einen Tag kommt es auch nicht mehr an.«

»O.k., Sven kommt auf Platz drei meiner Liste«, erkläre ich großzügig. »Aber jetzt muss ich dir erst mal erzählen, was Jannis geschrieben hat.«

»Oh, wahnsinnig süß!«, meint Anke, nachdem ich ihr die erste Seite des Briefes vorgelesen habe. »So was von Sven und ich könnte direkt wieder schwach werden. Aber Sven schickt mir bloß SMS. So was von total unromantisch, das kannst du dir nicht vorstellen, in dem Stil: achtzehn Uhr, Sporthalle.« Sie seufzt. »Ich könnte mich wirklich in den Hintern beißen, dass ich Jannis dir überlassen habe.«

Ich müsste meine Freundin jetzt natürlich darauf hinweisen, dass sie einiges falsch sieht. Im Schullandheim hat sich nämlich Jannis in mich verliebt und nicht in sie. Obwohl sie sich damals ganz schön Mühe gegeben hat, ihn zu angeln. Und mich hat sie dazu noch eingespannt!

Aber weil sie mit Svens öden Kurzmitteilungen schon genug gestraft ist, will ich sie nicht noch zusätzlich stressen. Außerdem: Dass ich mich jetzt gewaltig bremse, geht eigentlich schon als gute Tat durch. Und weil Anke unbedingt hören will, wie der Brief weitergeht, lese ich ihn ihr vor.

»Er liebt dich wirklich«, stellt sie schließlich ergriffen fest.

»Ein bisschen weniger schriftliche Liebe und dafür Händchen haltend spazieren gehen wäre aber auch nicht ohne«, erkläre ich. »Doch ich geb die Hoffnung nicht auf. Deshalb ist mir das mit der guten Tat so wichtig. Natürlich ist das Aberglaube, aber ich hab trotzdem das feste Gefühl, dass es schon ein bisschen wirkt.«

Natürlich will Anke jetzt Genaueres wissen und weil auf den Glückskeksen nirgends was von Auf keinen Fall irgendjemandem den eigenen Herzenswunsch verraten stand, finde ich, dass ich ruhig über die Scheidung von Jannis’ Eltern reden darf. Und dass seine Mutter zu ihrer Schwester ziehen möchte. Und dann wird Jannis ganz in meiner Nähe wohnen, nur ein paar Kilometer entfernt, siebzehn Minuten Busfahrt, nur einmal umsteigen, hat er gesagt.

»Jetzt mach’s nicht so spannend«, drängelt meine Freundin. »Wo genau zieht er jetzt hin?«

Ich seufze. »Keine Ahnung, warum er so ein Geheimnis drum macht. Ich hab ihn auch schon gefragt, aber er hat nur gemeint, dass ich mich einfach überraschen lassen soll. Drück mir ganz fest die Daumen mit Jannis«, füge ich hinzu. »Und ich überleg mir was mit Sven. Versprochen!«

Dann lege ich schnell auf, denn ich habe noch einiges vor. Erstens muss ich die Sache mit Lorraine im Auge behalten, zweitens will ich Jannis schreiben und drittens muss ich Natascha davon überzeugen, dass sie unbedingt mit mir nach Stuttgart fahren will.

 

 

»Carlotta, warte!«, höre ich Anke rufen, als ich am nächsten Morgen zur Schule renne. Ich habe es eilig, weil ich unbedingt noch zur Post will, meinen Brief an Jannis einwerfen, einen siebenseitigen Liebesbrief mit Fotos von mir, als ich klein war.

»Du hast vielleicht ein Tempo drauf!«, keucht meine Freundin, als sie mich endlich eingeholt hat. »Da, guck mal! Sind die nicht süß?« Sie hält mir ihr Fotohandy vor die Nase und stößt mich begeistert in die Seite. »Und jetzt müssen wir Namen suchen!«

Charly, ihr Goldhamster, den sie vor zwei Wochen geschenkt bekommen hat, heißt jetzt Adelheid, weil er sich gestern überraschend als Weibchen entpuppt hat. Und die kleinen, hellbraunen Flecken auf dem Handydisplay, auf die Anke immer wieder zeigt, sind seine ... äh, ihre vier Jungen.

»Die bring ich natürlich mal in die Schule mit«, meint sie, »sobald sie ein bisschen größer sind. Dafür krieg ich in Bio bestimmt ’ne halbe Note besser. Vor allem wenn ich unserem Biolehrer noch erzähle, dass ich Tierpflegerin werden will und nicht Model. Meine Mutter findet das supergut. Sie sagt, Tiere gibt’s immer.« Sie stößt mich wieder an. »Ey, Carlotta, mach doch mit. Wir beide als Tierpflegerinnen. Das ist sozusagen ein krisensicherer Job, jede Wette!«

Ehrlich gesagt, Berufswahl ist im Moment nicht so mein dringendstes Problem, aber Anke erwartet eigentlich auch keine Antwort.

»Meine Mutter hat mir versprochen, dass sie demnächst mit mir in die Wilhelma fährt. Das ist der Zoo in Stuttgart«, fügt sie hinzu, als ich sie verständnislos anschaue. »Damit ich mal Einblick kriege, was Tierpfleger so machen.« Anke ist total begeistert und überhaupt nicht mehr zu bremsen. Sie erzählt, warum sie eine Modelkarriere plötzlich blöd findet, wie intelligent Hamster sind ...

Aber ich kann ihr leider nur mit einem halben Ohr zuhören. Ich bastle nämlich gerade an einer Idee, wie ich doch noch nach Stuttgart komme. Gestern Abend war ich nämlich leider nicht sehr erfolgreich mit meiner Überzeugungsarbeit. Natascha hat Nein gesagt. Sie traut sich natürlich nicht, mich mitzunehmen, weil Papa dagegen ist. Ich seufze. Warum sind Erwachsene so kompliziert? Und den Brief habe ich auch nicht eingeworfen, aber das macht jetzt nichts mehr. Mein neuer Plan erscheint mir nämlich inzwischen sehr vielversprechend! Wenn alles klappt, werde ich schon morgen Jannis sehen! »Anke, ich brauch mal kurz deine Hilfe!«, unterbreche ich den Redefluss meiner Freundin. »Und anschließend suchen wir dann Namen für deine Hamster.«

Es scheint mein Glückstag zu sein: Im Pausenhof laufen wir Herrn Johannmüller in die Arme, den wir alle Jonny nennen, umschwärmter Englisch- und Biolehrer unserer 7c.

»Ja, bring die mal mit«, meint er, als Anke ihm von ihrem Hamsternachwuchs erzählt. »Aber vielleicht wartest du besser noch ein paar Wochen, bis sie so groß sind, dass man sie ohne Lupe sieht!« Und weil wir immer noch wie angewurzelt vor ihm stehen, fragt er: »Na, meine Damen, noch was auf dem Herzen?«

Ich nicke. »Herr Johannmüller, mein Vater wird ziemlich sauer, wenn ich keine gute Bionote kriege. Kann man da nicht vielleicht noch was machen?«

Er will etwas sagen, aber ich lasse ihn gar nicht zu Wort kommen. »Ich könnte doch zum Beispiel ein Referat halten? Über Elefanten oder so. Ich würde sogar extra in die Wilhelma fahren, den Zoo in Stuttgart.«

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