Über die Autorin:

 

Dava Sobel ist eine vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsredakteurin der New York Times. Weltweit bekannt wurde sie als Autorin des Bestsellers Längengrad (Berlin Verlag 1996, BvT 2003), mit dem sie eine völlig neue und überaus erfolgreiche Form des populären Wissenschafts-Sachbuchs begründete. Nach ihrem zweiten Buch Galileos Tochter (Berlin Verlag 1999) liegt nun ihr lang ersehntes Buch über die Planeten vor. Dava Sobel lebt in East Hampton und in New York.

1

IMAGINÄRE LINIEN

Wenn ich in spielerischer Laune bin,
mache ich mir aus den Längen- und Breitengraden ein Netz
und fange damit im Atlantischen Ozean Wale.
MARK TWAIN,
Leben auf dem Mississippi

 

 

 

Als ich ein kleines Mädchen war, schenkte mir mein Vater auf einem unserer Mittwochsausflüge eine perlenbesetzte Drahtkugel, die mir sehr gefiel. Mit einer Handbewegung konnte ich sie zu einer flachen Spirale zusammenklappen und sie dann wieder in eine hohle Kugel verwandeln. In seiner Form ähnelte mein Spielzeug einer winzigen Erdkugel, denn die beweglichen Drähte bildeten das gleiche Gittermuster, das ich auf dem Schulglobus mit seinen dünnen schwarzen Linien, den Längen- und Breitengraden, gesehen hatte. Die bunten Perlen liefen auf den Drähten hin und her wie Schiffe auf hoher See.

Mein Vater trug mich auf den Schultern die Fifth Avenue entlang zum Rockefeller Center, und vor der Statue des Atlas blieben wir stehen und betrachteten die Figur, die den Erdball auf ihren Schultern trug.

Die Bronzekugel, die Atlas hochhielt, war, wie das Drahtspielzeug in meiner Hand, ein durchsichtiger, von imaginären Linien umrissener Kosmos. Der Äquator. Die Sonnenbahn. Der Wendekreis des Krebses. Der Wendekreis des Steinbocks. Der Polarkreis. Der Nullmeridian. Schon damals sah ich in dem netzartigen Gitter, das den Globus überzog, ein machtvolles Symbol für alle Kontinente und Gewässer des Planeten.

Heute sind die Längen- und Breitengrade eine noch größere Autorität, als ich es mir vor rund vierzig Jahren hätte vorstellen können, denn sie bleiben unverändert, während die Welt unter ihnen ihr Antlitz verändert – mit Kontinenten, die auf den sich weitenden Meeren dahintreiben, und Staatsgrenzen, die durch Krieg oder Frieden immer wieder neu gezogen werden.

Den Unterschied zwischen geographischer Länge und Breite prägte ich mir als Kind mit einer Eselsbrücke ein. Die Breitengrade, die Parallelkreise, vom Äquator zu den Polen in immer kleiner werdenden, konzentrischen Ringen angeordnet, liegen wirklich parallel zueinander. Die Meridiane der Länge sind anders ausgerichtet. Sie laufen vom Nordpol zum Südpol und wieder zurück in großen Kreisen gleichen Umfangs, die an den Polen konvergieren.

Schon im Altertum, spätestens seit dem dritten Jahrhundert vor Christi Geburt, gab es Darstellungen der Welt, auf denen Linien der Breite und der Länge eingezeichnet waren. Um 150 n. Chr. hatte der Kartograph und Astronom Ptolemäus diese Linien auf den siebenundzwanzig Blättern seines ersten Weltatlasses eingetragen. In seinem bahnbrechenden Kartenwerk waren außerdem in einem Index alle bekannten Orte aufgeführt, in alphabetischer Reihenfolge mit der jeweiligen Angabe von geographischer Länge und Breite – so gut er es eben nach Berichten von Seefahrern schätzen konnte. Ptolemäus selbst hatte nur einen theoretischen Begriff von der weiten Welt. Zu seiner Zeit glaubte man, daß in der furchtbaren Hitze am Äquator alles Leben absterben müßte.

Der Äquator war für Ptolemäus der Null-Breitengrad. Diese Entscheidung traf er nicht willkürlich, sondern unter Berufung auf seine Vorläufer, die den Äquator bei der Beobachtung der Himmelskörper und ihrer Bewegungen aus der Natur abgeleitet hatten. Sonne, Mond und Planeten stehen am Äquator fast senkrecht über dem Betrachter. Auch der Wendekreis des Krebses und der Wendekreis des Steinbocks, zwei andere berühmte Breitengrade, werden von der Sonne bestimmt. Sie bezeichnen die nördliche und südliche Grenze der scheinbaren Sonnenbahn innerhalb eines Jahres.

In bezug auf den Urmeridian, den Null-Längengrad, hatte Ptolemäus dagegen freie Hand. Er legte ihn durch die Inseln der Glückseligen (die Kanarischen Inseln beziehungsweise Madeira), vor der Nordwestküste Afrikas. Spätere Kartographen verschoben den Nullmeridian auf die Azoren und die Kapverdischen Inseln, oder sie legten ihn durch Rom, Kopenhagen, Jerusalem, St. Petersburg, Pisa, Paris und Philadelphia, bevor er endgültig auf London ausgerichtet wurde. Da sich die Welt um die eigene Achse dreht, ist irgendeine von Pol zu Pol gezogene Linie als Bezugslinie so gut wie jede andere. Die Festlegung des Nullmeridians war eine rein politische Entscheidung. Darin besteht auch der wahre, der wesentliche Unterschied zwischen Länge und Breite – neben dem oberflächlichen der Richtung, den jedes Kind sehen kann. Der Null-Breitengrad wird von den Naturgesetzen definiert, während sich der Null-Längengrad verschiebt wie der Sand der Zeit. Aufgrund dieses Unterschieds ist die Bestimmung der Breite kinderleicht, während die Bestimmung der Länge, zumal auf See, ein ausgesprochenes Problem ist – eines, das die klügsten Köpfe der Welt über viele Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte vor ein Rätsel gestellt hat.

Jeder fähige Seemann kann die geographische Breite anhand der Tageszeit, des Sonnenstandes oder durch Ermittlung der Höhe bekannter Sterne über dem Horizont ziemlich genau bestimmen. Christoph Kolumbus fuhr 1492 in einer geraden Linie über den Atlantik, immer den Breitengrad entlang, und mit seiner Methode hätte er es fraglos bis nach Indien geschafft, wenn ihm Amerika nicht dazwischengekommen wäre.

Die Bestimmung der Längengrade dagegen beruht auf einer Zeitmessung. Um auf See die geographische Länge zu ermitteln, muß man die Uhrzeit an Bord des Schiffes und zugleich die im Heimathafen oder an einem anderen Ort von bekannter Länge kennen. Den Zeitunterschied kann der Navigator in den geographischen Abstand übersetzen. Da die Erde für eine vollständige Drehung von 360 Grad vierundzwanzig Stunden benötigt, legt sie in einer Stunde ein Vierundzwanzigstel einer Umdrehung beziehungsweise fünfzehn Grad zurück. Ein Zeitunterschied von einer Stunde zwischen Schiff und Ausgangspunkt entspricht also einer Entfernung von fünfzehn Grad östlicher oder westlicher Länge. Wenn der Navigator auf hoher See mittags, sobald die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreicht hat, den Schiffschronometer auf zwölf Uhr Ortszeit stellt und mit der Heimathafenuhr vergleicht, ergeben sich aus jeder Stunde Differenz fünfzehn Grad Länge.

Dieselben fünfzehn Grad Länge entsprechen auch einer zurückgelegten Entfernung. Auf dem Äquator, wo der Erddurchmesser am größten ist, sind fünfzehn Grad etwa tausend Meilen. Nördlich oder südlich dieser Linie indessen nimmt der Meilenwert eines jeden Grades ab. Ein Grad geographischer Länge entspricht überall auf der Welt vier Minuten, aber in Entfernung ausgedrückt, schrumpft ein Grad von achtundsechzig Meilen am Äquator auf annähernd Null an den beiden Polen.

Die genaue Kenntnis der Uhrzeit an zwei verschiedenen Orten zugleich – eine Voraussetzung für die Längenbestimmung, die heutzutage schon mit zwei billigen Armbanduhren eine unproblematische Sache ist – war bis weit in die Epoche der Pendeluhren hinein völlig ausgeschlossen. An Bord eines schlingernden Schiffes gingen solche Uhren gewöhnlich schneller oder langsamer oder blieben überhaupt stehen. Temperaturunterschiede, die bei Reisen von einem kalten Land in eine tropische Zone normalerweise auftraten, ließen das Schmieröl einer Uhr dünner oder dicker werden und bewirkten, daß sich die metallischen Bestandteile ausdehnten oder zusammenzogen – mit ebenso katastrophalen Folgen. Steigender oder fallender Luftdruck oder die geringfügigen Abweichungen der Erdschwerkraft von einem Breitengrad zum anderen konnten ebenfalls dazu führen, daß eine Uhr schneller oder langsamer ging.

Mangels einer brauchbaren Methode zur Bestimmung der Länge waren im Zeitalter der Entdeckungen selbst die größten Kapitäne auf hoher See orientierungslos, auch wenn ihnen beste Karten und Kompasse zur Verfügung standen. Von Vasco da Gama bis Vasco Núñez de Balboa, von Ferdinand Magellan bis Sir Francis Drake – sie alle gelangten mehr oder weniger zufällig zu den Orten, die sie erreichten, durch Kräfte, die man glücklicher Fügung oder der Gnade Gottes zuschrieb.

Als sich immer mehr Seefahrer aufmachten, neue Territorien zu erobern oder zu erforschen oder Gold und Handelswaren zwischen fremden Ländern hin- und herzutragen, schwamm der Reichtum ganzer Nationen auf den Ozeanen. Doch noch immer gab es keine zuverlässige Methode, die Position eines Schiffes auf See genau zu bestimmen. Zahllose Seeleute mußten daher sterben, wenn aus dem Meer vor ihnen urplötzlich Land auftauchte. Am 22. Oktober 1707 kam es zu einer solchen Katastrophe, als vier heimkehrende britische Kriegsschiffe vor den Scilly-Inseln auf Grund liefen und fast zweitausend Mann ihr Leben verloren.

Die fieberhafte Suche nach einer Lösung für das Problem der Längengradbestimmung dauerte vier Jahrhunderte und erfaßte ganz Europa. In der Geschichte des Längengrads spielten denn auch die meisten gekrönten Häupter eine Rolle, vor allem aber Georg III. von England und Ludwig XIV. von Frankreich. Seefahrer wie Kapitän William Bligh von der Bounty und der große Weltumsegler Kapitän James Cook, der drei lange Entdeckungs- und Forschungreisen unternahm, ehe er auf Hawaii eines gewaltsamen Todes starb, prüften die erfolgversprechenderen Verfahren an Bord ihrer Schiffe auf Genauigkeit und Brauchbarkeit.

Berühmte Astronomen suchten nach Wegen, das Längengradproblem mit den Mitteln des Uhrwerk-Universums zu lösen. Galileo Galilei, Jean Dominique Cassini, Christiaan Huygens, Sir Isaac Newton und Edmond Halley mit seinem kometenhaften Ruhm – sie alle wandten sich an Mond und Sterne um Hilfe. In Paris, London und Berlin wurden königliche Sternwarten eigens zu dem Zweck errichtet, das Längengradproblem zu lösen. Weniger talentierte Geister ersannen Verfahren, die auf dem Gebell verletzter Hunde beruhten oder auf Feuerschiffen, die, an strategischen Punkten plaziert, irgendwie auf dem offenen Meer verankert werden und regelmäßig Böllerschüsse abgeben sollten.

Bei ihren Bemühungen um den Längengrad stießen Naturwissenschaftler auf andere Entdeckungen, die ihre Sicht des Universums veränderten. Dazu gehören die erste genaue Berechnung des Gewichts der Erde, der Entfernung der Gestirne und auch die der Lichtgeschwindigkeit.

Die Zeit verging, keine Methode brachte den Durchbruch, und so nahm die Suche nach einer Lösung des Längengradproblems legendäre Ausmaße an, vergleichbar der Suche nach dem Jungbrunnen, dem Geheimnis des Perpetuum mobile oder der Formel für die Verwandlung von Blei in Gold. Die Regierungen großer Seefahrernationen – Spaniens, der Niederlande und einiger italienischer Stadtstaaten – stachelten regelmäßig die Leidenschaft der Forscher an, indem sie Belohnungen für eine nutzbare Methode aussetzten. Den höchsten Preis, ein wahrhaft fürstliches Entgelt, schrieb das britische Parlament in seinem berühmten Longitude Act von 1714 für eine »praktikable und nützliche Methode« zur Bestimmung der geographischen Länge aus – nach heutigen Begriffen mehrere Millionen Dollar.

Der englische Uhrmacher John Harrison, ein genialer Mechaniker, ein Pionier auf dem Gebiet tragbarer Präzisionszeitmesser, widmete dieser Suche sein Leben. Ihm gelang, was Newton für unmöglich gehalten hatte. Er erfand einen Chronometer, der die Zeit des Heimathafens wie eine ewige Flamme in den entferntesten Winkel des Globus trug.

Harrison, ein Mann von einfachem Stand und hoher Intelligenz, kreuzte mit den führenden Köpfen seiner Zeit die Klinge. Zum Feind machte er sich dabei vor allem Nevil Maskelyne, den fünften Königlichen Astronomen, der Harrisons Anspruch auf das begehrte Preisgeld anfocht und dabei zu Methoden griff, die nur als höchst unfein bezeichnet werden können.

Obwohl Harrison Autodidakt war und keine Uhrmacherlehre absolviert hatte, konstruierte er eine Serie nahezu reibungsfreier Uhren, die weder geschmiert noch gereinigt werden mußten, die aus rostunempfindlichem Material bestanden und trotz aller Bewegungen und Erschütterungen, denen sie auf See ausgesetzt waren, außerordentlich genau gingen. Er verzichtete auf das Pendel und verwendete in seinen Konstruktionen Metalle mit unterschiedlicher Ausdehnung, die Temperaturschwankungen kompensierten und so ein konstant laufendes Uhrwerk ermöglichten.

Doch die wissenschaftliche Elite mißtraute Harrisons Zauberkasten und erkannte seine Leistungen nicht an. Die Kommission, die den Längengradpreis zu vergeben hatte – ihr gehörte auch Nevil Maskelyne an –, änderte immer wieder die Wettbewerbsbedingungen, um Astronomen einen Vorteil gegenüber Leuten wie Harrison und ähnlichen »Mechanikern« zu verschaffen. Doch am Ende triumphierte die Nützlichkeit und Präzision von Harrisons Lösung. Seine Nachfolger arbeiteten an einer Vereinfachung seiner komplizierten Erfindung, was die Voraussetzung dafür war, daß sie massenhaft produziert und eingesetzt werden konnte.

Alt und müde geworden, von König George III. protegiert, bekam Harrison im Jahre 1773 schließlich den ihm zustehenden Preis – nach vier Jahrzehnten politischer Intrigen, Fehden, akademischer Verleumdungen, wissenschaftlicher Revolutionen und ökonomischer Umwälzungen.

All diese Fäden, und noch viele andere, sind mit den Linien der Längengrade verknüpft. Sie jetzt wieder aufzulösen, ihrer Geschichte nachzugehen – in einem Zeitalter, da die Position eines Schiffes von stationären Satelliten innerhalb weniger Sekunden auf den Meter genau angegeben werden kann – heißt, den Globus mit neuen Augen zu betrachten.

2

DAS MEER VOR DER ZEIT

Die mit Schiffen auf dem Meere fuhren
und trieben ihren Handel auf großen Wassern,
die des HERRN Werke erfahren haben
und seine Wunder auf dem Meer.
PSALM 107

 

 

 

»Sauwetter«, so bezeichnete Admiral Sir Clowdisley Shovell den Nebel, der ihm zwölf Tage lang auf See zusetzte. Nach siegreichen Gefechten mit der französischen Mittelmeerflotte war er von Gibraltar aus zur Heimreise aufgebrochen, aber die schweren Herbstnebel waren nicht so leicht zu schlagen. Voller Sorge, seine Schiffe könnten auf Felsenriffe laufen, befahl der Admiral all seinen Navigationsoffizieren, die Köpfe zusammenzustecken.

Nach übereinstimmender Meinung befand sich die Flotte vor der Bretagne, in sicherem Abstand westlich der Ile d’Ouessant. Also hielt man weiter nördlichen Kurs, doch dann stellten die Seeleute zu ihrem Schrecken fest, daß sie ihre Position in bezug auf die Scilly-Inseln falsch berechnet hatten. Diese Inselgruppe, etwa zwanzig Meilen vor der Südwestspitze Englands, führt wie ein steinerner Pfad auf Land’s End zu. Und in der nebligen Nacht des 22. Oktober 1707 wurden die Scillys zum namenlosen Grab für zweitausend von Admiral Shovells Marinesoldaten.

Zuerst traf es das Flaggschiff. Die Association ging mit Mann und Maus innerhalb weniger Minuten unter. Ehe die anderen Schiffe auf die offensichtliche Gefahr reagieren konnten, liefen die Eagle und die Romney auf Felsenriffe und sanken ebenfalls wie Steine. Vier von insgesamt fünf Kriegsschiffen gingen verloren.

Nur zwei Männer wurden an Land gespült – einer davon war Sir Clowdisley selbst, der, während er von den Wellen ans Ufer getragen wurde, noch einmal blitzartig die siebenundfünfzig Jahre seines Lebens vor sich ablaufen gesehen haben mag. Bestimmt aber dachte er an den Verlauf der vorangegangenen vierundzwanzig Stunden, in denen er die folgenschwerste Fehlentscheidung seiner Offizierslaufbahn getroffen hatte. Ein Matrose der Association, der während der gesamten Schlechtwetterperiode fortlaufend eigene Positionsbestimmungen vorgenommen zu haben behauptete, war an ihn herangetreten. Derartige Eigenmächtigkeiten waren in der Royal Navy strengstens verboten, was der unbekannte Seemann sehr wohl wußte. Doch nach all seinen Berechnungen erschien ihm die Gefahr so groß, daß er Kopf und Kragen riskierte, um die Offiziere von seiner Sorge in Kenntnis zu setzen. Der Admiral ließ den Mann auf der Stelle wegen Meuterei aufknüpfen.

Niemand war da, der dem halbertrunkenen Sir Clowdisley ein »Ich hab’s Euch ja gesagt!« hätte entgegenschleudern können. Doch kaum war der Admiral auf trockenem Sand zusammengebrochen, tauchte den Berichten nach eine Strandräuberin auf, die sich in den Smaragdring an seinem Finger verliebte. Um sich in den Besitz dieses Rings zu bringen, beschloß sie, den Entkräfteten einfach zu töten. Drei Jahrzehnte später beichtete sie auf dem Sterbebett einem Geistlichen ihr Verbrechen und gab ihm den Ring als Beweis für ihre Schuld und Reue.

Das dramatische Ende von Admiral Clowdisley Shovells Flotte war der Höhepunkt in der langen Unglückssaga der Schiffahrt jener Zeit, als Seeleute noch nicht imstande waren, die geographische Länge zu bestimmen. Seite für Seite berichtet diese elende Geschichte von Schrecken und Qual, von Tod durch Skorbut und Verdursten, von Gespenstern in der Takelage, vom Scheitern an fremden Küsten, von Riffen, die Schiffswände durchbohrten, von den Leichen der Ertrunkenen an den Stränden. In buchstäblich Hunderten von Fällen sind Schiffe untergegangen, weil es auf See keine Methode der Längengradbestimmung gab.

Die Kapitäne des fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die eine Mischung aus Kühnheit und Habgier auf die Weltmeere hinauszog, bestimmten ihre geographische Länge mittels des »Gissens«. Dazu warf man eine Logge über Bord und beobachtete, wie schnell sich das Schiff von dieser Behelfsmarke entfernte. Der Kapitän notierte das Ergebnis dieser groben Geschwindigkeitsmessung, die Fahrtrichtung, die er mit Hilfe der Gestirne oder des Kompasses bestimmte, sowie die Dauer eines jeweiligen Kurses, die er mit einer Sanduhr oder Taschenuhr maß. Unter Berücksichtigung von Meeresströmungen, unbeständigen Winden und den unvermeidbaren Unsicherheiten der Geschwindigkeitsmessung ermittelte er schließlich seine Position. Natürlich verfehlte er in der Regel sein Ziel – vergeblich suchte er die Insel, wo er frisches Wasser zu finden hoffte, oder gar den Kontinent, den er erreichen wollte. Allzuoft stellte sich das »dead reckoning«, wie das Gissen auf Englisch hieß, in der Tat als tödlich heraus.

Da es keine Methode zur genauen Positionsbestimmung gab, dauerten lange Schiffsreisen noch länger, was wiederum den gefürchteten Skorbut begünstigte. Aufgrund der vitaminarmen Ernährung an Bord, ohne frisches Obst und Gemüse, kam es im Laufe der Zeit zu Mangelerscheinungen. Die Blutgefäße platzten, so daß die Männer aussahen, als hätten sie überall Blutergüsse, obwohl sie sich überhaupt nicht verletzt hatten. Tatsächliche Verletzungen heilten nicht. Die Beine schwollen an. In Muskeln und Gelenken traten plötzliche Blutungen auf. Das Zahnfleisch blutete, die Zähne fielen aus. Die Männer wurden kurzatmig, fühlten sich kraftlos, und wenn die Blutgefäße im Gehirn platzten, trat der Tod ein.

Die globale Unfähigkeit, den Längengrad zu bestimmen, führte aber nicht nur zu menschlichem Leid, sondern auch zu wirtschaftlichen Verlusten größten Ausmaßes. Seetüchtige Schiffe waren auf einige wenige Schiffahrtswege beschränkt, die eine sichere Passage versprachen. Da ausschließlich nach der geographischen Breite navigiert wurde, drängten sich Walfänger, Handelsschiffe, Kriegs- und Piratenschiffe auf den bekannteren Routen, wo die einen den anderen zum Opfer fielen. 1592 beispielsweise lag ein Geschwader von sechs englischen Kriegsschiffen vor den Azoren, um dort spanischen Handelsschiffen aufzulauern, die aus der Karibik zurückkehrten. Ins Netz ging ihnen auch die Madre de Deus, eine mächtige portugiesische Galeone, die aus Indien zurückkam. Trotz ihrer zweiunddreißig Kanonen verlor die Madre de Deus die kurze Schlacht und Portugal eine fürstliche Fracht. In den Laderäumen der Galeone lagen Kisten voller Gold- und Silbermünzen, Perlen, Diamanten, Bernstein, Moschus, Wandteppiche, Kattun und Ebenholz sowie mehr als vierhundert Tonnen Pfeffer, fünfundvierzig Tonnen Nelken, fünfunddreißig Tonnen Zimt und je drei Tonnen Muskatblüten und Muskatnüsse. Die Madre de Deus erwies sich als wahre Goldgrube – ihre Ladung im Wert von einer halben Million Pfund Sterling entsprach etwa der Hälfte des damaligen englischen Staatshaushalts.

Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts verkehrten jährlich fast dreihundert Schiffe im Jamaika-Handel zwischen Großbritannien und den Westindischen Inseln. Da der Untergang eines einzigen Schiffes einen enormen Verlust darstellte, lag den Kaufleuten natürlich daran, das Unvermeidliche zu verhindern. Sie wollten geheime Seerouten entdecken, doch das bedeutete, ein Verfahren zur Längengradbestimmung zu finden.

Der beklagenswerte Stand der Navigation alarmierte auch Samuel Pepys, den berühmten englischen Tagebuchschreiber, der eine Zeitlang in den Diensten der Royal Navy stand. Pepys notierte 1683 auf einer Reise nach Tanger: »Angesichts der ungewissen Positionsbestimmungen und der absurden Theorien, die in diesem Zusammenhang aufgestellt werden, und des Durcheinanders, das unter den Leuten herrscht, ist völlig klar, daß sich nur durch göttliche Vorsehung, durch Zufall und aufgrund der Weite des Meeres nicht noch mehr Katastrophen in der Seefahrt ereignen als ohnehin schon.«

Geradezu prophetische Worte, wenn man an die Katastrophe vor den Scilly-Inseln denkt. Dieses Unglück, das sich 1707 in unmittelbarer Nähe der großen englischen Häfen ereignet hatte, lenkte das Augenmerk der ganzen Nation auf das Längengradproblem. Der plötzliche Verlust so vieler Menschenleben, von so vielen Schiffen und so viel Ehre – neben all den Katastrophen früherer Zeiten – machte deutlich, wie töricht es war, ohne eine Methode der Längengradbestimmung die Ozeane zu befahren. Der Tod von Admiral Shovells Männern – weitere zweitausend Märtyrer des Längengrads – beschleunigte die Verabschiedung des berühmten Longitude Act von 1714, in dem für eine Lösung des Längengradproblems eine Prämie von 20 000 Pfund Sterling ausgeschrieben wurde.

1736 ging ein unbekannter Uhrmacher namens John Harrison an Bord der H. M. S. Centurion, um mit einem erfolgversprechenden Instrument eine Erprobungsfahrt nach Lissabon zu unternehmen. Die Schiffsoffiziere sahen selbst, daß sie mit Harrisons Uhr bessere Navigationsergebnisse erzielten. Sie bedankten sich sogar bei Harrison, denn sein neumodischer Apparat hatte ihnen gezeigt, daß sie auf der Rückfahrt etwa sechzig Seemeilen vom Kurs abgekommen waren. Im September 1740 aber, als die Centurion unter Kommodore George Anson mit Kurs auf den Südpazifik in See stach, stand die Längengraduhr auf terra firma in London, in Harrisons Haus am Red Lion Square. Dort arbeitete der Erfinder, der schon eine zweite, verbesserte Version gebaut hatte, an einem dritten, weiter verfeinerten Modell. Diese Uhren waren aber noch nicht allgemein akzeptiert, und sie sollten erst fünfzig Jahre später breite Anwendung finden. Ansons Geschwader überquerte den Atlantik also nach der althergebrachten Methode – mit Breitengradbestimmung, dem Gissen und großer nautischer Erfahrung. Die Flotte erreichte Patagonien nach einer ungewöhnlich langen Überfahrt, doch dann kam es zu einer Tragödie, weil die Navigatoren nicht mehr wußten, auf welcher Länge sie sich befanden.

Am 7. März 1741 steuerte Anson die Centurion, deren Decks schon von Skorbutgestank erfüllt waren, durch die Le-Maire-Straße. Bei Kap Hoorn geriet er in einen Sturm aus West, der die Segel zerfetzte und das Schiff so heftig hin und her warf, daß Männer, die den Halt verloren, an Deck zerschmettert wurden. Der Sturm ließ von Zeit zu Zeit nach, um dann wieder mit voller Wucht loszuschlagen. Achtundfünfzig Tage lang wurde die Centurion gnadenlos gepeinigt. Die Winde brachten Regen, Graupelschauer und Schnee mit sich. Und jeden Tag starben bis zu zehn Mann der skorbutgeschwächten Besatzung.

Anson kreuzte gegen dieses Unwetter auf westlichem Kurs, mehr oder weniger parallel zum sechzigsten Breitengrad, bis er sich zweihundert Meilen westlich von Feuerland wähnte. Die anderen fünf Schiffe seines Geschwaders waren in dem Sturm von der Centurion getrennt worden, einige waren für immer verloren.

In der ersten mondhellen Nacht, die er seit zwei Monaten erlebt hatte, erwartete Anson schließlich ruhigere See und nahm nördlichen Kurs auf das irdische Inselparadies namens Juan Fernandez. Dort würde er frisches Wasser für seine Männer finden, die Sterbenden trösten und den Überlebenden Mut zusprechen können. Bis dahin würden sie von Hoffnung leben müssen, denn bis zur Inseloase waren es noch mehrere Tage Fahrt auf der unendlichen Weite des Pazifik. Aber als der Dunst sich legte, sichtete Anson Land, genau voraus. Es war Kap Noir, am westlichen Rand von Feuerland. Wie konnte das sein? Waren sie rückwärts gefahren?