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Frag nicht – küss mich

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Planet Girl

Für Ivan, der meine Antwort

auf die Frage ist

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»Regisseurin?« Ragna sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Warum denn nicht?«

»Lotte, du guckst nicht mal Soaps! Dich ins Kino zu schleifen kostet mich immer jede Menge Überredungsarbeit! Du magst keine Filme!«

»Ja, und?« Als wenn das Gründe wären, mich davon abzuhalten, Regisseurin zu werden! Ich will es ja schließlich nicht beruflich machen, nicht mal als Hobby, ich werde es nur mal kurz zwischendurch für zwei läppische Wochen.

»Projektwochen können sich lang hinziehen, wenn man was macht, was man nicht leiden kann.« Ragna scheint meine Gedanken gelesen zu haben.

»Aber es ist doch für einen guten Zweck!« Einen besseren gibt es nun wirklich nicht. Vincent hat sich als Kameramann in die Filmgruppe eingeschrieben und jeweils ein Kameramann und ein Regisseur bilden ein Team. Ich werde mir Vincent aussuchen und dann nimmt alles seinen schicksalsgewollten Lauf. Ein Wink des Himmels! Ganz klar! »Kann es eine bessere Gelegenheit geben, ihn endlich kennenzulernen?«, frage ich und seufze so, wie ich immer seufze, wenn es um Vincent geht.

Seit ich ihn unter all den grauen Durchschnittsjungs in unserer Schule entdeckt und zu meinem Auserwählten bestimmt habe, sind immerhin schon drei Monate, zwei Wochen, vier Tage und neunzehn Stunden vergangen. Ich habe mir dieselben Sneakers gekauft, wie er sie trägt, ich habe täglich über ihn gegoogelt, ich habe das Bild von ihm aus der Schulzeitung so groß kopieren lassen, dass es nur noch wie ein Haufen schwarz-weißer Erbsen aussieht, ich habe hundertmal bei ihm angerufen und wieder aufgelegt, ihn rein zufällig ziemlich übel angerempelt und Hinz und Kunz nach ihm ausgefragt. Hat alles nichts genützt. Wie auch? War alles voll passiv. Das Resultat ist gleich null: Er sieht mich nicht mal. Es muss endlich was Handfestes passieren, sonst werde ich ein Psycho!

»Du bist echt ein Psycho!«, bestätigt Ragna meine Befürchtung. »Der Typ macht dich irgendwie zu einem Wrack.«

»Dann sollte ich schnell noch einen Film drehen, bevor ich endgültig untergehe!« Uff, ich habe gesprochen. Und weil die arme Ragna, Psycho hin, Psycho her, nun mal meine beste Freundin ist und mich daher nicht unbeaufsichtigt durch die Welt oder gar in mein Unglück rennen lassen darf, zückt auch sie den Kuli und kritzelt ihren Namen statt unter Müllentsorgung, ökologisch in die Spalte Regisseure der Gruppe Dokumentarfilm.

»Mensch, muss ich dich lieb haben!«, stellt sie fest.

»Hast du, meine Teure, hast du und wirst du immer haben.«

Zu trennen sind wir zwei nicht mehr, da kann kommen, wer will.

Als Susanne und Papa sich beim Abendessen gleichzeitig was in den Mund stecken und somit für eine Sekunde nicht über unseren blöden Rohbau, in den sowieso niemand ziehen will, reden können, platze ich los. »Ragna will was zum Thema Vom Aussterben bedrohte heimische Tierwelt drehen«, erzähle ich, obwohl ich eigentlich nie was beim Essen erzähle. Aber heute sprudle ich einfach so dermaßen über vor lauter fantastischer Pläne, dass ich eine Ausnahme mache. »Langweiliger geht es echt nicht mehr. Seit sie mit diesem Ökofritzen chattet, ist nichts mehr mit ihr los. Umweltschutz hier, Umweltschutz da. Dabei hat sie nicht mal ein Foto von ihm gesehen!«

»Vielleicht besser so«, grinst Ines. »Diese Umwelttypen haben doch alle Fusselhaare und Ziegenbärte.«

»Ja, der ist bestimmt voll ökologisch, aber auch voll häss…«

»Apropos ökologisch«, fällt Susanne mir ins Wort. »Wenn wir das mit den Kollektoren auf unserem Dach wirklich wollen, dann sollten wir uns mal an meinen Arbeitskollegen Jan wenden. Der hat schon Solarenergie und …«

»Hallo!« Ich klopfe mit dem Messer mal tüchtig auf die Tischplatte. Geht’s noch?

»Ja?« Papa guckt mich fragend an, rafft aber mal wieder gar nichts.

»Unterbrochen!«, maule ich und zeige von Susanne auf mich. »Deine Ver-lob-te hat mich unterbrochen.«

Papa seufzt. Aber statt seiner Ver-lob-ten endlich mal tüchtig die Leviten zu lesen, festzustellen, dass fünfzehn Jahre Altersunterschied unüberbrückbar sind, das Weib vom Hof zu jagen und wieder glücklich mit seinen beiden Töchtern zu leben, fragt er: »Was war denn, Spätzchen?«

Aber jetzt hab ich echt keine Lust mehr, mein Innerstes nach außen zu kehren. Und von wegen Spätzchen! Es hat sich ausgespatzt. Um Aufmerksamkeit zu betteln ist echt abartig und extrem würdelos. Ich war schließlich zuerst da, die kam später. Susanne hat hier gar nichts zu kamellen. »Fertig«, verkünde ich und schiebe meinen Teller weg. »Schmeckt übrigens nach nichts!«

Ich gebe Ines einen Wink: Ab ins Kinderzimmer, auch wenn es dir zufällig doch schmecken sollte! Appetit beim Essen verstößt gegen die Regeln. Wenn Susanne gekocht hat. Genau wie was Persönliches zu erzählen gegen die Regeln verstößt. Wenn Susanne dabei ist. Ich hatte es nur mal kurz vergessen.

Ines lässt demonstrativ das Besteck in den Lasagnerest auf ihrem Teller fallen und improvisiert obendrein noch eine verbale Absage an den verlobten Eindringling: »Schmeckt irgendwie nach eingeschlafenen Käsefüßen.«

Bravo! Ich denke, damit hat Susanne genug für heute!

»Ich hasse sie!«, sage ich voller Inbrunst, sobald wir uns auf unsere Betten geschmissen haben und ich Teddine hinter dem Kissen hervorgezogen und in meine Achselhöhle geklemmt habe.

»Ich hasse sie auch«, sagt Ines. »Sie lässt echt nicht locker. Wenn ich die wäre, ich hätte schon längst aufgegeben. Aber die reißt sich jeden Tag aufs Neue den Hintern auf, um uns was auf den Teller zu zaubern. Hallo! Drei Gänge an einem Dienstag. Voll bescheuert. Bei Mama gab’s unter der Woche immer nur Auflauf oder Pasta. Und die macht einen auf Chichi. Hat die gar keinen Stolz oder so was?«

»Irgendwie ist es in den letzten Wochen noch schlimmer mit ihr geworden!«

»Stimmt! Echt unerträglich!«

Ich zucke die Schultern und schiebe erst mal eine CD ein. Mit Musik redet es sich immer besser. Und was es jetzt zu bereden gibt, muss unbedingt gut werden. »Was mach ich denn bloß für einen Film?«

Während ich Teddine knete, pult Ines wie immer, wenn sie wirklich scharf nachdenkt, Dreck aus ihren Fingernägeln. »Wie wär’s, wenn du was über die Baubranche machst? Beton anmischen und Wände hochziehen. Und natürlich schwitzende Lehrlinge in dreckigen Unterhemden.« Ines springt aufs Bett, lässt den nicht vorhandenen Bizeps spielen und macht einen auf Vorschlaghammer. »Ich übernehme auch die Maske oder bin das Skriptgirl!«

Na toll! Nur weil Ines sich in den Azubi vom Bauunternehmer verknallt hat, soll ich den Ort des Grauens auch dann aufsuchen, wenn Papa uns nicht dazu zwingt? Auf den Bau in meiner kostbaren Freizeit? Nein, danke!

»Das Gebaue reicht mir schon so«, knurre ich. »Noch mehr Susanne brauch ich echt nicht.«

Ines nickt. Die Vorstellung, Susanne dabei zu filmen, wie sie als selbst ernannte Bauleiterin den armen Handwerkern auf die Nerven geht, ist auch für sie nicht gerade verlockend, da nützt auch der schönste Azubi nichts. »Wenn es nach mir ginge, würde Susanne noch einen Haufen Fehler machen«, sagt Ines. »Irgendwas am Fundament. Pardauz, Haus zusammengefallen! Papa voll pleite und endlich keine Lust mehr auf die Schnitte. Oder wenn doch noch Lust, dann dauert der Bau wenigstens noch Jahre. Wär auch okay. Dann hab ich genug Zeit, Igor rumzukriegen.«

»Und was dreh ich jetzt für einen Film?«

Auch wenn Ines’ Zukunftsvisionen nicht zu verachten sind, geht es jetzt gerade um die Realität. Morgen ist Vorbesprechung in den Projektgruppen. Bis dahin muss ich ein Konzept haben. Und ich hab nicht mal eine Idee.

»Mach doch was zum Thema Immigranten aus Osteuropa«, sagt Ines.

»Nein, verdammt, dein Russenazubi kommt nicht in meinem Film vor«, maule ich. »Und jetzt will ich keine egozentrischen Vorschläge mehr hören!«

»Dann frag doch Ragna«, zischt Ines, springt vom Bett, rauscht zur Tür und knallt sie hinter sich zu, um im Abstellraum nach Privatsphäre zu suchen.

Ich bin zufrieden. Manchmal muss man Ines einfach nur ein bisschen anknurren, dann hat sie die besten Ideen. Na klar! Ragna muss an die Strippe. Und zwar sofort.

Ich wähle blind und falle gleich mit der Tür ins Haus. »Ich brauche eine Idee für meinen Film, die meinem Projekt Vincent förderlich ist! Irgendwas, wobei wir uns näherkommen können, wenn wir zusammen daran arbeiten!«

»Hä?«

»Na, wenn er zum Beispiel immigriert wäre, dann würde ich was über Immigranten machen. Und wenn er Bauarbeiter wäre, dann würde ich was übers Häuserbauen machen.«

»Er ist eine Klasse über uns und hier geboren.«

»Das waren ja auch nur Beispiele!«

»Okay, was ist er denn?«, fragt Ragna. »Ist er irgendwas, über das man was drehen könnte?«

Gute Frage. Ich zücke meine Vincentakte, in der ich alle Observationsnotizen, alle Recherchen und alle meine mehr schlecht als recht gezeichneten Porträts sammle, und blättere los. »Schön?«

»Kein Filmthema.«

»Süß?«

»Boah, Lotte!«

»Mittelschlechter Schüler?«

»Oh, wie aufregend.«

»Hm.«

»Ich glaub, dein Auserwählter ist eine ziemlich langweilige Nullnummer«, kichert Ragna. »Aber Hauptsache, du liebst ihn.«

»Liebe!« Ich brülle es Ragna so dermaßen laut durch den Hörer ins Trommelfell, dass sie reflexartig zurückbrüllt.

»Ahhh!«

Und dann ich wieder: »Ahhh!«

»Was ist mit Liebe?«, fragt Ragna dann.

»Die Liebe, meine Liebe, die ist mein Thema!«

»Was denn davon?« Ragna klingt wenig begeistert.

»Keine Ahnung. Alles.«

»Alles Liebe. Super Thema.«

»Dann eben: Was ist eigentlich Liebe?«

»Was ist das denn für eine dumme Frage? Das weiß doch jeder.«

»Dann sag mal.«

»Na, Liebe ist, wenn ein Mann und eine Frau … wenn die beiden …«, stammelt Ragna. »… wenn sie sich mögen … also nicht nur so als Freunde, sondern … also …«

Sie hat keine Ahnung.

»Geht’s noch ein bisschen unkonkreter?«

»Nein!«

»Na, dann freu dich mal auf meinen Film. Da kannst du noch was lernen.«

»Sehr interessant.« Wenigstens Frau Wegener findet mein Thema prima.

Ich werfe Ragna einen Siegerblick zu, sie zuckt nur mit den Schultern, Marke: Seit wann hat die Wegener Ahnung davon, was gut ist?

Da werfe ich statt auf Ragna doch lieber einen Blick auf Vincent. Wie gut der heute wieder aussieht! Er hockt irgendwie hollywoodmäßig in der letzten Ecke des Raumes und fummelt versonnen an einer der Filmkameras rum. Wenn er doch nur einmal so an mir rum…

»Dann stell dein Konzept mal vor zu: Was ist eigentlich Liebe?«, kommt mir Frau Wegener dazwischen.

Zu dumm, dass ich noch kein Konzept habe! Ich hab zwar die halbe Nacht darüber gegrübelt, aber das Einzige, was mir dazu einfallen wollte, war irgendwas von wegen Mann und Frau und mögen und nicht nur wie Freunde und Vincents wunderschöne Wangengrübchen. Ein Konzept sind die leider nicht.

»Ähm ja …«, stammle ich drauflos, »zum Beispiel fände ich es interessant … also es wäre sicher ein guter Ansatz, wenn …« Was weiß ich denn, wie man an so ein komplexes, kompliziertes, verwirrendes Thema rangeht! Ich hab noch nie einen Dokumentarfilm gedreht. Der einzige Dokumentarfilm, an den ich mich überhaupt erinnern kann, ist Die Wüste lebt, aber mit besoffenen Affen und verlassenen Pelikanbabys komme ich jetzt wirklich nicht weiter. »Die Liebe ist ja so wahnsinnig vielfältig«, versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. »Sie lässt sich gar nicht wirklich in ein Konzept stopfen.«

Noch nickt Frau Wegener beeindruckt, aber wenn mir nicht irgendwer ganz schnell zu Hilfe kommt, fliegt mein Bluff auf.

Ich starre zu Ragna, aber die hat ja schon verlauten lassen, dass sie mein Thema doof findet.

»Man könnte zum Beispiel darüber forschen, wie eine gemeinsame Mission die Liebe entfacht«, sagt sie trotzdem schwach. »Die Umwelt zum Beispiel.«

Als wenn sich Ragnas individueller Ökofimmel auf die Allgemeinheit übertragen ließe!

Frau Wegener runzelt die Stirn und Ragna winkt ab. »War nur so ’ne Idee.«

Jetzt bin ich also wieder im Visier.

»Was ist Liebe denn für dich persönlich, Lotte?«, fragt Frau Wegener.

Und als wenn diese Frage allein noch nicht Herausforderung genug wäre, guckt ausgerechnet in dem Moment auch noch Vincent von seiner Kamera hoch und scheint interessiert auf meine Antwort zu warten.

Himmel! Es passiert mir nicht mehr oft, aber jetzt kommt es über mich wie eine Naturkatastrophe. Ich spüre es heiß im Nacken, dann flutet es mein ganzes Gesicht: Tomatenalarm! Ich steh unter Druck: Dem Jungen, der in Zukunft, auch wenn er davon noch nichts weiß, den Job als mein Lover übernehmen wird, sollte ich schon eine halbwegs klare Definition davon geben, was ich mir unter unserem zukünftigen Zusammensein vorstelle.

Frau Wegener nickt auffordernd. Es sieht gar nicht danach aus, als wollte sie ihre Frage zurückziehen oder gegen eine andere eintauschen, und einen Joker einzusetzen geht hier dummerweise auch nicht.

Alle glotzen meine Tomate an, irgendwo wird schon gekichert und bestimmt längst darüber nachgedacht, wie meine Blamage zu einer netten Schulhofanekdote verwurstet werden kann. Die Schweine! Als wenn irgendjemand hier eine Antwort auf so eine Frage parat hätte! Die sind doch alle selbst noch völlig unterbelichtet, was die Liebe angeht, Filmstaranschmachter, Kalenderblättchenbestauner!

Ich hab einen Blackout! Da hilft nur eins. Ich entscheide kurzerhand, mein Thema über den Haufen zu werfen und Frau Wegener von meiner anderen tollen Filmidee zu berichten: Immigrierte Bauarbeiter bei der Arbeit.

Zum Glück kommt mir jemand zuvor. »Also ich persönlich weiß noch nicht, was die Liebe ist. Also, nicht aus eigener Erfahrung.«

Alle Köpfe drehen sich nach hinten und starren ihn an. Einen von den Kameraleuten. Paul aus der Zehnten. Der mit dem peinlichen Scouttornister. Der mit der völlig verbeulten Vespa. Ist der wahnsinnig?

Das Kichern und die Suche nach Anekdoten hat sich sofort auf ihn gelenkt.

Er allerdings lässt sich nicht vom Weiterreden abhalten. »Aber es gibt genug Menschen, die schon jede Menge Erfahrung mit der Liebe gemacht haben.«

Himmel, hilf, wieso sagt der nicht gleich, dass er noch Jungfrau ist!

Das Gekicher im Projektraum ist zu einem Prusten geworden, nur Frau Wegener nickt interessiert.

»Ich würde die Sache so angehen, dass ich verschiedene Menschen zur Liebe befrage«, redet Paul unbeirrt weiter. »Das Thema von allen möglichen Seiten beleuchten. Vielleicht finden sich ja ganz viele Antworten auf die Frage, was die Liebe eigentlich ist. Dann kann man sich vorübergehend eine aussuchen, solange man noch keine eigene gefunden hat.«

Im Projektraum gibt es kein Halten mehr. Wie beim Sexualkundeunterricht in der Fünften wird geprustet.

Frau Wegener stoppt das Getöse mit einem energischen Klopfer aufs Pult. »Eine wunderbare Idee, Paul«, sagt sie und wendet sich dann an mich: »Was denkst du, Lotte?«

Ich denke, ich hab die Arschkarte. Sag ich ›Doofe Idee‹, werd ich wieder nach einer eigenen befragt, sag ich ›Prima Idee‹, bin ich der Depp und muss mir die nächsten fünfzig Jahre anhören, dass ich und Paul ein super Paar abgeben würden. Ich entscheide mich für ein unbestimmtes Grunzen.

Frau Wegener interpretiert es zu meinem Schrecken auf ihre Art. »Gruppe 3: Lotte und Paul mit Was ist eigentlich Liebe?«, sagt sie erfreut und schreibt es zu allem Überfluss auch noch an die Tafel.

Katastrophe!

»Aber ich wollte doch mit …«, platzt es ungefiltert aus mir raus.

Frau Wegener zieht eine Augenbraue hoch.

»… mit … mit Vergnügen«, huste ich schnell.

Ich weiß echt nicht, wieso ausgerechnet mein Leben so was von verpfuscht ist!

»Anheben! Etwas nach links!«

Papa gibt Anweisungen und ich halte unter Schwitzen und Fluchen mit Ines einen dämlichen Balken hoch. Er soll irgendwo dran. Wahnsinnig wichtiges Teil. Nur leider habe ich etwas viel Wichtigeres zu tun. Ich muss Ines haarklein die Katastrophe des heutigen Schultages erzählen.

»Und jetzt rate mal, wer am Ende in eine Gruppe mit Vincent gekommen ist?«, frage ich und lasse dabei unwillkürlich den Balken sinken.

»Hoch!«, brüllt Papa.

»Ragna!«, brüllt Ines.

»Genau!«, brülle ich.

Der Balken ist wieder in Position und Papa fängt an zu hämmern.

»Nicht wahr!«, stößt Ines fassungslos hervor und lässt jetzt ihre Seite des Balkens sinken.

»Verdammt! Hoch damit!«, brüllt Papa.

»Boah, das ist Kinderarbeit!«, brülle ich.

»Das ist voll schwer. Kann Susanne das nicht machen!«, brüllt Ines.

»Nein, das kann sie nicht!«, brüllt Papa.

»Ragna und Vincent!«, nehme ich das Thema wieder auf.

»Aber wieso denn?«, fragt Ines.

Ich sehe ihr an, dass sie vor Neugierde am liebsten an den Fingernägeln pulen würde. Nur wie – mit einem Balken in den Händen?

»Also, Ragna hat ihr Thema vorgestellt. Blabla. Heimische Tierarten. Tränendrüse von wegen Aussterben. Voll langweilig. Und dann …«

»Hoch das Ding!«, brüllt Papa, weil wir jetzt beide den Balken sinken lassen.

»Ja doch!«, brüllt Ines.

»Der Dachdecker ist da!«, brüllt Susanne von irgendwo.

»Komme!«, brüllt Papa.

Na endlich! Papa lässt uns den Balken ablegen, klettert vom Gerüst und macht sich aus dem Staub.

»Und dann hat Frau Wegener Vincent gezwungen, mitzumachen bei den aussterbenden Tieren?«, fragt Ines und kann jetzt endlich sensationslüstern an den Fingernägeln pulen.

»Schlimmer!«, sage ich und lasse mich in den Staub auf dem Boden sinken.

»Er hat freiwillig?«

»Und wie!«

»Aber warum?«

»Weil er, seit er denken kann, mit seinem Vater mutterlose Igel aufpäppelt und sonst welche Viecher vor sonst was rettet. Mensch, wenn ich das gewusst hätte!«

»Hättest du dich in einen anderen verknallt?«

»Hätte ich einen Film über Igel und sonst welche Viecher gedreht!«

»Klar. Und jetzt?«

»Jetzt muss Ragna die Sache für mich in die Hand nehmen. Ich dreh irgendwie meinen blöden Film mit diesem peinlichen Paul und den Rest der Zeit helfe ich bei den heimischen Tieren als Skriptgirl oder so was aus.«

»Also Stress«, stellt Ines fest.

»Total«, will ich losjammern, geht aber nicht mehr, denn Ines ist plötzlich wie der Blitz durch die nicht vorhandene Fensterscheibe auf die nicht vorhandene Terrasse gesprungen.

»Hi!«, höre ich sie flöten. »Hast du nicht längst Feierabend?«

»Habe vergessen Vorschlaghammer«, antwortet Azubi Igor in seiner Auslegung von Deutsch. »Chef bringen mich um.«

Nicht doch! Mein Schwesterlein braucht dich lebendig!

Und ich brauche dringend so was wie eine multiple Persönlichkeit, um Dämliches-Haus-Bauen, Lästige-Susanne-Vergraulen, Überflüssigen-Film-Drehen und Göttlichen-Vincent-um-den-Finger-Wickeln unter einen Hut zu bringen.