Autorenvita

Lehmann

 

© Thienemann Verlag GmbH

 

Martina Sahler, Jahrgang 1963, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln. Das Studium der Germanistik und Anglistik brachte ihr vor allem die Erkenntnis, dass ihr die bunte Praxis des Schreibens lieber ist als die graue Theorie. Und so arbeitet sie seit über 15 Jahren freiberuflich rund ums Buch – als Ghostwriter, Lektorin und Autorin. In ihrem Büro mit Blick in bergische Wälder und den Katzen Lottie, Linus und Lilly um die Beine schreibt sie Bücher zu Filmen, Krimis, historische Romane – und Mädchenbücher.

Buchinfo

Was ist bloß mit Wiebke los? Lilly macht sich echte Sorgen. Seit Tagen ist sie nicht zu erreichen. Sie wird doch nicht etwa Liebeskummer haben? Dabei hat sich gerade jetzt eine Gruppe amerikanischer Highschoolboys in der Villa Wildsee angekündigt. Klar, dass Vanessa ihre Chance gekommen sieht, endlich einen echten Amerikaner zu küssen – vor allem, wenn es solche Traumtypen sind. Wie blöd, dass da auch noch die Mädels aus dem Dresdner Chor sind, die die Amis am liebsten ganz für sich allein hätten. Und überhaupt: Vanessa ist doch jetzt eigentlich mit Tobi zusammen ... 

IT

 

Wo ist Wiebke?

 

»Ich liebe Freitage.« Vanessa streckt die langen Beine auf dem Vierersitz im Schulbus aus und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Ein ganzes Wochenende liegt vor uns, Lilly, und das auch noch zwei Stunden früher als geplant!«

»Zum Glück ist Erdkunde ausgefallen. Darauf hätte ich sowieso keinen Bock gehabt«, stimme ich ihr zu, nehme meinen Labello aus der Tasche und fahre damit über meine Lippen, während ich durch die Busscheiben auf die vorbeirauschende Landschaft blicke. 

Die Felder breiten sich goldgelb aus, die Wälder dahinter leuchten in Erdfarben wie in einem Indian Summer. Die Mittagssonne strahlt von einem knackblauen Himmel, an dem nur ein paar Waschmittelwölkchen schweben. In der Ferne sieht man die Kirchturmspitzen der versprenkelten Dörfer.

Mag sein, dass Großstädter glauben, hier bei uns liege der Hund begraben. Ich will auch nicht beschwören, dass ich bis an mein Lebensende dieses Fleckchen Erde hier so lieben werde wie gerade in diesem Augenblick. Vielleicht ändert man sich im Laufe seines Lebens und braucht auch als Naturmensch irgendwann das grellbunte Treiben der Großstadt. Aber im Augenblick kann ich mir das nicht vorstellen. 

Ich kenne keinen schöneren Ort als unser Jugendhotel Villa Wildsee, das mitten in dieser friedlichen Landschaft an einem traumhaft schönen See liegt und das mein Vater als Direktor betreibt.

Meine Freundin Vanessa und ich sind am Kreisgymnasium in den Schulbus gestiegen, der über die Dörfer gurkt und die Schüler da wieder ausspuckt, wo er sie am Morgen eingesammelt hat. Noch sind die Gänge voll, es herrscht das übliche Schubsen und Drängen. 

Vanessa und ich sind froh, dass wir einen Platz ergattert haben. Wir sitzen uns gegenüber, neben uns haben zwei Mädels aus der Oberstufe Platz genommen, die im Takt nicht hörbarer Musik mit den Köpfen wackeln. Die Kabel der Ohrstecker ihrer iPods baumeln von ihren Hälsen herab.

Vanessa beugt sich vor, stützt die Hände auf ihre Knie und winkt mich heran. Wir stecken die Köpfe zusammen.

»Hoffentlich lässt Hausmeister Hecke meinen Tobi heute nicht wieder bis spät in die Nacht hinein schuften. Er hat mir gerade eine SMS geschickt, dass er heute damit begonnen hat, die Leihfahrräder auf Vordermann zu bringen.«

»Oh, oh, das kann dauern. Die sind in einem jämmerlichen Zustand, soweit ich weiß«, erwidere ich.

»Aber die laufen ihm nicht weg! Die kann er am Montag reparieren. Schließlich hat er noch andere Verpflichtungen.«

»Du meinst, sich um seine Freundin zu kümmern?«

Vanessa hebt die Schultern und zwinkert mir zu. »Zum Beispiel, ja.«

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr beide zusammen seid«, sage ich nachdenklich, nehme eine Strähne von Vanessas braunem Haar und wickele sie nachdenklich zu einer Locke um meinen Finger. »Wenn ihr für immer zusammenbleibt, sind wir irgendwie miteinander verwandt, oder?«

Vanessa nickt. Ihre schwarz umrandeten Augen funkeln wie Sterne. »Ich wäre dann so eine Art Schwägerin von dir, und deine und Philipps Kinder dürften Tante Vanessa zu mir sagen.«

Wir kichern beide. 

Schon verrückt, dass sich Vanessa tatsächlich in meinen Fast-Stiefbruder verguckt hat. Tobi war gleich von der ersten Sekunde an hin und weg von Vanessa – bei ihr dagegen hat es ein paar Tage gedauert. Was auch daran lag, dass Tobi ein Handicap hat: Er stottert nämlich, vor allem wenn er aufgeregt ist. 

Ob ihm die Worte inzwischen leichter über die Lippen kommen, wenn er mit Vanessa allein ist, weiß ich nicht – ich wünsche es ihm aber von Herzen. 

Ich mag ihn, den Sohn von Mamas neuem Freund. Tobi absolviert bis Januar bei uns ein Praktikum bei Hausmeister Hecke und möchte danach eine Ausbildung zum Tischler anfangen. Die handwerklichen Erfahrungen, die er in unserem Jugendhotel unter den wachsamen Augen des Hausmeisters sammelt, können ihm dabei nur nützlich sein.

»Weißt du, Lilly ...«, Vanessa senkt ihre Stimme, obwohl uns in dem allgemeinen Schulbuslärm sowieso niemand belauschen kann, »ich war noch nie mit einem Jungen zusammen, der besser küssen kann als Tobi. Ich kann gar nicht genug von ihm bekommen!«

Ich reiße die Augen auf. »Echt jetzt? Und das von dir? Du hast ja wirklich genug Knutsch-Erfahrung, um das einschätzen zu können.«

Vanessa nickt ernsthaft. »Ganz echt. Er ist ... unglaublich zärtlich, weißt du. Wenn er mich küsst, fühlt es sich immer so an, als wollte er mir ohne Worte zu verstehen geben, wie lieb er mich hat.«

»Wow, das klingt richtig poetisch«, sage ich beeindruckt und vergleiche in Gedanken Vanessas Beschreibung mit den Zärtlichkeiten zwischen Philipp und mir. Auch er ist sehr einfühlsam. Ich könnte stundenlang mit ihm knutschen. Aber ich dachte, das wäre grundsätzlich normal in einer Beziehung. Gibt es denn auch Typen, die nicht so Weltklasse im Küssen sind? 

Genau diese Frage stelle ich Vanessa.

»Allerdings.« Vanessa grinst. »Bei manchen ist es viel zu feucht, richtig ekelig. Und manche stecken dir die Zunge so tief in den Mund, dass du Brechreiz bekommst. Manche legen die Zunge ab wie einen Waschlappen und warten, dass du irgendwas machst.« Vanessa hat inzwischen pinkfarbene Wangen und Tränen in den Augen vor unterdrücktem Kichern. Auch ich kann mich kaum noch halten.

»Nee, was haben wir für ein Glück mit unseren Freunden«, bringe ich schließlich glucksend hervor. »Du bist ziemlich glücklich mit Tobi, oder? Wer hätte das gedacht ...« Ich lächle sie an und erinnere mich, wie Vanessa am Anfang auf Abwehr gegangen ist, als sie herausfand, dass Tobi in sie verknallt ist. 

Zwar gibt es keinen Zweifel daran, dass Tobi total süß aussieht, aber sein Stottern hat sie schon gestört. 

Dann passierte es auf einer der letzten Partys, dass die beiden plötzlich am Bootssteg am Wildsee saßen und herumknutschten, und von der Minute an klebten sie zusammen. Für uns in der Villa Wildsee ist das eine völlig neue Situation – bisher war Vanessa meistens in Typen verschossen, die ihren Urlaub bei uns verbrachten, und die waren dann nach spätestens drei Wochen wieder von der Bildfläche verschwunden. 

Tobi dagegen wird mindestens bis Januar bei uns wohnen. Danach geht er zurück nach Bremen. 

Sollte Vanessa dann noch mit ihm zusammen sein, wird das ihre bis dahin längste Beziehung.

»Wie willst du dich eigentlich verhalten, wenn demnächst neue Gäste kommen? Wirst du die komplett ignorieren?«, frage ich sie aus meinen Gedanken heraus, während sie aus dem Fenster schaut.

Sofort ist sie hellwach und beugt sich wieder vor. »Haben sich neue Leute angekündigt? Wann? Woher? Wie viele? Wie alt?«

Ich lache laut auf. »Hey, Vanessa, du bist jetzt in festen Händen ...«

Sie zuckt mit den Schultern. »Das ist jetzt mal egal«, erwidert sie. »Sag schon!«

Ich verziehe den Mund. »Leider überhaupt nichts Spannendes zu vermelden. Es sei denn, du interessierst dich für Chorknaben aus Dresden.«

Vanessa verdreht die Augen und stößt einen genervten Laut aus. »Dresden! Wie langweilig! Und dann auch noch Sänger. Warum machen bei euch nicht mal ... sagen wir ... ein paar feurige Brasilianer Urlaub? Samba-Tänzer zum Beispiel. Das wäre der Hammer.«

Ich grinse. »Stimmt, Brasilianer waren noch nicht da. Oder wie wäre es mit einem Eishockeyteam aus Moskau?«

Vanessas Augen fangen an zu glitzern. »Genau, Russen fehlen auch noch. Oder ... Chinesen!«

Ich kichere. »Ja, das wäre lustig. Aber ob ich so schnell noch mein Chinesisch aufpolieren kann?«

»Hey, macht mal einen Aufruf bei Facebook«, schlägt Vanessa vor. »Damit erreicht ihr die ganze Welt ...«

»Oh Gott!«, erwidere ich. »Mein Vater flippt aus. Es ist ja nicht so, dass wir uns über Gästemangel beklagen müssen. Die Villa ist bis nach den Herbstferien ausgebucht und im Dezember ist dann auch wieder der Bär los. Nur sind das eben nicht immer internationale Gäste. Am liebsten Urlaub machen nach wie vor die Deutschen.«

»Echt langweilig«, motzt Vanessa.

»Na, nun hör aber mal auf«, widerspreche ich ihr. »Immerhin hatten wir schon Franzosen, Engländer, Holländer, Italiener und Schweden zu Besuch. Du bist jedes Mal nicht zu kurz gekommen, was Kontakte betrifft, oder?«

»Ja, stimmt schon«, gibt Vanessa zu. »Trotzdem ... Es wird mal wieder Zeit für Multikulti in der Villa Wildsee!«

»Und wie erklärst du das Tobi, wenn du dir gewohnheitsmäßig den am besten aussehenden Typen aussuchst, um ihn anzubaggern?«, erkundige ich mich und verschränke die Arme vor der Brust.

Vanessa winkt ab. »Das lass mal meine Sorge sein. Ich bin schließlich nicht mit Tobi verheiratet. Auch wenn er glaubt, irgendwelche Besitzansprüche zu haben ... Ich bestimme immer noch selbst, wie ich meine Freizeit verbringe und mit wem ich mich amüsiere.«

»Das hört sich an, als könnte es bei der nächsten Gelegenheit Zoff geben«, bemerke ich.

Vanessa zieht eine betont gleichgültige Miene. »Man wird sehen ...«

»Fühlst du dich von Tobi eingeengt?«, frage ich sie direkt.

»Na ja ... manchmal schon«, gesteht sie. »Ich liebe zwar auch die Stunden mit ihm, aber wenn wir einen Nachmittag miteinander verbracht haben, freue ich mich darauf, mal andere Leute um mich zu haben. Dich und Wiebke zum Beispiel.«

Ich nicke. »Ja, das kann ich verstehen. Ist es Tobi denn nicht recht, wenn du dich mit uns triffst?«

Sie wiegt den Kopf hin und her. »Manchmal habe ich den Eindruck, er würde am liebsten jede freie Minute mit mir verbringen und kann nicht verstehen, dass es mir anders geht. Das nervt schon ein bisschen, finde ich. Wie ist denn das bei dir und Philipp?«

Darüber muss ich erst einmal nachdenken. Feststeht, dass wir uns einig sind, wann und wie oft wir uns treffen. 

»Das ist kein Problem bei uns«, erkläre ich schließlich. »Philipp hat auch seinen eigenen Freundeskreis, hilft bei seinem Vater in der Bäckerei und außerdem ist er gern mit euch zusammen. Er ist nicht eifersüchtig auf meine Freundinnen und will mich nicht für sich allein haben ...« Ich grinse. »Wenn es nach mir ginge, könnten wir noch öfter allein miteinander sein. Aber so genießen wir die Stunden, die wir nur für uns haben.«

»Tja, das klingt mal wieder perfekt«, erwidert Vanessa mit leichtem Spott. »Die perfekte Lilly.«

Ich hasse es, wenn sie das so sagt. Ich finde mich kein bisschen perfekt und mein Leben auch nicht. Allein dass meine Eltern nicht mehr zusammen sind, ist doch das Unperfekteste, was man sich überhaupt nur vorstellen kann. Ich lasse mich nur nicht unterkriegen und versuche, aus jeder Situation das Beste zu machen. Was anderes bleibt einem oft gar nicht übrig, oder?

Unperfekt sind zum Beispiel meine beiden Stiefbrüder, die Papas Lebenspartnerin Angela mitgebracht hat. Ich kann Ludger und Valentin nicht ausstehen! An dem einen ist ein indischer Yogi verloren gegangen, der andere ist ein pickeliger Vollpfosten mit einem Vakuum im Kopf. 

Aber lasse ich mir davon mein Leben vermiesen? Nö, natürlich nicht. Ich ignoriere die beiden, wann immer es mir möglich ist, oder falte sie zusammen, wann immer sich dazu Gelegenheit ergibt.

Unperfekt ist auch, dass ich eine Brille brauche. Ich könnte deswegen natürlich in Depressionen versinken oder mich mit Kontaktlinsen herumärgern, aber das entspricht nicht meiner Art. Ich habe Brillen einfach zu meinem Markenzeichen erklärt, besitze inzwischen eine ganze Sammlung davon und trage täglich mindestens drei verschiedene, schrille Modelle. Natürlich hintereinander, nicht gleichzeitig.

Also – von wegen perfekt

Wenn es um meine Beziehung zu Philipp geht – nun, wenn wir tatsächlich perfekt wären, hätte ich in dem Fall nichts dagegen. Denn würde das nicht bedeuten, dass wir forever and ever zusammenbleiben? Ich könnte mir nichts Schöneres erträumen! Ich pfeife auf alle Erfahrungen, die ich dadurch verpassen würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals einen Jungen so lieb haben könnte wie Philipp. 

Vanessa scheint das anders zu sehen ... Und wir dürfen gespannt sein, wie sich ihre Freundschaft mit Tobi entwickelt. 

»Sag mal, hat sich Wiebke bei dir gemeldet?«, wechsle ich nun das Thema.

Vanessa zieht ihr Handy aus der Jackentasche hervor, checkt kurz den Eingang der Nachrichten und schüttelt den Kopf. »Nee, nichts.«

Ich nehme ebenfalls mein Telefon heraus. Auch bei mir keine eingegangene SMS. 

Dabei haben wir unserer Freundin am Vormittag drei Kurznachrichten geschickt. Die erste gleich im Bus auf der Hinfahrt, weil wir sie vermisst haben.

»Sehr merkwürdig«, spricht Vanessa meinen eigenen Gedanken aus.

»Stimmt. Normalerweise hätte sie gestern schon von sich aus Bescheid gesagt, wenn sie in der Schule fehlen würde. Oder spätestens am Vormittag. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.« Ich kaue auf meiner Unterlippe, während ich Vanessa sorgenvoll in die Augen schaue.

»Ach was.« Vanessa schüttelt den Kopf. »Vielleicht hat sie nur verpennt und beim Aufwachen festgestellt, dass Freitag ist und sie das Wochenende vorverlegen könnte.«

»Wiebke? Bestimmt nicht«, erwidere ich. »Das passt nicht zu ihr.«

»Ich schreibe ihr später noch eine SMS und frage nach«, verspricht Vanessa und verstaut das Handy wieder in ihrer Tasche.

»Tu das. Ich rufe sie auch gleich an. Wer zuerst etwas herausfindet, meldet sich bei der anderen, okay?« 

Ich stehe auf, weil der Bus bereits verlangsamt, um in die Haltebucht »Villa Wildsee« einzufahren. Vanessa hält mir ihre Wange hin, die ich rasch küsse. 

»Tschüss, Süße. Und sag deinem Papa, er soll mal die Werbetrommel rühren, damit bald wieder Party in der Villa ist!« Sie grinst wie ein Kobold.

»Mach ich«, verspreche ich mit einem Lachen, schultere meine Tasche und quetsche mich mit Ellbogen und Händen an den stehenden Fahrgästen vorbei, als sich die Tür des Busses öffnet.

»Tschö, Lilly«, ruft mir der Fahrer mit dem grauen Kraushaar und dem Schnauzbart zu und hebt die Hand zum Gruß.

Ich schicke dem Mann am großen Steuer lächelnd einen Handkuss. Er würde nie an der Villa Wildsee vorbeifahren, wenn er weiß, dass ich mich im Bus befinde. Er kennt mich, genau wie er alle anderen Fahrgäste mit Namen begrüßen kann. Hier geht keiner verloren – und keiner verpasst seinen Ausstieg.

 

Valentin hat Neuigkeiten

 

Wuchtig und beeindruckend ragt das Jugendhotel vor mir auf, als ich über den Pfad vom Parkplatz zum Haupteingang laufe. Früher diente das Gebäude als Amtshaus, aber mein Vater hat es mit viel Farbe und neuem Putz zu einem hellen, freundlichen Bau umgestaltet. 

Zu den meisten Zimmern gehört ein kleiner Balkon, jeder in einer anderen Pastellfarbe gestrichen. Die Rückseite des Gebäudes ziert ein riesiges Graffiti in tausend verschiedenen Blautönen. Damit hat der leicht durchgeknallte Künstler das Thema Wildsee aufgegriffen. Ich finde, es ist ihm super geglückt, auch wenn der Wildsee weder stürmische Wellen noch reißende Strudel kennt.

Um das dreistöckige Haus herum gibt es kurz gemähte, saftig grüne Wiesen und zum Teil mit Sand gefüllte Sportfelder, urige Grillplätze mit Sitzblöcken aus rohen Baumstämmen und knochige, kerngesunde Apfelbäume, Bänke unter Birken mit leuchtend grünen Blätterdächern und weitläufige Liegeflächen am Waldrand – und natürlich den wunderschönen, romantischen Wildsee, der von hohen Tannen umgeben ist. 

Ich liebe dieses Fleckchen Erde so sehr – allein die Erinnerungen, die in jeder Ecke hängen ... 

Dort an der Scheune ist uns Marilyn zum ersten Mal entgegengelaufen, das Ponymädchen, das sich sofort mit meinem Zwergpony Elvis angefreundet hat. 

Da oben auf dem Dach hocken gern unsere drei Katzen Whiskey, Pfote und Frisbee mit wachsam aufgestellten spitzen Ohren, und unter der Bank schnarcht der alte Wachhund Smutje am liebsten. 

Hier am Bootssteg haben wir Vanessa und Tobi zum ersten Mal als Pärchen gesehen und unter der alten Kastanie hat Philipp zum ersten Mal meine Hand genommen ... 

Ich fühle mich mit der Villa Wildsee und der ganzen Umgebung so verwachsen. Niemals könnte ich mir vorstellen, woanders zu wohnen.

Ich freue mich schon auf die neuen Gäste. 

Nun ja, ein Chor aus Dresden klingt nicht wirklich prickelnd, aber man weiß ja nie ... Manchmal sind es genau die Gäste, von denen man am wenigsten erwartet, die die beste Stimmung in das Hotel bringen.

Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, als ich die Eingangstreppe hinaufspringe und die schwere Eichentür aufstoße. 

Das Foyer der Villa ist leer, rechts liegt die Hausmeisterloge mit dem kleinen Kiosk, in dem Heinz Hecke Postkarten, Handykarten und Süßigkeiten verkauft. Ich sehe, wie der alte Hauswart mit griesgrämigem Gesichtsausdruck seinem Praktikanten Tobi über die Schulter schaut, der ihm offenbar auf dem Laptop etwas zeigt. 

Ich klopfe gegen die Scheibe und lächle. Heinz Heckes Gesichtsausdruck verändert sich nicht, aber Tobi strahlt mich an. Mit einem Ruck wirft er die Haare aus dem Gesicht, die ihm schräg über die Augen fallen. Ich kann schon verstehen, dass Vanessa verknallt in ihn ist. Sehr süß, der Tobi.

Ganz im Gegensatz zu dem Typ, der in diesem Augenblick die geschwungene Treppe von den oberen Etagen hinabtrottet. 

Mein Stiefbruder Valentin hat beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein kurzärmeliges kariertes Hemd ist falsch geknöpft. So läuft er oft herum. Äußerlichkeiten hält er für vernachlässigenswert. Seine Miene ist hochmütig wie meistens, wenn er mich anschaut. Er versucht, auf mich herabzublicken, was ihm aber nur schlecht gelingt, da ich zwei Zentimeter größer bin als er. Zwei Zentimeter, die ich enorm wichtig finde. 

Seine Mutter Angela behauptet, das würde sich in den nächsten Jahren ausgleichen – Jungen wachsen langsamer als Mädchen. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn er so bleiben oder sogar noch schrumpfen würde und mir irgendwann bis knapp an den Po reicht. Witzig die Vorstellung, dass er, um mitzuhalten, auf gedrungenen Beinchen zwei Schritte laufen müsste, wenn ich einen mache. 

»Na, Schwesterchen, wieder mit einem Affenzahn unterwegs?«, haut er mich an.

Ich verdrehe die Augen. »Und du? Bist du wieder im Home Office?«, erwidere ich mit ätzendem Spott. Einmal hatte er ein paar Freistunden und als ich ihn darauf ansprach, erklärte er ohne die Spur eines Grinsens in seinem Milchbrötchengesicht, er arbeite im Home Office, wie ein IT-Profi-Manager. Ich glaube, er kann es gar nicht mehr abwarten, endlich die Schule hinter sich zu bringen und nur noch das zu tun, was ihm am meisten liegt: sich bis zum Delirium mit Computern beschäftigen. 

Diesmal grinst Valentin allerdings schon. »Ich hatte heute frei. Die Lehrer sind auf Wandertag.«

»Schön für dich.« Mir reicht das jetzt mit dem Small Talk. Ich drängle mich an ihm vorbei, während er auf der unteren Treppenstufe steht und keine Anstalten macht, mir auszuweichen.

Womit habe ich das bloß verdient? Nicht nur, dass Valentin am Klugscheißer-Syndrom leidet und sich stets übertrieben gut informiert gibt, er hat auch noch diesen Bruder, der von einem ganz anderen Schlag ist, aber nicht weniger nervig. Ludger ist so ein alternativer Typ, der den Mondkalender auswendig kennt. Zum Glück ist er schon neunzehn und meistens nicht auf meinem Schirm. Dass ich Valentin hin und wieder begegne, lässt sich allerdings nicht vermeiden.

»… und ich habe die Zeit genutzt und sehr, sehr interessante Dinge herausgefunden«, fügt der auf seine wichtigtuerische Art hinzu.

Er erreicht, was er wollte. Ich ringe kurz mit mir, stoppe und drehe mich zu ihm um. »Was kann das schon Langweiliges sein«, sage ich betont uninteressiert. Aber dass ich neugierig bin, lässt sich nicht verbergen.

»Tja, Lilly, wenn du das wüsstest, würdest du hier nicht mehr so tatenlos im Weg herumstehen und blöde Sprüche absondern.«

»So?«

»Tja, vielleicht würdest du ...« Er tippt sich an die Unterlippe. »Lass mich überlegen ... Vielleicht würdest du dein mittelmäßiges Englisch aufpolieren?«

»Hä? Jetzt mach’s mal nicht so spannend, du Backblech. Was ist passiert?« Von wegen mittelmäßig! Ich spreche besser Englisch als er und die anderen, und das weiß er auch. Aber er nutzt jede Gelegenheit, mir einen reinzuwürgen. Genau wie ich im umgekehrten Fall.

Valentin sieht seinen Vorteil und weiß ihn zu nutzen. »Oder vielleicht würdest du auch Google Maps auf deinem Steinzeit-Laptop aufrufen und ein paar ganz bestimmte Begriffe eingeben.«

»Jetzt lass den Schwachsinn!«, fahre ich ihn an. »Such dir andere Leute, denen du ein Ohr abkauen kannst. Du nervst, Valentin.« Ich drehe mich um und will nach oben sprinten. Ich bin nun sicher, dass sich Valentin mal wieder nur aufspielt.

»Na, dann erfährst du eben nicht, wer uns demnächst in der Villa Wildsee besucht!«, ruft Valentin mir hinterher, als ich bereits im ersten Stock bin. 

Ich bleibe stehen und beuge mich über das Geländer. »Also, wo Dresden liegt, das kriege ich auch ohne Google Maps heraus, und soweit ich weiß, spricht man dort Deutsch.«

Valentin lacht ein unschönes Lachen. »Wer spricht denn von Dresden?«, ruft er zu mir hoch. »Guck mal lieber nach, wo Atlanta liegt.«

Mir bleibt die Spucke weg. »Wie jetzt? Atlanta in Georgia oder Texas?«, frage ich schließlich atemlos, als machte das irgendeinen Unterschied. 

Spricht Valentin tatsächlich von Amerikanern?

Der verschränkt die Arme vor der Brust und grinst von einem Ohr zum anderen, als ich Stufe um Stufe wieder nach unten schleiche, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Atlanta, Georgia, um genau zu sein«, präzisiert er. »Nahe der Ostküste der USA.«

»Und du meinst, zu uns kommen echte Amerikaner?« Meine Stimme klingt in meinen eigenen Ohren fremd. 

Das wäre was! Gerade im Bus haben Vanessa und ich noch überlegt, welche Gäste wir noch nicht hatten. Dass uns die Amerikaner nicht eingefallen sind! Noch nie waren Typen aus den USA bei uns zu Besuch. 

Auf mich stürmen gleich tausend Bilder und Gedanken ein. Ich sehe tanzende Cheerleader, süße Baseballspieler, coole Highschools vor mir, wie ich sie aus TV-Serien, aus dem Kino und aus Büchern kenne.

Wie krass wäre das, wenn wir Amis zu Besuch hätten!

Valentin hebt beide Arme. »Tja, Lilly, ob sie wirklich hier aufschlagen, weiß ich natürlich nicht, aber ich weiß, dass angefragt wurde, ob in der nächsten Zeit Zimmer frei sind.«

»Du sprichst schon wieder in Rätseln!« Ich packe ihn an den knochigen Schultern und schüttle ihn, bis ihm die Brille verrutscht. Attraktive Typen sehen mit so einer schwarz umrandeten Riesenbrille cool aus, aber Valentin mit seinem schmalen blassen Gesicht erinnert an eine Fliege, wenn er das Teil trägt. 

Unwirsch befreit er sich aus meinem Griff und wischt sich mit der Hand über die Oberarme, als hätte ich feuchten Schmutz hinterlassen. 

»Raus jetzt mit der Sprache, aber zackig! Komm schon, Valentin, bitte!«

Valentin lacht glücklich. »Ich wusste, dass dich das interessiert, Lilly. Also gut, wenn du so lieb Bitte sagst ...« 

Innerlich koche ich, aber ich bemühe mich, wie ein Kälbchen auszusehen, damit Valentin bloß endlich erzählt, was los ist. 

»Also, du erinnerst dich an Liam Liljeberg?«

Ich stoße die Luft aus. »Was hat der Schwede mit den Amis zu tun?« 

Liam gehörte zu den schwedischen Schülern, die im September hier ihren Urlaub verbracht haben. Er hat sich damals mit Wiebke angefreundet – aber nur kumpelhaft. Denn Liam liebt seine Ida, und Wiebke, wie allseits bekannt, ihren Langzeitfreund Malte in Köln.

»Sehr viel. Liam war nämlich in der Altstadt von Stockholm mit ein paar Kumpels unterwegs, und in einem der Parks haben sie fünf Amerikaner getroffen, die auf Europatour sind. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die Amis vier Wochen unterwegs. Sie sind so zwischen vierzehn und fünfzehn Jahre alt und ein Vater begleitet sie – der ist deutschstämmig und will ihnen alle großen Städte von Spanien bis Finnland zeigen. Rom, Paris, London, Helsinki und Stockholm haben sie schon hinter sich. Sie wollen auch nach Berlin, aber sie würden hier gerne einen Zwischenstopp einlegen.« Valentin grinst wieder. »Ich bin sicher, Liam hat ihnen von Opa Hinnerks Würstchen und Sauerkraut vorgeschwärmt und wie deutsch das hier zugeht. Darauf stehen die voll, die Amis.«

Valentins komische Einschätzungen interessieren mich null. Die kann er für sich behalten. Ich mache mir lieber ein eigenes Bild. 

Aber dass die Amis tatsächlich angefragt haben, ob hier Zimmer frei sind ... 

Also wenn es nach mir geht, bauen wir sogar kurzfristig an, nur damit die fünf Jungs hier ein Dach über dem Kopf haben! Das ist der Oberhammer, oder? 

Vanessa wird ausflippen, wenn ich ihr das erzähle, und Wiebke wird bestimmt auch total von der Rolle sein. 

»Wie sicher ist das nun, dass die tatsächlich kommen?«

Valentin verzieht das Gesicht und wackelt mit dem Kopf. »Ich schätze, so 50:50. Liam hat hier nur unverbindlich für sie angefragt und will ihnen vorschlagen, in der Villa ein paar Tage zu chillen, bevor sie nach Berlin reisen. Aber ob die das tatsächlich machen ... Hängt sicher auch von dem Vater ab, der sie begleitet.«

Ich balle die Hände zu Fäusten und hüpfe auf der Stelle. »Oh, ich hoffe es so sehr! Ich habe noch nie einen Amerikaner kennengelernt. Wann entscheidet sich das denn?«

»Wächst mir Gras aus der Tasche?«, erkundigt sich Valentin mit ätzendem Hohn. »Woher soll ich das wissen? Aber da sie insgesamt nur vier Wochen auf Europatour sind, kann das nicht allzu lange dauern, denke ich.«

»Stimmt. Vielleicht sollte ich vorher zu ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen die Villa Wildsee ein bisschen beschreiben ... Die können sich bestimmt unter so einem Jugendhotel gar nichts vorstellen ...« Ich frage Valentin nicht wirklich um seine Meinung, denke nur laut vor mich hin, aber das ist ein Fehler, wie ich gleich darauf merke.