

Außerdem von Siobhan Dowd im Carlsen Verlag erschienen:
Anfang und Ende allen Kummers ist dieser Ort
Auf der anderen Seite des Meeres
Ein reiner Schrei
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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2008
Originalcopyright © Siobhan Dowd 2007
Originalverlag: David Fickling Books,
An Imprint of Random House Children’s Books
Originaltitel: THE LONDON EYE MYSTERY
Umschlagbild: © istockphoto.com / Heidi Anglesey
Umschlag: Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Salah Naoura
Lektorat: Barbara König
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92244-8
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Für Donal
1
Das Rad eines gigantischen Fahrrads am Himmel
Was ich in London am allerliebsten mache, ist mit dem Riesenrad zu fahren.
An klaren Tagen kann man von dort oben vierzig Kilometer weit in jede Richtung gucken, weil man im höchsten Riesenrad sitzt, das je gebaut wurde. Man wird zusammen mit den Leuten, die neben einem in der Schlange standen, in eine der zweiunddreißig Gondeln eingeschlossen, und wenn die Türen dann zu sind, ist vom Lärm der Stadt überhaupt nichts mehr zu hören. Langsam steigt man höher. Die Gondeln sind aus Glas und Stahl und befinden sich außerhalb des Rades. Und während das Rad sich dreht, bleiben sie mit Hilfe der Schwerkraft in einer senkrechten Position. Eine vollständige Umdrehung des Riesenrads dauert eine halbe Stunde.
Oben vom höchsten Punkt sieht London aus wie eine Spielzeugstadt, sagt Kat, und die Autos unten auf den Straßen wie Abakusperlen, die sich hin- und herschieben, innehalten und sich wieder in Bewegung setzen. Ich finde, London sieht aus wie London, die Autos sehen aus wie Autos, nur eben kleiner.
Am tollsten ist es, von dort oben auf die Themse zu schauen. Man sieht, wie sie sich windet und schlängelt, aber wenn man unten ist, kommt es einem so vor, als sei sie gerade.
Das Zweitbeste, was man sich anschauen kann, sind die Speichen und Drahtseile des Riesenrads. Man blickt auf die weltweit einzige freitragende Konstruktion dieser Art. Es sieht aus wie das Rad eines gigantischen Fahrrads, das in den Himmel aufragt, gehalten von einem riesigen A-förmigen Rahmen.
Interessant ist auch, die beiden Nachbargondeln zu beobachten. Man sieht fremde Leute, die hinausgucken, genau wie man selbst. Die höher hängende Gondel wird zur tiefer hängenden Gondel und umgekehrt. Man muss die Augen schließen, weil einem so ein komisches Gefühl die Speiseröhre raufkriecht. Und man ist froh, dass die Bewegung so sanft und langsam ist.
Und schließlich sinkt die eigene Gondel und man ist traurig, weil man nicht möchte, dass die Fahrt endet. Man möchte am liebsten noch eine Runde drehen, aber das ist nicht erlaubt. Also steigt man aus und fühlt sich wie ein Astronaut, der gerade aus dem Weltall zurückkehrt und ein bisschen leichter ist als vorher.
Wir gingen mit Salim zum Riesenrad, weil er noch nie drauf gewesen war. Ein fremder Mann kam zu uns, als wir in der Schlange standen, und bot uns eine Freikarte an. Wir nahmen sie und gaben sie Salim. Das hätten wir besser nicht getan, aber wir taten es. Er fuhr allein am 24. Mai um 11.32 Uhr und hätte am selben Tag um 12.02 Uhr wieder unten ankommen müssen. Er drehte sich noch einmal um und winkte Kat und mir beim Einsteigen zu, aber sein Gesicht war nicht zu sehen, nur seine dunkle Silhouette. Man schloss ihn zusammen mit zwanzig anderen Leuten ein, die er nicht kannte.
Kat und ich beobachteten seine Gondel bei ihrer Umdrehung. Als sie den höchsten Punkt erreichte, sagten wir beide gleichzeitig »JETZT!« und mussten lachen, erst nur Kat und dann auch ich. So wussten wir, dass wir die richtige Gondel beobachtet hatten. Wir sahen, wie die Leute sich zusammendrängten, während die Gondel wieder herunterkam. Sie wandten sich nach Nordosten, wo die automatische Kamera für das Erinnerungsfoto ist. Zu erkennen waren nur dunkle Stücke aus Jacken, Beinen, Kleidern und Ärmeln.
Die Gondel kam unten an, die Türen öffneten sich und die Fahrgäste stiegen zu zweit oder zu dritt aus und entfernten sich in verschiedene Richtungen. Alle mit einem Lächeln im Gesicht. Wahrscheinlich würden sich ihre Wege nie wieder kreuzen.
Aber Salim war nicht dabei.
Wir warteten die nächste Gondel ab und auch die übernächste und die danach. Aber er kam nicht. Irgendwo, irgendwie war er, eingeschlossen in seiner Gondel, während der dreißigminütigen Fahrt mit dem Riesenrad verschwunden. Und diese Geschichte handelt davon, wie mein seltsames Hirn, dessen Betriebssystem sich von dem anderer Leute unterscheidet, mir dabei half herauszufinden, was geschehen war.
2
Nachricht vom Hurrikan
Es begann an dem Tag, als Tante Glorias Brief eintraf.
Tante Gloria ist die Schwester meiner Mutter. Mum nennt sie Glo und Kat nennt sie Tante Glo. Dad nennt sie Hurrikan Gloria, weil sie, wie er sagt, immer eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Ich habe ihn gefragt, wie er das meint. Ob es bedeuten soll, dass sie so tollpatschig ist wie ich? Er meinte, dass sie nicht so sehr Dinge durcheinanderbrächte, was ja nicht so schlimm wäre, sondern eher Menschen und Gefühle. »Soll das heißen, dass sie böse ist?«, fragte ich. Dad sagte, sie täte es ja nicht absichtlich, also wäre sie nicht böse, sondern einfach nur eine Plage. Ich fragte ihn, was eine Plage bedeutet, und er sagte, es würde bedeuten, den Rahmen zu sprengen. Und als ich die Bedeutung von den Rahmen zu sprengen wissen wollte, legte er mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Jetzt nicht, Ted.«
Der Morgen, an dem Tante Glorias Brief kam, war genauso wie jeder andere Morgen auch. Ich hörte, wie die Post auf die Fußmatte fiel, genau wie immer. Ich war bei Honigpop Nummer drei und die Wettervorhersage im Radio teilte uns mit, dass es heiter und beständig werden würde, im Südosten bestünde allerdings das Risiko von Regenschauern. Kat aß ihren Toast im Stehen und zappelte dabei herum. Nicht etwa weil sie Flöhe hatte, obwohl es so aussah. Sie hörte ihre Schwacho-Musik über Kopfhörer, was bedeutete, dass sie das Wetter verpasste und deswegen weder im Regenmantel noch mit ihrem Schirm zur Schule gehen würde. Was wiederum bedeutete, dass sie nass werden würde und ich nicht, und das war gut.
Dad hüpfte in nur einer Socke herum und schimpfte, dass die Waschmaschine alle seine Socken verschluckt hätte und dass er zu spät käme. Mum durchwühlte den Wäschekorb nach einer Ersatzsocke.
»Ted, hol mal die Post«, sagte sie. Sie trug ihre Krankenschwesternuniform, und sogar mir ist klar, dass man besser tut, was sie sagt, wenn ihre Sätze so knapp und zackig klingen, obwohl ich es hasse, meine Honigpops stehenzulassen, bis sie matschig werden.
Ich kam mit sechs Briefumschlägen zurück. Kat sah mich, schnappte sie mir aus der Hand und zog einen großen braunen und einen kleinen weißen Umschlag heraus. Auf dem weißen konnte ich unser Schullogo erkennen – es sieht wie ein zerdrücktes X aus, und darüber prangt ein Bischofshut, den man Mitra nennt. Kat versuchte den weißen hinter dem braunen Umschlag zu verstecken, aber Mum sah es.
»Nicht so hastig, Katrina«, sagte sie. Wenn Mum Kat Katrina nennt, dann weiß man, dass es Ärger gibt.
Kats Lippen pressten sich zusammen, und sie gab Mum die Post, alles bis auf den braunen Umschlag, den sie hochhielt, damit jeder sehen konnte, dass er an sie adressiert war, an Katrina Spark. Sie riss ihn auf und zum Vorschein kam ein Katalog. Der Titel lautete Haar, wunderbar. Kat lief mit wippendem Kopf Richtung Tür.
Ich aß die Honigpops Nummer sieben bis siebzehn.
Dad begann die Melodie von Dick und Doof zu summen, seiner Lieblingsfernsehsendung. Inzwischen hatte er die zweite Socke angezogen und bestrich sich einen Toast mit Butter, und die Haare standen ihm zu Berge, wozu Mum wohl gesagt hätte, dass er Stan von Dick und Doof wie aus dem Gesicht geschnitten ist. »Wie aus dem Gesicht geschnitten« ist ein anderer Ausdruck für »jemandem zum Verwechseln ähnlich sehen«, aber fragt mich nicht, warum. Außerdem hat Stan braunes Haar und Dads Haare sind blond, so wie meine, also sieht er Stan überhaupt nicht zum Verwechseln ähnlich.
»Katrina!«, brüllte Mum.
Der achtzehnte Honigpop fiel mir vom Löffel.
»Was ist?«
»Dieser Brief von der Schule …«
»Welcher Brief von der Schule?«
»Dieser hier. Der, den du verstecken wolltest.«
»Was ist damit?«
»Da steht drin, dass du letzte Woche gefehlt hast, ohne Krankmeldung. Am Dienstag.«
»Oh. Ja.«
»Und?«
»Und was?«
»Wo warst du?«
»UE, Mum. Das hat sie gemacht«, meldete ich mich zu Wort. Kat und Mum starrten mich an. »UE, wie in der Armee«, erklärte ich. »Unerlaubtes Entfernen von der Truppe.«
»Du kannst mich mal, du Miststück!«, zischte Kat. Sie ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Im Radio liefen nun wieder die Nachrichten.
»Mach das Ding aus, Ted«, sagte Mum. Ich fummelte an dem Knopf herum, aber sie zog einfach den Stecker aus der Steckdose. Es war still. Ich hörte, wie Dad ein Stück Toast kaute.
»Sie kommt unter die Räder, Ben«, sagte Mum zu Dad.
»Unter die Räder«, wiederholte ich und musste an Autounfälle denken. Wahrscheinlich sagte Mum irgendwas über Katrinas UE, und »unter die Räder kommen« ist vielleicht ja ein anderer Ausdruck für »schwänzen«, was so viel bedeutet wie nicht zur Schule gehen, obwohl man es muss. Aber ich traute mich nicht, das zu klären, weil Mum nicht in der richtigen Stimmung war.
»Sie kommt unter die Räder, und es kümmert niemanden«, sagte sie.
»Ich hab in ihrem Alter auch blaugemacht«, sagte Dad. »Bin den ganzen Tag nur Bus gefahren und hab im Park gesessen und Kippen geraucht.« Ich verschluckte mich fast an meinem zwanzigsten Honigpop. Die Vorstellung von Dad mit einer Zigarette in der Hand kam mir total seltsam vor. Er raucht inzwischen gar nicht mehr. Dad klopfte Mum auf die Schulter und als sie zu ihm aufblickte, küsste er sie mitten auf die Stirn. Es gab so ein komisches piepsiges Schmatzgeräusch, von dem mir fast der Appetit auf meine restlichen Honigpops verging. »Lass uns heute Abend drüber reden, Faith. Ich muss dringend los. Die Besprechung wegen der Sprengung der Kaserne.«
Mums Lippen hoben sich ein wenig. »Okay, Schatz. Dann später.«
Ich sollte hier vielleicht erklären, dass Dad kein Terrorist ist, der durch die Gegend läuft und Häuser sprengt, in denen Soldaten wohnen. Er ist Abbruchexperte und »die Kaserne« war der bei uns in der Gegend übliche Ausdruck für Barrington Heights, das höchste Hochhaus in unserem südlichen Stadtteil von London. Dort haben früher Leute gelebt, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein ist so ähnlich, wie von der Schule verwiesen zu werden, bloß dass einem nicht der Rektor sagt, dass man gehen soll, sondern dass alle anderen in der Gesellschaft so tun, als ob man überhaupt nicht existiert. Dann landet man bei all den anderen, die niemand beachtet. Und man ist so wütend, weil die Gesellschaft einen so behandelt, dass man aus Rache anfängt Drogen zu nehmen und in Läden zu klauen und Banden zu gründen. Die Leute von Barrington Heights haben all das getan. Dad meinte, es sei nicht so, dass die Bewohner dort von Anfang an böse waren. Er meinte, das Gebäude sei eine Krankheit und würde die Leute ebenfalls krank machen, so ähnlich wie ein Virus. Deswegen hatten er und der Stadtrat beschlossen, alle Leute dort in neue Wohnungen umziehen zu lassen, das Haus in die Luft zu sprengen und noch mal ganz von vorne anzufangen.
Dad zog seine Jacke an, sagte »Tschüss, Ted« zu mir und verließ das Haus. Und Mum setzte sich hin und ging den Rest der Post durch. Schließlich war der letzte Brief an der Reihe, ein blasslilafarbener Umschlag. Ich sah, wie sie ihn an ihre Nase hielt und daran schnupperte, als wäre er etwas zu essen. Dann lächelte sie. Ihre Lippen gingen steil nach oben, aber ihre Augen wurden feucht, was bedeutete, dass sie gleichzeitig traurig und glücklich war.
»Du lieber Himmel«, flüsterte sie. Sie öffnete ihn und las, was drinstand. Ich aß meine letzten drei Honigpops, die Nummern fünfunddreißig bis siebenunddreißig. Mum legte das lilafarbene Blatt Papier zur Seite und wuschelte mir durch die Haare – eine Sache, die sie ab und zu macht und wovon meine Hand heftig zu schlackern beginnt.
»Halt dich fest, Ted«, sagte sie. »Ein Hurrikan ist im Anmarsch.«
»Nein, stimmt nicht«, sagte ich. »Ein großes Hochdruckgebiet steuert auf uns zu.« Ich bin Meteorologe oder werde mal einer sein, wenn ich groß bin. Also weiß ich Bescheid. Hurrikans fallen in sich zusammen, wenn sie mitten über dem Atlantik sind. Bis nach England schaffen sie es selten. Sogar der aus dem Jahr 1987 war technisch gesehen gar kein Hurrikan. Der Wettermann namens Michael Fish, der für seine falschen Vorhersagen berühmt ist, hatte wirklich Recht. Es handelte sich bloß um einen heftigen Sturm und der hatte keinen Namen. Ein echter Hurrikan bekommt immer einen Namen. Wie Hannah, die 1957 bis zu 260 Stundenkilometer schnell stürmte, oder Hugo, der 1989 in den USA halb South Carolina plattmachte. Oder der Hurrikan Katrina, ein Sturm der Windstärke fünf, der 2005 New Orleans verwüstete. (Es ist ganz bestimmt kein Zufall, dass einer der verheerendsten Stürme aller Zeiten denselben Namen trägt wie meine Schwester.)
»Ich hab’s doch nicht wortwörtlich gemeint«, sagte Mum und zog mir meine leere Honigpopschale unter der Nase weg. »Hurrikan Gloria ist unterwegs zu uns. Meine Schwester. Erinnerst du dich? Sie kommt uns besuchen, zusammen mit ihrem Sohn, Salim.«
»Die, die in Manchester wohnen?«
»Genau. Wir haben uns fünf Jahre nicht mehr gesehen, Ted. Ich weiß echt nicht, wo die Zeit geblieben ist.«
Es hörte sich an, als würde sie denken, dass die Zeit etwas ist, was durch die Gegend wandert und sich ab und zu hinsetzt und ein bisschen bleibt, wie ein eiliger Gast. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Mum«, erklärte ich. »Die Zeit bleibt doch nirgends.«
»In diesem Haus schon, Ted. Sie verschwindet in einem verfluchten schwarzen Loch!«
Ich zwinkerte und überlegte, ob an der Sache vielleicht irgendetwas dran war, aber sie lachte und meinte, das sei doch bloß ein Witz, und wuschelte mir noch mal durchs Haar. »Na los, Ted. In die Schule mit dir!«
Also lief ich meinen üblichen Zickzackweg durch den Stadtpark und dachte dabei über die Zeit, schwarze Löcher, Einsteins Relativitätstheorie und Sturmwarnungen nach. Ich stellte mir vor, wie Hurrikan Gloria immer stärker wurde, während er sich näherte, und dabei eine Spur der Verwüstung hinterließ. Meine Gedanken waren so toll, dass ich fast auf der falschen Parkseite in den Teich gelaufen wäre und nur gerade noch rechtzeitig in der Schule ankam. »In einem schwarzen Loch«, murmelte ich vor mich hin, während ich über den Schulhof rannte. Meine Hand begann zu schlackern. »In einem verfluchten schwarzen Loch.«
3
Der Hurrikan kommt näher
An diesem Abend las Mum Tante Glorias Brief vor. Ich habe versucht ihn zu finden, um ihn wortwörtlich zitieren zu können, aber Mum meinte, dass wir ihn wahrscheinlich weggeworfen haben, weil unser Haus zu klein ist, um Dinge aufzuheben. Ich erinnere mich, dass der Brief ungefähr so ging:
Liebe Faith (das ist meine Mutter),
ich will mich wieder mit Dir vertragen. Es tut mir leid, dass wir uns bei meinem letzten Besuch gestritten haben. Salim und ich ziehen demnächst nach New York, wo ich eine Stelle als Kuratorin im Bereich der Bildenden Kunst angeboten bekommen habe. Dürfen wir in den Ferien bitte kommen und zwei Nächte bei Euch bleiben, ehe es zum Flughafen geht? Ich weiß, dass Ihr in Eurem Haus nicht so viel Platz habt, aber wir werden uns schon irgendwie reinquetschen. Salim lässt ausrichten, dass er auf dem Bügelbrett schlafen kann.
Kat meinte gerade, das wäre überhaupt nicht Tante Glorias Schreibstil. Tante Gloria, sagt sie, würde beim Schreiben viel kompliziertere Wörter benutzen. Sie trägt total dick auf, behauptet Kat. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Kat hat aufgeschrieben, wie sie den Brief in Erinnerung hat, und das hier ist ihre Version:
Mein Schatz, liebste Faith,
es tut mir so leid, dass ich mich nicht öfter gemeldet habe. Bei uns war unglaublich viel Hektik und die Jahre fliegen nur so dahin, wie unzählige Schwalben am Himmel. Ich bedaure zutiefst, wie wir letztes Mal gestritten haben. Es hat an meiner Seele gezehrt und ich weiß kaum noch, worum es eigentlich ging, aber damals herrschte völliges Chaos, so kurz nach der Trennung von Salims Vater, und damals wusste ich ja auch noch nichts von transzendentaler Meditation. Inzwischen bin ich wieder sehr viel mehr in meiner Mitte.
Es gibt aufregende Neuigkeiten. Mir wurde ein Spitzenjob als Kuratorin für Bildende Kunst in New York angeboten. Ist das nicht fantastisch? Salim und ich haben beschlossen, diese Chance zu ergreifen. Salim ist inzwischen dreizehn und schon sehr erwachsen. Er ist hier in seiner Schule nicht sehr glücklich. Er hat nur einen einzigen Freund, der ebenfalls zur Hälfte Asiat ist, und die anderen Jungen hänseln die beiden. Also steht uns der Sinn nach New York, einem großen, aufregenden Abenteuer unserer faszinierenden Reise durch das Leben. Könnten wir unterwegs bei Euch vorbeischauen? Nur für ein oder zwei Nächte, Schatz. Ich weiß, dass Ihr ein kleines Haus habt, aber Salim ist so ungeheuer neugierig, seinen Cousin und seine Cousine wiederzusehen. Er lässt ausrichten, dass er auf dem Bügelbrett schlafen kann!
Also war das Einzige, was in meiner und in Kats Erinnerung genau übereinstimmte, die Sache mit dem Bügelbrett.
Nachdem Mum den Brief vorgelesen hatte, stöhnte Dad auf und ließ den Kopf in die Hände sinken. Kat sagte, Tante Glo klinge verrückt, und ich sagte, Salim sei ja wohl sehr klein, wenn er glaubt, auf einem Bügelbrett schlafen zu können. Darüber mussten Kat, Dad und Mum lachen. Meine Hand begann zu schlackern und mir kroch ein unangenehmes Gefühl die Speiseröhre rauf. Ich war wieder mal erwischt worden. Wie damals, als ich wissen wollte, warum Fußballer trotz Abschaffung der Sklaverei noch wie Sklaven gehalten würden, nachdem ein Nachrichtensprecher verkündet hatte, dass ein Star von Manchester United für zwölf Millionen Pfund an einen anderen Verein verkauft worden war.
Als sie damit fertig waren, mich auszulachen, fragte Dad, ob wir unbedingt zusagen müssten, und Mum meinte, ja, das müssten wir. Kat fragte, wer wo schlafen würde. Mum sagte, Tante Gloria müsste Kats Zimmer bekommen, und Kat sagte, das käme überhaupt nicht in Frage. Worauf Mum meinte, sie müsste sich einfach damit abfinden und es geschehe ihr nur recht, weil es einem Mädchen, das die Schule schwänzt, nämlich nicht zusteht viel Theater zu machen, wenn sie mal ein oder zwei Nächte auf der Couch schlafen muss.
Kat verschränkte die Arme und saugte die Lippen unter die Zähne.
»Und was ist mit Salim?«, fragte ich und schielte zum Bügelbrett hinüber, das an der Küchenwand lehnte.
»Er schläft bei dir, Ted. Wir können die Luftmatratze aufpumpen.«
Ich warf einen Blick zu Kat hinüber und sah an der Art, wie sie ihr Gesicht verzog, dass sie wütend war. Ich war nicht wütend, sondern merkte, dass ich plötzlich schlimme Bauchschmerzen bekam. Das lag an der Vorstellung, dass ein fremder Junge nachts in mein Zimmer kommen würde. Dass ich im Dunkeln seinen Atem hören würde, er zusehen konnte, wie ich meinen Schlafanzug anzog, und dass ich nachts nicht den Seewetterbericht im Radio hören durfte, was ich immer tue, wenn ich nicht schlafen kann.
»O-o-o-o-o-o-oh«, sagte ich, und meine Hand schlackerte.
»Ganz genau«, sagte Kat. »Verdammt o-o-o-o-o-o-oh!«
»Ihr werdet doch nur wieder streiten«, sagte Dad zu Mum. Er klang wie ein Wettermann, der einen wirklich schlimmen Sturm prophezeit. Ich hab im Wörterbuch nach dem richtigen Ausdruck dafür gesucht, und er lautet »hämisch«.
»Nein, werden wir nicht«, sagte Mum. »Weil ich es nicht zulassen werde. Diesmal nicht. Jedes Mal, wenn sie irgendetwas Ärgerliches sagt, hole ich einfach tief Luft und meditiere im Geiste über die Form einer Teekanne. Und weil sie genau dasselbe tun wird, werden wir gut miteinander auskommen.«
Ich versuchte im Geiste über die Form einer Teekanne zu meditieren, aber ich sah nur vor mir, wie heißes Wasser vorne aus der Tülle schwappte und wie es auf mich zugeschossen kam wie eine kochend heiße Tsunamiwelle. Was genau dem Gefühl entsprach, das die Aussicht auf Tante Glorias Besuch und Salims Übernachtung in meinem Zimmer in mir auslöste. Ein echter Hurrikan wäre mir viel lieber gewesen.
4
Der Hurrikan trifft ein
Tante Gloria und Salim kamen am Sonntag, dem 23. Mai abends um 18.24 Uhr, kurz vor Beginn der einwöchigen Halbjahrsferien. Es war ein schöner Tag mit vereinzelten Regenschauern, die nach Nordosten weiterzogen. Kat und ich sahen, wie ein schwarzes Londoner Taxi vor unserem Haus hielt. Tante Gloria stieg zuerst aus. Sie war groß und dünn, mit glatten schwarzen Haaren, die ihr bis zu den Schultern gingen. (Kat sagt, diese Frisur nennt man Bubikopf.) Sie trug enge Jeans und dunkelrosafarbene Sandalen. Man musste die ganze Zeit auf ihre beiden großen Zehen gucken, die vorne rausguckten, weil sie passend zu den Sandalen dunkelrosa lackiert waren und total leuchteten. Aber was mir am meisten auffiel, war der Zigarettenhalter in ihrer Hand. Vorn steckte eine lange, dünne, brennende Zigarette, von der ein Rauchfaden aufstieg.
Kat meinte, Tante Gloria sehe wie eine Moderedakteurin aus. Obwohl Kat bisher noch keiner Moderedakteurin begegnet ist, deswegen weiß ich nicht, wie sie darauf kommt.
Salim war groß und dünn und hatte ebenfalls Jeans an, genau wie seine Mutter. Er trug einen ganz gewöhnlichen Rucksack und zog Tante Glorias Koffer auf Rollen hinter sich her. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und seine Haut war braun. Kat sagt, sie war nicht einfach braun, sondern wie Karamell. Sie meint, ich solle erwähnen, dass er äußerst gut aussehend war. Sie macht sich dauernd Gedanken darum, ob Leute gut aussehen oder nicht. Ich denke, Leute sehen eben so aus, wie sie sind. Ich bin wahrscheinlich hässlich, weil noch nie jemand gesagt hat, ich sei schön. Aber alle sagen immer, wie hübsch Kat ist, also wird sie es wohl sein. Für mich sieht sie einfach aus wie Kat.
Ich habe also keine Ahnung, ob Salim gut aussehend war, aber er sah aus, als wären seine Gedanken woanders als sein Körper, und das mochte ich an ihm. Ich glaub, so sehe ich auch oft aus.
Er und Tante Gloria kamen durch den Vorgarten, von dem Mum immer behauptet, er hätte die Größe einer Briefmarke, auf unsere Haustür zu. (In Wirklichkeit misst er drei mal fünf Meter und ich habe irgendwann mal ausgerechnet, dass auf dieser Fläche 22500 Briefmarken Platz hätten.) Ehe die beiden klingeln konnten, riss Mum bereits die Tür auf.
»Glo«, sagte sie.
»Fai!«, kreischte Tante Gloria.
Es gab ein Durcheinander aus Armen und Gelächter und ich wäre am liebsten in mein Zimmer hinaufgegangen. Hinter den beiden stand Salim und schaute zu. Unsere Blicke trafen sich. Er hob die Schultern, sah hinauf zur Decke und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er genau in meine Richtung, was bedeutete, dass wir Freunde werden konnten.
Es war ein gutes Gefühl. Die einzigen anderen drei Freunde, die ich hatte, waren alle erwachsen: nämlich Mum, Dad und Mr Shepherd, mein Lehrer in der Schule. Kat rechnete ich nicht zu meinen Freunden, weil sie meistens gemein zu mir war und mich dauernd unterbrach, wenn ich was sagen wollte.
»Ted«, sagte Mum. »Sag deiner Tante Glo guten Tag.«
Ich schaute auf Tante Glorias linkes Ohr. »Guten Tag, Tante Gloria.« Ich hielt ihr die Hand hin, damit sie sie schütteln konnte. Sie zog mich in eine Umarmung, die nach Zigaretten und Parfum roch und von der ich ein Jucken in der Nase bekam.
»Hallo, Ted«, sagte sie. »Nenn mich doch einfach Glo, ja? Alle nennen mich so.« Ich schlängelte mich aus ihren Armen. »Mein Gott, Faith«, fuhr sie fort. »Er ist unserem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Weißt du noch? Dad mit Anzug und Krawatte, sogar im Urlaub? Ted sieht ganz genauso aus wie er.«
Alle schwiegen. Es stimmte, dass ich die Hose und das Hemd meiner Schuluniform jeden Tag trug, auch außerhalb der Schule. Das gefiel mir. Kat sagte mir dauernd, ich soll doch ein T-Shirt und Jeans anziehen »und mal ganz locker und normal sein«, aber dadurch zog ich meine Uniform nur noch lieber an.
»Nein, Mum«, sagte Salim. »Er sieht echt aus wie ein cooler Typ. Offiziell ist grad wieder total angesagt, weißt du das denn nicht?«
»Hmpf«, machte ich.
»So ein Outfit ist doch bloß Tarnung, Mum. Um das Rebellische zu verbergen, das in einem steckt … Stimmt’s, Ted?«
Ich nickte. Es fühlte sich toll an, als rebellisch bezeichnet zu werden.
»Hey, Ted, gibst du mir die Hand?«
Wir schauten uns beim Händeschütteln direkt in die Augen und ich merkte, wie mein Kopf zur Seite kippte, was Kat immer meinen Ich-bin-zu-doof-zum-Scheißen-Blick nennt. »Willkommen in London, Salim«, sagte ich.
Kat schob mich beiseite. »Hallo, Salim«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Du hast ja einen komischen Akzent. Spricht man so etwa bei euch im Nooorden?«
»Hallo, Kat«, sagte Salim und ergriff ihre Hand. »Spricht man so etwa bei oiiich iiim Süden?«
Alle platzten vor Lachen, was nicht wortwörtlich passierte, aber die Vorstellung explodierender Körper bei extremer Heiterkeit gefällt mir, also ist es eine gute Art der Beschreibung. Ich wusste zwar nicht, was daran so komisch war, aber ich lachte mit. Mr Shepherd sagt, es ist gut, mitzulachen, wenn andere lachen, weil das bedeutet, dass man sich anpasst und Freundschaften schließt.
»Wie kommt es, dass ihr alle einen Südlondoner Akzent habt und Ted so deutlich spricht wie ein BBC-Sprecher?«, fuhr Salim fort.
»Das ist eine sehr gute Frage, Salim«, sagte Mum. »Nicht mal Teds Neurologe hat eine Erklärung dafür. Aber kommt doch alle mit in die Küche. Das Abendessen ist fertig.«
In der Küche hatte Mum den Tisch zu seiner vollen Länge von fast zwei Metern ausgezogen, so dass sechs Personen Platz hatten, aber weil ich der Dünnste bin, musste ich mich an das eine kurze Ende quetschen, mit dem Rücken zur Verandatür. Mum hatte eine weiße Decke auf die Tischplatte gelegt und ließ mich den Tisch decken, weil das meine Aufgabe war. Danach ging Kat einmal herum und schaute nach, ob ich auch alles richtig rum hingelegt hatte, was völlig unnötig war, weil ich das Tischdecken sehr gut beherrsche. Ich stelle mir Messer, Gabel und Löffel so vor, als wären sie ein elektrischer Stromkreis. Das Messer speist das hintere Ende des Löffels, und das vordere Ende des Löffels speist die Zinken der Gabel, und die Tischkante schließt den Kreis. Und zwischen jedem Teil muss ein Neunziggradwinkel liegen, also ist der Stromkreis ein perfektes Rechteck. Wenn man es so macht, kann überhaupt nichts schiefgehen.
Kat hatte eine Vase mit Blumen aus dem Garten in die Mitte des Tisches gestellt. Und ein Holzbrett mit massenweise Brot. Sie hatte unsere besten Gläser gedeckt, in denen von ihr gefaltete Servietten steckten, so dass jede über den Glasrand hinausguckte wie eine Mitra, unser Schullogo. Außerdem Weingläser für Dad, Mum und Tante Gloria. Für sich selbst wollte sie auch eins hinstellen, aber Mum schnappte es sich und nannte Kat Madame Monster, was sie immer zu ihr sagt, wenn sie sich über meine Schwester ärgert, aber nicht so doll.
Wir nahmen alle Platz. Mum füllte Schmorhuhn auf die Teller, eines meiner Lieblingsgerichte, aus einem großen orangefarbenen Topf. Tante Gloria redete und redete. Sie meinte, sie und Salim wären voll begeistert, aus Manchester rauszukommen, weil sie vom Regen genug hätten. Ich versuchte zu erwähnen, dass die Anzahl der Stunden mit Niederschlägen im Norden viel geringer ist, als man es empfindet, aber sie hatte bereits das Thema gewechselt und erzählte, was für eine voll schnelle Stadt New York sei. Ich wusste inzwischen schon, dass Leute oft »voll« sagen, wenn sie »sehr« meinen, also brauchte ich deswegen nicht nachzufragen, aber ich fragte sie, wie eine Stadt denn schnell sein konnte.
»Pass auf, Ted«, sagte sie. »Alles in New York bewegt sich im Zeitraffer. Wie ein Film, der zu schnell läuft. Die Leute, die Autos, sogar die U-Bahn. Sie haben Expresszüge, die an den unwichtigen Haltestellen vorbeifahren. Wenn man dort ist, hat man das Gefühl, als ob sogar die Zeit doppelt so schnell verfliegt.«
»Was bedeutet, dass du in New York auch doppelt so schnell alt wirst, Mum«, sagte Salim.
Tante Gloria lachte, streckte ihren Arm aus und berührte Salim an der Schulter. »Er ist so ein Witzbold, mein Sohnemann.«
Seine Augen hefteten sich auf die Tischdecke und ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, ohne dass ein Ton herauskam. Als er merkte, dass ich ihn ansah, blickte er wieder zur Decke, tippte sich an die Schläfe und deutete grinsend auf Tante Gloria. Kat hat mir später erklärt, das wäre die Körpersprache dafür, dass er seine Mutter für verrückt hält. Danach holte er sein Handy aus der Hosentasche, legte es neben seinen Teller und betrachtete es mit ernster Miene.
Mum reichte Tante Gloria das Brot, und Tante Gloria meinte, sie würde überhaupt kein Weizenmehl mehr essen, wegen ihrer glutenfreien Ernährung.
»Mein Ernährungsberater schwört drauf«, sagte sie.
»Tante Gloria«, sagte ich und nahm mir eine Scheibe Brot. »Wäre es für deine Gesundheit nicht viel besser, mit dem Rauchen aufzuhören?« Dad fing an zu husten, als hätte er sich verschluckt. »Ich hab gestern ein paar interessante Zahlen gelesen. Wenn in England alle aufhören würden zu rauchen, würde die Gesundheitsbehörde eine Menge sparen, nämlich …«
»Ted!«, sagte Mum.
Tante Gloria kicherte. »Nein, Fai, Ted hat ganz Recht mit seiner Frage. Das Problem ist, Ted, dass ich von Nikotin total abhängig bin. Brot dagegen kann ich essen oder weglassen.« Sie warf einen Blick zu Kat hinüber. »Du rauchst doch nicht, oder, Kat?«
Kat begann ihre Serviette zu verdrehen. »Natürlich nicht.«
Ich runzelte die Stirn, weil ich Kat erst vor einer Woche mit einer Zigarette im Mund zusammen mit ihren Schulfreundinnen gesehen hatte. »Aber Kat, das …«
»Wie findest du es eigentlich, nach New York zu ziehen, Salim?«, unterbrach mich Kat.
Salim zuckte lächelnd mit den Schultern, ohne von seinem Handy aufzublicken.
»Es wird ihm fantastisch gefallen«, sagte Tante Gloria. »Das weiß ich einfach. Das Empire State Building. Das Chryslergebäude. Salim liebt Hochhäuser. Er will später mal Architekt werden, nicht wahr, mein Schatz?«
»Ja, kann sein«, sagte Salim. Sein Handy begann mit der James-Bond-Melodie zu klingeln. »Entschuldigt mich«. Er stand vom Tisch auf und rannte hinaus in die Diele, um ranzugehen. Diesmal sah ich, wie Tante Glorias Blick zur Decke ging.
Während Salims Abwesenheit begann eine Diskussion über die Pläne für den nächsten Tag. Dad musste zur Arbeit, aber Mum hatte ihren krankenschwesterfreien Tag und wir hatten Ferien, also könnten wir zu fünft die Stadt besichtigen, meinte sie. Kat wollte eine Bootsfahrt auf der Themse machen und ich wollte ins Museum für Wissenschaft und Technik. Mum wollte zu Covent Garden, um die Straßenmusikanten zu sehen. Und Tante Gloria wollte in alle Kunstmuseen gehen.
Salim kam wieder rein und steckte sein Handy zurück in die Hosentasche.
»Salim soll entscheiden«, sagte Dad. »Er ist schließlich unser Gast.«
»Er will in die Tate Gallery für Moderne Kunst, stimmt’s?«, schlug Tante Gloria vor.
Salim wand und krümmte sich stöhnend, als wäre er vergiftet worden. Ich fuhr so panisch in die Höhe, dass ich mit dem Ellbogen fast die Verandascheibe eingeschlagen hätte. Alle lachten.
»Er macht so gerne Witze, praktisch dauernd«, sagte Tante Gloria.
Salim stand wieder gerade da und wirkte ganz normal. Er strich sich über den dünnen dunklen Flaum auf seiner Oberlippe. »Bitte, Mum«, sagte er. »Nicht noch ein Kunstmuseum.«
»Aber die Tate Gallery für Moderne Kunst ist anders. Es ist die Turbinenhalle eines alten Ölkraftwerks. Mit einem gigantischen Schornstein. Und der Raum ist endlos hoch.«
»Ja, aber er ist vollgestopft mit Kunst.«
»Salim«, sagte ich. »Wenn du praktisch dauernd Witze machst, wie macht man dann theoretisch dauernd Witze?«
Kat trat mir ans Schienbein, was bedeutete, dass ich den Mund halten sollte.
»Super«, sagte Salim. »Das möchte ich gern machen. Wie Ted sagt: Mit dem Fahrradrad über den Himmel fahren. Bitte, Mum.«
»Und wenn es morgen bewölkt ist?«
»Das wird es nicht, Tante Gloria«, sagte ich. »Wir befinden uns mitten in einem Hochdruckgebiet und das Wetter wird schön.«
»Aber die langen Schlangen!«
»Bitte, Mum«, sagte Salim. »Du und Tante Fai, ihr könnt ja Kaffee trinken gehen. Ted, Kat und ich stellen uns an, um die Karten zu kaufen. Bitte.«
»Na gut … Wenn wir hinterher noch kurz im Museum vorbeischauen. All diese Kunstwerke in einer riesigen Industrieanlage. Ich möchte Ted gern die Bilder von Andy Warhol zeigen. Ein amerikanischer Pop-Art-Maler, der Bilder von Werbeanzeigen und berühmten Leuten gemalt hat. Tomatensuppe von Campbell’s zum Beispiel. Und Marilyn Monroe.«
»Von dem hab ich schon mal gehört«, sagte Kat. »Das war ein Spinner.«
»Er war eine Ikone der Moderne«, sagte Tante Gloria. »Ich würde sogar sagen, er war die Verkörperung des zwanzigsten Jahrhunderts. Manche glauben sogar, dass er …«, sie blickte zu Mum hinüber, »… na ja. Dass er dasselbe hatte wie Ted.«
Alle schwiegen.
»Sag ich doch«, sagte Kat. »Ein Spinner.«
Mums Lippen pressten sich aufeinander. Ich begriff, dass Kat sie wütend gemacht hatte. Aber das machte mir nichts aus. Ich weiß, dass ich ein Spinner bin. Mein Gehirn funktioniert mit einem anderen Betriebssystem als bei anderen Leuten. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen, und manchmal sehen die anderen Dinge, die ich nicht sehe. Ich denke jedenfalls, wenn Andy Warhol so war wie ich, müsste ich eines Tages auch eine Ikone der Moderne werden. Und statt für Suppendosen und Filmstars werde ich dann eben für Wetterkarten und offizielle Kleidung berühmt, das würde mir gefallen.
»Gebongt«, sagte Salim. »Das Rad zuerst. Und dann das Kunstmuseum.«
So entschieden wir uns also für das Riesenrad. Oder für das Fahrradrad, wie Salim sagte.