Wir danken dem INSEL VERLAG für die freundlichen Abdruckgenehmigungen aus Jane Austen, Verstand und Gefühl.
Aus dem Englischen von Angelika Beck.
© Insel Verlag Frankfurt am Main, 1994,
»William Shakespeare«, Die Sonette.
© Insel Verlag Frankfurt am Main, 1998,
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln.
© Insel Verlag Frankfurt am Main, 1963.




Von Jeanne Birdsall im CARLSEN Verlag erschienen:

Die Penderwicks
Die Penderwicks zu Hause



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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2011
Originalcopyright © 2008 Jeanne Birdsall
Originalverlag: Alfred A. Knopf, New York
Originaltitel: »The Penderwicks on Gardam Street«
This translation is published by arrangement with
Random House Children's Books, a division of Random House, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgaben:
2009, 2011 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg
Umschlagbild: Almud Kunert
Umschlaggestaltung: formlabor
Corporate Design Taschenbuch: bell étage
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92403-9

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www.carlsen.de

Für David, Amy und Tim

Prolog

Vignette

Ihre Mutter war jetzt schon fast eine Woche mit dem neuen Baby im Krankenhaus. Die drei kleinen Penderwick-Mädchen besuchten sie jeden Tag – an manchen Tagen sogar mehrmals –, aber das reichte nicht. Sie wollten, dass ihre Mutter nach Hause kam.

»Wann, Mommy?«, fragte Jane, die jüngste der drei.

»Das hast du sie schon fünf Mal gefragt und sie weiß es nicht.« Rosalind war die Älteste, und obwohl sie erst acht war, spürte sie deswegen eine große Verantwortung. »Darf ich Batty halten, Tante Claire?«

Tante Claire, die Schwester des Vaters, reichte das Baby vorsichtig Rosalind, für die es eine riesengroße Freude war, ein Baby zu halten, selbst wenn das Baby schlief und nichts davon wusste, dass es gehalten wurde.

»Mommy, kannst du nicht wenigstens mal zu Besuch nach Hause kommen? Du brauchst das Baby ja nicht mitzubringen.« Skye war die Mittlere, zwischen Rosalind und Jane, und sie hatte als Einzige die blonden Haare und blauen Augen der Mutter geerbt. Die anderen beiden hatten wie der Vater – und wie Tante Claire – dunkle Locken und braune Augen. Das Baby hatte bis jetzt nur Flaum auf dem Kopf, doch es sah so aus, als sollte es auch dunkle Haare bekommen.

»Mein Schatz, ich fürchte, wenn ich nach Hause komme, dann kommt Batty mit«, sagte die Mutter und lachte. Dann hörte sie auf zu lachen und fasste sich mit den Händen an die Seite.

»Der Souvenirladen!«, sagte Tante Claire und sprang von ihrem Stuhl auf. »Lauft ihr drei doch mal zum Souvenirladen und kauft euch etwas Schönes!«

»Wir haben aber kein Geld«, sagte Jane.

»Ich geb euch Geld.« Tante Claire nahm einen Geldschein aus ihrem Portemonnaie und reichte ihn Skye. »Rosalind, lass Batty lieber hier. Sie ist noch zu klein für den Souvenirladen.«

»Vielleicht können wir ihr trotzdem ein Geschenk kaufen.« Widerstrebend legte Rosalind das Baby zurück in den weißen Stubenwagen, der neben dem Bett der Mutter stand.

»Dafür reicht das Geld aber nicht«, sagte Skye.

»Benimm dich!«, sagte ihre Mutter.

Doch Tante Claire lächelte und gab Skye noch ein paar Scheine. »Jetzt raus mit euch, ihr gierigen Piraten!«

Tante Claire war die perfekte Tante – sie liebte und verstand Kinder, hatte jedoch keine eigenen, die den Nichten ihre Aufmerksamkeit hätten streitig machen können. Den Schwestern machte es nichts aus, von Tante Claire Piraten genannt zu werden. Skye schien sogar stolz darauf zu sein und zog mit dem kühnen Gang eines Seefahrers los zum Souvenirladen. Rosalind nahm Jane an die Hand und folgte etwas weniger ungestüm; auf dem Weg grüßte sie die vielen Krankenschwestern, mit denen sie sich im Laufe der Woche angefreundet hatten.

Zu dem Laden ging es durch den Flur und dann um die Ecke – die Mädchen kannten den Weg, denn sie waren schon oft dort gewesen, allerdings noch nie mit so viel Geld. Tante Claire war großzügig gewesen. Es reichte, um für jedes der Mädchen wenigstens einen kleinen Schatz zu kaufen. Skye marschierte schnurstracks zu den Armbanduhren, sie wünschte sich nämlich schon lange eine schwarze Uhr. Jane schaute sich alles an – das machte sie immer – und blieb dann bei den Puppen hängen, genau wie immer. Rosalind suchte einen schwarzen Stoffhund für Batty aus, dann ging sie hinüber zum Schmuck. Ihre beste Freundin Anna hatte gerade einen Ring mit einem kleinen Türkis bekommen, und Rosalind konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als auch so einen zu haben.

Als sie jedoch zu dem Schmuck kam, zog es ihren Blick nicht zu den Ringen, sondern zu einer zierlichen Goldkette mit fünf Herzen daran – ein großes Herz in der Mitte und zwei kleinere Herzen auf jeder Seite. Sie schaute auf den Preis, rechnete schnell mit den Fingern nach, dann zur Sicherheit noch einmal, und rief ihre Schwestern.

»Lasst uns diese Kette für Mommy kaufen«, sagte sie.

»Aber dann ist das ganze Geld weg, das wir haben.« Skye hatte sich bereits eine schwarze Armbanduhr umgebunden.

»Ich weiß, aber Mommy würde sich so freuen. Das große Herz ist sie, und die vier kleinen Herzen sind wir drei und das Baby.«

»Das hier bin ich«, sagte Jane und zeigte auf eins der kleinen Herzen. »Rosalind, ist Mommy immer noch krank?«

»Ja.«

»Wegen Batty?«

»Wegen dem Krebs«, antwortete Rosalind. Sie hasste das Wort. »Wisst ihr noch, wie Daddy es uns erklärt hat? Aber bald geht es ihr wieder besser.«

»Natürlich«, sagte Skye mit Inbrunst. »Daddy hat gesagt, die Ärzte tun, was sie können, und es sind die besten Ärzte der Welt.«

»Also gut«, sagte Jane. »Ich bin dafür, dass wir Mommy die Kette kaufen.«

»Mist.« Skye verschwand, dann kehrte sie ohne die Uhr und mit einer Verkäuferin zurück. Die Verkäuferin packte die Kette in eine Schachtel mit einer Schleife darauf.

Jetzt wollte Rosalind so schnell wie möglich zurück zu ihrer Mutter und Batty. Skye und Jane jedoch hatten ihre Lieblingskrankenschwester Ruben entdeckt, die sie jedes Mal eine Runde im Rollstuhl drehen ließ. Rosalind wusste, dass sie bei Ruben gut aufgehoben waren, sie ging eilig zurück durch den Flur und wurde erst langsamer, als sie zum richtigen Zimmer kam. Doch anstatt hineinzugehen, zögerte sie, denn sie hörte, wie ihre Mutter und ihre Tante gedämpft miteinander sprachen – es hörte sich an wie so ein Gespräch, das Erwachsene führen, wenn die Kinder nicht dabei sein sollen. Es ist nicht ungehörig zu lauschen, dachte Rosalind, denn sie sprachen so leise, dass man sowieso nichts verstehen konnte. Aber dann erhoben sie die Stimmen, und ob sie wollte oder nicht, Rosalind verstand jedes Wort.

»Nein, Lizzy, nein«, sagte Tante Claire. »Es ist zu früh, darüber zu sprechen. Das hört sich so an, als hättest du aufgegeben.«

»Du weißt, dass ich erst aufgebe, wenn es keinen Hoffnungsschimmer mehr gibt, Claire. Bitte versprich mir nur, dass du, falls ich es nicht schaffe, Martin in drei oder vier Jahren den Brief gibst. Du weißt ja, er ist zu schüchtern, um von sich aus jemand Neues kennenzulernen, und ich ertrage den Gedanken nicht, er könnte einsam sein.«

»Er wird die Mädchen haben.«

»Und eines Tages sind sie groß und …«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn in dem Moment kam Ruben um die Ecke, mit Skye und Jane, die in einen Rollstuhl gequetscht waren und kicherten und quiekten. Sie purzelten heraus und stürmten ins Zimmer, während Rosalind ihnen langsam folgte, sie versuchte aus dem Gehörten schlau zu werden. Was meinte ihre Mutter damit, falls sie es nicht schaffte? Und wieso sollte ihr Vater jemand Neues kennenlernen? Sie wurde innerlich so kalt, dass sie anfing zu zittern, und es wurde noch schlimmer, als sie sah, dass Tante Claire einen blauen Umschlag in die Tasche schob. War das der Brief, von dem ihre Mutter gesprochen hatte?

Skye und Jane waren so laut in ihrer Begeisterung über die Rollstuhlfahrt und darüber, dass sie der Mutter ein Geschenk überreichen konnten, und dann freute ihre Mutter sich so sehr über die Kette und sah so schön damit aus, da bemerkte niemand, dass Rosalind abseitsstand, blass und still. Und dann kam allzu bald eine Schwester mit einem beängstigenden Rollwagen herein und verkündete, dass Mutter und Baby nun beide ihre Ruhe bräuchten. Widerstrebend gaben die Mädchen ihrer Mutter einen Abschiedskuss.

Rosalind verabschiedete sich als Letzte. »Bis morgen, Mommy«, flüsterte sie. Vielleicht fielen ihr ja am nächsten Tag die richtigen Fragen ein – über Hoffnung, über Daddys Einsamkeit und über den beunruhigenden blauen Brief.

Doch Rosalind kam nicht mehr dazu, ihre Fragen zu stellen, und schon bald wurden sie beiseitegeschoben und vergessen, denn mit dem nächsten Tag wurde ihre Mutter nicht kräftiger, sondern schwächer. Trotz der größten Anstrengungen der besten Ärzte schwand die Hoffnung in der folgenden Woche vollkommen dahin. Elizabeth Penderwick schaffte es gerade noch, an einem unerträglichen Abend ihrem Mann und ihren Töchtern Lebewohl zu sagen, aber nur ganz knapp. Noch vor dem Morgengrauen des nächsten Tages starb sie, die kleine Batty ruhig und friedlich in ihre Arme geschmiegt.

Erstes Kapitel

Rosalind backt einen Kuchen

Vignette

Vier Jahre und vier Monate später

Rosalind war glücklich. Es war kein Glück von der leidenschaftlichen, aufregenden Sorte, das allzu schnell in Enttäuschung umschlagen kann, sondern ein ruhiges Glück, das sich einstellt, wenn das Leben zuverlässig genau so verläuft, wie es sollte. Vor drei Wochen war sie in die siebte Klasse gekommen, was gar nicht so überwältigend war, wie alle immer sagten, vor allem deshalb, weil Rosalind und ihre beste Freundin Anna fast alle Stunden gemeinsam hatten. Und es war Ende September und die Blätter waren kurz davor, in wilde Farben zu explodieren – Rosalind liebte den Herbst über alles. Und es war Freitagnachmittag, und auch wenn die Schule nicht übel war, wer hatte nicht die Wochenenden lieber?

Zu alldem kam Tante Claire übers Wochenende zu Besuch. Die geliebte Tante Claire, die nur den einen Fehler hatte, zwei Stunden vom Haus der Penderwicks in Cameron, Massachusetts, entfernt zu wohnen. Doch sie versuchte diesen Fehler wettzumachen, indem sie oft zu Besuch kam, und heute Abend sollte sie kommen. Rosalind hatte ihr so viel zu erzählen, vor allem von den Sommerferien der Familie, drei Wochen in einem wundervollen Haus namens Arundel in den Berkshire Mountains. Sie hatten viele Abenteuer mit einem Jungen namens Jeffrey erlebt und eine Zeit lang hatte Rosalind geglaubt, sie sei vielleicht in einen anderen Jungen – einen älteren – namens Cagney verliebt, aber es war nichts daraus geworden. Jetzt war Rosalind fest entschlossen sich viele Jahre lang von der Liebe und ihren Wirrungen fernzuhalten, doch sie wollte trotzdem alles mit ihrer Tante besprechen.

Bis Tante Claire eintraf, gab es noch reichlich zu tun – Betten beziehen, frische Handtücher ins Bad, außerdem wollte Rosalind einen Kuchen backen –, aber vorher musste sie ihre kleine Schwester Batty bei Goldie, der Tagesmutter, abholen. Das machte sie jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule und sogar das war Teil ihres Glücks. Denn erst in diesem Jahr hatte ihr der Vater für die Stunden zwischen Schulschluss und seiner Rückkehr von der Arbeit die Verantwortung für die Schwestern übertragen. Bis dahin hatten sie immer einen Babysitter gehabt, eine von den schönen Bosna-Schwestern, die in ihrer Straße wohnten. Und obwohl die Bosna-Schwestern nicht nur schön, sondern auch gute Babysitter waren, fand Rosalind sich mit ihren zwölf Jahren und acht Monaten viel zu groß für einen Babysitter.

Der Weg von der Schule bis zu Goldie dauerte zehn Minuten und Rosalind war jetzt fast da. An der Ecke sah sie schon das graue Schindelhaus mit der breiten Veranda voller Spielsachen. Und jetzt sah sie auch – sie beschleunigte ihre Schritte – ein kleines Mädchen allein auf der Treppe. Das Mädchen hatte dunkle Locken und trug einen roten Pulli, und die letzten Meter rannte Rosalind, sie rannte und schimpfte.

»Batty, du sollst drinnen bleiben, bis ich da bin«, sagte sie. »Du kennst doch die Regel.«

Batty schlang Rosalind die Arme um den Hals. »Ich darf aber, weil Goldie mir durchs Fenster zuschaut.«

Rosalind blickte auf und es stimmte. Goldie stand lächelnd am Fenster und winkte. »Trotzdem möchte ich, dass du ab jetzt drinnen wartest.«

»Na gut. Aber …« Batty hielt einen mit Pflaster umwickelten Finger hoch. »Ich wollte dir unbedingt mein Pflaster zeigen. Ich hab mich beim Basteln geschnitten.«

Rosalind hielt den Finger fest und küsste ihn. »Hat es sehr doll wehgetan?«

»Ja«, sagte Batty stolz. »Ich hab den ganzen Ton vollgeblutet und die anderen Kinder haben geschrien.«

»Das klingt ja aufregend.« Rosalind half Batty ihren kleinen blauen Rucksack aufzusetzen. »Jetzt gehen wir nach Hause und bereiten alles für Tante Claire vor.«

Normalerweise trödelten die beiden Schwestern auf dem Weg von Goldie nach Hause – sie hielten bei dem Sassafrasbaum an, dessen Blätter aussahen wie Fäustlinge, und bei dem Gully, der gerade richtig überlief, so dass man in die Pfütze springen konnte, ohne Wasser in die Stiefel zu bekommen. Dann waren da der gefleckte Hund, der immer wild kläffte, aber nur gestreichelt werden wollte, und die Risse im Gehweg, über die Batty hüpfen musste, und das braune Haus mit dem Blumengarten ringsumher, und die Telefonmasten, manchmal mit Aushängen daran, auf denen vermisste Hunde oder Katzen abgebildet waren. Batty schaute sie immer ganz genau an und fragte sich, wieso die Leute nicht besser auf ihre Haustiere aufpassten.

Aber heute hatten sie es eilig, weil ja Tante Claire zu Besuch kam, und sie blieben nur ein Mal stehen, als Batty einen Wurm retten musste, der sich leichtsinnigerweise auf den Gehweg gewagt hatte. So bogen sie schon bald in die Gardam Street ein, wo sie wohnten. Es war eine ruhige Straße, eine Sackgasse mit nur fünf Häusern auf jeder Seite. Die Penderwick-Schwestern hatten schon immer dort gewohnt und sie liebten jeden Zentimeter ihrer Straße, vom einen Ende bis zum anderen. Selbst wenn Rosalind es eilig hatte, so wie heute, sah sie mit Genugtuung die hohen Ahornbäume, die an der Straße Spalier standen – in jedem Vorgarten einer –, und die weitläufigen Häuser, die nicht mehr ganz neu waren, aber immer noch anheimelnd und gepflegt. Und immer war da irgendjemand, der ihnen zuwinkte. Heute waren es Mr Corkhill, der seinen Rasen mähte, und Mrs Geiger, die mit ihrem Auto voller Einkäufe vorbeifuhr – und dann hörte Rosalind auf zu winken, weil Batty losrannte.

»Komm, Rosalind!«, rief Batty über die Schulter. »Ich höre ihn!«

Auch das war ein tägliches Ritual. Hound, der Hund der Penderwicks, merkte es immer schon kurz vorher, wenn Batty nach Hause kam, und schlug dann einen solchen Lärm, dass man ihn in der ganzen Straße hören konnte. Jetzt rannten beide Schwestern, und im Nu hatte Rosalind die Haustür aufgeschlossen und Hound stürzte sich auf Batty, als wäre sie nicht einen Tag, sondern hundert Jahre fort gewesen.

Rosalind zerrte Hound zurück ins Haus und Batty tanzte vor Wiedersehensfreude hinterher. Dann liefen sie alle durch den Flur, durchs Wohnzimmer und in die Küche – wo Rosalind die Hintertür öffnete und das vergnügte Knäuel aus Hund und Kind hinaus in den Garten schob. Sie machte die Tür hinter ihnen zu und lehnte sich dagegen, um zu verschnaufen. Bald würde Batty ihren Nachmittagsimbiss haben wollen, doch jetzt hatte Rosalind einen kleinen Moment für sich. Sie konnte schon mal mit dem Kuchen anfangen, der ein gestürzter Ananaskuchen werden sollte.

Fröhlich summend nahm sie das Familienkochbuch aus dem Regal. Ihre Eltern hatten es zur Hochzeit bekommen und überall fanden sich Bleistiftnotizen ihrer Mutter. Rosalind kannte alle Notizen auswendig, manche hatte sie ganz besonders gern, zum Beispiel die neben den kandierten Süßkartoffeln – eine Beleidigung für alle Kartoffeln dieser Welt. Neben dem gestürzten Ananaskuchen stand nichts. Falls er ein großer Erfolg wurde, schrieb Rosalind vielleicht selbst etwas daneben. Das machte sie gelegentlich.

»Eine viertel Tasse Butter zum Schmelzen bringen«, las sie, stellte eine Pfanne auf den Herd, zündete die Flamme an und gab ein Stück Butter in die Pfanne. Fast augenblicklich begann die Butter zu schmelzen, sie brutzelte ein wenig und erfüllte die Küche mit einem köstlichen Duft, wie in einer Bäckerei.

»Eine Tasse braunen Zucker hinzufügen.« Sie maß den Zucker ab und gab ihn in die Pfanne. »Beides verrühren, bis sich der Zucker gelöst hat.«

Als der Zucker mit der Butter verschmolzen war, nahm Rosalind die Pfanne vom Herd, machte eine Dose Ananas auf und legte die Scheiben auf die Karamellmasse. Sie trat einen Schritt zurück und bewunderte ihr Werk. »Das sieht toll aus, Rosy. Du bist eine großartige Köchin.«

Sie schaute wieder ins Kochbuch und summte weiter vor sich hin, als ihr auffiel, wie verdächtig still es im Garten war. Als sie zur Tür hinausschaute, wusste sie auch, warum. Batty und Hound hockten in der Forsythienhecke und spähten in den Nachbargarten. Und zwar nicht in den Garten der Nachbarn zur Rechten, der Tuttles, die schon ewig dort wohnten und denen es nichts ausgemacht hätte, wenn Batty und Hound bei ihnen zum Küchenfenster hereingeschaut hätten, während sie aßen. Nein, sie schauten zu den Nachbarn zur Linken, den Aaronsons, die gerade erst eingezogen waren. Die Mädchen hatten große Hoffnungen in diese neuen Nachbarn gesetzt. Eine große Familie wäre am besten gewesen, denn Kinder kann es in einer Straße nie genug geben. Doch die Aaronsons stellten sich als sehr kleine Familie heraus – eine Mutter mit einem kleinen Jungen, der gerade erst laufen lernte, aber kein Vater; der war schon vor der Geburt des Jungen gestorben. Die Mutter und der Junge hatten beide rote Haare, das war gut, Rothaarige gab es noch gar nicht in der Straße, aber eine interessante Haarfarbe ist auch nicht alles. Mr Penderwick kannte Ms Aaronson schon ein bisschen. Sie arbeiteten beide als Professoren an der Universität von Cameron – er war Botaniker und sie Astrophysikerin –, doch den Rest der Familie hatte sie noch nicht kennengelernt.

Rosalind fand, dass Spionieren auf keinen Fall vor dem Kennenlernen kommen sollte.

»Batty!«, rief sie von der Tür. »Komm her!«

Batty und Hound kämpften sich aus der Forsythie und trotteten widerwillig zum Haus. »Wir spielen nur Geheimagenten.«

»Dann spielt was anderes. Die Nachbarn finden es vielleicht nicht so schön, wenn ihr hinter ihnen herschnüffelt.«

»Sie waren überhaupt nicht im Garten, also haben sie es gar nicht gemerkt. Außerdem haben wir eigentlich die Katze gesucht.«

»Ich wusste gar nicht, dass die Aaronsons eine Katze haben.«

»O doch, einen großen roten Kater. Er sitzt meistens am Fenster und Hound ist schon ganz verliebt in ihn.«

Obwohl Hound zustimmend mit dem Schwanz schlug, bezweifelte Rosalind, dass da wirklich Liebe im Spiel war. Sie hatte ihn noch nie zusammen mit einer Katze gesehen, doch sie wusste, wie er auf Eichhörnchen reagierte, und alle Eichhörnchen, die sich jemals in der Gardam Street hatten niederlassen wollen, wussten es auch. Doch es war sinnlos, mit Batty darüber zu streiten, was in Hound vorging, deshalb wechselte sie das Thema.

»Wie wär’s mit einem kleinen Imbiss?«

Gegen einen Imbiss hatte Batty nie etwas einzuwenden, schon gar nicht, wenn er aus Käse, Salzstangen und Traubensaft bestand und wenn Rosalind ihr, so wie heute, erlaubte unter dem Küchentisch zu essen, ein erstklassiges Versteck für Geheimagenten.

Als Batty versorgt war, wandte Rosalind sich wieder ihrem Kuchen zu. »Eine Tasse Mehl durchsieben …« Doch sie wurde abermals unterbrochen, diesmal von ihren anderen beiden Schwestern, die von der Schule nach Hause kamen und in die Küche stürmten.

»Hier riecht’s gut.« Das war Skye, die blonden Haare unordentlich unter einen Tarnhut gestopft. Sie steckte einen Finger in die Pfanne und fischte einen Karamellklumpen heraus.

Rosalind wollte sie wegscheuchen, aber Skye wich ihr aus und leckte lachend ihren Finger ab.

»Ruf Daddy an«, sagte Rosalind. »Du warst als Letzte im Haus.«

So lautete die Regel nach der Schule. Während Rosalind Batty bei Goldie abholte, kamen Skye und Jane gemeinsam von der Schule nach Hause. Skye ging in die sechste Klasse, Jane in die fünfte. Wer als Letzte nach Hause kam, musste Mr Penderwick in der Uni anrufen, damit er wusste, dass alles in Ordnung war.

»Jane, ruf Daddy an«, sagte Skye.

»Ich bin zu durcheinander wegen Englisch«, sagte Jane.

Das sah Jane gar nicht ähnlich. Englisch war ihr absolutes Lieblingsfach, sogar noch vor Fußball. Rosalind riss sich vom Kochbuch los und schaute ihre zweitjüngste Schwester genau an. Sie sah wirklich mitgenommen aus. Man konnte sehen, dass sie geweint hatte.

»Was ist passiert?«, fragte Rosalind.

»Miss Bunda hat ihr eine Drei im Aufsatz gegeben«, antwortete Skye, langte unter den Tisch und stibitzte etwas von Battys Käse.

»Ich bin blamiert bis auf die Knochen«, sagte Jane. »Aus mir wird nie eine richtige Schriftstellerin.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass Miss Bunda ihn bestimmt nicht gut findet.«

»Zeig den Aufsatz mal her«, sagte Rosalind.

Jane holte ein paar zerknüllte Blätter aus der Hosentasche und warf sie auf den Küchentisch. »Jetzt hab ich keinen Beruf mehr. Ich muss Landstreicherin werden.«

Rosalind strich das Papier glatt, suchte die erste Seite und las. »Berühmte Frauen in der Geschichte von Massachusetts, von Jane Letitia Penderwick. Aus der Vielzahl der Frauen, die uns einfallen, wenn wir an Massachusetts denken, sticht eine heraus: Sabrina Starr.« Rosalind hörte auf zu lesen. »Du hast einen Aufsatz über Sabrina Starr geschrieben?«

»Ja«, sagte Jane.

Sabrina Starr war die Heldin von fünf Büchern, alle von Jane geschrieben. Jedes Buch handelte von einer sensationellen Rettung. Bis jetzt hatte Sabrina eine Grille gerettet, einen jungen Spatz, eine Schildkröte, ein Murmeltier und einen Jungen. Die letzte Geschichte, Sabrina Starr rettet einen Jungen, hatte Jane in den Sommerferien auf Arundel geschrieben. Für Jane war es das beste Buch der Reihe.

»Aber ihr solltet doch über eine Frau aus Massachusetts schreiben, die wirklich gelebt hat.«

»Genau das hab ich ihr auch gesagt. Aua!« Skye sprang zurück, denn Batty hatte sie aus Rache für den gestohlenen Käse ins Fußgelenk gekniffen.

»Das hab ich alles erklärt«, sagte Jane. »Schau auf die letzte Seite.«

Rosalind suchte die letzte Seite. »Natürlich ist Sabrina Starr keine echte Frau aus Massachusetts, aber ich habe über sie geschrieben, weil sie faszinierender ist als die alte Susan B. Anthony oder Clara Barton«, stand da. »Oh, Jane, kein Wunder, dass Miss Bunda dir eine Drei gegeben hat.«

»Sie hat mir eine Drei gegeben, weil sie keine Fantasie hat. Wer will überhaupt Aufsätze schreiben, wenn man doch Geschichten schreiben kann?«

Das Telefon klingelte und Skye rannte hin. »Hallo Daddy, ja, wir sind alle da und wir wollten dich gerade anrufen … Alles gut, nur Jane ist fertig, weil sie eine Drei im Aufsatz hat … Echt?« Skye wandte sich zu Jane. »Daddy sagt, du sollst daran denken, dass Leo Tolstoi das Studium abgebrochen hat und trotzdem Krieg und Frieden geschrieben hat.«

»Sag ihm, wenn ich so weitermache, lassen sie mich gar nicht erst zum Studium zu.«

Skye sprach wieder ins Telefon. »Sie sagt, sie wird gar nicht erst zum Studium zugelassen … Was? Noch mal … Gut, verstanden. Tschüs.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Jane.

»Dass du dir keine Sorgen machen sollst, denn du hast tantum amorem scribendi.« Die letzten drei Wörter sprach Skye langsam und deutlich aus, weil sie Lateinisch waren.

Jane sah Rosalind hoffnungsvoll an. »Weißt du, was tantum am … – was das ist?«

»Tut mir leid, wir sind noch nicht viel weiter gekommen als agricola, agricolae«, antwortete Rosalind. Sie hatte erst in diesem Jahr angefangen Latein zu lernen, weil sie unbedingt ihren Vater verstehen wollte, der immer mit lateinischen Brocken um sich warf. »Wenn Daddy etwas darüber sagen würde, wie es ist, ein Bauer zu sein, das würde ich verstehen.«

»Nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Skye. »Wo er doch Professor ist.«

»Wie alt muss ich sein, um Krieg und Frieden zu lesen?«, fragte Jane. »Es würde meinen Schmerz lindern, wenn ich in Herrn Tolstoi eine verwandte Seele finden könnte.«

»Älter als zehn, das ist mal sicher«, sagte Skye. Weil sie nicht wieder in den Knöchel gekniffen werden wollte, steuerte sie auf die Pfanne mit der Zuckermischung zu, aber diesmal stellte Rosalind sich ihr rechtzeitig in den Weg.

»Schluss jetzt«, sagte sie. »Ich backe einen gestürzten Ananaskuchen für Tante Claire und du machst ihn nicht kaputt.«

»Tante Claire kommt!« Janes Miene hellte sich auf. »Das hatte ich vor lauter Kummer ganz vergessen. Sie wird meinen Schmerz lindern.«

»Und während ich den Kuchen fertig backe, könnt ihr beiden schon mal das Gästezimmer für sie vorbereiten.«

»Hausaufgaben …«, murmelte Skye und schob sich in Richtung Tür.

»Freitags machst du doch nie Hausaufgaben«, sagte Rosalind scharf. »Los jetzt.«

Wenn Skye sich auch gern gedrückt hätte, half sie doch fleißig mit und in der folgenden Stunde lief bei den Penderwicks alles wie am Schnürchen. Sie sorgten für saubere Bettwäsche und Handtücher, das Wohnzimmer wurde aufgeräumt, und Batty und Hound wurden zur Feier des Tages beide gekämmt. Genau in dem Moment, als Rosalind den fertigen Kuchen aus dem Ofen holte, schallte Janes fröhliche Stimme durchs Haus.

»Tante Claire ist da!«

Zweites Kapitel

Der Brief

Vignette

Tante Claires Besuch begann wie alle ihre Besuche. Erst gab es das übliche Gerangel, wer sie als Erste umarmen durfte, und wie immer hatte sie Hundekuchen für Hound in der einen Tasche und Schokoladenbonbons für die Mädchen in der anderen. Und als Mr Penderwick nach Hause kam, saß sie in der Küche auf der Anrichte, genau wie immer, während er kochte – überbackene Auberginen –, sie war ihm im Weg und zog ihn jedes Mal auf, wenn er einen Kochlöffel, seine Brille oder das Salz verlegte, was alle zwei Minuten passierte. Während des gesamten Abendessens war sie die gute alte Tante Claire – sie erzählte witzige Anekdoten von ihrer Arbeit und bombardierte die Mädchen mit Fragen nach der Schule. Erst als sich alle mit Auberginen vollgestopft hatten und der Tisch abgeräumt war, wurde der Besuch merkwürdig. Rosalind trug gerade den gestürzten Ananaskuchen herein, als Tante Claire unvermittelt ihren Stuhl zurückschob und aufstand.

»Ich glaube …« Sie setzte sich wieder. »Vielleicht doch lieber nicht.«

»Vielleicht doch lieber nicht was?«, fragte Jane.

Tante Claire stand wieder auf. »Ich meine, na ja, ich kann es genauso gut jetzt gleich sagen. Obwohl, später ist es wohl doch besser.«

Wieder setzte sie sich hin und lächelte alle an. Sie hätten ihr Lächeln erwidert, hätte es nicht so offensichtlich schuldbewusst gewirkt, wenn es auch unvorstellbar war, dass Tante Claire sich irgendetwas zu Schulden hatte kommen lassen.

Mr Penderwick runzelte die Stirn. »Was hast du denn?«

»Alles in Ordnung. Achtet einfach gar nicht auf mich«, sagte sie fröhlich. »Der Kuchen sieht köstlich aus, Rosalind. Willst du ihn nicht anschneiden?«

Rosalind nahm das Kuchenmesser, doch ehe sie den Kuchen anschneiden konnte, stand Tante Claire schon wieder.

»Nein, nein, am besten bringen wir es jetzt hinter uns. Ich hole jetzt die Geschenke aus dem Auto.« Und damit rauschte sie aus dem Zimmer.

»Was für Geschenke?«, fragte Skye, aber niemand wusste etwas. Es war weder Weihnachten noch hatte jemand Geburtstag.

»Wird Tante Claire jetzt verrückt?« Das war Batty und auch auf diese Frage hatte niemand eine Antwort. Falls Tante Claire nicht verrückt wurde, dann war sie sehr gut darin, so zu tun als ob.

Dann war sie wieder da, sie zog einen glänzenden neuen roten Bollerwagen voller interessant aussehender Päckchen und redete sehr schnell. »Der Bollerwagen ist natürlich für Batty. Es tut mir leid, dass ich ihn nicht eingepackt habe, aber er ist zu groß und unförmig. Die eingepackten Geschenke sind für die anderen drei.«

»Also gut, Claire«, sagte Mr Penderwick. »Was soll das Ganze?«

»Kann ich nicht einfach mal so Geschenke mitbringen?«

»Das hast du noch nie gemacht«, sagte Rosalind. Tante Claire machte sie ganz nervös.

»Du verheimlichst uns doch was, Claire«, sagte Mr Penderwick. »Du weißt, dass das nicht gut geht. Erinnerst du dich noch an mein U-Boot?«

»Was für ein U-Boot?«, fragte Skye.

»Deine Tante hat mein liebstes Modell-U-Boot kaputt gemacht und es unserem Hund Ozzie in die Schuhe geschoben. Aber ich wusste, dass sie es gewesen war.«

»Diesmal ist es aber nichts dergleichen!«, rief Tante Claire.

»Was ist es dann?«, platzte Rosalind heraus – sie hielt es einfach nicht mehr aus.

»Bist du krank, Tante Claire?«, fragte Jane, die plötzlich selbst ganz blass und elend aussah.

»Nein, nein, ich bin nicht krank. Es ist … ich meine, ich hätte später davon anfangen sollen, wenn ich mit eurem Vater allein bin. Nicht, dass es etwas so Schlimmes wäre. Ich bin nur … o Martin!«

Mr Penderwick nahm seine Brille ab und putzte sie an seinem Ärmel. »Mädchen, lasst mich bitte ein paar Minuten mit eurer Tante allein, ja?«

»Können sie nicht erst ihre Geschenke auspacken?«, bat Tante Claire. »Oder sie wenigstens mitnehmen?«

»Sie können sie mitnehmen.«

Es war ein klägliches Grüppchen, das im Gänsemarsch ins Wohnzimmer trottete, Rosalind zog den roten Bollerwagen und Skye zog Hound, der lieber in der Nähe des gestürzten Ananaskuchens geblieben wäre. Keiner war in der Stimmung für Geschenke.

»Es wäre undankbar, sie nicht auszupacken«, sagte Jane nach kurzem trübsinnigen Schweigen. Sie war immer noch nicht in der Stimmung für Geschenke, doch sie hatte bemerkt, dass das Päckchen mit der Aufschrift JANE die richtige Größe und Form für Bücher hatte.

Also verteilte Rosalind die Päckchen. In dem für Jane waren tatsächlich Bücher, sechs Stück von Eva Ibbotson, einer ihrer Lieblingsautorinnen. Skye bekam ein beeindruckendes Militär-Fernglas mit Nachtsichtfunktion. Und für Rosalind gab es zwei Pullis, einen weißen und einen blauen.

»Zwei!«, sagte sie. »Da ist irgendwas faul, ganz klar.«

»Die Bücher sind alle gebunden und zwei davon habe ich noch kein einziges Mal gelesen«, fügte Jane hinzu. »Bestimmt sind das Tante Claires Abschiedsgeschenke, weil sie bald stirbt.«

»Sie hat gesagt, sie ist nicht krank. Außerdem sieht sie kerngesund aus.«

»Die Menschen sehen oft kerngesund aus, kurz bevor sie sterben.«

»Dann könnten wir alle sterben.« Batty kletterte in ihren neuen Bollerwagen. Vielleicht war sie dort in Sicherheit.

»Hier stirbt keiner«, sagte Rosalind.

»Scht«, machte Skye und jetzt sahen die anderen, dass sie an der Tür lauerte.

»Du lauschst!«, sagte Jane.

»Lauschen gehört sich nicht. Ich stehe nur zufällig hier, mehr nicht«, sagte Skye.

Das war so einleuchtend, dass die anderen beschlossen sich zu ihr zu stellen, und wenn sie still waren, weil es nichts mehr zu sagen gab, war das dann wirklich Lauschen? Wie auch immer, es nützte ihnen nicht viel, denn sie verstanden nur einzelne Wörter. Tante Claire sprach schnell, und ihr Vater sagte einmal laut »NEIN«, und dann ging es hin und her, und mehrmals hörten die Mädchen den Namen ihrer Mutter, Elizabeth. Dann war es still, bis ohne Vorwarnung die Tür aufging und Skye fast gegen die Nase knallte.

Es war ihr Vater, seine Haare waren zerzaust und die Brille rutschte ihm von der Nase. Er hatte ein blaues Blatt Papier in der Hand, er hielt es ganz vorsichtig, als wäre es kostbar und empfindlich. Als Rosalind es sah, wurde sie im Innern auf einmal ganz kalt, so kalt, dass sie zitterte, obwohl sie überhaupt nicht verstand, was das sollte – der Brief, die Kälte und das Zittern.

»Es ist alles gut, Mädchen. Keine Tragödie. Eher eine Komödie, oder vielleicht eine Tragikomödie. Kommt wieder rein.«

Im Gänsemarsch gingen sie wieder in die Küche, setzten sich und dankten Tante Claire für die Geschenke. Der gestürzte Ananaskuchen stand unbeachtet auf dem Tisch.

»Sag du es ihnen, Claire«, sagte Mr Penderwick. »Das ist dein Werk.«

»Ich hab dir doch schon erklärt, Martin, dass es nicht mein Werk ist«, sagte sie.

»Sag es ihnen«, sagte er.

»Also, Mädchen …« Sie hielt kurz inne, dann sprach sie schnell weiter. »Was würdet ihr davon halten, wenn euer Vater mal mit einer Frau ausgehen würde?«

Entsetztes Schweigen folgte. Was sie auch erwartet haben mochten, das ganz bestimmt nicht.

»Ausgehen? Du meinst, Kino, Restaurant und Liebe?«, fragte Jane schließlich.

»Liebe! Bah!«, sagte Mr Penderwick und jetzt fiel ihm die Brille ganz herunter und landete klirrend auf dem Boden.

Tante Claire hob sie auf und reichte sie ihm. »Kino und Restaurant, ja, was die Liebe angeht, so hat es keine Eile.«

Wieder wusste niemand etwas zu sagen. Das einzige Geräusch war Hounds schnüffelnde Suche nach Krümeln auf dem Boden.

»Ich glaube, du bist nicht der Typ zum Ausgehen, Daddy«, sagte Skye nach einer Weile. »Das soll jetzt keine Beleidigung sein.«

»Ich bin nicht beleidigt«, sagte er. »Ich bin ganz deiner Meinung.«

Batty rutschte von ihrem Stuhl und setzte sich ihrem Vater auf den Schoß. »Warum solltest du das machen, Daddy?«

»Deine Mutter hielt es für das Beste, Schatz«, sagte Tante Claire.

»Mommy?«, flüsterte Jane jetzt.

Rosalind wurde schwindelig. Die Küche war auf einmal zu warm und das Licht zu hell. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Das muss ein Irrtum sein.«

»Es stimmt, Rosy. Es war die Idee deiner Mutter«, sagte Mr Penderwick und schaute auf das blaue Blatt Papier, das er immer noch in der Hand hielt. »Sie hatte Angst, ich könnte einsam sein.«

»Du hast doch uns«, sagte Rosalind.

»Erwachsene brauchen manchmal die Gesellschaft anderer Erwachsener«, sagte Tante Claire. »Ganz egal, was für tolle Kinder sie haben.«

»Ich verstehe nicht, was das jetzt soll«, sagte Skye, nahm eine Gabel und stach in den Tisch. »Gibt es eine Frau, mit der du ausgehen willst, Daddy?«

»Nein.« Mr Penderwick sah aus, als würde er selbst auch ganz gern zustechen.

»Eure Mutter glaubte, ihr Mädchen würdet jetzt so groß sein, dass Martin seine Welt ein wenig erweitern könnte, und ehrlich gesagt glaube ich, dass sie da nicht Unrecht hatte«, sagte Tante Claire. »Deshalb haben er und ich uns auf einen Plan geeinigt. Euer Vater wird sich ein paar Monate in den Ausgeh-Dschungel stürzen und während dieser Zeit mindestens vier Frauen ausführen.«

»Vier!« Stech, stech, stech, stech, machte Skyes Gabel.

»Sollte er danach weiter wie ein Eremit leben wollen, dann hat er es wenigstens versucht, und zwar ernsthaft. Es ist ja nicht so, als wären im westlichen Massachusetts keine Frauen zu finden.« Tante Claire achtete nicht auf das Stöhnen ihres Bruders und redete einfach weiter. »Und weil ich mir dachte, er würde bestimmt Anlaufschwierigkeiten haben, hab ich eine Freundin von mir angerufen, die eine unverheiratete Freundin hier in Cameron hat.«

Rosalinds Schwindelgefühle wurden immer schlimmer – in ihren Ohren klingelte es und der Kühlschrank schien sich zur Seite zu neigen.

»Und?« Skye stieß mit der Gabel so fest zu, dass sie sich verbog.

»Und so habe ich morgen Abend ein Blind Date mit einer gewissen Ms Muntz«, sagte Mr Penderwick. »Die Würfel sind gefallen. Iacta alea est

Rosalind stand so ruckartig auf, dass ihr Stuhl laut scheppernd umkippte. Alle fragten sie, was los sei, doch sie konnte es nicht erklären. Sie wusste nur, dass sie nicht richtig atmen konnte und dass sie rausmusste. Sie taumelte zur Tür, schob die Hände von jemandem weg und hörte Tante Claire sagen, sie sollten sie in Ruhe lassen.

Ja, lasst mich in Ruhe, dachte sie, als sie an der Tür war.

»Rosy!« Das war ihr Vater.

Sie konnte ihm nicht antworten, konnte ihn nicht einmal ansehen. Sie floh hinaus, knallte die Tür hinter sich zu und atmete in tiefen, gierigen Zügen die Abendluft ein. Ja, jetzt konnte sie atmen.

»Ich gehe ein bisschen spazieren«, sagte sie zu sich selbst. »Dann geht es mir bestimmt besser.«

Und sie ging die Gardam Street hinunter.