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Für alle Menschen, die mir auf meiner Reise begegnet sind.

Und für Jutta natürlich.

Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt.

Mit 26 Fotos und einer Karte.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95530-0

© Piper Verlag GmbH 2012

Redaktion: Irma Kramer, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Umschlagfoto: Michael Herdlein

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

VORWORT

Meine Idee, ein Computer und dazu einen guten, starken Espresso. Mehr habe ich nicht gebraucht. Eine explosive, aber kreative Mischung. Aus meinen Notizen, aus Worten, Bildern und Gegenständen, die ich dabei immer vor Augen hatte, fügte sich Kapitel für Kapitel ein lebendiger, abwechslungsreicher und nicht selten amüsanter Kosmos zusammen, von dessen Existenz ich selbst zuvor keine Ahnung hatte. Eine Erfahrung voller Überraschungen.

Meine »italienischen Momente« zu erzählen schien mir eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Und zudem fragte ich mich, wen sollte das schon interessieren?

Aber … warum sollte ich es nicht versuchen? Vielleicht würde am Ende ja etwas ganz anderes dabei herauskommen und mein Thema nur ein Vorwand sein, von den vielen liebenswerten, mitunter skurrilen Menschen zu erzählen, die ich auf meinen Reisen durch Italien kennengelernt habe, und von meiner Heimat? Wie sie einmal war, und was aus ihr geworden ist?

Ich habe diese Momentaufnahmen meines Lebens aus meiner Erinnerung hervorgeholt, sorgfältig zerlegt, sozusagen durch das Mikroskop betrachtet und analysiert. Und mir wurde klar, dass ein persönliches Erlebnis einen manchmal ganz weit bringen kann. Ich habe mit der Suche in meiner Vergangenheit begonnen, und daraus wurde eine lange Reise.

Mit heiterer Wehmut habe ich meine schöne Heimat Italien von oben nach unten, kreuz und quer erforscht. Mit meiner Erinnerung möchte ich die Orte, die Gerüche, die Stimmen dieses Landes für meine Leser mit neuem Leben erfüllen. Dafür habe ich mit dem klassischen Erzählschema gebrochen und die üblichen Regeln missachtet, bin in Raum und Zeit vor- und zurückgesprungen, habe hier zurückgeschaut, dort auf etwas verwiesen und mir das Italien der Klischees vorgenommen. Das Italien von »Pasta, Pizza und Mandoline«, die von vielen verachtete und unmöglich genau zu beschreibende Mentalität der Italiener, dieses riesengroße Freilichtmuseum, das Land, das im Chaos versinkt, so reich an Möglichkeiten, aber dennoch erdrückt von alten, nie gelösten Problemen. Wo eine große Kluft zwischen Norden und Süden besteht und man sich auch nach 150 Jahren Einheit noch schwer damit tut, eine Nation zu sein. Doch diese Unterschiede und Widersprüche sind, wie man weiß, sowohl unsere Stärke als auch unser Fluch. Wir essen vielleicht nicht das Gleiche, aber dafür finden wir beim Reden über das Kochen zusammen. Wie oft unterhalten wir uns über Rezepte: »Also ich mache das so, und du? Meine Schwiegermutter sagt aber, man muss …« Wenn wir könnten, wie wir wollten, würden wir Köche zu Ministern wählen und nicht eine Regierung aus Fachleuten!

Und so stiegen die Erinnerungen an die kleinen Orte in der Provinz auf, die ich auf meinen langen Theatertourneen besuchte, an die Kulturstädte, deren Geschichte ich in zahlreichen Fernsehdokumentationen erzählt habe, an die Filmsets und natürlich die romantischen Ausflüge zu zweit in die verstecktesten und stimmungsvollsten Ecken meines Landes, und begannen, sich vor meinen Augen auszubreiten wie die Kringel und Spiralen aus Dampf, die dem berauschenden Duft meiner Tasse mit heißem Kaffee entströmen.

PS: Im November 2011, während ich das Vorwort zu meinem Buch beendete, gab ich diese kurze Erklärung bei der deutschen Nachrichtenagentur dpa ab:

BERLUSCONI HAT UNS DIE WÜRDE GENOMMEN. Silvio Berlusconi hat den Italienern nach Ansicht von Schauspieler und Werbemann Bruno Maccallini die Würde genommen. Das Ende des Regierungschefs nach achtzehn Jahren sei ein Wendepunkt, sagte der 51-jährige Italiener der Nachrichtenagentur dpa. »Die Italiener sind satt. Meine Freunde, meine Familie sind satt. Berlusconi hat die Italiener verarmt in diesen Jahren. Und was noch wichtiger ist, er nahm ihre Würde – unsere Würde.«

Seit wenigen Wochen hat Italien eine neue Regierung. Sicher, man weiß nie, was die Zukunft bringen wird. Aber das Schlimmste ist vorbei. Nie mehr Bunga-Bunga, es lebe Italien!

Bruno Maccallini

Rom, im Januar 2012

1.

TURIN

1965–2006

Mein Vater liebte Eiscreme; wenn er auch nur von Weitem eines dieser Wägelchen mit den Silberhauben erblickte, stürzte er sich darauf wie ein Falke. An einen der umherziehenden Eishändler erinnere ich mich besonders gern, einen älteren Mann, der seinen dreirädrigen Fahrradkarren – in knalligen Bonbonfarben gehalten wie so viele damals in den Sechzigerjahren – fröhlich vor sich herschob. Normalerweise tauchte er Ende Mai nach einer langen Winterpause auf und kündigte seine Ankunft auf der Piazza schon von Weitem mit diesem unverwechselbaren Klingeln an: »Drinnng … dring!«

Gemeinsam mit meinem Vater drängte sich dann stets eine kleine Menschentraube freudig um den Karren. Der Eishändler schaufelte ununterbrochen mit seinem Spatel enorme Portionen in die Waffelhörnchen, besserte ab und zu mit geschickter Hand nach und rief dabei:

»Eis … Eis … ein Eis von mir ganz wunderbar,

erfrischt die ganze Kinderschar

und wollt ihr Ruh’ im ganzen Haus,

gebt Schwiegermama auch eins aus!«

Obwohl mein Vater ein sehr zerstreuter Mann war, konnten nur wenige Dinge seinen klaren Verstand trüben und ihn ernsthaft durcheinanderbringen: eines davon war eine Eiswaffel. Ein Sahnehäubchen konnte ihn so in Verzückung versetzen, dass er die Welt um sich herum völlig vergaß. Und an jenem Morgen auf der Piazza Castello hatte er mich vollkommen vergessen. Also, eigentlich hatte er mich ja einer jungen Frau anvertraut, die dort Tauben fotografierte, und sie gebeten, kurz auf mich aufzupassen, während er ein Eis kaufen ging. Er hatte ihr erklärt, wenn ich unbeaufsichtigt bliebe, könnte ich in der Zwischenzeit Spaziergängern oder, schlimmer noch, einer Gruppe Bersaglieri zwischen die Füße laufen, die anlässlich eines Regionaltreffens allmählich die Straßen des Zentrums füllten, auf dem Kopf die typischen Hüte mit den Federbuschen.

Meine Mutter, die im Hotel geblieben war, sollte ihm diese »Zerstreutheit« viele Jahre lang nicht verzeihen. Den Ausflug nach Turin machten wir im Übrigen wegen eines dieser stinklangweiligen forensischen Kongresse, zu denen mein Vater stets die ganze Familie mitnahm. Dieses Mal hatten sich meine Brüder davor drücken können und waren in den Abruzzen geblieben, weil sie angeblich so viel für die Schule zu lernen hatten. Wahrscheinlich, aber das wurde mir erst später klar, langweilten sie sich schon in den Sommerferien und umso mehr auf diesen Geschäftsreisen ohne ihre Freunde oder irgendeine andere Unterhaltung. Ich dagegen, der Kleinste, war ziemlich genügsam und empfand solche Ferien im Kreise der Familie noch nicht als langweilig.

Ich war gerade mal fünf Jahre alt.

Als die Blaskapelle der Bersaglieri einen flotten Marsch anstimmte, heulte ich los. Obwohl mich die wippenden Federn auf diesen merkwürdigen Hüten faszinierten, die beim Vorbeimarschieren im Wind wehten, begann ich mich doch zu fragen, was meine kleine Kinderhand am Arm einer fremden Frau verloren hatte. Ein Riesenschwarm Tauben hatte die Piazza in Besitz genommen: Fett, grau und kugelrund saßen sie überall und pickten still die Krümel auf, die die Touristen zurückgelassen hatten. Die einzige, die sich ein wenig abseits hielt, beschloss, mir beim Landeanflug auf eine Bank auf den Kopf zu kacken. Zum Glück hatte ich eine braune Mütze auf, und die fremde Frau griff auch sofort hastig nach ihrem Taschentuch, um sie zu säubern.

»Sie können ja nichts dafür, dass sie in der Stadt leben und sich um jeden Brotkrümel zanken müssen«, sagte sie. Und mein Vater hatte mir erst wenige Minuten zuvor, als er mich noch an der Hand hielt, versichert, dass diese armen Vögel ganz harmlos seien, aber seit ewigen Zeiten als »Ratten der Luft« verunglimpft würden. Deshalb hatte ich keine Angst. Ich kenne richtige Taubenhasser, Menschen, die nach einem klassischen »Taubenschiss« von oben sofort ihre Kleider verbrennen oder zum Arzt rennen, um ihr Blut auf eventuelle tödliche Seuchen untersuchen zu lassen. Ein Freund von mir hat einmal gesagt, in einem ausgeschalteten Computermonitor sei mehr Persönlichkeit und Gefühl zu finden als in ihren Augen. Vielleicht hat er recht, aber ich konnte Tauben nie hassen. Im Gegenteil, am liebsten hätte ich den Arm der fremden Frau losgelassen und wäre mit ihnen geflogen. Vielleicht schlummerte schon damals die Sehnsucht in mir, die Dinge anders, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Als Kind sehen wir beim Gehen ja oft bloß auf den Weg vor unseren Füßen oder höchstens geradeaus. Wir laufen durch Straßen, die wir in- und auswendig kennen und gar nicht mehr wahrnehmen, ganz selten heben wir mal den Kopf. Aber sobald wir auf einen freien Platz kommen, bleiben wir stehen und genießen die Aussicht: Wie schön sind doch die Vögel, die über unseren Köpfen fliegen, uns beobachten und die Luft beherrschen … und wie glücklich sind wir, während wir sie verzaubert beobachten!

~ ~ ~

Betrachtet man die Welt mit den Augen eines Kindes, kann man so manche Überraschung erleben, selbst wenn man die vierzig überschritten hat. Als ich 2006 auf die Piazza Castello zurückkehrte und den Palazzo Madama, die legendären Schaufenster in den Arkaden, die beeindruckenden Reiterstatuen der Dioskuren von Abbondio Sangiorgio, das Denkmal der Ritter des Ordens der Krone von Italien, die blumengeschmückten Balkone und die schmiedeeisernen Pavillons wiedersah, war das mehr als aufregend für mich. Und es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich mich gar nicht so sehr verändert habe und dass ich – vielleicht nach einer Abkürzung über eine schmale Treppe oder eine kleine Gasse, die mir bislang entgangen waren – urplötzlich wieder vor dem Eiswägelchen stehen könnte!

Ich bin also in Turin, um dort einen Dokumentarfilm über »Coiffures d’art« zu drehen, eine Performance in den Straßen Turins von und mit Alejandro Rendon und Sonia Gomez, den schauspielernden Friseuren oder frisierenden Schauspielern, Schöpfern von außergewöhnlichen Haarkunstwerken. Diese beiden bauen sich für ihre Show im Stadtzentrum auf, sprechen Passanten an und verpassen ihnen unglaubliche Frisuren. Ich habe mich als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt und lasse mich wortwörtlich »verwirren«: Nach einer halben Stunde habe ich eine Irokesenbürste auf dem Kopf und sehe aus wie eine Mischung aus einem Mohikaner und einem Bandmitglied der Sex Pistols oder, schlimmer noch, der Ramones! Fehlen bloß noch die Sicherheitsnadeln durch Nase und Wangen. Zwischen den einzelnen Takes lachen sich meine Kollegen vom Team schlapp, während ich im Geiste zu jenem Morgen im Jahr 1965 zurückkehre.

Die Kamera macht einen großzügigen Schwenk von unten nach oben. Wenn man die Piazza Castello und die Gebäude rundherum aufnimmt, bekommt man eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie Italien einmal war und heute nicht mehr ist. Hier lag im neunzehnten Jahrhundert das Zentrum Turins, und noch heute zeugen viele Monumente von der Größe des Königreichs Piemont-Savoyen, das vor der Einheit Italiens einen Großteil der Apenninen-Halbinsel regierte: der königliche Palast, das Teatro Regio, der Palast der Präfektur, die Königliche Bibliothek, das Staatsarchiv, die Kirche San Lorenzo. Aber wir sind wohl die Einzigen, die sie noch beachten, denn die Passanten interessieren sich anscheinend nur für diese komischen Frisuren. Wie immer fällt nur das ins Auge, was neu und ungewöhnlich ist: »Mama, schau mal, der Mann da sieht aus wie ein Kakadu!«

Dieser Platz ist zu schön, ich kann ihn nicht nur als Hintergrund verwenden.

Aber wie soll ich es schaffen, alles auf einmal ins Bild zu bekommen? Ich müsste schon eine Taube sein und das Ganze von oben betrachten. Ich muss einfach weiter hinauf. Genau! »Kommt, steigen wir auf die Mole Antonelliana!« Dieses Gebäude ist ein Wahrzeichen der Stadt und beherbergt heute das nationale Filmmuseum.

Von hier oben hat man die Gelegenheit, wirklich ganz andere Aufnahmen zu machen. Ich beginne mit einem 360-Grad-Schwenk über die Dächer, dann zoome ich mir die verschiedenen Haarkreationen heran: hier der Schnitt à la kolumbianischer Drogenhändler, dort die Löwenmähne, die da sieht aus wie ein Pudel … dann bleibt mein Blick an einer Taube hängen, die auf der Kuppel des Doms hockt; unter ihr, in einer Seitenkapelle, wird das berühmte Turiner Grabtuch aufbewahrt. Schließlich zoome ich zurück in die Totale. Wie wunderbar diese Taube aussieht, jetzt, wo sie von einem Viertel der Stadt ins andere fliegt: Dächer, so weit das Auge reicht, Kuppeln, Kirchtürme, der Palazzo Carignano, das Teatro Regio, der Markt an der Porta Palazzo. Die Sonne geht fast schon unter, und nicht einmal die Taube kann es kaltlassen, ihre Stadt, die zu den schönsten gehört, in diesem Licht zu sehen. Sogar der Po, über dessen Verschmutzungsgrad wir uns alle im Klaren sind, mutiert hier zu einem schillernden Goldfluss … Jetzt landet die Taube wieder auf der Piazza Castello: Zu jedem Bild tut sich eine Erinnerung aus meiner Kindheit auf, die ich für immer verloren glaubte. Es sind nur wenige Fragmente, die dafür umso länger halten müssen … Deshalb stelle ich meine Kamera auf Zeitlupe.

Tausend Farben umspielen mich. Gedämpfte Farben, seit das Licht gewechselt hat. Vor Kurzem war noch alles klar und gestochen scharf, jetzt scheint die abendliche Sonne die Fassaden rot und die Dächer orange gefärbt zu haben. Ein weiterer Schwenk nach oben zu der Taube: unbeschreiblich, wie dieser Vogel sein Glück und seine Angst in einem einzigen Flügelschlag ausdrückt.

Schließlich verlassen wir die Mole Antonelliana und gehen zurück ins Stadtzentrum. In der Via Po, deren Bürgersteige vollständig von Arkaden überdacht sind, machen wir unsere letzten Aufnahmen von den Verkaufsständen und den Buchhandlungen, die bis spätabends geöffnet sind. Um neun gönnen wir uns eine Pizza bei Ciro, eine der Traditionspizzerien Turins, wo die so gut wie in Neapel schmeckt. Weil es noch früh am Abend ist und am nächsten Tag keiner von uns arbeiten muss, gehen wir noch runter zu den Murazzi, um etwas zu trinken. Die Arkaden entlang dem Po, in denen früher die Boote untergebracht wurden, sind zurzeit extrem angesagt. Im The Beach schlürfen alle Cocktails auf Liegestühlen mit Blick auf den Fluss. Hier werde ich allerdings für einen heruntergekommenen Punk gehalten, und der Barmann, der uns eigentlich sympathisch findet, gibt uns den Tipp, doch eher in die Kneipe nebenan zu gehen, wo es ab Mitternacht tolle Punk- und Rock-Livemusik geben soll. Der Laden trägt, glaube ich, den etwas phantasievollen Namen Chi c’è c’è – Wer da ist, ist da –, und so ist es dann auch, also da ist kaum jemand. Als wir hereinkommen, gibt die Band gerade eine Coverversion von Deep Purple zum Besten. Außer uns vier neuen Gästen sind da nur etwa ein Dutzend Leute, die an den wenigen Tischen rund um eine winzige Bühne sitzen. Nach dem Song steht der Gitarrist von seinem Hocker auf, kommt zu mir rüber und wirft mir einen langen Blick zu. Vielleicht steht er ja auf mich, überlege ich, oder zumindest auf meine Frisur. Mein Tontechniker, mit dem ich auch privat befreundet bin, zieht mich auch gleich damit auf:

»Sieh an, da hast du eine Eroberung gemacht! Der Typ schaut ja fast aus wie Edward mit den Scherenhänden, pass auf, der ist bestimmt ein bisschen durchgeknallt und fährt total auf deine schicke Bürste ab!«

Merkwürdige Bewegung ist unter die wenigen Zuschauer gekommen: Eine junge Frau verschwindet immer wieder mit einem der Gäste auf der Toilette, und kurz darauf kehren sie mit einem etwas euphorisch und enthemmten Gesichtsausdruck zurück, weswegen wir der Dame schnell den Spitznamen »la Gianduia« geben, denn so heißt hier sowohl das typische Nougatkonfekt aus Haselnusscreme und Kakao als auch Kokain. Ich schaffe es, noch schnell zu zahlen, ehe wir an der Reihe sind, doch da kommt Edward mit ein paar Notenblättern in der Hand auf mich zu und bittet mich, beim nächsten Stück den Chor zu übernehmen. Er sagt noch, das Schönste an meiner Frisur sei ein Zöpfchen in Form eines geflügelten Schweins (das hatte ich vorher gar nicht bemerkt!), und außerdem würden mir blonde Locken bestimmt gut stehen. Doch dann schreit er auf einmal rum, ich könne ihn mal kreuzweise, aber ich erinnere mich nicht, was ich gesagt haben könnte, um ihn derart zu verärgern, und die ganze surreale Szene wird von grünen Leuchtpünktchen begleitet, die eine Art Laserstrahler quer durchs gesamte Lokal wirft. In einem Anflug von Großmut lasse ich mich dazu überreden, den Refrain von Child in time mitzugrölen, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier etwas ganz Seltsames vorgeht. Ich bin erkältet, schlage mich aber recht wacker, obwohl ich die hohen Töne nicht ganz schaffe. Der Schlagzeuger lächelt mich an, und der Keyboarder wirft mir Kusshändchen zu … Edward mit den Scherenhänden beharrt darauf, dass ich mir eine blonde Dauerwelle zulegen soll, weil ich ihn schrecklich an Robert Plant erinnere, den Frontmann von Led Zeppelin.

»Was meinst du, wenn ein Atheist unter Drogen die Madonna sieht, sollte er dann den Dealer wechseln oder lieber der Kirche beitreten? Hahaha … o Mann, du siehst echt aus wie Robert Plant, ach Quatsch, du bist sein Doppelgänger!«, lallt er mir laut ins Ohr, und was er sagt, klingt immer undeutlicher und verwirrter.

Okay, jetzt wird mir der ganze Zirkus hier zu bunt! Ich sage ihm, wer ich bin, warum ich so schrecklich aussehe, ich mache ihm klar, dass ich von ihm und Deep Purple die Schnauze gestrichen voll habe und dass ich sofort in mein Hotel gehe. Aber der lässt sich davon überhaupt nicht beirren, denn er ist nicht nur völlig zugekokst, sondern auch noch sturzbesoffen! Ich verabschiede mich nicht einmal von meinen Freunden, sehe nur noch zu, dass ich aus der Kneipe komme, und laufe hinauf in Richtung Piazza Castello … Da kommt mir dieser Wahnsinnige doch glatt mit einer Flasche Wodka in der Hand hinterher und will mir noch unbedingt eine Anekdote über Jim Morrison und Robert Plant erzählen. Es ist vier Uhr in der Früh, keine Menschenseele ist auf der Straße.

»Einesss Taaagesss trafen sssich Jiiim und Roobert auf dem Flughafen von Phoeeenixxx. Jim fragt Rooobert: ›Was machst du denn sooo?‹, und Rooobert aaantwortet: ›Ich bin der Sänger von Led Zzzeppelin.‹ – ›Nie gehört‹, sagt darauf Jim. Robert is baff, das ist völlig unmöglich, jeder kennt Led Zeppelin, zu der Zeit wusste sogar meine Oma, wer die waren! Doch Rooobert bleibt ganz coool und fragt zzzurück: ›Und du, was machst du denn so?‹ Darauf Jim: ›Ich bin Dichter!‹ Und weißt du, was dieses coole Arschloch von Rooobert ihm darauf geantwortet hat? ›Tja, ich war auch mal ein Dichter. Aber dann wurde ich berühmt!‹«

Er lacht sich über seinen Scherz halb kringelig und kippt dazu den letzten Rest Wodka in sich hinein. Darauf tritt er nach einer Taube, die neben seinem Schuh gelandet ist und dort nach Krümeln pickt, und als er sie nicht erwischt, wirft er die Flasche nach ihr.

»Ich hasse Jim Morrison und alle, die meinen, sie wären Dichter!«

»Was hast du denn gegen diese arme, unschuldige Taube? Was hat sie dir denn getan?«

Ich sehe ihm noch lange nach, wie er im Dunkel der Nacht verschwindet und dabei wie ein Verrückter brüllt: »Ich hasssse Jim Mooorrison und alle Taaauuuben dieser Welt!«

~ ~ ~

Als die Frau, die die Tauben fotografierte, feststellte, dass mein Vater nicht mehr zurückkam, wurde sie langsam sichtlich ungeduldig und besorgt. Inzwischen fühlte ich mich völlig verloren und heulte wie ein Schlosshund. Ein Bersagliere brachte mich dann aufs Polizeipräsidium. Zwei Stunden später sah ich meinen Vater wieder, der sich wortreich beim Beamten für sein »kleines« Versehen entschuldigte und ihm versicherte, dass er mich ab sofort nie wieder allein lassen würde.

2.

CAPO D’ORLANDO | SYRAKUS | NOTO

1983

Wie in einem Flashback erlebe ich noch einmal jene Nacht in Capo d’Orlando, einem Ort in der Provinz Messina. Wir hatten dieses kleine Hotel außerhalb der Stadt gewählt, weil es billig war, aber auch weil es so nah an dem wunderschönen Strand von San Gregorio lag. Einmal mit dem Wagen dieses lange Stück am Mittelmeer entlangzufahren, wo die Felsen ganz nahe am Strand stehen, und zu sehen, wie sich die Wellen des tiefblauen Meeres an ihnen brechen, das allein ist schon die Reise nach Sizilien wert. Kaum angekommen, fiel uns in der Hotelhalle ein seltsames Kommen und Gehen von Pärchen auf. Doch wir hielten uns nicht groß damit auf, wir Schauspieler sind ja – besonders am Beginn unserer Karriere – daran gewöhnt, in billigen Motels oder Stundenhotels zu übernachten. Außerdem blieben wir nicht lange, wir hatten nur kurz Zeit, unsere Koffer abzustellen, dann mussten wir schon zur Beleuchtungsprobe ins Theater. Erst als wir tief in der Nacht zurückkehrten, wurde meinen Freunden und mir klar, dass wir in einem Sexclub gelandet waren.

Der Nachtportier, der sich merkwürdig steif bewegte und beim Atmen schrecklich keuchte, reichte uns ohne ein Wort die Schlüssel. Na ja, bei diesem ständigen Gästewechsel ist der bestimmt nicht sonderlich gesprächig, dachte ich bei mir. Aber tatsächlich wollte er sich wohl bloß heimlich unter dem Tresen seine Dosis Aerosol-Asthmaspray verpassen. »Ahò«, sagte einer meiner Freunde mit seinem ausgeprägten römischen Akzent, »der schiebt hier ja wirklich eine ruhige Kugel.«

»Bleib du mal die ganze Nacht auf den Beinen. Weißt du, wie anstrengend das ist?«, erwiderte ich.

»O ja, das meinst du vielleicht!«, erklärte er und verzog seinen Mund zu einem vielsagenden Grinsen. »Ich sag dir was, der zieht sich doch die ganze Nacht nur Pornos rein. Deshalb keucht der und nicht, weil er Asthma hat. Schau dir doch nur die tiefen Ringe unter seinen Augen an, die hat er sicher nicht vom Schlafmangel.«

Wir brachen in schallendes Gelächter aus und gingen Richtung Aufzug. Dort drückte ich aus Versehen auf die –2 anstatt –1. Diese Etage bestand aus zwei Fluren rechts und links vom Aufzug, und als die Türen aufgingen, standen wir direkt vor einer leicht nach hinten versetzten Wand mit der Aufschrift »Golden Club Privé«. Angelockt durch die sanfte Musik und das gedämpfte Licht, beschlossen wir, einen Blick zu riskieren. Der Raum, mehr Kitsch als schwülstige Rokokodekadenz, bestand aus einer winzigen Bar mit zwei schmalen Sofas, die mit dem Rücken zur Wand standen, überall waren Spiegel, und es gab ein Podest mit zwei Stangen für Lapdance. An der einen verrenkte sich eine junge Frau mit wasserstoffblonden Haaren, während zwei weitere leicht bekleidete Mädchen einen Striptease hinlegten. Alle drei trugen Stringtangas, bei denen auch das Stoffteil vorne nicht breiter als Zahnseide war, und schwindelnd hohe Stilettos. Auf den Sofas hockten drei fette, sichtlich erregte Gäste, die die Tänzerinnen bei ihrer Darbietung nach Lust und Laune begrapschten. Jessica und Erika, zwei Mädchen aus Rumänien, auch sie 1-a-Playmates, regelten abwechselnd den Verkehr in dem anderen Flur, wo die Zimmer für die Kunden lagen, denen der Sinn nach mehr stand.

»PING«, das Klingeln des Aufzugs kündigte neue Gäste an.

Zögernd schauen wir uns an. Was sollen wir tun? Die Situation wirkt schon jetzt reichlich trostlos, und in Anbetracht der späten Stunde beschließen wir, uns besser nicht an dieser lustlosen Sexnummer zu beteiligen. Deshalb biegen wir um die Ecke in Richtung Hintertreppe und steuern brav unsere Zimmer ein Stockwerk höher an (allerdings kann ich nicht hundertprozentig ausschließen, dass einer meiner Freunde später doch noch einmal dorthin zurückgekehrt ist). Kaum haben wir die Treppe erreicht, hören wir hinter uns ein vertrautes Geräusch, eine Art unterdrücktes Keuchen. Der Nachtportier. Vielleicht hat er kurz nach dem Rechten gesehen, denke ich bei mir. Wir täuschen nonchalante Gleichgültigkeit vor und gehen weiter. Er folgt uns wortlos, doch sein Schritt wird immer schwerer. Wir drehen uns um, um ihm noch einmal eine gute Nacht zu wünschen und zu erklären, dass wir uns im Stockwerk geirrt haben. Er mustert uns mit drohendem Blick. Ein untersetzter Mann, höchstens ein Meter sechzig und ziemlich beleibt, er trägt einige Videokassetten ohne Umschlaghüllen unter dem Arm, außerdem eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten. Auf der dritten Stufe bleibt ihm plötzlich der Atem für zwei endlos wirkende Sekunden weg, dann verdreht er die Augen und stößt einen Seufzer aus, der in einen heftigen Hustenanfall übergeht. Schließlich dreht er sich auf dem Absatz um und geht im selben Trott zurück.

So gegen drei Uhr morgens schlafe ich endlich ein, auch wenn das Ganze mehr einem apokalyptischen Albtraum gleicht: Mehrere von Kapuzen verborgene Unbekannte umzingeln mich und schleifen mich vor ein Inquisitionstribunal, weil ich eine unverzeihliche Sünde begangen habe. Ich bin so gefangen in diesem Albtraum, dass ich nicht mitbekomme, wie jemand mein Zimmer betritt. Da spüre ich einen Hauch von Treibgas im Gesicht. Doch es ist nicht etwa der unerbittliche Inquisitor Torquemada, sondern wieder der Portier, der versucht, mir mit seiner vom Aerosol verklebten Zunge die schlechte Nachricht beizubringen. Während er vor sich hin röchelt, muss ich erst ein paarmal die Augen fest zusammenkneifen und wieder öffnen, ehe ich einigermaßen wach bin.

»Ich versuche schon eine Weile, Sie anzurufen, aber Ihr Telefon ist kaputt.« Schlagartig schrecke ich hoch: »Was ist los? Wie spät ist es?«

»Ist das Ihr Fiat Panda, der vor dem Tor steht?«

»Ja, warum?«

»Dann kommen Sie mal mit und sehen sich an, wie der zugerichtet ist.«

Immer noch reichlich benommen und im Schlafanzug gehe ich in die Eingangshalle. Dort finde ich meine Freunde vor und auch die beiden Rumäninnen im Nachthemd, die nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen. Ich brauche nur kurz vor die Tür zu treten, da sehe ich schon mein armes Auto – das ich mir von meinen ersten Ersparnissen gekauft habe – völlig zusammengeschoben und frontal gegen ein Gartentor gedrückt. Mr Aerosol erklärt mir, das sei wahrscheinlich eine ganz normale Abrechnung unter Kriminellen. Bloß dass die wahrscheinlich mein Auto mit einem Wagen verwechselt haben, in dem eine Ladung Kokain versteckt war. Aber es könne auch ein Betrunkener am Steuer gewesen sein, der mit voller Geschwindigkeit in der Kurve ins Schleudern geraten und dann gegen meinen Wagen geprallt war.

»Der liegt mindestens auf der Intensivstation.«

»Und was machen wir jetzt?«, stammele ich. Mehr bringe ich nicht heraus.

Außer mir sind noch zwei meiner Kollegen auf das Auto angewiesen. Wir hatten die Sizilientournee gerade erst begonnen, mussten bis Mittag in Syrakus sein und hatten noch drei Stunden Fahrt vor uns.

Der Nachtportier eines Stundenhotels kann einem bei einer netten Plauderei unzählige Geheimnisse anvertrauen und mit pikanten Anekdoten so einiges über die Gewohnheiten und die geheimen Laster vieler Italiener enthüllen. Von Freiern, die sich in eines dieser Mädchen verlieben und es später heiraten, über Swingerpaare aus der feinen Gesellschaft, die, um nicht erkannt zu werden, maskiert ins Hotel kommen, von Zimmern, die bereits im Voraus für nur eine Stunde reserviert werden, oder von zwei jungen Priestern, die unter der Woche einchecken und dafür sogar falsche Ausweise vorlegen, damit sie sich als schwules Architektenpaar ausgeben und so ihre Beziehung absolut geheim halten können. Das alles erfahre ich auf dem Weg vom Hotel zur Mietwagenagentur, wohin mich Mr Aerosol ein paar Stunden später bereitwillig fährt.

Wir erreichen Syrakus am frühen Nachmittag, der Himmel ist bleigrau, und ähnlich trüb ist auch meine Laune. Deshalb gibt es nichts Besseres, als den Wagen zu parken (diesmal in einer bewachten Garage) und in eine Konditorei zu gehen. Ich brauche kein Prozac, mein Antidepressivum besteht aus einem riesigen cannolo, einem dieser köstlichen ausgebackenen Teigröllchen, die mit Ricotta, Zucker und kandierten Früchten gefüllt sind. Als ich mich danach im Spiegel betrachte, sehe ich durch den Puderzucker aus wie ein schneebestäubter Weihnachtsbaum. Und weil ich nicht mehr an mein Auto denken will oder an die Anzeige, die ich noch bei den Carabinieri machen muss, und den Anruf bei der Versicherung, gebe ich mir noch eine cassata, eine weitere Kalorienbombe aus Biskuit, Ricotta und jeder Menge kandierter Früchte. Ach ja … ein bisschen »Dolce Vita« gegen das Leid darf ich mir wohl gönnen. Schließlich bin ich nicht in Helsinki, sondern in Syrakus!

Doch legendär sind in dieser Gegend nicht nur die leckeren cannoli und cassate. Die berühmte Redewendung vom Damoklesschwert, die jeder schon einmal gehört hat, geht ebenfalls auf eine lokale Legende zurück, die mir Freunde erzählt haben. Die Geschichte handelt von einem Gespräch zwischen Dionysius, dem antiken Tyrannen von Syrakus, und seinem Günstling Damokles. Dieser schmeichelte dem Herrscher, vor allem hob er dessen Stellung hervor und betonte, wie viel Glück er habe, all diese Reichtümer genießen zu können und so mächtig zu sein. Dionysius, der sich seiner Privilegien, aber auch der Gefahren, die die Ausübung von Macht mit sich bringt, wohl bewusst war, schlug Damokles vor, einen Tag lang die Rollen zu tauschen, damit er wirklich verstehen könne, was es hieße, an seiner Stelle zu sein. Damokles nahm das Angebot überglücklich an und genoss die Annehmlichkeiten des Hoflebens, das Feiern, den Reichtum und die absolute Macht. Als er jedoch während des Festes nach oben schaute, bemerkte er über seinem Kopf schwebend ein scharfes Schwert, das nur von einem dünnen Rosshaar gehalten wurde. Angesichts der tödlichen Gefahr verging Damokles sofort jede Begeisterung für die Prasserei, den Wein und das Fest. Kurz darauf nahm Dionysius seine angestammte Stellung wieder ein und erklärte Damokles die kleine Prüfung: Macht bringt große Privilegien mit sich, aber die Kehrseite der Medaille sind stets neue, überraschende Gefahren und Pflichten, die ständig als Folge der erworbenen Vorteile über unserem Haupt schweben.

»Na, was denkst du darüber?«

»Es wäre nicht schlecht, wenn unsere Politiker ab und zu so ein Damoklesschwert über sich spüren würden, damit sie sich an ihre Pflichten erinnern.«

Es ist vier Uhr. Noch zu früh, um zum Theater zu gehen. Ganz in der Nähe begebe ich mich zwischen den Tischen draußen vor einer Bar auf die Suche nach einem alten Freund der Familie, U Ciclopu. Diesen Beinamen hatte er verpasst bekommen, als er gerade mal zwanzig war. Die Arbeiter in der Petrolchimico hatten ihn nicht nur wegen seiner enormen Körpergröße voller Respekt nach dem einäugigen Riesen aus Homers Odyssee benannt, alle vertrauten auf seine Entschlusskraft, und für sie war er ein Held. U Ciclopu konnte als einzelner Mann bewirken, dass die Fabrikschornsteine nicht mehr rauchten. Sagte er: »Oggi non si travagghia, si sciopera«, dann arbeitete dort keiner, sondern es gab Streik. Oder »Heute legen wir die Stadt lahm«. Dann verließen alle die Fabrik und machten sich auf ins Zentrum, um zu demonstrieren. Und wenn er am Verhandlungstisch saß, brauchte er bloß den Kopf zu schütteln, und das bedeutete Nein, das reicht nicht, sie müssten schon mehr anbieten, neue Arbeitsplätze, weniger Überstunden und mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, mehr Geld in der Lohntüte.

»Da braucht es also ein Theaterstück, damit du nach Syrakus zurückkommst«, sagt er mit leichtem Vorwurf, als könnte mein kurzer Besuch von heute für ihn nie meine lange Abwesenheit wettmachen. Damit hat er nicht ganz unrecht, ich war seit über drei Jahren nicht mehr in Sizilien. Wir umarmen uns. Es ist ein Nachmittag Ende September, und noch spürt man den heißen Hauch des Schirokko. Deshalb muss ich zunächst meine Atmung anpassen, immer schön langsam Luft holen und mir diesen Rhythmus zurückerobern. Ist es die Rührung, diese herzliche Umarmung oder das alte Ortigia-Viertel, jedenfalls habe ich mich nicht unter Kontrolle. Die ganze Reise über hatte ich mir eingebläut, nein, dieses Mal werde ich nicht darauf hereinfallen, nicht sentimental werden, mich nicht von dieser Postkartenidylle überwältigen lassen. Eigentlich wollte ich nur einen alten Freund der Familie treffen, mit ihm einen Kaffee trinken, mehr nicht. Ich hatte mir sogar im Auto noch zehn persönliche Gebote aufgestellt, zum Beispiel: Du sollst dich nicht zu den Fontane Bianche, diesem wunderschönen strahlend weißen Sandstrand mit den vielen Quellen schleppen lassen; du sollst nicht den Apollotempel besuchen; du sollst dich nicht in diesen kleinen Straßen verlieren, in denen die Zeit zwischen Mittelalter und Barock stehen geblieben zu sein scheint; du sollst dich nicht vor das »Ohr des Dionysius« stellen, wie Michelangelo da Caravaggio diese künstliche Kalkgrotte bei einem Besuch im Jahr 1608 wegen ihrer Form genannt hat, die entfernt an eine Ohrmuschel erinnert. Aber das ging mit U Ciclopu natürlich gar nicht. »Du kannst doch nicht nach Syrakus zurückkommen und all das nicht wiedersehen!«

In einer knappen Stunde schaffen wir einen Rundgang durch die ganze Stadt. Als wir in die Bar zurückkehren, sind dort viele Tische besetzt. Die Leute trinken Kaffee, frisch gepresste Säfte, essen cannoli, rauchen und unterhalten sich laut. Wir setzen uns dazu, endlich. Der Tisch sieht klein aus neben U Ciclopu, eigentlich wirkt alles klein neben ihm: Er ist ein solcher Riesenkerl, dass man ihm in der Fabrik sogar einen eigenen Arbeitsoverall anfertigen lassen musste, aber selbst der war nicht lang genug, immer schauten seine Knöchel hervor, und er zog ihn nie aus. Jetzt ist er ohne seinen Arbeitsanzug da, sozusagen in Zivil. Er hebt seine Riesenpranke, um die Kellnerin zu rufen, ein bildhübsches Mädchen mit einer wogenden Lockenmähne und einem Minirock über einfach umwerfenden Beinen. Ich habe Durst, möchte etwas trinken, meine Kehle ist wie ausgetrocknet. U Ciclopu fragt, ob ich einen Platz zum Schlafen habe, ich könne gern bei ihm übernachten. Dann möchte er wissen, wie es meinen Eltern geht. Sein Kaffee kommt und mit ihm mein frisch gepresster Orangensaft. Ich entspanne mich langsam und genieße das Ambiente: die Tischdecke ist schön, die Wasserkaraffe, die Servietten, die Gläser, hier wird auf jedes Detail geachtet; kein Wunder, dass sich in Syrakus in einer Bar jeder, und sei es auch nur für eine halbe Stunde, wie ein »richtiger Herr« fühlt. Nicht so wie in Rom, wo man immer hastig im Stehen sein Hefeteilchen und seinen Cappuccino hinunterschlingt. »Syrakus ist schön wie immer!«

»Noch schöner wäre es, wenn uns nicht diese Scheißpolitiker regieren würden. Das sind Riesenarschlöcher, und noch größere Arschlöcher sind die, die sie gewählt haben. Schwule Wichser, stinkende Sackgesichter.«

Er wird laut, und in seinem Eifer schüttet er mir ein wenig Orangensaft über die Hose. Einen Augenblick lang wird es ganz still um uns herum, und alle Blicke scheinen auf uns gerichtet zu sein, doch dann fährt er fort: »Ich habe nicht gewählt, ich gehe schon seit zehn Jahren nicht mehr wählen.« Als wäre damit alles gesagt, Ende der Diskussion. U Ciclopu hat Nein gesagt, er hat nicht gewählt. »Schluss. Es reicht. Toto Riina, Buscetta, Badalamenti, Andreotti, die Brüder Salvo, Michele Sindona, die Prozesse und die blutigen Attentate, das Geschachere mit den Großkonzernen in Norditalien, die Verstrickung der Geheimdienste, hör mir doch auf! Pah. U Ciclopu hat nicht gewählt. Schon mein Großvater hat auf die ganzen Politiker und die großen Hurensöhne hier geschissen. Und mein Vater. Und ich jetzt auch!«

Ich starre ihn an. Der muss verrückt geworden sein, denke ich. Ich erkenne ihn nicht wieder. Er muss sich so verändert haben, nachdem man ihm alles weggenommen hatte: den Arbeitsoverall, die Fabrik, die Kollegen, die Gewerkschaft.

»Ganz ruhig, Ciclopu, was hast du denn?«

Wieder diese Stille, das ist nicht nur mein Eindruck, alle starren uns jetzt an, Gläser und Tassen verharren in der Luft, nur Minirock und Lockenmähne der Kellnerin schwingen noch zwischen den Tischchen hin und her.

»Ach, du kapierst doch gar nichts … geh, geh du nur und spiel schön Theater!«

Und jetzt nach Noto. Nur 32 Kilometer von Syrakus entfernt liegt dieses andere kleine Barockjuwel auf einer Hochebene, die das gesamte Asinarotal beherrscht. Nach der Besichtigung der berühmten Kathedrale erwartet uns ein Besuch bei der Magierin Rosina, die auf Kartenlegen spezialisiert ist. Mein Freund aus Rom, der an seiner Beziehung zweifelt und deswegen gerade eine tiefe Krise durchmacht, hatte den Termin bei ihr bereits zwei Wochen zuvor telefonisch vereinbart. Und er hatte mich gebeten, an der Sitzung bei der Magierin teilzunehmen, damit er sich nicht so allein oder vielleicht einfach nur sicherer fühlte. Nach einem ziemlich vagen Anfang stellt Rosina dann die typischen Fragen: »Glaubst du, dass sie es nicht ernst mit dir meint?«, »War sie in letzter Zeit etwas kühl zu dir?«, »Hast du den Verdacht, dass sie dich betrügt?«, »Gibt es Probleme mit ihren Eltern?«, »Hat sich irgendein neidischer Freund eingemischt?«, »Verbreitet jemand üble Gerüchte über euch?« All diese Fragen, die offenkundig zu einem ganzen Katalog gehören, dienen nur dem einen Zweck, nämlich ein Gespräch aufzubauen. Doch eigentlich beschäftigte sich die Wahrsagerin nur mit einer hinter der großen Kristallkugel verborgenen roten Taste, vielleicht etwas wie eine Klingel. »Glaubst du denn, dass sie einen anderen hat?« – »Nein.« – »Bist du sicher?« Er: »Na ja … ziemlich sicher.« »Ziemlich? … Denn hier in den Karten sehe ich …« Sie schien wirklich gut zu sein, unsere Rosina, aber natürlich tat sie nichts anderes, als seine Zweifel sofort aufzugreifen, bis … ein Mann mit dem exotischen Namen Azar, angeblich ihr Assistent – ganz gewiss ihr Ehemann – in gelber Tunika, weißen Hosen und braunen Pantoffeln plötzlich vier sizilianische, mit Ricotta gefüllte cannoli ins Zimmer bringt!

»Du wirst schon sehen, dass alles in Ordnung kommen wird … vergiss doch jetzt mal deine Laura!«, raunt die Magierin und starrt heißhungrig auf die unglaublich lecker aussehenden Teigröllchen.

Ein wirklich magischer Moment, das ist der wahre Zauber Siziliens!

3.

CERIGNOLA | POLIGNANO A MARE | ALBEROBELLO

2002

Das Theaterleben ist faszinierend, unbegreiflich, geheimnisvoll und erregend – das liegt in der Natur der Sache. Nichts könnte das besser verdeutlichen als die Geschichte, die meine Truppe im späten Frühjahr 2002 erlebte.

Unsere Tournee hatte uns nach Cerignola in Apulien geführt, wo wir mit unserer neuen Produktion zum ersten Mal gastierten. Der Lastwagen mit Bühnenbild und Requisiten war schon am Abend vorher eingetroffen, um Verkehrsstaus zu entgehen. Da es aber zu spät zum Entladen war, wurde er über Nacht auf einem abgeschlossenen Parkplatz abgestellt.

Die Aufführung zwei Tage zuvor in Alberobello war wunderbar gelaufen. Abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass wir die ganze Zeit den Eindruck hatten, wir wären an einem surrealen Ort gelandet, und uns irgendwie wie im Märchen vorkamen. Die Stadt mit ihren blendend weißen Häusern erinnert an das Dorf der Schlümpfe und hatte uns regelrecht die Sprache verschlagen. Ich kaufte mir sogar einen Führer, um etwas über den Ursprung dieser seltsamen, trulli genannten Gebäude zu erfahren: Die Rundbauten mit der klassischen Kegelform der Dächer ähneln sehr den Wohnbauten primitiver Völker.

Als wir am nächsten Tag zum Parkplatz in der Nähe des Theaters von Cerignola kamen, erwartete uns eine bittere Überraschung: Der LKW war mitsamt Inhalt verschwunden, hatte sich sozusagen in Luft aufgelöst, und damit war auch unsere Premiere am Abend gefährdet. Bühnenbild, Kostüme, Tontechnik und Beleuchtung, alles war weg.

Nicht zu Unrecht sagt man, Theater sei ein Traum und dem Verlauf einer Geschichte seien keine Grenzen gesetzt, doch manchmal kann die Phantasie der Wirklichkeit nicht das Wasser reichen.

Nachdem wir unseren ersten Zorn und die darauffolgende Niedergeschlagenheit überwunden hatten, machten sich alle, von den Bühnentechnikern über die Schauspieler bis hin zu mir – ich war diesmal nicht nur der Regisseur, sondern auch der Produzent der Tournee –, im ganzen Ort auf die Suche nach einem Minimum an Ausstattung, damit die Aufführung trotzdem stattfinden konnte: ein Sofa, einen Rollstuhl, einen künstlichen Papagei mit Käfig, Regale, Kleidung und Schuhkartons. Einen ganzen Tag verbrachten wir damit, ein neues Bühnenbild zu entwerfen, neue Abläufe zu proben.

Währenddessen versuchte mein Partner, der auch die administrativen Aufgaben übernommen hatte, zusammen mit dem Direktor des Theaters und einigen Carabinieri Licht in die Angelegenheit zu bringen.

»Marescià, ich sage Ihnen noch einmal, dass der Lastwagen gestern Abend um 22 Uhr hier mit der Motorhaube an der Wand stand. Wer auch immer eingedrungen ist, muss danach gekommen sein und hat nicht mal das Schloss am Tor aufgebrochen … Schauen Sie, es ist intakt!«, sagte der Direktor.

»Das ist ja schön und gut, aber der Lastwagen kann doch nicht einfach weggeflogen sein! Nun sagen Sie mal …wer außer Ihnen hat einen Schlüssel für den Parkplatz?«

»Niemand außer mir, Marescià … ich mache hier inzwischen alles … ich bin der Direktor, der Bühnentechniker und sogar der Nachtwächter.«

»Wenn wir wenigstens wüssten, ob der Wagen abgeschlossen war und ob er eine Diebstahlsicherung durch Satellitenortung hatte …«

»Leider nicht, aber der Lastwagen war bestimmt abgeschlossen … unser Fahrer ist da sehr gewissenhaft«, erklärte mein Partner. Für den diensteifrigen Maresciallo, den Kommandanten der lokalen Carabinieristation, war es nicht der erste Diebstahl eines kompletten LKWs. Drei Tage zuvor hatte man einen anderen Lastwagen zwischen Cerignola und Canosa auf der Staatsstraße 98 ausgeraubt. Die Verbrecher hatten das Fahrzeug angehalten und es für eine Viertelstunde in ihre Gewalt gebracht, doch am Ende hatten sie nur eine Palette Schinken mitgehen lassen. Und einen Monat davor war einem Mann, der mit einer Ladung Zigaretten an Bord seines Lastwagens nach Foggia unterwegs war, nichts anderes übrig geblieben, als anzuhalten, weil ein Wagen quer auf der Straße stand und ihm den Weg versperrte. Als der Mann bremste, stieg aus einem grauen Audi hinter ihm, aus dem mit Höchstlautstärke die regionale Volksmusik dröhnte, ein Kommando vermummter Männer mit Pistolen im Anschlag aus und bedrohten ihn: »Entweder du tanzt die Tarantella, oder wir erschießen dich.« Der Mann überlegte nicht lang. Er ging an den Straßenrand und tanzte zum mitreißenden Rhythmus der Musik. Den Männern blieb inzwischen genug Zeit, die Ladung Zigaretten abzuladen und ihre Beute in Sicherheit zu bringen.

Am späten Abend wurde der Unglückliche, der in seinem Schockzustand immer noch tanzte wie buchstäblich von der Tarantel gestochen, von einer Streife aufgelesen und zum Verhör ins Präsidium gebracht. Den Lastwagen fand man dann am nächsten Tag vollkommen leer in einem Außenbezirk von Cerignola.

»Keine Sorge … Ihr Lastwagen wird vor morgen Abend wieder hier sein. Was sollen die denn mit Ihrem Bühnenbild anfangen … Das ist bestimmt wieder die Tarantellabande, die sich auf Diebstahl und Erpressung spezialisiert hat. Die stehlen Schwerlaster, und dann rufen sie die Beraubten an und erpressen von ihnen ein geringes Lösegeld …«

Mit der blasierten Langeweile von jemandem, für den Vorfälle dieser Art mittlerweile zum Alltag gehörten, zeigte sich der Maresciallo weit mehr an unserem Plakat interessiert, auf dem eine Dame in einem sehr offenherzigen Kleid abgebildet war, als an dem gestohlenen Laster.