cover

Fragen an Amerika:
»End of the Game?«

Glaubt man den Rivalen, geht es um den wichtigsten Richtungsstreit im Leben ihrer Wähler. Um den Grundkonsens Amerikas. Um die Laufrichung der Weltmacht. »Wir werden eine neue, konservative Ära in Amerika beginnen«, feiert sich Multimillionär Mitt Romney nach seinen Vorwahlsiegen, angefeuert von den »We-want-Mitt«-Sprechchören seiner Anhänger. Er geißelt »die bankrotte Ideologie Europas«, der Amerika nicht länger folgen dürfe. Dann setzt er zum finalen Satz an: »Wir werden beweisen, dass Barack Obama die letzte Zuckung des Liberalismus in unserem Land war.«

Dabei ist Romney vielen noch gar nicht konservativ genug, wie die Abstimmungserfolge des Ultrareligiösen Rick Santorum zeigten. Die Parteirechte hätte lieber ihn als Kandidaten gekürt, als Hardcore-Republikaner, der die Trennung von Kirche und Staat aufheben will, seine sieben Sprösslinge zu Hause unterrichtet – aus Sorge, sie könnten der Evolutionslehre verfallen – und der Obama einen »Snob« nennt, nur weil der in den amerikanischen Traum miteinschließt, dass Eltern ihre Kinder auf ein College schicken können. »Ein ehrenwerter Mann, nur leider lebt er im falschen Jahrhundert«, verabschiedete ihn die Washington Post am Ende des Vorwahlkampfs.

Seitdem muss Romney selber die Parteirechte bei Laune halten, bis hin zu den Staatsgegnern der Tea Party. Den Armen zu helfen, poltern deren Frontleute, sei nicht Sache der Regierung, sondern der Kirchen. Derweil lassen mächtige Geldgeber an neuen Hasskampagnen gegen den Präsidenten feilen, die ihn wieder einmal als »unamerikanisch« angreifen, als sozialistischen Eiferer, wenn nicht als schwarzen Verschwörer. Dazu fragen die Konservativen angesichts der Konjunkturflaute fast schadenfroh: »Wo sind die Jobs?«

Doch auch Obama attackiert den Gegner längst mit Negativkampagnen, die dessen Glaubwürdigkeit gerade dort erschüttern sollen, wo er sie am lautesten reklamiert: in der Wirtschaftspolitik. Romneys vielzitierte Kompetenz als erfolgreicher Geschäftsmann beschränke sich darauf, kühlen Kapitalanlegern den Profit zu maximieren, trommelt das Obama-Lager. Ein Präsident aber müsse an das Wohl aller denken, an den Mittelstand, die sozial Schwachen, daran, dass auch die Reichen sich an Regeln halten. Nicht einmal in seiner Zeit als Gouverneur von Massachusetts habe Romney Jobs geschaffen. »In Wahrheit werfen uns die Republikaner vor«, heißt es in Rundmails demokratischer Strategen, »dass wir ihren eigenen Schlamassel nicht schnell genug aufräumen.«

Einen Weg zurück aber werde Obama nicht zulassen. »Forward«, nach vorn, erklärten sie zum Wahlkampfmotto, heraus aus der Krise, wenn auch langsam – statt sehenden Auges mit den lernunwilligen Republikanern in die nächste, samt Bankenkollaps und neuer Rezession. Auch der Amtsinhaber beschwört so landauf, landab jubelnde Wählermassen. »Ich habe auf euch gesetzt, die amerikanischen Arbeiter«, ruft er in volle Säle, »und ich tue es weiter, jeden Tag.« Nicht er, die Regierung oder das Management hätten die kriselnden US-Autokonzerne an die Weltspitze zurückgeführt, sondern Teamgeist, Verzichtbereitschaft und Leistungswille der Beschäftigten. »General Motors erzielt die höchsten Gewinne seiner Geschichte«, hält er fest – und erinnert daran, dass Kontrahent Romney damals in der New York Times empfohlen hatte: »Lasst Detroit pleitegehen!«

So wankt Amerika durch einen Schlagabtausch, der den Wahlkampf des Jahres 2008 verblassen lässt. Noch mehr als um die Wirklichkeit geht es um die Wahrnehmung derselben, um »Spin«, wie man hier sagt. Goldene Zeiten für Blogger, Twitter und die überhitzten News-Networks, die das Wortgemetzel schon seit Beginn der Vorwahlen ganztägig weitertreiben und deren eigene Mitarbeiter sie schon zynisch »24-Stunden-Monster« nennen, die nun einmal gefüttert werden müssten.

Dabei hätte Amerika weit Wichtigeres zu tun. Politik-Vordenker Zbigniew Brzezinski hält das Land für verwundbarer denn je, durch seine Schuldenlast, das unzulängliche Finanzsystem, die brüchige Infrastruktur, die wachsende soziale Ungerechtigkeit und den politischen Stillstand im Kongress. Zudem trübe der Konflikt zwischen Israel und dem Iran Obamas Aussichten auf eine Wiederwahl. Andere fügen die hohen Spritpreise hinzu, die Eurokrise, den konservativen Obersten Gerichtshof – oder gar Obamas Bekenntnis, dass er auch gleichgeschlechtliche Ehen für verfassungsgemäß halte. Hatte mir nicht derselbe Brzezinski einmal erklärt, dass Obama ein politisches Jahrhunderttalent sei? Da rühmte er dessen Überzeugungskraft und sein Gespür für den historischen Moment.

Hoffnung, Sorge, Skepsis – all das prägte Obamas Amtszeit. Doch Amerikas Politik regte die Welt schon immer auf. Als ich mit meiner Familie nach Washington zog, das Korrespondentenvisum druckfrisch im Reisepass, da neigte sich gerade die Amtszeit George W. Bushs dem Ende zu. Der junge Wahlkämpfer Barack Obama erschien da wie ein Erlöser. Doch kaum begann er zu regieren, schlug ihm der Unmut aufgebrachter Bürger wild entgegen. Der US-Kongress fuhr seitdem Achterbahn, die Wirtschaftsprognosen wechselten. Dennoch drückte Obama Reform um Reform durch. Und nun, da seine mögliche Wiederwahl näher rückt, malt ein so überzeugter Wegbegleiter wie Brzezinski erneut Amerikas Niedergang an die Wand? Wer soll das noch verstehen?

Aber der Reihe nach.

»Amerika begreifen«

»Sie müssen ziehen, Sir«, sagt die freundliche Stimme am Telefon nach der Ankunft im Hotel in Washington. Dabei glaubte ich bereits, so ziemlich alle Wasserhahnvarianten dieser Welt zu kennen. Das Badetuch schon umgebunden, bereit für die ersehnte Dusche, bedanke ich mich. Obwohl ich auch ziehen längst probiert habe, so sehr, dass mir schon fast die Wand entgegenkam.

Die Folgetage erscheinen ähnlich befremdlich, samt der Fragen, die man nun wiederum mir stellt. »Beabsichtigen Sie, hier terroristische Aktivitäten durchzuführen?«, will die Einreisebehörde wissen. »Was verursacht mehr Verkehrsunfälle? A: das Auto? B: der Fahrer? C: die Straße?«, lese ich bei der Führerscheinprüfung. »Wir haben über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen. Das war hier vorher auch schon so. Stört Sie das?«, höre ich von Handwerkern.

Willkommen in Amerika. Dem Land, das zu begreifen von nun an meine Hauptaufgabe ist.

»Wie sind die eigentlich so, die Amerikaner?«, werde ich von Deutschen seitdem oft gefragt. Nett, sage ich dann. Supermarktkassiererinnen nennen dich »Darling«, obwohl du ihnen zuvor nie begegnet bist. Und wenn dein Auto streikt, kommen sie schon mit dem Starthilfekabel an, bevor du danach fragen konntest. Kellner loben noch deine gewöhnlichste Bestellung als »exzellente Wahl« oder, noch besser, als »cool«. Nur die Servicezentralen von Firmen und Behörden sind weniger freundlich. Die geben dir schnell zu verstehen, dass dein Anruf eher stört.

Zudem ist ihr Land unfassbar groß. In jeder Linienmaschine sitzt ein Passagier mit Pelzmütze und einer mit Flipflops. Vom Heck ihrer Feuerwehrautos weht das Sternenbanner, als hätten sie gerade erst den Staat gegründet – dessen monströse Machtfülle sie wiederum beklagen, sobald das Feuer gelöscht ist. Denn sie fürchten nichts mehr als den Sozialismus.

Dabei sind sie ihm näher, als sie ahnen: Sie nennen ihr Land das freieste der Welt, aber nirgendwo stehen mehr Stoppschilder, manche sogar vor simplen Kurven. Einmal ertappte ich mich schon dabei, dass ich vor einem wartete, als würde es noch grün.

Die Staubsauger, die sie benutzen – lärmende, sperrige Monster –, möchte man ihnen schon vor die Füße werfen, bevor man sich damit über einen Treppenbelag hat quälen müssen. Ihr wahres Leibgericht, der Hot Dog, erinnert fatal an die geschmacksneutrale, wässrige Ketwurst der späten DDR. Der einzige Ausgehkomplex am Wasser, den die Potomac-Stadt Washington zu bieten hat, ein hilfloser Murks aus Plattenbau, Erkerchen und Springbrunnen, hätte auch Erich Honecker gefallen. Und wer in der Weltmacht-Kapitale nach neun Uhr abends ein Taxi für Gäste braucht, kann zwar eines bestellen, aber kommen wird es nie.

Trotzdem sollte man sie nicht unterschätzen. Denn zwischendurch erfinden sie immer mal wieder Kleinigkeiten wie das Internet. Und auch wenn sie tausendmal den Klimawandel leugnen: Ein nationales Tempolimit haben sie hinbekommen. Wir nicht.

Ja, Fragen an Amerika gibt es genug, sobald man es betreten und sich eingerichtet hat. Die meisten wären mit einem Augenzwinkern zu ertragen. Wer als Fremder nach Deutschland kommt, wird ähnliche Widersprüche und Merkwürdigkeiten finden.

Nun ist fragen aber mein Beruf. Und die Rätsel, die Amerika uns derzeit stellt, reichen über Banalitäten weit hinaus. Die Welt sorgt sich um die Amerikaner, denn viele verstehen von außen kaum noch, was sie treibt – und wohin es sie treibt. Die häufigste Reaktion in Telefonaten mit der Heimat, privat wie beruflich, lautete zuletzt: »Was ist denn mit denen los? Knallen die jetzt völlig durch?«

Da wählten sie mit historischer Mehrheit einen schwungvollen, jungen Präsidenten, um den sie die ganze Welt beneidete. Aber sobald er zu regieren anfing, beschimpften sie ihn als Kommunisten und Ersatz-Hitler, warfen ihm vor, er sei nicht einmal Amerikaner, und wünschten ihn zum Teufel.

Ausgerechnet er, der mit so viel Rückhalt angetreten war, um das übliche Washingtoner »Game Playing«, wie er sagte, nicht etwa besser zu spielen, sondern es durch kluge, nachvollziehbare Innen- und Außenpolitik zu ersetzen, könnte schon nach vier Jahren dessen Opfer werden – auch weil die offenen Hasskampagnen der Unterlegenen bald überhaupt keine Spielregeln mehr kannten.

Dabei hatte Obama vom ersten Tag an eine Problemliste auf dem Tisch, die selbst Politprofis bis heute den Schweiß auf die Stirn treibt: die Wirtschaft im freien Fall, die Wall Street vor der Pleite, ebenso die Auto-Giganten in Detroit, die Arbeitslosenzahlen auf Rekordkurs. Sieglose Kriege, Gesundheitsmisere, Folter- und Vertuschungsskandale, die Schande Guantanamos. Wer hätte mit Obama tauschen wollen?

Zu links, zu rechts, zu mittig

Dass ihm erfahrene Washington-Kenner wie Politikveteran Stephen Hess von der Brookings Institution bescheinigten, er gehe die Dinge nicht nur in schwindelerregendem Tempo, sondern auch erfolgreicher an als nahezu alle seiner Vorgänger, half ihm nichts. Er wurde gallig kritisiert, wofür auch immer: Dass er zu viel versprochen habe. Dass er das Land zu wenig führe oder zu sehr. Dass er zu links sei, zu rechts oder zu unentschlossen in der Mitte. Zu wenig versöhnend oder zu wenig kämpferisch. Zu abgehoben, zu klug und zugleich leider nicht klug genug. Die Opposition, auf die zuzugehen er versprochen hatte, radikalisierte sich derweil – und verständigte sich darauf, im Volk »möglichst viele negative Emotionen« gegen ihn zu wecken. Drei Jahre sollte er benötigen, um sich darauf einzustellen.

Den Kollegen von den US-Nachrichtenkanälen war das immer recht: Statt die Kritiker auf Substanz abzuklopfen, konnten sie den täglichen Showdown zwischen Obama und seinen Rivalen weiter zelebrieren, als hätte der Wahlkampf von 2008 nie aufgehört. Selbst offenkundig durchgeknallte Zeitgenossen hievten sie auf Augenhöhe Washingtons: einen Pastor aus Florida, der ankündigte, Korane zu verbrennen; Tea-Party-Schreihälse, die sich zum Hexenkult bekannten oder die Berliner Mauer priesen; das jeweils unvermeidliche Twitter-Zitat von Sarah Palin; Präsidentschaftsanwärter, die – nur halb im Scherz – von Erdbeben und Hurrikans als Fingerzeig Gottes gegen eine falsche Regierung sprachen. Selbst das ging noch als »Denkzettel für Obama« durch. Sind sie zu stark, ist er zu schwach.

Und nun? Als das Wahljahr 2012 ausbricht, entdecken sie ihn plötzlich neu, sehen in Umfragen seine Sympathiewerte wieder nach oben klettern, fast als wäre nichts gewesen. Obama ist zurück, er schafft es wieder, wir haben es ja immer gewusst?

»Ja, was denn nun«, fragen die Deutschen erneut uns Korrespondenten, »wissen die Amerikaner denn noch, was sie wollen?«

Nein, viele wissen es nicht. Nicht was – denn die Gebrauchsanleitung für den amerikanischen Traum taugt seit der Immobilienkrise nicht mehr viel. Und nicht wen – denn wer alle zwei Jahre die Machtverhältnisse in Washington derart auf den Kopf stellt, weil er auf Wandel hofft, dem ist mit Wahlen womöglich nicht zu helfen.

Vieles spricht dafür, dass die Probleme sogar noch tiefer liegen, als es die Amerikaner wahrhaben wollen – auch wenn die Krise manchen schon überwunden scheint. Tatsächlich ist der Industrie- und Gewerbesektor veraltet, die Infrastruktur brüchig. Bisherige Konjunkturprogramme verhinderten zwar Schlimmeres, doch neue schlägt der Präsident gar nicht mehr vor, aus Sorge um das Haushaltsdefizit. Was wächst, ist die dunkle Ahnung, dass schon die letzten Aufschwünge nicht echt, sondern geborgt waren: finanziert durch Luftbuchungen auf Hypotheken – und geduldige Kreditkarten.

»Wenn Obama Erfolg hat, wird er wiedergewählt. Wenn nicht, nicht«, prophezeite uns der konservative Kolumnist George Will, als Obama zu straucheln begann. Doch wer drückt aus einer Krise heraus schon mal zugleich sowohl die Staatsschulden als auch die Arbeitslosigkeit nach unten, wie es seine Gegner clever von ihm forderten?

Bald glaubten sie, der einstige Hoffnungsträger säße schon sicher in ihrer Falle: All seine Initiativen bremsten die Republikaner um John Boehner aus, den neuen Chef des Repräsentantenhauses, zuversichtlich, dass für die Folgen allein Obama büßen würde. Warum sollten sie ihn stützen, wo doch ihr erstes Ziel stets war, ihm eine zweite Amtszeit zu verbauen? Wo immer er ihnen entgegenkam, erhielt er kaum etwas zurück. Stattdessen verlor er im eigenen Lager immer mehr an Rückhalt.

»Der Weltenretter schon am Ende?«, fragten die Deutschen uns Korrespondenten da, wenn sie es nicht selbst bereits zu wissen glaubten – oder ohnehin schon immer wussten.

Obama als Opfer seiner eigenen Maßstäbe, die er vor seiner Wahl setzte? Oder musste er, trotz allen Talents, einfach an historischen Sachzwängen scheitern, die der Supermacht lange schon zusetzten, nun aber ihren Preis verlangten?

Andererseits, wer sollte ihn strahlend ablösen? Das Bewerberfeld der Opposition für das Präsidentenamt blamierte sich schon in ersten TV-Debatten bis auf die Knochen, sodass sich selbst Stammwähler und Großspender kopfschüttelnd abwendeten. Kandidaten wussten kaum, wo Libyen liegt, oder drohten die US-Botschaft im Iran zu schließen, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt.

Wohin will die Weltmacht?

Doch reicht das dem Amtsinhaber, um noch einmal Amerikas politische Mitte zu begeistern, die schon immer jede Wahl entschieden hat, aber nun mehr zaudert denn je? Kaum einer weiß noch, was diese Mitte möchte. Will sie nach der verheerenden Finanzkrise, in der die Steuerzahler das Bankensystem retten mussten, nun die Regierung stärken oder lieber ihren Einfluss mäßigen?

Im Machtvakuum zwischen dem Präsidenten und den sperrigen Kongresskammern haben Neu-Parlamentarier Einfluss gewonnen, die offenbar nicht davor zurückschrecken, das Land ganz lahmzulegen: populistische Staats- und Steuergegner, Klimawandel- und Evolutions-Verleugner, außenpolitische Isolationisten, ultrareligiöse Radikale – denen keiner der Altvorderen wirksam entgegentritt. Zu groß ist die Sorge, er könnte im Wahlkreis zu Hause deren nächstes Opfer werden.

Wohin also taumelt die Weltmacht, mit oder ohne Obama? Viele Amerikaner, auf die ich täglich treffe – als Berichterstatter, Kollege, Nachbar, Vater von Schulkindern oder Reisender –, machen kein Geheimnis mehr daraus, dass sie selber ratlos sind.

»Was ist mit diesem Land passiert, das ich zu kennen glaubte?«, fragt NBC-Urgestein Tom Brokaw, einer der renommiertesten Reporter Amerikas, der bisher nie verlegen war, seinem Publikum Zusammenhänge zu erklären. »Sind wir nur kurz vom Weg abgekommen oder sind wir so gespalten, dass wir uns schon fast von jedem Richtung Abgrund treiben lassen?«

Als der Sommer ausbricht, verabschieden sich die Umfrageinstitute von ihrer Erwartung, dass der Zustand der US-Wirtschaft den Wahlausgang vorherbestimme. Zwar schreibe man Wachstum, aber nur zögerlich. Monatlich entstünden neue Jobs, aber eben nicht überzeugend viele. Manche Blätter wie USA TODAY berichten von steigender Zuversicht im Lande. Andere verweisen auf anhaltende Skepsis. Tatsächlich sind da über 70 Prozent der Bürger mit der Lage unzufrieden. Zugleich aber geben 60 Prozent an, sie rechneten mit einer Besserung. Als ABC und Washington Post ermitteln, von wem die Wähler die erfolgreichere Wirtschaftspolitik erwarten, erreichen beide Kandidaten exakt den gleichen Wert: jeweils 47 Prozent. Beste Voraussetzungen für einen erbitterten Wahlkampf.

Wie sehr Amerika seine Zweiteilung zelebriert, fällt mir schon auf, als ich nach meiner Ankunft das Radio einschalte. Um ihre Diskussionsrunde zu beleben, in der in akkurater Folge linke und rechte Experten um die beste Weltsicht streiten, gibt die Moderatorin das Mikrofon für Hörermeinungen frei – bittet aber nun auch sie, wie gewohnt entweder über die »demokratische« oder die »republikanische« Leitung anzurufen. Wie soll einer da versöhnen, wenn die Spaltung immer schon vorab feststeht? Wie soll einer Dinge richten, wenn der Richtungsstreit nie endet?

Dabei waren wir gewohnt, dass gerade Amerika der Welt die Richtung vorgab. Deshalb werden zugleich Rufe von außen lauter, Obama möge sein Riesenreich endlich auf Kurs bringen. Mal hoffend, weil er tatsächlich diese Erwartung geweckt hatte. Mal hämisch, als habe er der Welt versprochen, übers Wasser zu laufen. Dabei ist der angeblich mächtigste Mann der Welt im täglichen Washingtoner Wahnsinn derart von Untiefen, Machtstrudeln und Medienwirbeln umgeben, dass ihm kaum Raum zum Schwimmen bleibt.

Worauf dieses Buch baut, sind Eindrücke und Erfahrungen eines Korrespondenten seit dem Ende der letzten Amtszeit George W. Bushs. Es verarbeitet Gespräche und Reiseerlebnisse, Analysen und Alltagsepisoden aus fünf Reporterjahren in und vor allem jenseits von Washington. Darunter sind großartige Momente und amüsante, schockierende und schicksalhafte. Oft dachte ich in diesen Jahren, ich habe es mit Symptomen – im Wortsinn: vorübergehenden Eigentümlichkeiten – einer kränkelnden Supermacht zu tun. Wobei nicht immer klar ist, was dem amerikanischen Patienten womöglich angeboren ist, wie etwa der Hang zu Kapitalismus in Reinkultur und zur ewigen Superlative einer Ausnahme-Nation, und was tatsächlich nur zu befristeten Auffälligkeiten zählt, wie das zeitweilige Übermaß an Tea-Party-Einfluss. Dennoch: Das Bild, das sich mir als Berichterstatter bot, mag das einer zunehmend verunsicherten und aufgeregten Supermacht sein. Aber auch stets das eines, in jeder Hinsicht, aufregenden Landes.

1   Weite Welt

Im Riesenreich

Es ist ein Tag im Herbst, an dem Amerika mich endlich packt. Sonnig, windig, schnelle Wolken über zitterndem Präriegras. Wir haben den Bundesstaat Montana durchkreuzt, zwischen schneegekrönten Höhenzügen der Rocky Mountains, entlang wilder Flüsse, Seen und Felsen. Dann, plötzlich, bricht die Landschaft weg. Wie ein riesiges Tuch, das sich von den Kanten eingemummten Mobiliars zu Boden neigt, sinkt das Land ostwärts in die Tiefe, hinunter zu den Great Plains, den Großen Ebenen.

»Big Sky Country« – Land des großen Himmels – steht auf den Nummernschildern der Pick-up-Trucks, denen wir hier gelegentlich begegnen. Jetzt erst verstehe ich, was es bedeutet.

Noch bevor uns die Landstraße windungsreich auf das Prärie-Plateau hinabführt, um fortan nur noch schnurgerade Richtung Horizont zu weisen, gesäumt von schiefen Telegrafenmasten, halte ich den Wagen an und lasse meine Blicke wandern. Was für eine weite Welt.

Wie habe ich auf diesen Moment gewartet. Mich gesorgt, er könne ausbleiben oder dem Vergleich mit der Vergangenheit nie standhalten. Denn hinter mir liegen aufregende Reporterjahre in Fernost, die Exotik Asiens, paradiesische Südseeatolle, die schillernden Eiswüsten der Arktis.

Im Sommer des Jahres bin ich in Washington angekommen, um wie meine Vorgänger den Deutschen Amerika nahezubringen. »Rechne damit, dass dich kein Land erwartet«, hatte mir mein Kollege und Vorgänger Tom Buhrow mit auf den Weg gegeben, »sondern ein Kontinent.« Aber so sichtbar wie hier, zwischen den Großlandschaften Nordamerikas, hatte ich das nie erleben können. Als Schüler hatte ich New York bestaunt und später die Küste Kaliforniens, den Grand Canyon und Las Vegas. Und als junger Journalist bald im Land recherchiert, ob für Großstadtgeschichten aus Los Angeles oder über neue Waffen des Pentagon. Ich war beeindruckt, jedes Mal. Aber begeistert?

Zudem wurde ich bisher ziemlich verwöhnt. Als Fernost-Korrespondent bereiste ich Japan, Süd- und Nordkorea, die Philippinen und den Pazifik, von Fidschi bis Tahiti – Weltgegenden voller Gegensätze, deren Menschen und Natur wahre Steinbrüche an Reportagestoff bereithielten. Danach habe ich mich für die ARD in Abenteuer stürzen dürfen, die an Augenfutter kaum zu überbieten waren: Reisen auf der Datumsgrenze und dem Polarkreis oder zu den Vulkanketten Kamtschatkas und der Kurilen-Inseln. Allesamt voller Begegnungen jenseits unserer Zeit und Zivilisation. Kurzum: Ich konnte berichten von fremden Welten, die daheim kaum einer kannte.

Nun also Amerika. Washington. Einschätzungen vorm Weißen Haus. Wahlnächte, Macht und Politik. Mehr noch: Weltmacht, Weltpolitik. Natürlich galt das als höchstes Ziel für einen Journalisten. Aber was würde das Eigentümliche sein, das es von hier aus zu vermitteln galt, außer der politischen Gewichtsklasse des Landes? Verschwammen für uns Europäer, die ohnehin seit meiner Kindheit, seit Kaugummi und Hollywood, auf Annäherungskurs zur Supermacht waren, die Unterschiede nicht ohnehin immer mehr? Auf den ersten Blick stimmte das. Aber ich sollte bald lernen, dass der zweite Blick mehr Unerwartetes, Faszinierendes und Rätselhaftes entdecken würde, als ich erwartet hatte.

Die Arbeit sollte das nicht einfacher machen. Denn von Amerika hat in Deutschland fast jeder ein festes Bild. Von den überzeugten Transatlantikern, die Kritik an Washington reflexartig verurteilen, weil der Marshallplan nun einmal Dankbarkeit gebiete, Loyalität und Bündnistreue, bis zu den selbst ernannten Antiimperialisten am anderen Ende der Skala, die jeder US-Politik vorab unlautere, falsche Motive unterstellen.

Als die Sonne fahl hinter Montanas Bergketten versunken ist, im Rückspiegel getrübt vom Staub der Schotterstraße, blinken uns an einer einsamen Kreuzung die Leuchtlettern der »Derrick Bar« an. Ein schlichter, wenig einladender Würfelbau. Der Ort heißt Kevin und scheint bessere Tage hinter sich zu haben. An den Häusern sind Fenster vernagelt. Lagertanks verrosten reihenweise, Ölpumpen stehen still wie stählerne Gespenster.

Die Wirtin scheint Tonnen zu wiegen. Ihr Reich riecht nach Frittenfett. Sie erzählt von den Förderfirmen, die vor Jahren weiterzogen, von Kevins Söhnen im Irak-Krieg, vom nie abreißenden Westwind. »Hier zappelt schon mittags die Morgenzeitung aus Seattle im Zaun«, scherzt der einzige Gast am Tresen. Ein dürrer Latzhosen-Lulatsch.

Woher wir seien? Germany? Er wolle mir mal was sagen, stützt er sich bierselig auf meine Schulter und fasst, ohne es zu wissen, meinen Tag zusammen: »Was für euch Europäer 100 Jahre Geschichte sind«, hebt er den Zeigefinger, »das sind für uns 100 Meilen Land.«

Kameratauglich ist der Mann längst nicht mehr. Ich notiere den Satz und trinke ein Bier mit ihm. Der Tag wird kommen, denke ich, an dem ich ihn zitieren werde.

Obama, aus Spaß

Wann immer ich in den Folgejahren in meinem Berichtsgebiet unterwegs bin, oft quer über den Kontinent und bevorzugt am Flugzeugfenster, begleitet mich die Tresenweisheit des Mannes aus Montana. Über Stunden lässt sich dieses Land betrachten, ohne dass sich auch nur die Landschaft ändert. Schon das macht altkluge Vergleiche mit der Heimat unfair. Schon in manchen US-Bundesstaaten würde Deutschland verschwinden. Selbst Europa wirkt als Gegenpart beschaulich.

Für einen Film über die Wahlthemen des Jahres 2008, der an einer Reihe von Drehorten zwischen San Francisco und New York spielt und in den auch die »Derrick Bar« passt, frage ich die Wirtin, ob die Familien der Soldaten uns Deutschen übel nähmen, dass wir nicht mit in den Irak-Krieg zogen. Nachdem Kanzler Schröder zwar den Afghanistan-Feldzug unterstützt hatte, nicht aber das »Abenteuer« eines neuerlichen Irak-Kriegs, waren zu Hause manche alarmiert. Der amtierende US-Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, hatte ihre Skepsis noch geschürt, indem er Kuba und Deutschland in einem Atemzug als »Unwillige« aufzählte. Ich bin also auf enttäuschte bis wütende Kommentare gefasst.

»Über den Irak-Krieg wird hier oft diskutiert«, antwortet sie. »Aber weniger darüber, was das Ausland dazu meint.«

Wie die Meinungen denn seien, frage ich.

»Na, dass es verschwendete Zeit ist. Auch wenn man gegen den Terror sicher etwas unternehmen muss. Aber es dauert einfach viel zu lange.«

Dann erscheint in der Tür ein älteres Paar. Der Mann, mit kantigem Gesicht unter der Baseballmütze, die er auf dem Kopf behält, geht gebeugt. Die zierliche, dunkel gelockte Frau neben ihm trägt einen quietschblauen Mantel. Sie stellen sich als George und Ellsie vor. Es ist ihr Hochzeitstag, und sie gehen aus zum Essen. Fertigpüree mit Steak und Soße wird die Wirtin reichen. Dazu bestellt er eine Dose Cola, sie eine Tasse Beuteltee.

»Ellsie«, wendet sich George seiner Frau zu, »sag ihnen etwas auf Deutsch.« Da schwelgt sie mit heller Stimme und kindlichen Augen in Erinnerungen an ihre alten Eltern, die einst ausgewandert seien und ihr ans Herz gelegt hätten, »das Muttersprach« nie zu vergessen. Bald kommen auch wir auf die Politik, den Krieg, die deutsche Absage. Enttäuschung oder nicht?

»Wieso?«, sagt George. »Das war doch sehr klug, Nein zu sagen. Wir hätten das auch machen sollen.«

Ob sie zur Wahl gehen werden, frage ich.

»Ach, wir ändern doch sowieso nichts«, seufzt Ellsie.

»Mir ist das ziemlich egal«, pflichtet ihr George bei, »ich weiß noch nicht. Aber so oder so, meine Frau wählt am Ende immer den, den ich nicht wähle.«

Später, als sie zahlen, winkt seine Gattin, die noch immer im Mantel dasitzt, dann noch einmal mich und die Kamera zu sich. »Vielleicht wähle ich ja den Schwarzen«, flüstert sie verschmitzt. »Nur so aus Spaß.«

Jahre später, vor den ersten Midterm-Parlamentswahlen zur Hälfte der begonnenen Amtszeit des Präsidenten, besuchen wir die beiden noch einmal. Und erfahren, dass sich George getäuscht hat: Denn auch sie haben beide Obama zum Präsidenten gewählt. Er nach einigem Hadern. Sie mit so viel Wohlwollen, wie sie dann sagt, dass sie ihm in so schwieriger Zeit auch eine zweite Amtszeit gönnen würde.

Und auch ich hatte falsch gelegen. Den erwarteten Missmut Deutschland gegenüber habe ich unter Durchschnittsamerikanern nirgends vorgefunden. Im Gegenteil: Das Ausmaß ihrer Verbundenheit mit uns überrascht mich bis heute. Die Zahl derer, die mit Respekt und Wehmut von ihrer Soldatenzeit, von eigenen Reisen oder deutschen Besuchern berichten, wenn nicht von deutschen Vorfahren, ist größer, als ich je erwartet hatte. Nie schienen sie bereit, diese Nähe wegen eines strittigen Feldzugs zu opfern. Lieber opferten sie Bush und Rumsfeld.

Meeting George W. Bush

Die Deutschen haben sich damals an George W. Bush nicht nur gewöhnt, sondern sich längst mit ihm abgefunden. Die Schröder-Regierung hat ihm, mit dem Rückhalt der Wählermehrheit, die Gefolgschaft offen aufgekündigt, Marshall-Fund und Bündnistreue hin oder her. Der brave Nachkriegs-Neffe des großen, reichen Onkels Amerika, so schreiben Leitartikler, sei erwachsen geworden. Es sei ja eigentlich auch an der Zeit gewesen.

Die Nachrichtenredaktionen bestellen kaum noch Berichte zur Tagespolitik aus Washington. Sie ist nicht neu. Bald würde es ohnehin anders werden. Dann würde in Amerika gewählt und das Bush-Gefolge samt seinen Kriegstreibern den Laufpass bekommen, denken die meisten. Es gilt als sicher, dass der nächste Amtswechsel das Weiße Haus den Demokraten wieder öffnen wird – und erstmals einer Frau: Hillary Clinton.

Schon die Vorwahlen dürften dann erfahrungsgemäß wieder reichlich Sendezeit auffressen. Bis dahin könne man warten. Um noch mit Bush-Geschichten ins Programm zu kommen, ist mithin Kreativität gefragt. Oder mindestens ein Exklusivtermin an seiner Seite. Wir bieten gleich drei davon an, in North Dakota, Ohio und Florida. Wir treffen George W. Bush.

Als wir durch kaum besiedeltes Flachland den Stadtrand von Minot erreichen, protzt sein weißer Sattelschlepper raumgreifend vor einem Motel. Geladen hat er Bühnentechnik, denn in North Dakota steht der kulturelle Höhepunkt des Jahres an: die »Country Fair«, eine in Amerikas Flächenstaaten beliebte Mischung aus Landwirtschaftsmesse, Technikshow und prallbuntem Jahrmarkt. Es gibt Ferkel-Wettrennen, die neuesten John-Deere-Trecker, deren Räder höher ragen als ein Haus, Achterbahn, Kettenkarussels und andere Menschenschleudern. Man kann mit einem gelungenen Zielscheibenwurf einen schrillen Clown ins Wasser plumpsen lassen und sich für ein Erinnerungsfoto als Wildwest-Bankräuber verkleiden. Und es spielen Countrybands.

Der Mann, der uns vom Motel aus in seinem Riesentruck mitnimmt, liebt diese Welt. Schon seit 20 Jahren stattet er die Bühnen solcher Open-Air-Events aus. Er ist 42 Jahre alt und Chefbeleuchter. Und er ist cool. Sonnenbrille, Vollbart und Pferdeschwanz, Tattoos, Whiskeystimme, Bierbauch. Dass er das Quartier nicht telefonisch reservierte, hat gute Gründe. Seine Anrufe nimmt Hotelpersonal nur ernst, solange er nicht seinen Namen nennt: Er heißt George Walter Bush. Vom Präsidenten unterscheidet ihn lediglich das kleine »t« im Mittelnamen, denn der heißt »Walker«. Genannt wird aber ohnehin meist nur das große »W.«.

»Die Probleme fangen schon an, wenn ich ein Taxi bestelle oder eine Pizza«, erzählt er mir, während sein Fahrersitz wippt. »Da höre ich am anderen Ende nur: ›Klar, und ich bin Donald Duck‹, und dann legen die auf.« Meist lasse er das dann andere erledigen. Einmal seien sogar FBI-Leute hinter ihm her gewesen, als er auf der Stabliste einer Wahlkampfshow auftauchte. Es habe ihn Tage gekostet, ihnen klarzumachen, dass das kein dummer Scherz gewesen sei.

Ob er sich für Politik interessiere, frage ich.

»Ja und nein«, sagt er. »Ich gehe selten wählen. Aber wenn du so heißt wie ich, kommst du an der Politik kaum noch vorbei.«

»Wir sind amtsmüde«

Wir waren nicht nur auf Pointen aus, als wir nach Bushs Namensvettern suchten. Sie sollten auch ein wenig widerspiegeln, wann und warum der Sympathiewert des Originals sich derart wandelte. Kaum jemand dürfte schließlich mehr über die Popularität George W. Bushs nachdenken als ein George W. Bush selbst. Landesweit hatte die Producerin rund 50 Personen ausgemacht, die einschließlich der Mittelinitiale mit dem Amtsinhaber übereinstimmten. Drei sagten den Dreh zu. Die allermeisten anderen legten so schnell auf wie der Pizzadienst unseres Truckers.

»Morgens ist nicht meine beste Zeit«, entschuldigt sich George W., als er zwischen den Bühnenpfeilern vergeblich nach seinem Werkzeug in den übergroßen Kisten kramt. »Ja, anfangs, als Bush ins Weiße Haus einzog, da war ich mächtig stolz auf den Namen. Und meine Mutter noch mehr«, sagt er und dirigiert die Teamkollegen zum Scheinwerfermontieren. »Aber ein großer Präsident wird er wohl nicht mehr werden. Reagan war so einer, Clinton, was die Wirtschaft angeht, und Lincoln sowieso. Bis Afghanistan war ich noch loyal. Alles andere war mir zu viel.«

Die Kommentare derer, die auf seinen Namen reagierten, hätten sich auch gewandelt. Längst werde da mehr gefrotzelt als geklatscht. Aber da bleibe er gelassen, so sei sein Naturell. Er wundere sich eher darüber, wie naiv doch manche seien. »Neulich sagte wieder eine Stewardess zu mir: ›Nein, Sie sind doch nicht George Bush‹. Und meinte, jeder an Bord sei jetzt enttäuscht, weil der Präsident nun doch nicht mitfliege. Ich sage dann gewöhnlich: ›Habt ihr noch nie etwas von Airforce One gehört? Das ist der große Flieger, den sie immer in den Nachrichten zeigen. Denkt ihr wirklich, der echte Bush steigt in so eine Linienkiste?‹«

»Wir alle sind wohl irgendwie amtsmüde«, gesteht uns der nächste George W. B., nunmehr ein korrekt gescheitelter, graumelierter Rechtsanwalt, den wir vor der Küste Floridas beim Sportfischen begleiten. Schmucke Strandvillen im Hintergrund, glatte See. Herr Bush trägt Shorts und Marken-Polohemd. Die Wähler hier sind durch und durch konservativ. Auch er kreuzte zweimal den namensgleichen Republikaner an. Doch nun beklagt er offen, dass er da wohl dem Falschen an den Haken ging. »Für mich drehten sich die Dinge«, erklärt er uns, »als mir Außenminister Colin Powell im Fernsehen die Schaubilder zeigte von Saddam Husseins angeblichen Chemiewaffen-Labors. Wir wissen heute, wie falsch das war. Aber als er in die Kameras blickte und mir versicherte, das sei die Wahrheit, da dachte ich, okay, dann ist das ein guter Grund, Krieg anzufangen.«

Konservativ hin oder her, als Jurist, noch dazu für internationales Recht, habe er das seiner Regierung nicht verziehen. Zu viel Machtgetöse sei ihm das gewesen, zu wenig Diplomatie. In der Kanzlei treffen wir tags darauf auf seine leidgeprüfte Assistentin. Fast jeder Erstanruf neuer Klienten ende noch immer in seltsamen Pausen, klagt sie. Oft müsse sie zurückrufen. »Kein Wunder«, zeigt sie Verständnis, »denn es geht um Vertrauensbeziehungen. Und der Name Bush polarisiert nun mal. Dann musst du wieder und wieder erklären: ›Nein, es ist nicht der Präsident, und nein, sie sind auch nicht verwandt.‹«

Der dritte Namensvetter kurvt auf einem selbstfahrenden Rasenmäher um sein Eigenheim im Grünen, als wir zum Interview anrücken. Er ist blass und wirkt etwas bieder. Als gelernter Ingenieur arbeitet er in einem Kugellagerwerk in Cleveland. Sein Garten interessiere ihn weit mehr als Politik, versichert er. Dennoch nimmt er den Mann im Weißen Haus in Schutz und lässt durchblicken, dass zumindest er ihn auch für eine dritte Amtszeit wählen würde. Amerika habe schlechtere Staatschefs hinter sich, findet er – auch wenn ihm dann nur Nixon einfällt.

Hätte er einen Wunsch frei, würde er nach all den Jahren aber gern einmal die Führungsrolle tauschen, wie er sagt, wenigstens für einen Tag. »Ich wünsche ihm nämlich, dass ihn auf einer Pressekonferenz mal einer fragt: ›Herr Präsident, wie ist das eigentlich, genauso zu heißen wie jener Mann in Cleveland?‹«

Die Schlusspointe meines Berichts behalte ich dennoch dem Bühnentechniker aus North Dakota vor. Ganz so neu sei ihm der Namensrummel im Grunde nicht gewesen, hatte er uns verabschiedet. Er kenne das seit seiner Schulzeit. »Mein engster Kumpel, der damals neben mir saß«, schmunzelte er, »hieß Jimmy Carter.«

Zweifel am Kurs

Der Schatten des Irak-Kriegs, den der Kandidat Obama schon früh zum »dummen Krieg« erklärt hat, hängt über der zweiten Amtszeit Bushs. Als ich für meine Wahlkampfreportage ein Trainings-Fort in Kansas besuche, macht selbst Oberst John Nagl aus seinen Zweifeln an Strategie und Taktik der Befehlshaber kaum mehr ein Geheimnis. Sie führten Kriege, klagt er, als stünde noch immer Armee gegen Armee. Eine Denkschrift, die er über den Irak-Krieg mit verfasst hat, trägt den Titel: »Vom Versuch, mit Messern Suppe zu essen.«

Doch nicht alle, die wir für unseren Film befragen, schwanken zwischen etablierten Konservativen und Demokraten. »Auch Obama ist mir noch zu kriegerisch«, schimpft ein Bahnreisender neben uns. »Er hat gesagt, er würde auch Pakistan angreifen, auch ohne Verbündete.« Das mache ihm Angst. »Vielleicht nicht so sehr wie unter Bush. Aber ich bin gegen Militäreinsätze«, sagt er, »egal wo.«

Seine Frau findet, Amerika habe sich isoliert, und hofft, der nächste Präsident könne dies ändern. »Wir denken immer, wir seien die Besten, könnten jeden herumkommandieren und tun, was immer wir gerade wollen. Es ist gefährlich, so sehr den Bezug zur Welt zu verlieren.«

Auch die Innenpolitik weckt vielerorts Unbehagen. Wir sprechen mit Farmern in Iowa, wo sich Maisfeld an Maisfeld reiht, zugleich aber Scheunen und Ställe verfallen, über den Niedergang der Familienbetriebe, die Arroganz der Städter und die Immobilienkrise. »Wie hätte es denn gut gehen sollen, dass Leute sich auf einmal Häuser für Hunderttausende von Dollars leisten, ohne einen einzigen gesparten Cent?«, zucken sie mit den Schultern – und geben die Schuld sowohl den Banken als auch den blauäugigen Käufern.

Das Bedrückendste aber, das wir während der Recherche miterleben, ist die stille Not von Millionen Amerikanern, die durch die Maschen der Krankenversicherer fallen – vor allem in ländlichen Bundesstaaten, wo sie allenfalls nach stundenlanger Autofahrt noch einen Arzt erreichen. Wenn sie denn überhaupt noch Geld haben, um ihn zu bezahlen.

Täglicher Hurrikan

Zwischen den tiefgrünen Hügeln des Cumberland Plateaus hängt der Frühnebel wie Watte, als wir uns dem Treck der Freiwilligenorganisation »Remote Medical« anschließen. Ihr Ziel ist das ausgedünnte Grenzland zwischen Knoxville, Tennessee, und Lexington, Kentucky. Ihr Gründer, Stan Brock, trägt Khaki-Uniform wie auf einer Safari. Eine ausladende graue Haartolle beschattet seine Stirn. Lange hat er als Entwicklungshelfer in Drittweltländern gearbeitet. Im Amazonasdelta versorgte er aus Propellermaschinen Hungernde.

»So weit müssen wir heute nicht mehr fliegen«, sagt er uns. »Die Not haben wir längst vor unserer Haustür. Und das Flugbenzin ist ohnehin zu teuer.« Dabei ist er kein Zyniker, sondern ein auffallend ruhiger, besonnener Mann, den die Teamkollegen schätzen und dem die Patienten, wie wir am nächsten Morgen sehen werden, dankbar sind wie einem Engel.

In den Fahrzeugen transportiert Brock medizinisches Gerät, um in einer Sporthalle ein Allzwecklazarett einzurichten, von der Buchstabentafel für den Sehtest bis zur Zahnarztzange. Getragen wird die Organisation von Spenden und vom Idealismus ihrer Mitarbeiter: Zahn- und Augenärzte aus Chicago oder New York, die ein Wochenende opfern, um hier den Kranken beizustehen; Studenten, Helfer, Handlanger.

»Sie könnten vorm Fernseher sitzen wie andere auch, Golf spielen, das Leben genießen. Was treibt Sie hierher?«, fragen wir Ron, der kurzfristig für einen erkrankten Fahrer eingesprungen ist.

»Uns liegt etwas an unseren Landsleuten«, antwortet er.

Am Zielort angekommen, einer Sporthalle im südlichen Kentucky, schleppt er als erstes Kisten mit Gratisbrillen zur »Optik-Station«.

»Heißt das, Sie machen die Hausaufgaben der Regierung?«, frage ich nur halb im Scherz.

»Dazu sage ich besser nichts«, lacht er in unsere Kamera. »Letztes Jahr versorgten wir hier an zwei Tagen fast 1000 Patienten. Damit rechnen wir wieder.«

Es ist Freitagnachmittag. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, werden sich die Tore öffnen. Auf einem Rasenstück nahe des Eingangs warten schon die ersten Angereisten auf Klappstühlen im Schatten. Denn wer zuerst da ist, steht später in der Schlange vorn und kann sicher sein, dass die Anfahrt nicht vergeblich war.

Einer von ihnen ist Brian Halse, ein kräftiger Kerl Anfang 30, der leidend blickt, während ihm seine Frau die Hand hält. Drei Autostunden entfernt bewohnen sie mit ihren beiden Kindern einen Trailer – die landestypische Billighausvariante zwischen Hütte und Wohnwagen. Frau Vickie fuhr den Wagen. Die Kinder blieben bei den Großeltern. Brian arbeitet in einer Kalkmine. Seine dicke Wange lässt ahnen, warum er hier ist. Sein Gesicht ist gerötet. Er presst die Lippen zusammen und spricht nur mühsam.

»Mein Arbeitgeber bezahlt mir keine Krankenversicherung mehr«, nuschelt er. »Und selbst wenn ich noch eine hätte, würde sie keine Zahnbehandlung abdecken.«

Um seinen Schmerz zu lindern, benutzt er Allzweck-Betäubungssalbe aus dem Supermarkt. Für viele in Amerikas Unterschicht ein geschätztes Wundermittel – obwohl es auf Dauer weder hilft noch heilt.

Was er sich vom nächsten Tag erhoffe, frage ich ihn.

»Dass ich hier die kranken Zähne loswerde«, sagt er, »zumindest die, die wehtun.«

Wie viele sind das?

»Einige. Am besten gleich auch alle, die mir später wehtun könnten.«

Drinnen werden derweil Stromkabel gezogen, Computer vernetzt, Wasserschläuche an Dutzende Zahnarztsesseln angeschlossen. Nach Mitternacht kommen die ersten Zubringerbusse von umliegenden Sammelpunkten an. Der Parkplatz füllt sich wie zu einer Großkundgebung. Männer, Frauen, Kinder rücken in der Dunkelheit zusammen. Die meisten sind unauffällige Durchschnittsbürger.

Was sie drücke, fragen wir reihum.

»Zahnschmerzen«, ist ihre häufigste Antwort.

Die sich hier versammeln, sind zu jung für die staatliche Altersversorgung »Medicare«, noch nicht verarmt genug für die Wohlfahrtskasse »Medicaid« und noch zu gesund für die Notaufnahme einer Klinik. Das Heer der solcherart Unversicherten stieg in den USA zuletzt auf annähernd 50 Millionen.

»Für jemanden, der den Mund voller kranker Zähne hat oder dessen Augen zu schlecht sind, um noch einen Job zu bekommen«, erklärt uns Brock, »für den ist das eine Katastrophe. Diese Leute brauchen keine Hurrikan-Katastrophen wie ›Katrina‹, um Not zu leiden.«

Für jeden hier hat er ein offenes Ohr, erklärt die Regeln, mahnt schon jetzt, die Gelegenheit zu nutzen, sich auch den Blutdruck messen zu lassen, mit einem Allgemeinarzt zu reden, über eine Mammografie nachzudenken. Medizin sei auch Vorsorge.

Die Menschen sind müde, aber gelassen. Wir blicken auf Armut, nicht auf Elend. Alltägliche Armut – im reichsten Land und in der größten Volkswirtschaft der Welt.

Reinigen, plombieren, ziehen

Sechs Uhr früh. Brock ruft die Startnummern auf. »Patientin Nummer eins«, begrüßt er die Frau gleich neben der Eingangstür. »Sie waren ja schon gestern Mittag hier.« Die Menge klatscht.

»Danke«, ruft sie Brock zu, »Sie sind ja meine einzige Chance. Die wollte ich nicht verpassen.«

Im Eingangsflur reihen sich provisorische Anmeldeschalter auf. Brian gibt seine Daten zu Protokoll. Danach geht er zum Sehtest. In Nebenräumen sammeln sich die Mediziner und warten auf den Schichtbeginn. Der Älteste unter ihnen ist Howard Teitelbaum, Professor für Präventivmedizin, mit Arztlizenz für Tennessee, Michigan, New York und Iowa. »Die Einsicht unter den Politikern wächst, dass eine breitere Versorgung der Bevölkerung nötig ist«, glaubt er. »Umso mehr, weil viele Menschen arbeitslos geworden sind und damit auch ihre Krankenversicherung verloren haben.«

Brian und Vickie haben zwischen Hunderten von Leidensgenossen in der Wartezone Platz genommen. Was unsere Kamera abschwenkt, ist grotesk: Die Hälfte der Sporthalle samt der Tribünen hält volle Sitzreihen bereit, als beginne gleich eine Bürgerversammlung oder ein Konzert. Nur unterscheiden die Platzanweiser nicht nach Parkett, Rang und Balkon, sondert nach den Kategorien »Reinigen«, »Plombieren« und »Ziehen«. Bei »Ziehen« herrscht der größte Andrang.

In der zweiten Hallenhälfte drängen sich die Behandlungssessel, umstellt von weiß und grün bekitteltem Personal. Kopfleuchten strahlen in aufgerissene Münder, Spritzen leeren sich, silbern glitzernde Zangen packen zu, Blut fließt in Wattetupfer.

Manche Ärzte, wie Jim Jenkins, unterstützen die Hilfsorganisation seit vielen Jahren – und erfahren dennoch immer wieder Neues. »Ich habe einer Frau gerade 16 Zähne gezogen«, sagt er uns fassungslos in seiner Pause. »Sie hatte die Spitze eines Drahtkleiderbügels über einer Kerze zum Glühen gebracht und sich damit selbst die Nerven abgetötet. Natürlich hatte sie weiter Infektionen, aber sie hatte den Schmerz gestoppt, wenigstens vorübergehend.« In seiner ganzen Berufslaufbahn habe er so etwas noch nicht erlebt. »Nun malen Sie sich einmal den Leidensdruck aus«, sagt er, »der jemanden zu so etwas treibt.«

Auch Brian gesteht seinem Behandler, dass er schon erfinderisch war, und zeigt auf den Stummel eines vergilbten Schneidezahns. Den habe er sich mit einer Drahtschlinge selbst ziehen wollen. Aber dann sei nur ein Stück abgesplittert, und er habe aufgegeben. Der Arzt bricht gleich drei kaputte Zähne aus dem Kiefer. Schon kurz darauf kommt Brian wie ein neuer Mensch daher. Er geht wieder aufrecht. Seine Augen glänzen. Auch Gattin Vickie ist erleichtert. Sie sei froh, dass seine Schmerzen vorbei seien, bedankt sie sich bei Brock, während Brian zustimmend nickt. Er selbst verabschiedet sich beidhändig von ihm.

»Passen Sie gut auf den Jungen auf«, sagt der zu Vickie. Wieder hat er einem Menschen geholfen. So war es am Amazonas auch. Nur der Dschungel fehlt.

2   Abenteuer Alltag

Leben in der Warteschleife

Als der Kinofilm »Lost in Translation« anlief, der die Nöte eines hilflosen Asien-Touristen schildert, war ich als Japan-Freund etwas verärgert über eine Badezimmerszene. Denn da passte Hauptdarsteller Bill Murray dank westlicher Körpermaße im teuersten Tokioter Edelhotel angeblich nicht unter die Dusche. Was für eine billige Pointe, dachte ich damals. Jetzt, da ich Amerika bereise, wo Duschköpfe gemeinhin starr in die Wand gemörtelt sind und sich baugleich auch auf Blechgießkannen finden könnten, fällt mir die Szene immer wieder ein. Seitdem finde ich sie noch dreister.

Auch die Erfindung der Türklinke hat sich hier bis heute nicht durchgesetzt. Nationalstandard sind Drehknöpfe. »Wie öffnet ihr Türen, wenn ihr mal keine Hand frei habt?«, fragte ich anfangs noch. »Bei uns ging das auch mit dem Ellbogen.« Wer eine Stehleuchte einschalten möchte, wie antik oder modern auch immer, sucht sie erst vom Fuß bis in den Lampenschirm hinein nach jenem winzigen, gezackten Rädchen ab, dreht es zuerst folgenlos einmal in die eine, dann in die andere Richtung, prüft danach Stecker und Glühbirne auf korrekten Sitz, um sie schließlich verwundert mit einer weiteren Rädchendrehung aufzuhellen. Es sind jene Alltäglichkeiten, die einen mitunter fragen lassen, woher dieses Land das Selbstbewusstsein nimmt, sich stets als Nummer eins der Welt zu sehen.

Der Zeitungskolumnist und Schriftsteller Bill Bryson notierte einmal, dass in den Fünfzigerjahren nahezu alle Haushaltsgeräte der Welt in amerikanischen Küchen standen. Was er nicht schrieb, war, dass die meisten heute noch dort stehen – und dass die US-Hersteller sie noch immer unverändert anpreisen.