Über die Autorin:

 

Susanne Kippenberger, 1957 als jüngste der vier Schwestern in Dortmund geboren, arbeitet als Redakteurin beim Berliner Tagesspiegel. Im November 2009 erschien im Berlin Verlag ihr Band Am Tisch. Die kulinarische Bohème oder Die Entdeckung der Lebenslust.

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Lore Leverkus und Gerd Kippenberger (im Bergmannskittel), 1948.

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Familie Kippenberger in Essen-Frillendorf, 1961: Bettina, Martin, Susanne, Lore, Barbara, Gerd, Sabine (v. l. n. r.).

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Martin im Kinderhaus in Frillendorf.

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Ausflug zum Drachenfels: Vater, Sabine, Susanne, Martin, Pippus (Sohn der Künstlerin Petra Lützkendorf), Mutter, Au-Pair-Mädchen (v. l. n. r.).

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Polonaise auf dem Sommerfest im Garten in Frillendorf.

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Vor dem Schlösschen der Urgroßeltern in Siegen-Weidenau. Von unten nach oben: Martin, Barbara, Sabine, Susanne, Bettina. Foto des Vaters, aus dem Martin 1985 eine Postkarte gemacht hat: »Hey, hey, hey, here are the Monkeys«.

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Martin und Susanne in Amsterdam, 1964.

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Martin mit seinen Freunden Birgit und Willi im Garten in Frillendorf mit den Kunstwerken, die sie im Podium ausgestellt hatten.

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Lore Kippenberger Mitte der siebziger Jahre.

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Martin mit Vater im Passbildautomaten
Mitte der siebziger Jahre.
Das Foto hat er als Titelbild auf den
Katalog »Heimway Highway 90« gesetzt.

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Martin in Hamburg Mitte der siebziger Jahre.

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Posen in der Hamburger Feldbrunnenstraße.

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Martin mit Inka Hocke, ca. 1975.

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Vernissage in der Feldbrunnenstraße.

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Selbstporträt von Martin in Florenz, 1977.

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»Uno di voi, un tedesco in Firenze«: Als niemand die Serie der Schwarzweißbilder aus Florenz im Einheitsformat 50 × 60 cm kaufen wollte, tauschte Martin sie bei seinem Freund Michel Würthle gegen lebenslang frei Essen und Trinken mit Begleitung in der Paris Bar in Berlin.

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Martin während der Fußball-WM, 1978 in Kippenbergers Büro in Berlin.

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Tabea Blumenschein und Martin auf dem Tisch von Ulrike Ottinger.

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Martin in Ost-Berlin, wie immer mit der Kamera vor dem Bauch.

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»K. beim Pudeltanz auf dem von ihm fotografierten und geklebten und versiegelten Fußboden aus einer Woche Intimleben der Fam. Skoda und Bekanntenkreis (1300 Stück).« (Bildunterschrift von Martin.)

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Vor dem S.O. 36.

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Dialog mit der Jugend: Martin im Krankenhaus, nachdem er von Ratten-Jennys Freunden zusammengeschlagen wurde, 1979.

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»Disco König Rolf Eden gratuliert
Keller Kaiser Kippenberger zur Schließung
des S.O. 36.« (Bildunterschrift von Martin.)

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Das Plakat zum
25. Geburtstag hing in ganz Berlin.

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Der Katalog zum
30. Geburtstag.
Vor dem Haus in Frillendorf, mit den vier Schwestern im Hintergrund.

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Martin und Max Hetzler in dessen Galerie vor der Serie »8 Bilder zum Nachdenken, ob’s so weitergeht« (1983).

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Eröffnung der Ausstellung von Martin und Albert Oehlen »Frauen im Leben meines Vaters« 1983 in der Galerie Erhard Klein, Bonn. Max Hetzler, Werner Büttner, Albert Oehlen und Martin singen »Glück auf, Glück auf«.

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Erstes »Wiener Fiakerrennen«, 1985.
Es traten an: Martin und Albert Oehlen.
Das Publikum bestand aus drei Zuschauern.

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Martin und Albert Oehlen beim »Offizierskasino«, dem Wodkawettrinken der Künstler, Wien.

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Martin mit dem Wiener Kunsthändler und Wirt Kurt Kalb im »Club 45«.

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Martin in der Wiener
Galerie von Peter Packesch (r.), sitzend Max Hetzler.

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Martin und Gisela Capitain in der Ausstellung »Petra«, 1987 in der Galerie Gisela Capitain.

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Martin beim Büchersignieren mit dem Kölner Buchhändler Walther König.

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Martin nach der Eröffnung von »Heavy Burschi« in Köln, 1991. Rededauer: ca. 150 Minuten.

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Hans-Jörg Mayer, ohne Titel, 1991. (Charline von Heyl, Michaela Eichwald, Jutta Koether, Cosima von Bonin, Isabelle Graw, v. l. n. r.)

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Martin mit seinem Mitarbeiter und Freund Michael Krebber: MK1 und MK2.

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Museum Kippenberger: Das MOMAS auf Syros.

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Martin mit Michel Würthle in Rotterdam, 1994.

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Martin mit Kazu Huggler, 1995 in Tokio.

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Martin mit Thomas Bayrle in einem Nudelrestaurant in Tokio.

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Martin und Gabi Hirsch mit Helena am 24. August 1989. Das Foto für die Geburtsanzeige hat Martin später für eine Ausstellungseinladung verwendet.

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Einladungskarte mit Helena zur Ausstellung »Kippenblinkys« in der Galerie David Nolan, New York 1991.

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Familie Grässlin, 1993: Martin, Sabine Grässlin, Anna Grässlin, Franco Ubbriaco, Thomas Grässlin, Oma Haas, Bärbel Grässlin, Bernadette Grässlin und Rüdiger Carl (v. l. n. r.).

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Als Thomas Grässlin Weihnachten 1981 eine Carrera-Bahn bekam, war Martin derjenige, der am meisten damit spielte. Zu seinem 40. Geburtstag ließ er sich selber eine schenken.

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40. Geburtstag in St. Georgen. Who’s who?: S. 468 / 469.

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Martin und sein bei Innsbruck geschnitzter und gekreuzigter Frosch sowie eine seiner zahlreichen Zeichnungen auf Hotelpapier.

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Martin und Gisela Capitain im Jennersdorfer Atelier.

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Hochzeit 1996, Wien und Jennersdorf.

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Mau-Mau-Spiel Weihnachten 1995 in der Paris Bar: Martin mit seinem Neffen Benjamin und seiner Nichte Elena.

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Martin und Helena tanzend.

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Martin und Elena beim Stuhltanz.

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Catherine Würthle, Martin und Michel Würthle.

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Martin und Elfie Semotan.

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Der Eierwagen in Jennersdorf, 1997.

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Schaufenster der Buchhandlung Walther König mit allen von Martin gestalteten Künstlerbüchern, aufgebaut in der Nacht nach seinem Tod.

MEIN GROSSER BRUDER

Er war mein großer Bruder. Mein Beschützer, mein Verbündeter, mein Held. Wenn’s Streit gab mit meiner Schwester, musste ich nur rufen: »Martin, die Bine hat …«, schon gab’s was: »Kölner Dom« oder »Tausend Brennnesseln«. Dann hat er die arme Bine an den Ohren hochgezogen, bis ihr schwindlig wurde, hat ihr die Arme umgedreht, bis es schön brannte. An ihm lag es nicht, dass ich eine Vier in Kunst hatte, er hat mir die Bilder gemalt, die ich nicht malen konnte. Nur stand da mein schlechter Ruf schon fest. Aus dem Internat im Schwarzwald schrieb er mir Briefe wie diesen: »Liebe Sanni, wie geht es Dir? Jeden Tag denke ich an Dich. Seit Ihr schon am Kuchen backen? Nasch nicht so viel, sonst bekommst Du Bauchweh. Putzt Du immer Deine Zähnchen? Ich hoffe es.« Da war er zehn und ich sechs. Heute bin ich 49. Fünf Jahre älter als mein Bruder, als er starb.

Am 7. März 1997 war das. Die Gesellschaft, die zur Beerdigung ins tiefe Burgenland kam, war fast dieselbe, die ein Jahr zuvor hier gefeiert hatte: das Hochzeitsfest von Martin und Elfie Semotan.

Er hatte sich so gefreut darauf, 1997, das sollte sein Jahr werden, der große Durchbruch, endlich. Im Januar die »Respektive« im Museum in Genf, ein paar Tage später die Eröffnung in Mönchengladbach, »Der Eiermann und seine Ausleger«, die erste Einzelausstellung in einem deutschen Museum seit 1986. Im März der Käthe-Kollwitz-Preis und die Ausstellung der Medusa-Bilder in der Berliner Akademie der Künste, im Juni dann die documenta und die Skulpturenausstellung in Münster. Das hat er nicht mehr erlebt. Hepatitis, Zirrhose, Leberkrebs – sechs Wochen nach der Diagnose war er tot.

Kann man, soll man, darf man das: über einen Menschen schreiben, der einem so nahe ist? Nein! war meine Reaktion, als das erste Mal die Frage kam: ob ich mir vorstellen könnte, über meinen Bruder zu schreiben. Neinneinnein.

Ja.

Martin Kippenberger ist eine öffentliche Figur. Ein Popstar, ein Markenname, ein Klassiker der zeitgenössischen Kunst. Es wird geschrieben, geurteilt und geredet über ihn, Zeitungen, die ihn zu Lebzeiten bestenfalls totschwiegen, loben ihn nun. Und er, der nichts unkommentiert ließ, kann nichts mehr dazu sagen. Er, der Tag und Nacht (vor allem nachts) sein Bild als Künstler inszenierte, hat die Kontrolle verloren. Davor hatte er am meisten Angst.

Er taucht als Figur in Romanen auf, es gibt eine Hotelsuite, die seinen Namen trägt, auch ein Theaterstück. Ein Restaurant ist nach ihm benannt, ein Meerschweinchen – mindestens eins –, man kann ihn als Notizblock kaufen, Ben Becker hat ihm einen Song gewidmet: »Wir heben ab«. Der frühe Tod hat ihn, vor allem bei Jüngeren, zum Mythos gemacht, eine Art James Dean der zeitgenössischen deutschen Kunst. Für die einen ein Teufel, für die anderen ein Gott. Das Bild des Menschen verblasst.

Das Bild des Künstlers dagegen scheint immer klarer zu werden. Die ernsthafte Rezeption hat erst nach seinem Tod begonnen. Das Werk ist abgeschlossen, jetzt ist die Ruhe da, es richtig anzusehen, Zusammenhänge zu erkennen – so schnell, wie Martin produziert hat, konnte man gar nicht gucken. Jetzt bekommt er das Forum, von dem er träumte, die Biennale in Venedig, in London die Tate, in Los Angeles das Museum of Contemporary Art und in New York das Museum of Modern Art. Dabei war es genau das, was ihn nicht interessierte, posthumer Ruhm. Er wollte ihn erleben und genießen, den Erfolg, den er verdiente, wie er fand. Er hat ja geglaubt an sich, von Anfang an, an sich und die Kunst.

Heute, sagen die, die ihn gefürchtet haben, stünde Martin seiner Kunst nicht mehr im Weg. Durch den Schock des plötzlichen Tods wurden auch jene aufgeweckt, die früher nur den Witz gesehen haben und nie den Ernst dahinter. Und die nicht mal lachen konnten darüber. Die Humorlosigkeit deutscher Museumsdirektoren macht Zdenek Felix, früherer Direktor der Hamburger Deichtorhallen, mit dafür verantwortlich, dass Martin zwischen 1986 und 1997 zwar im Centre Pompidou in Paris und im Hirshhorn in Washington, im Museum of Modern Art in San Francisco und im Boijmans Van Beuningen in Rotterdam Einzelausstellungen hatte – aber in keinem deutschen Museum. Er war seiner Zeit voraus, »er war zu früh«, meint Tanja Grunert, die Galeristin, »Martin war immer zu früh«.

Es gibt viele Bilder von ihm. Jede Menge Selbstportraits hat er gezeichnet und gemalt, unentwegt hat er sich fotografieren lassen, sich mit Auftritten in Kneipen und Museen, mit seinen Ausstellungen und Festen inszeniert. Es gibt viele Bilder von Martin Kippenberger, öffentliche, private. Als Zyniker wird er oft beschrieben. Dabei war er ein großer Moralist und Menschenfreund. In Berlin wurde er in den späten Siebzigern als Impresario von hartem Punk und Rock im S.O. 36 bekannt – im Atelier hat er am liebsten die old boys gehört, Dean Martin, Lee Marvin, Frank Sinatra: »My way«.

Als »Autodidakt« wird er gelegentlich beschrieben; dabei hat er an der Hochschule der Künste in Hamburg das Handwerk erlernt, hat das Studium erst abgebrochen, als es ihm zu langweilig wurde. Nein, nicht Autodidakt – Selfmademan ist er gewesen. Einer, der sich selbst geschaffen hat. Keiner, der darauf gewartet hat, entdeckt zu werden. »Er war der beste Verkäufer seiner selbst«, hat die Galeristin Bärbel Grässlin gesagt.

»Er war kein guter Mensch«, stand im Nachruf der »taz«. »Was für ein lieber Kerl!«, meinte sein Arzt in der Kur. Ein Mensch voller Wärme und Zärtlichkeit, großzügig wie kein anderer.

Für Martin war alles, auch der Name, Programm. Wie der heilige St. Martin, auf dessen Pferd er als kleiner Junge immer sitzen durfte, hat er alles geteilt, was er hatte. Geld, Erfolg und Einfluss, seinen Spaß, seine Kunst und seinen Kummer. Wenn es ihm schlecht ging, wurde er böse.

Und treffen, das konnte er. »Mit Röntgenblick«, sagt eine Freundin, »hat er die Leute durchschaut«, in ihre Wunden geschossen. Die Bösen hat er attackiert, die Guten wie eine Löwenmutter beschützt. Die einen haben ihn gehasst, die anderen geliebt, heiß und innig, die Wirtstochter in Österreich ebenso wie die reiche Sammlerin.

Bilder verfestigen sich. Seit Martins Tod wird immer wieder dieser Satz zitiert: »Ich arbeite daran, dass die Leute sagen können: Kippenberger war gute Laune.« Und ob er das war! Aber wehe, die gute Laune blieb aus. Wie einmal, in der Paris Bar, als seine kleine Nichte sich gelangweilt hat. Da hat er sich Salz auf die Schultern gestreut, mit Brot geworfen und gedroht: »Gleich tanz ich nackt mit dir auf dem Tisch!« Langeweile hat er nicht ertragen, das war Stillstand, Tod. Deshalb hat er den Sonntag so gefürchtet.

Das Bild des lustigen Unterhalters verdeckt den Schatten dahinter. Dass er sich zu Tode gearbeitet hat, um dieses Bild und sein Werk zu schaffen. »Wer sich dem Abgrund stellt, soll sich nicht wundern, wenn er fliegen kann«, steht auf einem seiner Bilder. Aufregend, so erscheint sein wildes Künstlerleben den Fans aus der Ferne. Er selbst hat es »wahnsinnig anstrengend« genannt, »unterwegs zu sein und überhaupt kein Privatleben zu führen«. An vielen Tagen hat er es doch getan, hatwild gelebt, so rasant wie auf der Autobahn – und sich unterwegs immer wieder Rastplätze gesucht. Dann machte er, ein paar Tage oder Wochen lang, Halt bei Freunden und Bekannten, bei denen er sich aufgehoben fühlte und versorgt. Bei denen er sich nicht ständig produzieren musste, auch mal Schwächen zeigen und schweigen konnte.

Er hat, vor allem in den frühen Jahren, immer wieder die Hosen runtergelassen. Aber wirklich nackt haben ihn nur wenige gesehen. Wie kann ich ihn jetzt, wo er tot ist, entblößen, von seiner Verletzlichkeit, seiner Angst, seinen Zweifeln schreiben?

Das Bild, das man von ihm zeichnen muss, ist komplexer, als Feinde und Fans es gern hätten. So komplex wie die Kunst. Wer mein Bruder war? Ein Anarchist und Gentleman, Männerbündler und Frauenfreund, großer Bruder und kleiner Bruder, ein Alleinunterhalter, der alles, nur kein Einzelgänger war – und es am Ende vielleicht doch geworden ist. Einer, der den Kunstbetrieb attackiert und unterwandert – und in ihm mitgespielt hat. Der »das Künstlertum gleichzeitig abgelehnt und extrem zelebriert hat«, wie Diedrich Diederichsen sagt.

Er hatte immer was von Rumpelstilzchen. So ist er auch durch die Kunstwelt gesprungen: als Sammler, Maler, Impresario, Museumsdirektor, Objektkünstler, Grafiker, Verkäufer, Fotograf, Angeber, Lehrer, Strippenzieher … Das war für ihn die Freiheit der Kunst: ständig Grenzen zu überschreiten, auch Grenzen des guten Geschmacks. »Peinlichkeit kennt keine Grenzen.« Seine penetranten Rituale – das ausgedehnte Erzählen von Witzen ohne Pointe, das Männer-Singen –, all das war immer auch ein Test: Was halten die Leute aus, wann fangen sie an zu meutern? Verstehen sie Spaß?

Je scheußlicher ein Material, desto lieber war es ihm: vom Flokatiteppich bis zu Harald Juhnke, vom Klovorleger über die Politik bis zum Weihnachtsmann. Immendorff, hat ein Kritiker gesagt, hat die deutschen Schlachtfelder in die internationale Kunstwelt eingeführt, Kippenberger den deutschen Alltag. Er hat, so Zdenek Felix, »die Kunst aus dem Gefängnis des reinen Ästhetizismus befreit«. Nicht vor der weißen Leinwand hatte er Angst, sondern davor, schöne Bilder zu malen. Bloß kein Kitsch.

Natürlich, das hat er offen bekannt, hat er ab und zu doch »Kitsch« produziert. »Miete Strom Gas«, so der Titel einer Ausstellung, wollten bezahlt werden. Er wollte gut leben. »Nicht sparen – Taxi fahren«, hieß einer seiner Lieblingssprüche. Gespart hat er nie, alles Geld hat er ins Leben und in die Kunst investiert, nicht in Depots und Prestigeobjekte. Nur einmal hat er sich einen BMW besorgt: Als er nach Los Angeles ging. In Hollywood, dachte er, muss man protzen. Also hat er, wie so oft, getauscht: Kunst gegen Auto. Den dicksten BMW wollte er haben, natürlich mit Chauffeur, und als er nur den zweitdicksten kriegte, hat er die fehlenden fünf Zylinder als Hüte hintendrauf geklebt. Martin hat alles gestaltet, von der Streichholzschachtel über die Einladungskarte bis zum Hotel, allem seinen Stempel aufgedrückt. »Die Kippenbergerisierung der Welt« nennt Walter Grond das.

Widersprüche würde ich das nicht nennen. Eher Extreme. F. Scott Fitzgerald, ein anderer Trinker und Romantiker, hat das in seinem autobiographischen Essay »The Crack-Up« beschrieben: »Der Test einer erstklassigen Intelligenz ist die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen gleichzeitig im Kopf zu bewahren und immer noch in der Lage zu sein zu funktionieren.« Das war die Intelligenz des Martin Kippenberger, der nie einen Schulabschluss gemacht hat. Er wollte immer alles haben – »to have the cake and eat it, too«, sagen die Amerikaner dazu: Das Porzellan zerschlagen und davon essen.

Am Tisch mit wichtigen Museumsleuten hat er gefurzt – und sich bei Mutter Grässlin im Schwarzwald tadellos benommen; Johannes Wohnseifer, sein letzter Assistent, schwärmt von Martins guten Manieren, seiner »natürlichen Autorität«. Viele haben ihn beim exzessiven Leben in Köln und Berlin erlebt, in Wien und Madrid. Nicht, wenn er sich wieder mal zurückgezogen hatte, in den Schwarzwald, auf die griechische Insel, an den Bodensee, um sein »Sahara-Programm« durchzuziehen. Jedes Jahr ging er mehrere Wochen in Kur, wo er nichts aß außer trocken Brot, nichts trank außer Fruchtsaft und Wasser. Um sich dann wieder ins exzessive Leben zu stürzen.

»Ich ist ein anderer«, hieß eine große Ausstellung, in der auch Martin mit einigen seiner unzähligen Selbstportraits vertreten war. »Ich bin ich«, hätte er eher gesagt. »Und ich bin viele.«

Was hier steht, ist nicht die volle Wahrheit. Das Buch strebt keine Vollständigkeit an, keine lückenlose Intimität, schon gar keine kunsthistorische Einordnung und Interpretation. Es erfüllt keine Chronistenpflicht. Es ist ein Portrait, keine Biographie. Aber alles, was hier steht, ist wahr. Ist eine – aber nicht nur meine Wahrheit. Was hier steht, ist das Ergebnis vieler Gespräche, mit der Familie, mit Freunden, Museumsmachern und Galeristen, Künstlern und Kritikern. »Wahrheit ist Arbeit«: So hieß seine Ausstellung mit Werner Büttner und Albert Oehlen im Museum Folkwang in Essen, der Stadt, in der wir aufgewachsen sind. Es geht darum, zu verstehen: Wie wurde er der, der er war? Wie hat das System Kippenberger funktioniert? Es geht auch darum, zu erinnern: an eine Zeit, als die Sammler, die heute Hunderttausende von Dollar für ein Selbstportrait ausgeben, es nicht für einen Bruchteil der Summe haben wollten.

Ist der Junge normal?!, fragte erschrocken die Lehrerin, als sie dieses Kind erlebte, das die Welt nicht wie ein Kind wahrnahm, ein Neunjähriger, der den Witz eines Erwachsenen hatte und das Einmaleins noch immer nicht beherrschte – das Schreiben hat er nie richtig gelernt. Der statt auf die Tafel lieber aus dem Fenster guckte. »Martin unser Künstler« stand bei uns an der Küchenwand, da trug er noch kurze Lederhosen mit Latz. Er musste den Künstler nie spielen, deswegen konnte er mit der Rolle des Künstlers spielen. Was soll, was kann die Kunst und was der Künstler – das war das Thema seines Lebens. In alle möglichen Künstler-Rollen ist er geschlüpft, hat Beuys genommen, auf den Kopf gestellt und Kippenberger draus gemacht: »Jeder Künstler ist ein Mensch.«

Nein, normal war er nie. Er hat gebrannt, wie die Zigaretten, die er selten aus der Hand legte, an beiden Enden zugleich. »Hallöchen!«, begrüßte er morgens die Rentnerband in der Äppelwoikneipe in Sachsenhausen. Mit »Hallöchen!« stand er ein paar Stunden später in der Tür von Bärbel Grässlins Galerie, um sich Begleitung fürs Mittagessen zu holen. »Hallöchen!«, rief er abends, nach dem Mittagsschlaf (der war heilig) ins Telefon, damit es weiterging. Nudelessen, Unterhaltungsprogramm, Arbeit und Tanz bis in den Morgen. Um sieben Uhr früh stand er dann stramm im Hotel Chelsea in Köln und machte Hallöchen auf Chinesisch; eben noch hatte er um die Putzfrau herumgetanzt, nun begrüßte er die chinesischen Hotelgäste auf ihre Art: die Hände vor der Brust gefaltet, jeden mit einer eigenen Verbeugung. Nicht, dass sie den Witz verstanden hätten. Aber er hat seinen Spaß gehabt. Und ein paar Stunden später wieder gearbeitet.

Seine Begleiter haben gelacht und gelitten. Wer nachts unterwegs war mit ihm, der wusste, er kommt nicht mehr ins Bett, da war Martin gnadenlos. Auch das konnte er sein: ein Tyrann. Wenn schon leiden, dann nicht alleine.

Allein zu sein, hat er nicht aushalten können, höchstens beim Mittagsschlaf oder Malen. »Große Wohnung nie zu Hause« heißt ein Bild. Sobald er irgendwo hingezogen war – und er zog ständig von einer Stadt in die andere, von Hamburg nach Berlin nach Florenz nach Stuttgart nach St. Georgen nach Köln nach Wien nach Sevilla nach Carmona nach Teneriffa nach Frankfurt nach Los Angeles und ins Burgenland –, suchte er sich sofort ein Stammlokal, das für ihn Wohn- und Esszimmer war, Büro, Museum, Atelier und Bühne. Sein Heimathafen war die Paris Bar, deren Wirt, Michel Würthle, sein bester Freund.

Das vermeintliche Herumhängen in Cafés, das war »Austausch, Austausch, Austausch«, sagt Gisela Capitain, seine Galeristin und Nachlassverwalterin. Als »Spiderman«, wie er sich selbst portraitierte, hat er überall Netze gesponnen, Tag und Nacht und überall, »Martin war immer im Dienst«: Wahrheit ist Arbeit. Auch diese Grenze hat er überschritten, die zwischen Leben und Kunst, zwischen sich und den anderen. »Mich gibt es halt insgesamt und immer sehr eindeutig als lebendes Vehikel.« Jedes Fest war ein Fest, aber zugleich Bühne und Rohstoff für neue Werke. Deswegen ist die Frage auch so schwer zu beantworten: Wer mein Bruder war. Der Mensch lässt sich vom Künstler nicht trennen, fast sein ganzes Leben hat er zu Kunst gemacht. Die Künstler, mit denen er zusammengearbeitet hat, Albert Oehlen, Werner Büttner, Meuser, Hubert Kiecol, Michael Krebber, Uli Strothjohann und viele andere, waren seine Freunde, ebenso wie seine Galeristen, Max Hetzler zum Beispiel, Bärbel Grässlin und Gisela Capitain.

Und doch war gerade das ein Fehler, den viele begingen: nicht zu trennen zwischen Künstler und Mensch. Sie verwechselten Pose mit Position, Provokation mit Haltung – und hielten ihn für einen Rassisten, Chauvinisten, Schwulenhasser. Er hat den Leuten den Spiegel vorgehalten, die Wahrheit laut ins Gesicht gesagt, das hat weh getan und sollte es auch, das war für ihn der Sinn der Kunst. Er selber hat klar getrennt. »Du kannst dich benehmen wie ’n Arschloch, aber du sollst es auf keinen Fall sein.«

Es gibt keine einfachen Gleichungen bei ihm, auch keine biographischen. Man muss sich hüten vor Vereinfachungen, davor, die Kunst als Abbild des Lebens zu betrachten. Wer glaubt, seine biographischen Stationen anhand der Hotelzeichnungen rekonstruieren zu können, tappt in seine Falle: Martin hat längst nicht in allen Hotels geschlafen, auf deren Briefpapier er gezeichnet hat. Die Kunst war nicht Abbild seines Lebens, sie war sein Leben.

Etwas Besonderes ist er immer gewesen. Der einzige Junge unter vier Schwestern, ein Junge, der kein richtiger Junge war, der malte und weinte und lieber Mau-Mau als Autoquartett spielte (und damit als Erwachsener Vermögen gewann). Der als Einziger mit Begeisterung in den Foto-Inszenierungen unseres Vaters mitmachte, sich aber nicht dirigieren ließ dabei. Kokett hat er sich in Pose gesetzt, den Arm um den Laternenpfahl geschlungen, tänzelnd mit dem Fuß. Auf den Fotos blitzen seine Augen, wie sie immer blitzten, frech vor Vergnügen, sprühend vor Energie. So war er von Anfang: witzig und charmant, anstrengend und unbequem, frech und frei und hemmungslos.

Immer wieder hat er auch mit der Familie gehadert, hat gelitten darunter, als kleines Kind von zu Hause weg ins Internat geschickt zu werden, nie fühlte er sich genügend unterstützt, geliebtundanerkannt. Aber er hat immer gehangen an ihr. Der »Bürgerschreck« war ein Familienmensch, durch und durch, das »enfant terrible«, das um die ganze Welt hetzte, hielt die Familientradition hoch. Seiner Tochter gab er den Namen unserer Mutter, die früh gestorben war, den Siegelring mit dem Familienwappen unseres Vaters legte er nie ab. Immer wieder drängte er darauf, dass wir Weihnachten alle zusammen feiern, hielt streng an den Ritualen fest: Da gab’s Pute – und keine Frage, wer die Keule kriegt –, Geschenke und einen großen Tannenbaum. Sogar in die Kirche ist er dann mal mitgegangen, er ist ja auch nie ausgetreten. Routine war ihm verhasst, mit jedem Ausstellungsprojekt hat er Neues ausprobiert. Aber Rituale hat er gebraucht wie die Betrunkenen die Laternen: zum Festhalten.

Doch auch das gehört zu Martin: Eine eigene große Familie hat er sich immer gewünscht. Aber als seine Tochter geboren war, hat er das Leben als Familienvater nicht lange ausgehalten.

Martin hat nie in einer reinen Kunst-Welt gelebt. Unsere Mutter hat er in seiner Drogen-Selbsthilfe-WG einquartiert, mit unserem Vater hat er Ausstellungen gemacht. Uns, seine durch und durch unglamouröse Familie, hat er überallhin mitgenommen, zum Tee mit Rudolf Augstein, als wir noch halbe Kinder waren, ins Luxushotel in Genf, wo er uns Gratis-Zimmer besorgte, zum wilden Fest seiner Ausstellungseröffnung im Centre Pompidou. »Kommst Du?«, stand auf der Einladungskarte. Und wehe, man kam nicht. Dann war er verletzt wie ein Kind. Ja, das »enfant terrible« war ein Kind, sein Leben lang, das überall Familien um sich scharte, Freunde, Sammler, Wirtsfamilien, Fans. Er konnte strahlen, schmollen und toben, ungeduldig und ungerecht sein wie ein Kind – aber auch, wie ein Mann, am nächsten Tag oder ein Jahr später sich in aller Öffentlichkeit entschuldigen.

So wie er sich als kleiner Junge in den großen Ferien auf unsere Großmutter stürzte, durch die Glastür hindurch, die er in seiner Begeisterung übersehen hatte, stürzte er sich später auf Ideen und Projekte. Und manchmal taten sie ihm genauso weh wie damals die Scherben.

Er konnte gierig sein, eifersüchtig, egozentrisch – aber auch stolz, auf sich und viele andere, auf ihre Künste, ihre Handwerkskünste, ihre Kochkünste. Er war ja nie ein Angeber nur in eigener Sache. Und er wollte beschenkt werden wie ein Kind: zum 40. Geburtstag, einer wüsten Orgie, wünschte er sich eine Carrera-Bahn, unter dem Weihnachtsbaum stand er mit leuchtenden Augen. »Die Kindheit hört ja nie auf«, hat er im Interview mit Jutta Koether gesagt.

Er war hochintelligent, ein Intellektueller war er nicht. Er hat die »Bild«-Zeitung und Micky-Maus gelesen, nicht Roland Barthes und James Joyce. Aus der populären Kultur schöpfte er sein Material. Kafka ließ er andere lesen und sich erzählen davon, so wie er andere für sich hat reisen, zeichnen, Skulpturen bauen lassen. Er war blitzgescheit, hat wie der Blitz Sachen entdeckt, Ideen aufgegriffen und umgesetzt. Nachmittags hat er Dinge vorgeführt, die er morgens noch nicht konnte: Radierungen machen, Akkordeon spielen, Holländisch sprechen. Das war zwar nicht richtig Holländisch, aber überzeugend klang es schon.

»Heute denken, morgen fertig«, hieß einer seiner bekanntesten Sprüche, der wieder nur zur Hälfte stimmt: Aufs Handwerk hat er großen Wert gelegt. Die großen Projekte wie »The Happy End of Franz Kafka’s ›Amerika‹« haben lange gegärt. In einem Jahr hat er drei, vier Bilder gemalt, im nächsten vierzig, fünfzig.

Er sprudelte über vor Ideen, auf die sonst keiner kam, und wenn doch, dann hat er sie sich einfach einverleibt, ob sie von Picasso kamen, von Studenten oder seiner Tochter Helena. Im Nehmen war er so großzügig wie im Geben, und immer hat er von andern verlangt, was er selber gegeben hat: Alles. Und das sofort. »Man musste aufpassen, dass man kein Kippenberger-Sklave wurde«, sagt Bärbel Grässlin.

Bei seiner Ausstellung im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam hat er sich zum Eröffnungsessen Pommes und Kroketten gewünscht, das haben wir in den großen Ferien in Holland immer gegessen, jeden Abend, sechs Wochen lang. Die Museumsmacher hätten wohl lieber Tomaten mit Mozzarella serviert. Aber für so was hatte Martin nur Verachtung übrig. Er hat alle Moden gehasst – die Postmoderne in der Architektur, den Rucola beim Essen, das Schulterpolster in der Bluse, das Video in der Kunst. Er hat es gehasst, wenn jemand was tat, nur weil andere es taten oder er warteten und nicht, weil man selber dran glaubte. Deshalb waren ihm die politisch Korrekten auch so zuwider. Was in war, war für ihn out – und nur noch als Material zu verwenden. Postmoderne Häuser hat er aus Sperrholz gebaut und mit Feuerzeugen beklebt, für die documenta hat er ein Multiple herausgebracht, einen weißen Teller mit dickem Loch in der Mitte: »Tschau rucola mozzarella tomate con spaghettini secco e vino al dente«.

So hat er auch ganz früh den Hippie-Look abgelegt, sich die Haare kurz geschnitten, einen Schlips umgebunden – unerhört im Kreuzberg der Siebziger – und nur noch die feinsten Anzüge, die teuersten Schuhe getragen, selbst im Atelier. Die Kleidung war – auch – ein Kostüm. Er wollte der wandelnde Widerspruch sein zu dem, was die Leute sich so unter einem wilden Künstler vorstellten. Außerdem sah er gern gut aus, in seinen besten Zeiten wie Helmut Berger. Auf die Ähnlichkeit mit Viscontis Schauspieler wurde er gern angesprochen, als Filmstar wäre er gerne berühmt geworden, oder als Dichter. Oper, Theater, das interessierte ihn nicht. Aber Filme! Die Klassiker Hollywoods kannte er auswendig, noch Jahre nachdem er sie gesehen hatte, konnte er minutiös Szenen nacherzählen. »Jeder, der ihn in Aktion gesehen hat, wie er morgens um fünf auf der Bühne getobt und gerast und sein Mikrofon geschwungen hat, konnte seine echte Starqualität erkennen, ein Charisma, das zufällig in die Kunstwelt gelenkt worden war«, hieß es im Nachruf des »Independent«.

In seinen schlechtesten Zeiten sah er aus wie ein verschlampter Künstler: ungewaschen, versoffen, fett. Dann zog er sich die Unterhose wie Picasso über den dicken Bauch, streckte die Wampe raus und ließ sich fotografieren, aus dem Bild machte er dann ein Ausstellungsplakat, ein Gemälde, einen Kalender. Jede Schwäche wurde zur Stärke, verwandelt in Kunst. Auch wenn der Schmerz blieb. Als ihn die Punker in Berlin zusammenschlugen, hat er sich mit verbundenem Kopf, geschwollenem Gesicht und schiefer Nase fotografieren lassen und sich später auch so gemalt. »Dialog mit der Jugend« heißt das Bild, Teil des Triptychons »Berlin bei Nacht«, das er außerdem als Eintrittskarte genutzt hat: Mehrfachverwertungen hat er geliebt.

Er war ein Kind des Ruhrgebiets, das hat seine Direktheit geprägt, sein Tempo, seinen trockenen Witz. Er hat es gemocht, wie die Menschen dort umgehen miteinander, natürlich, herzlich, rau und unsentimental. Immer offen und ohne Dünkel. Er hat die soziale Klaviatur der Töne sehr genau beherrscht – aber er hat die Menschen nicht getrennt in wichtig und unwichtig. Wenn sein Nachbar, ein braver Fotograf, seine Kunst nicht verstanden hat, dann hat er sie ihm erklärt, ernsthaft und genau. Er ist allen auf gleicher Augenhöhe begegnet, weder für Millionäre noch für Kinder hat er sich groß- oder kleingemacht. Deswegen haben Kinder ihn so geliebt und manchmal gefürchtet; seinen Humor haben sie oft besser begriffen als Kritiker und Kuratoren, haben sich von seinen Sprüchen und Provokationen nicht gleich beleidigt gefühlt. Das, meint sein Freund Meuser, »war doch seine Art, Hallo zu sagen, wer bist du denn?«.

»Vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust zu fabulieren«, hat er unsere Mutter und Goethe gerne zitiert. Auch die Großzügigkeit, das soziale Gewissen, die Lust an der Begegnung mit anderen, egal, woher sie kamen, hatte er von ihr – das Talent, im anderen das Besondere zu sehen, egal, in welcher Erscheinung. Vom Vater hatte er – den »Vaterkomplex«, wie er in einer Widmung schrieb, das künstlerische Talent, das Exzessive, Hemmungslose nicht nur in der künstlerischen Produktion, die Lust am Genuss, an der Selbstdarstellung und Inszenierung. »Zwangsbeglücker«, eine Wortschöpfung von Thomas Wachweger, waren sie beide.

Er war ein Süchtiger. Süchtig nach Drogen zuerst, später nach Alkohol, süchtig nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, nach Liebe, Fernsehen und Nudelauflauf. Ein Sehnsüchtiger. Den Nudelauflauf unserer Mutter hat Martin sich von vielen Müttern kochen lassen. Und natürlich auch in Kunst verwandelt. »Kippenberger in Nudelauflauf sehr gerne« hieß eine seiner ersten Ausstellungen, in Berlin. »Sucht«, erklärte er Jutta Koether im Interview, »das heißt nichts anderes als suchen. Ich lehne alles ab und suche was Anständiges.«

»Dieser Mann sucht eine Frau« stand auf dem visitenkartengroßen Aufkleber mit seinem Foto und seiner Adresse, den er in den siebziger Jahren in ganz Berlin verteilte. Es war mehr als ein guter Witz, hinter jeder Ironie stand ja ein großer Ernst. »Heimweh Highway 90«, so hat er einen Katalog genannt, auf dessen Titel ein Bild von ihm mit unserem Vater zu sehen ist, dicht zusammengedrängt in der Kabine eines Passbildautomaten. Das Heimweh und das Fernweh, die Sehnsucht nach einem Zuhause und das Weglaufen davor, um frei zu sein von allen Bindungen, Verpflichtungen, Festlegungen; der Wunsch nach Ruhe und zugleich die hemmungslose Neugier, die Angst auch vor der Langeweile; das Dilemma, anerkannt sein zu wollen, dazuzugehören, sich aber nicht vereinnahmen zu lassen. Das war sein lebenslanger Kampf.

Glitzernde Rosen, Kätzchen, Vergissmeinnicht klebten mir die Mädchen in den sechziger Jahren ins Poesiealbum und schrieben pädagogische Verslein dazu: »Sei wie das Veilchen im Grase: bescheiden, sittsam und rein; und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.« Mein Bruder zeichnete eine Karikatur, links Kiesinger (»groß«), in der Mitte de Gaulle (»größer«) und rechts, ganz oben, auf dem Siegertreppchen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, ein Strahlemann mit Segelohren und Meckifrisur, unverkennbar: Martin. Sein Vers dazu: »Die Liebe ist ein EVAG Omnibus/Auf den man lange warten muß/Und kommt er dann angehetzt, dann schreit der Schaffner ›schon besetzt!‹ Dein (in einem Herzen eingefügt:) großer Bruder Martin.«

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Selbstportrait im Poesiealbum, 1966.

Der ganze große Martin steckt in meinem Poesiealbum: der Witz, der Spott, die (Selbst-)Ironie. Das Spiel mit der Pose, der Ehrgeiz, die Angeberei, die Respektlosigkeit gegenüber der Macht. Das Verbinden des Banalen und des Erhabenen, die Kippenbergerisierung eines existierenden Spruches durch die persönliche Note (die EVAG war die Essener Verkehrs AG). Die Sehnsucht nach Liebe und die Angst: von ihr ausgeschlossen, allein zu bleiben. Das zeichnerische Talent, die Zärtlichkeit und der Stolz: der große Bruder zu sein.

KINDHEIT UND ELTERN

»Es war eine Flucht.«

Die Antwort kommt schneller, als ich überhaupt fragen kann: Wie das war, als er zu ihnen kam, ein kleiner Junge, gerade neun Jahre alt, der aus dem tiefen Ruhrgebiet in den noch tieferen Bayerischen Wald zog, zum ersten Mal so lang von zu Hause weg, allein zu wildfremden Leuten.

»Er konnte es nicht abwarten«, sagt sie.

Er kam nicht, er ging.

Unsere Eltern und Wiltrud Roser kannten sich kaum. Erst ein halbes Jahr vorher hatte unsere Mutter der Künstlerin einen Brief geschrieben, den ersten von vielen von Essen nach Cham. »Liebe Wiltrud!«, redete sie die Fremde an, von der sie nicht mehr wusste, als dass sie schöne Kinderbücher malte, nicht mehr kannte als ihren »Waldemar«, einen Bilderbuchhund. »Ich schreibe einfach Wiltrud, weil das in jedem Fall stimmt, denn ich weiß nicht, ob Sie Frau oder Frl. Roser heißen. Und nachher sind Sie noch beleidigt (wenn ich das auch nicht glaube), wenn ich das Verkehrte schreibe.« Und das wollte unsere Mutter auf keinen Fall, sie wollte ja was von dieser fremden Frau: ein Bild. Ein Familienportrait, genauso eins wie das in »Waldemar«, damit wollte sie unseren Vater zu Weihnachten überraschen. Es könnte gut sein, dass er mit derselben Idee zu ihr käme, »das passiert uns öfter, dass wir dieselben Überraschungen im Sinn haben«. Dann müsse sie ihm eben absagen.

Statt eines Fotos als Vorlage schickte sie kurze Beschreibungen:

»Pappa – breit u. behäbig

Mutti – ohne besondere Merkmale wie alle Mütter

Barbara gen. Babs – 11 Jahre, dünn, Ponni, rötl. blondes kurzes Haar, Sommersprossen u. einem sehr kritischen Blick

Bettina: 10 Jahre, kräftig, lange dunkelblonde Zöpfe, mütterlich, Kopf meist schief haltend

Martin gen. Kerl: 8 Jahre, Stiftekopf u. viele, viele Sommersprossen

Bine (Sabine): 6 Jahre, klein u. untersetzt, Kastenkopf wie Pappa, hellblonde Zöpfe u. eine Steckdose mitten im Gesicht

Sannilein (Susanne) 4 Jahre, dunkelblonde Zöpfe, pfiffig.

Machen Sie mit? Das wäre prima. Wir sind eine so verrückte und lustige Familie, dass wir für Sie sicher einen Haufen Stoff für weitere Bilderbücher abgäben.«

Sie hätte schon viele Münchener Künstler auf ähnliche Weise kennen gelernt und sich mit ihnen angefreundet, schrieb unsere Mutter. »Ich glaube, auch Sie würden zu uns passen.« Und ob sie nicht auch mal Gelegenheit hätte, nach Essen zu kommen.

Wiltrud Roser malte, das Bild gibt es noch, und sie kam zu einem Künstlerfest bei uns zu Hause. Am nächsten Morgen saßen die beiden Frauen am Frühstückstisch, schmiedeten Pläne, was Wiltrud in der großen Stadt alles unternehmen könnte, Theater, Museen … Und dann sagte unsere Mutter, sie wisse nicht mehr, was sie machen solle, Martin würde nicht mehr zur Schule gehen, er weigere sich. Und krank sei er auch. »Wahnsinnig blass«, so hat Wiltrud Roser ihn in Erinnerung. Er hatte das, was unsere Mutter die Proletarierkrankheit nannte, die Ruhrgebietsanämie – das blutleere Bleichgesicht. »Der Himmel überm Ruhrgebiet war ja gelb«; damals rauchten in Essen die Schornsteine noch, war die frisch gewaschene Wäsche nach ein paar Stunden schwarz, wenn man sie zum Trocknen auf die Leine hängte. In Bayern war der Himmel blau.

Na, dann nehm ich ihn zu mir mit, hat Wiltrud Roser gesagt, sie habe doch auch einen Bub, ein Jahr jünger nur, den Sebastian, und das Schuljahr war sowieso bald zu Ende.

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Unsere Familie, gezeichnet von Wiltrud Roser.

Martin, hast du Lust, mit mir mitzukommen, fragte sie ihn, als er in die Küche kam.

Wann fahren wir, erwiderte er.

Das war’s. Kein Theater mehr, kein Museum, kein Einkaufsbummel in der großen Stadt. Martin war entschlossen, ließ Wiltrud keine Ruhe mehr. Sie reisten am nächsten Tag, fast ans Ende der deutschen Welt, kurz vor der tschechischen Grenze. Ein Städtchen, in das Lehrer und Schüler häufig strafversetzt wurden – auch Achternbusch, erzählt Wiltrud Roser, wurde hierhergeschickt.

Martin tat, was er auch später tat: Er ließ arbeiten, heuerte Sebastian für seine Schularbeiten an. Bald wurde es auch bei ihm besser mit dem Rechnen und dem Schreiben, wenn auch nur vorübergehend. Die Schule blieb eine Qual, für ihn und alle, die mit ihm zu tun hatten.

Die Adresse konnte nicht schöner sein: Frühlingstraße 1. Er fühlte sich wohl in dem alten verwinkelten Haus, das direkt am Regen-Fluss lag, dahinter die Holzfabrik, ein riesiger Abenteuerspielplatz. Ein Haus wie unseres, heiztechnisch kalt, ansonsten sehr warm. Ein Haus voller Bilder und Bücher, überall standen Figuren herum, auch auf dem Klo. Der Vater, Albrecht, nur aus der Ferne anwesend, arbeitete als Puppenspieler in Stuttgart, die Tante war Malerin am Chiemsee, Wiltrud arbeitete an ihren Bilderbüchern; dann kümmerte die Großmutter sich um die Kinder.

Oft saßen die Jungen mit Wiltrud im Atelier, jeder mit seinem Bild beschäftigt. Einmal räumte Martin »mit einer fabelhaften Geste« alles vom Tisch, was vor ihm lag.

Ja, Martin, was machst du denn da?!

Platz.

Da, fand sie, hatte er Recht. Ungezogen hätten andere das genannt. Sie nennt es großzügig. »Er war nie böse. Nur großzügig.«

Auch Modell gesessen hat er ihr, und als das Buch kam mit den Zeichnungen, zeigte er es, so unsere Mutter, »jedem, der es sehen oder auch nicht sehen wollte«.

»Furchtbar pflegeleicht« sei Martin gewesen, ein Lieber. Wiltrud, eine kleine Frau mit kurzem Haar, lustig und frech und immer geradeheraus, war wohl die richtige Frau für ihn. Eine, die sich noch heute, mit achtzig, amüsieren kann über »den Knallkitsch« in der katholischen Kirche in Cham. Dabei lebt sie hier schon ein Leben lang im Haus ihrer Eltern, am Ende der kleinen Stadt, mit deren Bewohnern sie wenig verbindet. Hier lebt sie halt.

Heimweh, erzählt sie, habe er keins gehabt, »gar nix«. Aber er habe die ganze Zeit Geschenke für die Schwestern gemacht. Sechs Wochen hat Martin bei ihnen gewohnt, ihr kam es wie Monate vor. Am Ende ging er genauso gern nach Essen zurück, wie er weggegangen war.

Euphorisch klingt der Dankesbrief, den unsere Mutter Wiltrud Roser schickte. Martin unterhielt die Familie mit seinen Geschichten, auch denen vom Vikar Bär und seinem Rohrstock, bis wir Tränen lachten. »Gleich am ersten Morgen tanzte er im langen Nachtgewande die Polka rechtsrum und linksrum, es sah zum Schreien aus. Tanzen kann er ja und malen!« Er malte, was er in Bayern erlebt hatte, Sebastian zum Beispiel, »wie man ihn ähnlicher nicht malen könnte«, und den Vikar Bär, »der furchterregend aussieht«. »Der Aufenthalt bei Euch hat ihm körperlich, geistig und seelisch so gut getan, dass ich Euch allen in Cham nicht genug danken kann.«

Die Euphorie über den schulischen Fortschritt hält nicht lange an. Nach den Ferien geht er in Essen-Frillendorf wieder in die dritte Klasse zurück, ein Sitzenbleiber, der erst eine gute, dann eine böse Lehrerin bekommt. Alles ist wieder beim Alten, bald wird er ins Internat in den Schwarzwald geschickt, von da aus ins nächste Internat …

Die Rosers waren seine erste Zweitfamilie, mit der er weiter Kontakt halten wird, Cham war der Anfang: der Anfang eines Lebens fern von zu Hause.

Eine Flucht? Vielleicht. Aber wenn, ist es eine Flucht nach vorn gewesen. »Heimweh Highway« eben.

»Bitte nicht nach Hause schicken« heißt eins seiner eindringlichsten Selbstportraits, auf dem Martin guckt wie ein Flüchtlingskind, das kein Zuhause mehr hat und um Aufnahme fleht, für das es kein Zurück mehr gibt. Nach Hause geschickt zu werden hieße zurückzugehen. Er aber wollte weiterkommen, was erreichen, immer wieder neues Terrain erobern.

Und doch, meint Michel Würthle, sein Freund, gab es einen Ort unter den vielen seines Lebens, an den er immer wieder gern zurückkehrte. »Die Kindheit. Das Haus der Kindheit. Pappa, Mutti.«

 

UNSERE ELTERN

»Man hat sich selber ja nicht erfunden«, hat Martin einmal gesagt. Welchen Anteil das Elternhaus an seinem Ich habe, wollte Diedrich Diederichsen wissen. »Massiv, massiv, massiv. Muss ich zugeben, das ist massiv.« Vater und Mutter? »Jaja, beide. Beide Extreme.«

 

Schreibend haben sie sich ineinander verliebt. Briefe schreibend.

Eigentlich kannten sie sich da lange schon, in der Tanzstunde waren sie zusammen gewesen, ohne wirklich voneinander Notiz zu nehmen, auch die Eltern verkehrten in denselben Duisburger Kreisen.

Lange bevor er selber Briefe von ihr bekam, hatte er ihre gelesen: Im Krieg war das, in Ungarn, da zeigte ihm der Regimentsarzt immer, was sie ihm schrieb. Dieser andere, Wiechmann, wusste nicht, was er von dieser nüchternen Korrespondenz halten sollte, warum er bei ihr nicht weiterkam. Die junge Dame entflammte nicht. Und die guten Ratschläge, die unser Vater ihm gab, halfen auch nicht weiter.

Später, als der Krieg zu Ende war, lud unser Großvater sie zum Abendessen ein – vielleicht nicht ohne Hintergedanken, sie war eine gute Partie, das wusste er als Direktor der Deutschen Bank. Nach einem Spaziergang durch den Wald brachte unser Vater sie zur Straßenbahn, »in Erinnerung blieb mir nur der seltsame Gang, mit dem sie davontrottete«. Rührend unbeholfen fand er ihn. Das war’s. Bis er ihr höflichkeitshalber zur Promotion gratulierte und sie sich bedankte und »aus der gegenseitigen Dankeshusterei eine Korrespondenz« wurde.

Leise warf er ihr darin vor, ob sie nicht zu kalt zu dem anderen, zu Wiechmann, gewesen sei. Unsere Mutter empörte sich: Nur aus Mitleid habe sie ihm überhaupt an die Front geschrieben! Aber damit war es nun vorbei. Dieser Wiechmann, in seiner Männerehre verletzt, hatte sie beleidigt, sie als »geschlechtsloses Arbeitstier« beschimpft – sie, Dr. med. Lore Leverkus, die junge Ärztin, die gerade ihre erste Stelle angetreten hatte: in der Klinik von Göttingen, ohne Gehalt, die bezahlten Posten waren den Männern vorbehalten, die nun aus dem Krieg zurückkehrten. »Auf derartige Briefe pflege ich nicht zu antworten.«

Und während die beiden erörterten, was das denn sei, die Liebe, und was die Kunst, während sie ihm von Beethoven-Konzerten erzählte, live und im Radio, und er ihr von Bildern, die er malte, und Seminaren, die er besuchte, verliebten sie sich. Vielleicht auch in die eigenen Worte. »Zwei- bis dreimal in der Woche ein zehnseitiger Brief«, meinte unser Vater hinterher, »das hält der Stärkste nicht mehr aus.« Zu seinem 26. Geburtstag am 1. März 1947 schenkte sie ihm ihrer beider Briefe, abgetippt, gebunden und illustriert mit den kleinen Bildern, mit denen er seine Worte zu untermalen pflegte: »Du für mich und ich für Dich«, schrieb sie als Widmung hinein. Daneben klebt das Exlibris, das er für sie beide gezeichnet hat. Ein Mensch sitzt im Sessel und liest, »Lore« steht auf der einen Seite der Zeitung, »Gerd« auf der anderen.

Männlein und Mäuschen, so nennen sie sich. Sie, gut versorgt mit Gaben der venezolanischen Verwandtschaft, schickt ihm Carepakete mit Haferflocken und Speck, Fachbüchern, Farbbändern, Pinseln und Rilke-Gedichten. Er, Bergbaustudent in Aachen, sendet ihr Strümpfe und Arbeit – Berichte zum Abtippen, die sie dann ans Oberbergamt senden soll –, Zeichnungen und Aquarelle, die sie an die Wand ihres Zimmers heftet: Landschaften und Selbstportraits. Wenn er erst mal malt, »voll Eifer und voll Glut«, vergisst er alles um sich herum, auch den Ofen, den er warm halten soll, während sie für ihn kocht und Wäsche wäscht. Wenn er malt, liest sie ihm manchmal vor. Kunst: Das, wird er später sagen, war es, was er eigentlich studieren, eigentlich machen wollte. Wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre.

Als sie eine Stelle im Odenwald angeboten bekommt, sagt sie ab. »Da hat man nicht die geringste geistige Anregung und verblödet völlig.« Dafür geht sie zu gern ins Konzert, ins Theater, Shakespeare guckt sie sich in einer Klosterruine an – die ihr schöner, dramatischer erscheint als das intakte Gebäude –, sie liest mit Begeisterung, was man in dieser Zeit so liest, Manfred Hausmann und Frank Thiess, und freut sich, ihm als »Sachverständigem« ihre Eindrücke von der Kunstausstellung in Wiesbaden mitzuteilen. Sie ist begeistert und empört, die alten Meister – Dürer, Grünewald, Hieronymus Bosch – bewundert sie, auf die Zeitgenossen schimpft sie nur: »Ich, Ich, Ich spricht aus allen ihren Werken.« Ein halbes Jahr später revidiert sie ihr Urteil, glaubt auch in der modernen Malerei Genialität zu erkennen, will sie »nicht mehr als Farbkleckserei bezeichnen«.

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Das Hochzeitspaar: »Portrait der Eltern aus der Ferne (Hinterzarten)«, MK, 1962.

In einem der frühen Briefe hatte er ihr erklärt, die Ehe mache ihm mehr Angst als der Krieg. Am 2. August 1948 heiraten sie, der Bankdirektorssohn und die Fabrikdirektorstochter: Gerd, Sohn von Gertie, geborene Oechelhäuser, und Hans Kippenberger, und Dr. med. Eleonore Augusta Elena, genannt Lorchen, Tochter von Otto und Stieftochter seiner neuen, dritten Frau, Dr. med. Lore Leverkus. »Eine wirklich friedensmäßige Hochzeit« – und das kurz nach der Währungsreform, dank diverser Tauschgeschäfte (Kohle gegen Wein), Carepaketen, Fleischkonserven aus der Schwarzschlachtung und den Lebensmittelmarken aller Gäste. Ein großes Verlobungsfest hatte es nicht gegeben, nur mehrere kleine, jetzt wird rauschend und drei Tage lang Hochzeit gefeiert. Am ersten Tag ist Polterabend, mit Zug durchs Dorf und Bergmannsliedern bis zum nächsten Morgen um neun, am zweiten Tag steht »Ausschlafen!« auf dem schriftlichen Programm, und am dritten wird geheiratet, erst auf dem Standesamt, dann in der Kirche. Nach dem Mittagessen wird »Atemholen« angeordnet, dann Kaffeetrinken und schließlich Tanz.

Die Hochzeitszeitung hat der Bräutigam selbst illustriert, auch die Gedichte darin stammen zum größten Teil aus seiner Feder. Wie so viele andere Familienereignisse wird er auch diesen feierlichen Tag festhalten: »Schwiegermutter Lore begrüßte die Gäste im Unterrock an der Haustür. Schwiegervater Abba stand ungeniert mit langen Unterhosen im Schlafzimmer, während Mäuschen den Kranz gesteckt bekam. Zwischendurch pendelten Cousinchen aller Art durch das Haus, wurden bewirtet oder zur Arbeit herangezogen. Der Küster wollte uns nicht reinlassen, bevor wir nicht das Traugeld bezahlt hatten.«

Die Hochzeitsreise geht ins Bergische Land: Wandern. Er steckt ihr Steine, die ihm geologisch interessant erscheinen, in den Rucksack, sie lässt sie heimlich wieder fallen. Kaum sind sie zu Hause – mit dem Schiff bis nach Düsseldorf und von da aus mit der Straßenbahn –, fährt er weg: mit Kommilitonen für vier Wochen nach England. Sie arbeitet derweil beim Landarzt bei Aachen und ernährt ihren studierenden Ehemann.

 

PAPPA