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VORWORT

Wozu dieses Buch?

»Ja, renn nur nach dem Glück,

doch renne nicht zu sehr!

Alle rennen nach dem Glück,

das Glück rennt hinterher.«

Bertolt Brecht

Von der Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt auf dem Hohen Peißenberg genießt man einen weiten Blick über das Alpenvorland. So weit das Auge reicht, nichts als Wald, Wiesen, Äcker und in der Ferne eine Ahnung mächtiger Berge. Dort oben stand ich eines Nachmittags und betrachtete das Postkartenidyll, als mir die Idee zu diesem Buch kam.

In einem Seminarhaus wenige Kilometer entfernt hatte ich zuvor zwei Tage lang meine Seelenlandschaft erkundet. Ich hatte mit Buntstiften die in verschiedenen Phasen meines Lebens vorherrschenden Stimmungen auf Papier gebannt. Ich hatte einschneidende Erlebnisse Revue passieren lassen und versucht, mir darüber klar zu werden, wie und warum ich der geworden war, der ich bin. In einer zur Auflockerung eingestreuten Zweierübung sah ich meine Tischnachbarin Jutta* [* Alle Namen in den Fallbeispielen sind verändert.] eine Weile lang stumm an und sprach anschließend darüber, was das mit mir gemacht hatte. Jutta ihrerseits brauchte nur Sekunden, um mich zu durchschauen. Wer so offen auf andere zugehe wie ich, werde schnell enttäuscht, erklärte sie. Solche Verletzungen kenne sie nur zu gut. Deshalb habe sie sich auf Seminaren wie diesem einen »Ego-Panzer« zugelegt.

Der Zweck der Übung bestand offenbar darin, den anderen zur Selbstreflexion anzuregen. Also bemühte ich mich, meinen spontanen ersten Eindruck von Jutta möglichst unverfälscht wiederzugeben. Doch wenn ich ehrlich bin, war das wache Interesse, das ich ihr bescheinigte, vielleicht doch eher Unruhe.

Egal, was gerade Thema war, Jutta erzählte spätestens nach jedem zweiten Satz nur noch von sich. Sie verkündete munter, wie inspirierend das neue Buch von Paolo Coelho war, wie sehr die gemeinsame Biografiearbeit ihre verschiedenen Persönlichkeitsanteile miteinander in Einklang brachte und wie bereichernd sie es fand, anderen zu einem tieferen Bewusstsein ihrer eigenen inneren Mitte zu verhelfen. Das sei auch dringend nötig, um in der heutigen Zeit mit ihrer maßlosen Hast und Oberflächlichkeit an der Psyche heil zu bleiben.

Danke, Jutta! Ohne dich wäre dieses Buch vielleicht nie entstanden. Denn du hast mich auf einen Gedanken gebracht, der zum roten Faden der nachfolgenden Kapitel wurde: Der Tanz ums goldene Ich macht uns weder weiser noch glücklicher. Sondern nur schwindelig. Sich ständig mit sich selbst zu beschäftigen, wie es so viele von uns tun, verstellt den Blick aufs Wesentliche und schadet unter Umständen mehr, als es nutzt.

Der Grund dafür liegt in einem paradoxen Effekt der Selbstbespiegelung. Wer allzu verbissen nach dem Ich sucht, entfernt sich immer weiter davon; und wer permanent an seinem Seelenwohl arbeitet, produziert damit immer neue Bedenken und Nöte. Und stürzt so erst recht in die Krise, aus der er sich eigentlich retten will.

Bedenken? Nöte? Für Jutta ein gefundenes Fressen! Sie hing der Seminarleiterin an den Lippen, die über die Bedrohungen unseres Seelenheils dozierte. Jede Selbstoffenbarung eines Teilnehmers (»Ich kann nicht Nein sagen, weil ich als Kind zu wenig Anerkennung bekam«) entlockte Jutta gut gemeinte Ratschläge wie »Lass deine Gefühle ein Stück weit zu« oder empathische Ich-Botschaften: »Ich spüre da eine Sehnsucht in dir.«

Am Ende des Seminars, beim Abschied nach der Schlussentspannung, drückte sie fest meine Hand, sah mir in die Augen und sagte: »Zu sich selbst zu finden ist ein steiniger Weg. Ich wünsche dir viel Kraft!« In diesem Moment ahnte ich, wie ernst es ihr damit war. Und dass sie das, wonach sie suchte, womöglich nie finden würde.

Jutta ist nicht allein. Viele Menschen treibt heute der Wunsch, sich selbst zu finden. Wer bin ich? Was will ich? Was soll ich tun? Das sind die großen Fragen unseres Lebens. Wir wollen unsere wahren Bedürfnisse erkennen und mehr bei uns sein, statt es immer nur den anderen recht zu machen. Wir versuchen – oft mithilfe von Kursen und Coachings oder durch Lektüre einschlägiger Ratgeber – uns selbst zu verwirklichen, Konflikte zu klären und unser Leben besser in den Griff zu bekommen. »Endlich diese schlechte Angewohnheit ablegen!« »Sich nie mehr über sich selbst ärgern!« »Einfach intuitiv richtig entscheiden!« Das klingt verlockend.

Aber mal ehrlich, wie viele Menschen kennen Sie, die solchen Ansprüchen gerecht werden? Ich keinen. Stattdessen fallen mir eine Menge Leute ein (ich selbst eingeschlossen), die im Labyrinth der wohlfeilen Erklärungen und Psychotipps umherirren. Dass wir Ist und Soll nie so recht zusammenbringen, liegt nicht etwa daran, dass wir uns zu wenig bemühten – im Gegenteil: Vor lauter Ehrgeiz, den ultimativ richtigen Glückspfad einzuschlagen, machen wir uns selbst verrückt.

Mit dem Appell zur Ichbeschau fördert eine boomende Psychoindustrie die Nachfrage nach ihren Diensten. Tausende von Helfern, Heilern und Seelengurus spenden Rat in allen Lebenslagen. Die Coaching- und Therapieszene verzeichnet stetige Zuwächse, seit Selbstoptimierung zur Devise für jedermann wurde. Besser entspannen, besser denken, besser drauf sein – vermeintlich alles kein Problem. Doch gleichzeitig wächst die Zahl derer, die sich überfordert und unzufrieden fühlen. Wie kommt das? Woran scheitert das Versprechen vom psychologisch fundierten Selbstmanagement? Und warum fallen wir trotzdem immer wieder darauf herein?

Je mehr Traditionen und Vorbilder uns abhandenkommen, desto mehr dürsten wir nach neuen Sinnangeboten. Die Seelenkunde scheint hierfür wie geschaffen, denn sie verbindet Lebensnähe mit wissenschaftlicher Exaktheit. »Die Lücke zwischen der Freiheit des Individuums und der Sorge für die besten Entfaltungsmöglichkeiten des freien Individuums stopft die Psychologie«, konstatierte vor Jahren die Journalistin Miriam Gebhardt.1 Seither ist der Bedarfan Lebenshilfe noch rasant gestiegen.

Doch statt uns Sicherheit zu geben, fördert die Ratgeberindustrie nur die allgemeine Verwirrung. Ihre Glücksrezepte sind der Dünger, der unsere Ansprüche in den Himmel wachsen lässt. Der Traumjob, die große Liebe, Harmonie mit sich selbst – mit den richtigen Psychotricks rücke das endlich in greifbare Nähe. Zustände des Unbehagens oder Missmuts dagegen sind zum No-go geworden.

Wir leben in einer Maximierungskultur, deren größter Feind das Risiko ist. Gefährdet ist längst nicht nur, wer ohne Helm Rad fährt oder den jährlichen Vorsorge-Checkup versäumt. Auch auf seelischem Gebiet wähnen wir uns laufend bedroht von Traumata, Ängsten und Schwermut – durch verständnislose Eltern, fiese Chefs, mobbende Kollegen, unsensible Partner, ewig fordernde Kinder.

Bin ich noch normal? Diese Frage stellen sich heute bereits Grundschüler, deren überschäumendes Temperament man zur Aufmerksamkeitsdefizitstörung erklärt. Junge Erwachsene schlittern, kaum dass sie auf eigenen Beinen stehen, in die Quarterlife-Krise. Und Millionen Arbeitnehmer fühlen sich als Burnout-Opfer.

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Natürlich gibt es gravierende psychische Störungen, die großes Leid verursachen. Wer an einer Depression, an Angstzuständen, Sucht, Zwang oder anderen Seelenleiden erkrankt, sollte bestmögliche Hilfe erhalten – keine Frage! Doch wir pathologisieren immer öfter auch Befinden, das zum Leben dazugehört. Die Angst vor einer Prüfung, beruflicher Stress, Durchhänger, Liebeskummer, familiärer Zwist, unerfüllte Sehnsüchte, ja negative Gefühle jeglicher Art erscheinen nicht länger hinnehmbar. Indem wir Dinge, die beinah unvermeidlich sind, als inakzeptable Notlagen betrachten, gerät unser Alltag zum Minenfeld. Und schon schlägt die Stunde der Psychoexperten.

Ihre Branche ist ein bunt gemischter Haufen. Motivationstrainer mit einstudierten Phrasen tummeln sich hier ebenso wie Esoteriker, die uns auf höhere Bewusstseinsstufen bugsieren wollen. Gut organisierte Zirkel wie die Freunde des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) oder der Familienaufstellung finden sich neben Selfmade-Heilern, die auf ihren ganz eigenen Ansatz der »sanften Energiearbeit« schwören. Berater, Coachs und Therapeuten jeglicher Couleur weisen den Weg zur inneren Harmonie. Ob Achtsamkeit, Handauflegen oder Übungen im positiven Denken – viele Anbieter kombinieren Halb- oder Ganzseidenes mit durchaus anerkannten Behandlungstechniken. Wellness, Esoterik und Lebenshilfe gehen fließend ineinander über. Die einen wollen unser Körperempfinden schärfen, die anderen zu spiritueller Erleuchtung verhelfen, die Nächsten doktern an unbewussten Gefühlsmustern herum. Doch fast allen Psychomethoden ist zweierlei gemeinsam: erstens das Ziel, tief greifende Veränderungen im Leben der Kunden zu bewirken, und zweitens der Weg dorthin. Denn der führt nahezu unausweichlich über mehr Sensibilität, mehr Bewusstsein, mehr In-sich-Hineinhorchen! Von dem Irrtum, das zum Allheilmittel zu erheben, handelt dieses Buch.

Erkunden Sie mit mir die wundersame Welt des Psychokults. Finden Sie heraus, wie hilfsbedürftig Sie wirklich sind und warum die Suche nach der inneren Balance so schnell in die Grübelfalle führt. Ergründen Sie Ihr Innerstes und erfahren Sie, warum »es« in Ihnen denkt. Lernen Sie, warum wissenschaftlich bewiesen nicht unbedingt wahr bedeutet, lassen Sie sich den Psychojargon auf der Zunge zergehen und staunen Sie über die Mythen der Seelenkunde. Vor allem aber: Lassen Sie mal locker – denn selbstvergessen lebt sich’s leichter!

Permanent das Ich im Blick zu haben und das eigene Befinden an den Slogans der Psychobranche zu messen, lässt uns die täglichen Probleme besonders schmerzlich empfinden. Der Schuh drückt eben umso mehr, je stärker man sich darauf konzentriert; und so fördert intensive Innenschau mitunter gerade jene Nöte, die wir durch sie zu lindern hoffen. Der Mythos der Machbarkeit verleitet uns dazu, persönliches Lebensglück nur für eine Frage der Disziplin und des Know-hows zu halten. Klappt es damit nicht, sind wir selbst schuld.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle? Sollen wir etwa in seliger Ignoranz durchs Leben stolpern? Uns ein möglichst dickes Fell zulegen und bloß nicht mehr über uns nachdenken? Vergessen Sie’s! Sich die Selbstbeschäftigung ausreden zu wollen funktioniert ungefähr so gut, wie vorsätzlich spontan zu sein.2 Trotzdem: Wir können sie wenigstens ab und zu austricksen! »Man sollte sich nicht andauernd mit seiner Psyche befassen. Dafür ist sie nicht gebaut«, erklärt der Kölner Psychiater Manfred Lütz.3 Ein erster Schritt in diese Richtung ist es, sich von der Idee zu verabschieden, man könnte durch exakte Analyse und Selbstkontrolle alles in den Griff bekommen. Richten Sie sich stattdessen lieber »denkfreie Zonen« in Ihrem Alltag ein. Es gilt, die hohe Kunst der Selbstvergessenheit, die uns der Psychokult fast ausgetrieben hat, neu zu entdecken – denn wer vom Tiefschürfen eine Pause macht, kommt dem Glück näher, als (wenn) er denkt.

Dieses Buch hat drei Teile. Im ersten geht es um die Gesellschaft, in der wir leben, um die Inflation der Seelennöte und um die Frage, warum wir so ein Problem damit haben, Probleme zu haben. Der zweite Teil handelt von der Psychologie als Wissenschaft und erklärt, warum sie so anfällig für Legenden ist. Der dritte Teil schließlich schildert die Folgen des Psychokults im Alltag – etwa bei der Partnerwahl und der Kindererziehung – und zeigt, wie wir es schaffen, uns nicht dauernd selbst verrückt zu machen.

»Höre nicht auf die Ratgeber!« – Das klingt verdächtig nach jenem Kreter, der sagt, alle Kreter lügen. Zugegeben. Aber es wird Zeit, dass wir die Kirche im Dorf lassen: Psychologie taugt nicht als Ersatzreligion.

Teil I

SEELENHEIL

1

MODERNE SCHAMANEN

Vom Boom der Psychoindustrie

»Ten thousand spoons when all

you need is a knife – isn’t it ironic?«

Alanis Morissette

Es ist halb vier Uhr morgens, und ich bin hellwach. Neben mir im Bett schläft tief und fest meine Frau. Ihre Schulter ist ein heller Fleck, darüber lugt ein Knäuel Haare zwischen den Kissen hervor. Mit jedem ihrer Atemzüge hebt und senkt sich leicht die Decke, und je länger ich darauf starre, desto mehr kommt es mir so vor, als würde sich das ganze Bett bewegen. Alles beginnt zu schwanken, zuerst sanft, dann immer stärker. In unserer weich gepolsterten Nussschale schaukeln wir gemeinsam durch die Nacht. Als ich genug davon habe, schließe ich die Augen – und das Wogen ebbt ab.

Kennen Sie das Gefühl, wenn einem die alltäglichsten Dinge auf einmal fremd erscheinen, nachdem man sie lange und intensiv betrachtet hat? Legen Sie zum Beispiel eine Hand (sagen wir Ihre linke, dann können Sie mit der rechten weiter das Buch halten) ausgestreckt vor sich hin. Und jetzt sehen Sie sich diese Hand einmal ganz genau an. Verfolgen Sie die Sehnen und Adern auf Ihrem Handrücken, inspizieren Sie das Muster der Hautfalten, die Knöchel und feinen Härchen. Betrachten Sie die Ausstülpungen Ihrer Finger, die aus dem Handballen wachsen und von harten Plättchen gekrönt werden. Wenn Sie dieses Spiel eine Weile treiben, geschieht irgendwann etwas Verblüffendes: Plötzlich erscheint Ihnen Ihre Hand als das sonderbarste Ding auf der Welt. Gehört dieses knochige Etwas wirklich zu mir? Wenn Sie sich das fragen, haben Sie sich erfolgreich von Ihrem eigenen Körper entfremdet. Ein eigenartiges, auch etwas gruseliges Gefühl.

Genauso geht es uns heute mit dem Ich. Wir starren es wie hypnotisiert an, drehen und wenden es nach allen Seiten, bis es zu einem rätselhaften Fremdling mutiert. Die Geschichte dieser Selbstentfremdung begann mit der Idee, tief in unserem Inneren gebe es ein »wahres Ich«, das unter den Masken des Alltags verborgen liege. Statt sich zu verstellen oder Traumbildern nachzujagen, tue man besser daran, sich selbst zu erkennen und möglichst authentisch zu sein. Denn nur so könne man wirklich glücklich werden.

Also horchen wir in uns hinein und ergründen die aktuelle Seelenlage. Geht es mir gut? Wie kann ich mich verwirklichen? Was steht mir im Weg? Wir hinterfragen Gefühle, Urteile und Einstellungen. Verliere ich zu leicht die Beherrschung? Warum kann ich so schlecht Nein sagen? Bin ich perfektionistisch? Und wir feilen an unseren Stärken und Schwächen. Welche Potenziale stecken in mir? Und was will ich im Leben überhaupt erreichen?

Hier kommt der zweite Grund für die große Selbstentfremdung ins Spiel: Wir glauben, ständig an uns arbeiten zu müssen. Aufmerksame Seelenpflege scheint nötig, um den Anforderungen des Alltags gewachsen zu sein, um Stress abzubauen, die tägliche Informationsflut zu bewältigen und stets das Beste aus den sich bietenden Gelegenheiten zu machen.

So folgt auf Selbsterkenntnis die Selbstverbesserung. »Nutze deine Talente!« »Sende die richtigen Signale!« »Beherrsche dich selbst!« Dieser Optimierungsdruck hat allerdings eine bittere Kehrseite: die Angst vor dem Versagen. Sie führt dazu, dass wir nichts dem Zufall überlassen wollen und am liebsten jede Unwägbarkeit aus unserem Alltag verbannen würden. Schier alles bedarf eines durchdachten Konzepts und der Planung. Fleischesser oder Vegetarier? Pauschalurlaub oder Individualreise? Beamtenlaufbahn oder Karriere? Etwas ausprobieren und dann mal weiterschauen – das war gestern.

Es spricht natürlich gar nichts dagegen, dass wir das Richtige tun wollen und uns ein besseres Leben wünschen. Nur setzen wir dabei allzu schnell auf mundgerecht servierte Glücksrezepte. Sie werden von der Ratgeberindustrie am Fließband produziert.

Seelenmassage im Blätterwald

Ein Anzugträger im Liegestuhl am Strand, die Hände lässig hinter dem Kopf verschränkt. »Anleitung für ein besseres Leben« steht auf der Titelseite von ZEIT Wissen Ratgeber – »Wie wir die Balance zwischen Arbeit und privatem Glück finden«. Dazu gibt es die passende Anleitung im Großen Serviceteil: »Was hilft gegen Stress, Burnout, Perfektionismus, Schlafstörungen, Prokrastination und Redeangst«.

Gleich daneben liegt GEO Wissen mit »Was die Seele stark macht: Hilfe bei Burnout, Ängsten, Depression«. Der Spiegel macht auf mit »Schlafstörungen – Wenn die Nacht zum Albtraum wird«, und Focus titelt »Burnout vermeiden: Wie Sie Ihr Leben klug organisieren«. Psychologie heute rät »Öfter mal Nein sagen – Die beste Medizin gegen Burnout«. Stern Gesund Leben will uns das Älterwerden erleichtern: »Gesundheit, Fitness, Lebensfreude – der große Ratgeber für Männer und Frauen«. Und falls es mit dem Best-Aging doch nicht recht klappt, liefert Focus Spezial »Deutschlands umfangreichste Ärzteliste: die neuen Diagnoseverfahren und Therapien«, natürlich mit Extra »Stress und Burnout: Die besten Strategien gegen die tägliche Überforderung«.

Ein paar Hefte weiter schlägt Zeit Wissen (»Die Kunst der Entscheidung«) in die gleiche Kerbe wie das Esoterikmagazin happinez (»Welchen Weg soll ich gehen?«), mit unvermeidlichem Selbsttest: »Bin ich ein Erde-, Luft-, Wasser- oder Feuer-Typ?« Spiegel Wissen erklärt uns »Die Kunst der Erziehung – mit großem Eltern-Test«, und passend dazu berichtet der Spiegel der nächsten Woche vom »überförderten Kind«. Nido fragt »Nur wild oder schon hyperaktiv? Der unheimliche Anstieg von ADHS-Diagnosen«, und der Stern lenkt unser Augenmerk auf eine viel zu lang verkannte Volkskrankheit: »Liebeskummer – das unterschätzte Leiden«. Dies ist die Ausbeute eines einzigen Ausflugs in den Blätterwald.1

Psycho- und Beziehungsthemen waren lange Zeit eine Domäne der Frauenzeitschriften. Ihnen haftete der Makel des Seichten und Geschwätzigen an. Heute bedienen Titelgeschichten und Serien quer durch alle Medien den Wunsch nach psychologischer Lebenshilfe. Fragen der Persönlichkeit, des Gefühlsmanagements und der Vermeidung von Seelenpein sprechen jeden an, seit wir uns fragen, wie man sein Leben am besten einrichten und mit Belastungen umgehen soll.

Das Internet wurde zum Umschlagplatz für alle Arten von Tipps zum Seelen-Tuning. Die Begriffe »Psychologie« und »Lebenshilfe« produzieren bei Google mehr als 1,8 Millionen Treffer.2 Ein Großteil davon führt zu How-to-Anleitungen für all jene, die den Traumpartner, den Traumjob, die eigenen Traummaße oder ein anderes großes Los suchen. Kombiniert mit Angeboten für Kurse, DVDs, Bücher und Experten-Hotlines wollen viele Websites zum Nichtrauchen anleiten, den inneren Schweinehund überwinden helfen, Wege aus dem Motivationstief oder aus seelischen Krisen weisen, zu mehr Selbstvertrauen, Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen, zu weniger Ängsten, Selbstzweifeln oder Partnerproblemen.

Nicht zu vergessen die unzähligen Foren und Selbsthilfegruppen, in denen sich Betroffene über ihre Nöte austauschen. Hier suchen und finden sich Schüchterne und Hypersensible, verunsicherte Eltern, Männer in der Selbstfindung, Frauen in Führungspositionen, Hochbegabte, Prüfungsängstliche und verbitterte Senioren, Menschen mit Aufschieberitis oder Naturdefizitstörung, Kaufsüchtige und Workaholics, Sinn- und Zwecksucher. Kurz: Für unser Seelenheil ist bestens gesorgt.

Facetten der Psychobranche

Die Psychoindustrie entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem blühenden Wirtschaftszweig.3 Experten aller Couleur stimulieren die Nachfrage nach ihrem Know-how mit immer neuen Appellen. Das Spektrum reicht von pragmatisch bis spirituell: Während Karrieretrainer an der Stressresistenz ihrer Klienten feilen, finden in der Alternativszene Bioenergetik und Quantenheilung Zulauf. Die Seelengurus bieten Antworten auf alle Fragen des Alltags und geben Entscheidungshilfen. Vielerorts sprießen Institute für »Persönlichkeitsentwicklung« oder »ganzheitliches Wohlbefinden« aus dem Boden, in denen man seine emotionale Kompetenz erweitern und Blockaden lösen kann. Zu den rund 50 000 Seelenärzten und Psychotherapeuten hierzulande gesellt sich ein Heer von Coachs, Beratern und Heilpraktikern, viele davon im Nebenberuf tätig.4 All jene Psychoexperten in Volkshochschulen, Fortbildungsakademien, Assessmentcentern, Partnerbörsen und Unternehmensberatungen hinzugerechnet, kommt man auf gut und gerne 100 000 Profis – Tendenz steigend.

Selbst Reiseveranstalter haben den Psychomarkt für sich entdeckt. Laut dem Münchner Anbieter »Miraven Travel« etwa können Urlauber am Feriendomizil »eine positive Einstellung gegenüber sich selbst und ihrem Leben einnehmen, mit der sie Herausforderungen besser und effektiver begegnen«.5 Eine Reihe »strukturierter Coachingeinheiten« soll den Kunden helfen, »Antworten auf ihre individuellen Fragen zu finden«. Gemäß einem wissenschaftlich anmutenden Verlaufsschema wird vor Ort an Fähigkeiten wie »Optimismus« oder »Lösungsorientierung« gearbeitet, um Vertrauen und Selbstliebe zu nähren, die Grundlage für einen erfüllten Alltag, Erfolg und Harmonie.

Solche Glücksfahrpläne haben Konjunktur, denn sie verbinden schillernde Schlagwörter mit einer scheinbar fundierten Logik. Das lässt erahnen, wie schwierig es sein kann, seriöse Ansätze von Schaumschlägerei zu unterscheiden: Beide verwenden oft hochtrabende Begriffe – die einen jedoch zu wissenschaftlichen Zwecken, die anderen allein, um Eindruck schinden (siehe auch Kapitel 9).

Auf dem Psychomarkt ist letztlich erlaubt, was gefällt. Viele Anbieter glauben sogar tatsächlich an ihre Methoden und Lehren; andere setzen auf ein simples Marketingkalkül: Sie erklären unser Seelenwohl für gefährdet und ziehen Rettung verheißende Zauberformeln aus dem Hut. Die Folge ist ein vielstimmiger Chor der Ratschläge. Er macht uns jedoch keineswegs schlauer, sondern verstärkt nur das Gefühl der Desorientierung. Wie kommt das?

Paradoxes Denken

Forscher kennen eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen der Selbstbeschäftigung. Wie zahlreiche Laborexperimente und Feldstudien in den letzten Jahren ergaben, haben wir die Geister, die wir herbeirufen, wenn wir über uns und unser Tun reflektieren, oft selbst nicht im Griff. So berichtete 2011 ein Team um die Psychologin Iris Mauss: Je mehr Bedeutung Menschen der Frage beimessen, ob sie mit sich und ihrem Leben zufrieden sind, desto schwerer tun sie sich damit, es tatsächlich auch zu sein.6 Dahinter steckt offenbar eine subtile Wirkung der gesteigerten Aufmerksamkeit: Wer meint, schlecht drauf zu sein, gefährde die Partnerschaft, die Karriere oder auch die eigene Gesundheit, der nimmt die kleinen und großen Übel des Alltags besonders intensiv wahr.7

Dies ist nur ein Beispiel von vielen für das »ironische Denken«8, wie der 2013 verstorbene US-Psychologe Daniel Wegner von der Harvard University solche paradoxen Phänomene einst taufte. Wegner bat Versuchspersonen in einem Experiment einst um nichts weiter, als möglichst nicht an einen weißen Bären zu denken, während sie vor sich hin sinnieren sollten. Was glauben Sie, passierte? Klar, der Bär war aus den Köpfen kaum mehr zu vertreiben!9

Erhöhte Selbstaufmerksamkeit erweist sich auch bei anderen Gelegenheiten häufig als Fluch. Offenbar ist die Idee, eine Sache müsse sich stets umso besser anfühlen oder besser klappen, je mehr man sich darauf konzentriert, ein Trugschluss. Vergegenwärtigen Sie sich nur einmal, was Sie genau tun, während Sie sich die Schuhe binden, ein leckeres Sahneeis genießen, das Lächeln einer/eines schönen Unbekannten erwidern, sich auf den Sommerurlaub freuen, bei offenem Verdeck in den fünften Gang hochschalten, von einem Film zu Tränen gerührt werden, versonnen aus dem Fenster schauen … Solche Momente verlieren augenblicklich ihren Reiz, sobald wir sie »ganz bewusst« erleben wollen.

Während Forscher Beleg um Beleg dafür sammeln, wie leicht wir uns bei der Gedankengymnastik ein Bein stellen – predigt die Psychobranche unverdrossen das Bewusstmachen und Ausdiskutieren als Königswege zum Seelenwohl. Der Haken daran: Wir überschätzen systematisch die Macht unseres Denkens. Es dient oft genug nur dazu, unsere Entscheidungen nachträglich zu rechtfertigen und unser Selbstbild schönzufärben. Bevor wir genauer kennenlernen, was die Gründe dafür sind, lassen Sie uns noch einen Blick darauf werfen, mit welchen Maschen uns die Psychoindustrie umgarnt.

Vier Lockmittel

Die Psychologieabteilung in meinem Stammbuchladen war einst nur ein paar Handbreit groß. Eingezwängt zwischen dem prall gefüllten Esoterikregal – unter dem Nonsense-Etikett »Neues Leben« – und der Ecke für »Lyrik und Geschenkbuch« standen die Psychofibeln irgendwie verloren herum zwischen »Goethe für Eilige« und »Ihr persönliches Glückstarot«. Doch in den vergangenen Jahren trudelte eine Anleitung nach der anderen für ein besseres, effizienteres, zufriedeneres Leben ein – jede mit einem viel versprechenden Titel versehen. Die Strickmuster dieser Werke sind immer wieder ähnlich und lassen sich meist recht gut einem der folgenden vier Prototypen zuordnen.

Der Seelentröster

Ja, das Leben ist hart. Die enttäuschten Erwartungen unserer Eltern lasten auf uns, wir gehen bei der Bewerbungsrunde leer aus, blitzen beim Flirt ab, werden belogen, betrogen und belächelt. Bücher vom Typ Seelentröster machen dieses Los leichter erträglich, etwa indem sie uns das noch schlimmere Schicksal anderer Menschen vor Augen führen. Und schon denkt man: Ach, so schlecht bin ich doch gar nicht dran! Damit einem das eigene Gefühlschaos nicht mehr ganz so bedrohlich erscheint, geizt dieses Genre auch nicht mit Appellen wie »Die Krise als Chance sehen«. Löse dich aus der Umklammerung der Vergangenheit! Schöpfe neuen Mut! Hier geht die Masche der Muntermacher fließend in das zweite Genre über …

Die Zauberformel

Was erwarten Sie vom Leben? Sicher nicht zu viel – denn das scheint kaum noch möglich zu sein. Auf der Hitliste unserer bescheidenen Wünsche stehen: dauerhaftes Wohlbefinden, die große Liebe, beruflicher Erfolg, ein prall gefülltes Bankkonto, eine Eins-a-Figur und natürlich jede Menge Ruhe und Gelassenheit. Wir wollen optimistisch nach vorn blicken, mit anderen gut auskommen und möglichst viel Spaß haben. In der Realität bewegen wir uns jedoch meist irgendwo zwischen »ganz okay« und »muss ja«. Wir haben einen Partner mit Ecken und Kanten, der Job könnte schon etwas spannender sein, und der Hosenbund hat auch mal weniger gekniffen. Wir fürchten uns vor dem Klimawandel, vor der nächsten Finanzkrise, liegen mit den Nachbarn im Dauerclinch – und können uns kaum vorstellen, wie das jemals anders werden könnte. Trotzdem (oder gerade darum) lassen wir uns gerne von jenen einlullen, die uns das Blaue vom Himmel versprechen. »Wie Sie in 60 Sekunden Ihr Leben verändern – mit Erfolgsgarantie!« Das klingt ja auch einfach zu schön.

Das Mitmachmanual

Selbsttests, Check- und To-do-Listen haben einen unwiderstehlichen Reiz. Wer mit ihrer Hilfe an sich selbst arbeitet, verlässt die Opferrolle und nimmt sein Schicksal in die Hand. Gemäß dem Credo, Selbsterkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung, sind wir mit Stift und Fragebogen bewaffnet auf der Pirsch nach dem Ich und seinen Nöten. Das frisch vermessene Profil kann sodann geschärft werden – am besten mit einer handlichen Schritt-für-Schritt-Anleitung. So sorgen wir aktiv dafür, dass es uns bald besser geht. Die »Gefühlsinventur« hilft, den »Erfolgsfaktor Persönlichkeit« neu zu »programmieren«. Und wer es trotzdem nicht schafft, hat wohl etwas falsch gemacht.

Der Schlaumeierreport

Zu den beliebten Freizeitbeschäftigungen mancher Menschen gehört es, mit dem eigenen Wissen zu protzen. Bücher vom Typ Schlaumeierreport liefern ihnen die nötige Munition. Dabei muss heute niemand mehr mühsam Bücher wälzen. In Zeiten des permanenten Onlinezugangs wächst die Zahl der Klugscheißer rasant. Antworten auf alle erdenklichen Fragen liegen dank Google und Wikipedia nur ein paar Klicks entfernt. Da stört es kaum, dass oft Halbwahrheiten oder blanker Unsinn verbreitet werden – Hauptsache, man hat das gute Gefühl, tiefer zu blicken als all die anderen. Nebenbei hilft das Psychowissen nach Ansicht vieler, seine Mitmenschen zu manipulieren oder sich selbst genau davor zu schützen. Andere gekonnt um den Finger zu wickeln, ihre Körpersprache richtig zu lesen und mögliche Täuschungsmanöver zu durchschauen ist ein dringendes Bedürfnis der Hobbypsychologen. »Ich weiß, wie du fühlst.« »Ich weiß, was du denkst.« »Ich weiß, wer du bist!«

Halten wir fest: Die Psychoindustrie spendet Seelenbalsam, verteilt Glücksrezepte und gibt einem das Gefühl, man hätte sein Leben vollkommen unter Kontrolle und könnte tief in die Abgründe der Seele blicken. Diese Versprechen sind bei den Kunden wiederum unterschiedlich begehrt – und auch sie lassen sich grob nach vier Hauptinteressen ordnen.

Da wäre erstens der Romantiker. Hans träumt seit der Trennung von Isabel davon, wieder seine innere Mitte zu finden und emotional zu reifen. Er hat kein Handy (wegen der Strahlen), fährt lieber Rad als mit dem Auto und interessiert sich für Ökologie, Weltmusik und die Mythenlehre C. G. Jungs. Hans hat das dumpfe Gefühl, mit der Gesellschaft gehe es immer mehr den Bach runter. Will er sich mit seinen Sorgen aufgehoben fühlen, greift er mit Vorliebe zur Seelentröster-Literatur.

Der zweite Typ – der Betroffene – leidet an sich und seinen Mitmenschen. Birgit schläft schlecht, weil ihr nachts tausend Dinge durch den Kopf geistern. Sie muss noch ihre Hausaufgaben vom Selbsterfahrungskurs machen! Ihre Freundin Heidi ist bestimmt beleidigt, weil sie ihr letztens die Verabredung abgesagt hat. Und Katrin, ihre Tochter, hat sich auch schon seit Tagen nicht gemeldet. Was hat sie bloß? Hätte sie ihr nicht so direkt sagen sollen, dass sie sich diesen Martin aus dem Kopf schlagen soll? Aber ihr neuer Freund passt doch wirklich nicht zu ihr! Der Hausarzt schickte Birgit zu einem befreundeten Analytiker. Mit dem arbeitet sie jetzt einmal in der Woche ihre Familiengeschichte durch. Geholfen hat es bislang wenig, aber der Therapeut ist ein kluger Mann – und immer so besonnen. Die Gespräche mit ihm sind für Birgit genau die richtige Ergänzung zur Ratgeberliteratur vom Typ Zauberformel, die auf ihrem Nachttisch liegt.

Drittens: der Performer – zum Beispiel Thomas, Angestellter bei einem großen Pharmaunternehmen. Thomas ist Ingenieur, hat einen MBA aufgesattelt und verdient gut. Er ist am stetigen Ausbau seiner Kompetenzen interessiert. Effizienter kommunizieren, schneller relaxen, besser entscheiden, das lässt sich die Firma schon einiges kosten. Kürzlich hat er ein Seminar von Motivationscoach Jörg Löhr besucht und als Message mitgenommen: »Nichts motiviert mehr als Erfolg.« Jetzt überlegt er, sich das 4-CD-Audioprogramm mit Arbeitsbuch »Lebe deine Stärken!« zuzulegen. Dem Reiz solcher Mitmachmanuale kann Thomas kaum widerstehen.

Und schließlich der Besserwisser. Hartmut, pensionierter Lehrer, liest seit seinem Burnout alles, was mit der Welt im Kopf zu tun hat. Wie Bewusstsein entsteht, Lernen, Gedächtnis, Liebe und Hass, darüber kann er aus dem Stegreif Vorträge halten. Einen Satz des Hirnforschers Gerald Hüther streut er dabei gerne ein: »Begeisterung ist Dünger fürs Hirn.« Das sollte mal jemand den Schülern von heute erklären! Beim nächsten Treffen seines Lesezirkels will Hartmut ein Thema vorschlagen, das schon lange in ihm gärt: Werden wir immer dümmer?

Verkenne dich selbst!

Sich über die eigenen Gefühle klar werden, stets das Positive sehen, der Kraft der Imagination vertrauen – solche Appelle sind in den Psychofibeln reichlich zu finden. Die Vorstellung, mit der richtigen Mentalgymnastik sei alles geritzt, ist attraktiv. Aber halten die Empfehlungen der Ratgeberorakel, was sich so viele Menschen von ihnen versprechen?

Der Niederländer Ad Bergsma ging der Frage nach, ob Selbsthilfebücher ihren Lesern tatsächlich helfen.10 Sein Fazit nach Sichtung der einschlägigen Forschungsliteratur: Schwer zu sagen! Fragt man Leser, ob ihnen die Lektüre weitergeholfen habe, äußern sie sich in der Regel zwar durchaus positiv. Doch einerseits ist das zu erwarten, die zeitraubende Lektüre soll schließlich nicht umsonst gewesen sein. Andererseits heißt es auf Nachfrage meist nur vage, das Buch habe einem »die Augen geöffnet« oder »zum Nachdenken angeregt«. Praktische Problemlösungen? – Fehlanzeige!

Fünf Standardtipps aus Psychoratgebern sind laut der US-Psychologin Annie Murphy Paul mit Vorsicht zu genießen, denn sie erweisen sich oft als kontraproduktiv: Dampf ablassen, in allem (auch in persönlichen Niederlagen) stets das Gute sehen, Ziele visualisieren, sich selbst Mut zusprechen und dem Partner aktiv zuhören.11 Für jede dieser populären Strategien lassen sich wissenschaftlich gut begründete Gegenargumente finden.

Seinem Ärger Luft zu machen kann ihn häufig noch verstärken; wer vor den Ursachen seiner Fehlschläge die Augen verschließt, wiederholt bald das gleiche Malheur; hehren Visionen nachzujagen, statt sich die Hindernisse auf dem Weg dorthin zu vergegenwärtigen, lässt uns eher scheitern; Selbstüberschätzung kommt vor dem Fall; und aktives Zuhören allein kittet noch keine Beziehung – fehlt es am gegenseitigen Respekt und am guten Willen, verkommt es zur bloßen Pflichtübung.

Oft sind die Ratschläge bewusst so allgemein gehalten, dass sie als konkrete Hilfestellung ins Leere laufen. Das ist so ähnlich wie mit Horoskopen: Gemäß dem sogenannten Barnum-Effekt12 pickt man sich aus den angebotenen Weisheiten diejenigen heraus, die auf einen selbst vermeintlich am besten zutreffen. »Sie nehmen sich zwischenmenschliche Enttäuschungen, etwa wenn ein Freund Sie hintergeht, sehr zu Herzen, auch wenn Sie sonst nichts so leicht umhaut.« Jawohl, genau das bin ich!

Auf die Psychobranche übertragen klingt das beispielsweise so: einander positiv zugewandt sein, dem anderen mit Wohlwollen begegnen und ihn so sein lassen, wie er ist! Solche Floskeln produzieren nicht nur Flirt- und Erziehungsberater, sondern auch Coachs und Mediatoren am laufenden Band. Von derlei Vagheiten unbefriedigt, stellen ihre Kunden oft persönliche Fragen: Wie reagiere ich am geschicktesten, wenn mein Partner meint, ich solle mich doch gefälligst nicht so anstellen? Wie bringe ich den nöligen Kollegen endlich dazu, nicht mehr in einer Tour von seinen Wehwehchen zu erzählen? Wann und wie sollte ich meinem Kind Grenzen aufzeigen?

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