Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Die in diesem Buch beschriebenen Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten und haben sich, was die innere Biographie der Täter und die psychiatrische Beurteilung betrifft, so zugetragen, wie geschildert. Aus Gründen der Anonymisierung sind Namen und Orte im Buch verändert und einzelne Begebenheiten verfremdet.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Dezember 2012

ISBN 978-3-492-95894-3

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung: Arne Schultz

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Vorwort

Bücher und Artikel über »das Böse« haben Konjunktur. Sie nehmen uns mit bei der kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit, geben Einblicke in die Tätigkeit von Rechtsmedizinern und erklären neue wissenschaftliche Fahndungsmethoden. Zumeist berichten sie über Gewalttaten, die in all ihrer Brutalität und Grausamkeit unfassbar erscheinen und doch gerade durch diese Unfassbarkeit eine gewisse Faszination auf uns Menschen ausüben. Wir erleben mit, wie das Verbrechen quasi über Nacht in das Leben des normalen Bürgers einbricht. Regelmäßig werden Begriffe wie »Bestie« und »Monster« in der allgemeinen Berichterstattung verwendet, um den dingfest gemachten Täter der neugierigen Öffentlichkeit zu präsentieren. Dabei wird mit ebenso zuverlässig auftretender Verblüffung gern das unauffällig-durchschnittliche Äußere des Täters kommentiert – gerade so, als gäbe es in der Regel eine Verbindung zwischen äußerem Erscheinungsbild und Charakter.

Wie ich in meinen Untersuchungsgesprächen mit den Tätern immer wieder feststelle, handelt es sich tatsächlich häufig um unauffällige Menschen, nicht selten etwas schüchtern, ein wenig unbeholfen, befangen. Kurzum, es sind Menschen wie »du und ich«, die bis zur Tat mehr oder weniger erfolgreich bemüht waren, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Somit ist es völlig natürlich, dass die unmittelbare Nachbarschaft nach einer spektakulären Festnahme stets einhellig feststellt: »Das hätten wir von dem nie gedacht. Der war doch immer so unauffällig, höflich, hilfsbereit.«

Wie aber kann ein solches Verbrechen geschehen? Wie kann aus dem netten Nachbarn plötzlich ein Gewalttäter werden? Wie kann eine junge Frau, die uns vielleicht gerade noch Brötchen verkauft oder eine Flugreise vermittelt hat, zur Kindsmörderin werden? Was ist es, das diese Menschen zu Gewalt und Grausamkeit treibt? Was muss im Leben vorgefallen sein, dass ein Mensch gegen alle Regeln des sozialen Miteinanders und alle humanen Werte handelt?

Als forensisch-psychiatrische Gutachterin habe ich es tagtäglich mit ebendiesen Thematiken zu tun. Oft werde ich gefragt, was mich eigentlich dazu bewogen hat, diesen Beruf zu ergreifen. Ursprünglich wollte ich Chirurgin werden, ein Kindheitswunsch, der an der Realität meiner manuellen Ungeschicklichkeit völlig vorbeiging. Während einer Vorlesung der Psychiatrie aber fing ich Feuer, und binnen Kurzem wurde die Psychiatrie für mich das spezifischste der humanmedizinischen Fächer. Die Psyche macht uns zu Menschen, sie verweist auf unser Mensch-Sein. Von daher pflegt die Psychiatrie einen intensiven Austausch mit anderen Fachdisziplinen, die sich mit den Humanwissenschaften befassen, wie der Biologie, der Psychologie, den Sozialwissenschaften, um nur einige zu nennen. Die Forensische Psychiatrie liegt in der Schnittmenge zwischen Psychiatrie, Psychologie, Neurowissenschaften, Biologie, Sozialwissenschaften, Kriminologie, Polizeiwissenschaft und Strafrecht. Der Begriff leitet sich vom lateinischen forum (Platz, Theater, Gericht) ab, und entsprechend hat der forensische Psychiater die Aufgabe, sein psychiatrisches Wissen diversen Gerichten und Behörden zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen zur Verfügung zu stellen.

Im engeren Sinne wird heute unter Forensischer Psychiatrie maßgeblich die Begutachtung und Behandlung von Straftätern verstanden, auch wenn streng genommen ebenso psychiatrische Fragen im Sozial- und Zivilrecht dazugehören. Als forensischer Psychiater im engeren Sinne behandelt man psychisch kranke Menschen, so wie jeder andere Psychiater auch. Aber es gibt einen Unterschied: Der forensische Psychiater behandelt in speziellen Fachabteilungen oder Kliniken ausschließlich psychisch kranke Straftäter oder, um noch genauer zu sein, jene psychisch Kranken, die infolge ihrer Erkrankung erst zu Straftätern geworden und daher vermindert schuldfähig oder schuldunfähig sind. Er hat den Auftrag, »Gefährlichkeit« zu behandeln, also die beim Straftäter vorliegende psychische Krankheit oder psychische Störung so zu behandeln, dass der Betroffene zukünftig nicht mehr straffällig wird. In der Regel gelingt dies – entgegen der allgemeinen Berichterstattung – sehr gut. Ich vergleiche die Forensische Psychiatrie gerne mit einer Art der »sozialen Hebamme«, die Menschen zu ihren ersten geglückten Schritten ins Leben verhilft. Mit dem Behandlungsauftrag dient der forensische Psychiater also einerseits dem Straftäter-Patienten, der ihm durch die Justiz im Rahmen eines Strafverfahrens zugewiesen wird, aber er dient auch der Sicherheit der Gesellschaft und der Vorbeugung von Straftaten.

Außerdem ist die Forensische Psychiatrie unverzichtbarer Bestandteil eines differenzierten Strafrechtssystems, welches trennt zwischen kranken, schuldunfähigen und gesunden, schuldfähigen Tätern. Diese Differenzierung des Strafrechts findet sich bereits bei Aristoteles. Schon er stellte die Überlegung an, dass psychisch kranke Täter, die aufgrund von Wahn oder Verwirrung gehandelt hatten, nicht bestraft werden sollten.

Doch wo befindet sich diese Schnittstelle zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit? Was ist schon pathologisch, was noch gesund?

In diesem Buch möchte ich Ihnen in meiner Rolle als forensische Psychiaterin an ausgewählten Fällen im Bereich der Tötungs- und Sexualdelikte Antworten darauf geben, wie aus Menschen Mörder und Vergewaltiger werden. Meine Beispiele sind solche, die Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, Strafverteidiger und Gutachter täglich beschäftigen und die in öffentlicher Sitzung vor Gericht verhandelt wurden. Ich erzähle Ihnen von Menschen, die uns eigentlich sympathisch sein oder die unser Mitleid erregen könnten und die doch schwere Straftaten begangen und Leben auf die ein oder andere Weise beschädigt oder gar zerstört haben. Dabei ist es mir ein Anliegen, Ihnen die Täterinnen und Täter mit der gebotenen Sachlichkeit, Fairness und Anschaulichkeit zu schildern. Ich bin nicht parteiisch. Ich begegne meinen Probanden respektvoll und aufmerksam, weil ich denke, diese Grundhaltung sollte jedem menschlichen Kontakt innewohnen. Andererseits ist es weder meine Aufgabe, mich über den Tisch ziehen zu lassen, noch, Gewaltdelikte zu verharmlosen oder zu beschönigen. Auch bin ich nicht der Ansicht, dass jeder mit Psychotherapie »geheilt« werden kann, auch wenn die Forensische Psychiatrie für die meisten der ihr anvertrauten Patienten sicher eine sehr gute Chance bieten kann. Sie werden sehen: Längst nicht alle Fälle, von denen ich Ihnen erzähle, spielen in erkennbar desolaten Verhältnissen. Aber Sie werden auch merken, dass es fast immer die emotionale Qualität der mitmenschlichen Beziehungen ist, die für die Entwicklung der Persönlichkeit mitsamt ihrer späteren Delinquenz eine Rolle spielt. Alle Taten sind also im Grunde zutiefst menschlich und gerade eben nicht Verhaltensweisen von »Monstern« und »Bestien«. Genau das macht sie in Wahrheit so bedrückend.

Meine langjährige Erfahrung zeigt mir, dass es meist ganz profane Gründe sind, die aus Menschen Mörder machen: Selbsthass, Eifersucht, Einsamkeit oder Angst – Gefühle, die uns allen, wenn auch in ihrer nicht gewalttätigen Form, mehr oder weniger bekannt sind.

Wenn wir begreifen, dass die meisten Straftäter keine andere Kategorie von Menschen sind, sondern sie und wir uns letztlich nur in recht wenigen Teilbereichen voneinander unterscheiden, können wir unseren Blick auf den Menschen insgesamt vervollständigen und Konsequenzen für unsere Gesellschafts-, Sozial- und Kriminalpolitik ziehen. Zugleich verstehen wir, wie alltäglich das Böse ist, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne Böses geben wird und warum sich eine Gesellschaft gerade deswegen ihre Menschlichkeit bewahren muss.

Dr. Nahlah Saimeh