Wasser, so kalt, dass es ihm den Leib zerreißt. Wellen peitschen über seinen Kopf. Eine Planke, unmittelbar vor ihm. Glitschig. Mit aller Kraft muss er sich halten, klemmt sie zwischen Arm und Achsel fest. Versucht, mit den Wellen zu treiben. Auf einmal ist die Planke fort. Eine Frau hängt schlaff in seinen Armen, ihr nasses blondes Haar fällt ihm in die Augen, raubt ihm jede Sicht. Ich darf nicht loslassen! Niemals loslassen. Ihr Gewicht zieht ihn in die Tiefe. Eine Welle schwappt über ihn hinweg, Wasser dringt in Mund und Nase. Er hustet, ringt nach Luft. Versucht, mit seiner Last zu schwimmen. Ich werde dich niemals loslassen! Plötzlich ist sie fort. Er liegt wieder über der Planke, allein inmitten des Meeres.
In diesem Moment schreckte er aus seinem Traum auf. Das Kohlebecken neben seinem Lager glühte noch, warf einen schwachen Lichtschimmer in den Raum, aber draußen war alles dunkel. Wie lange mochte er geschlafen haben? Langsam richtete er sich auf, immer darauf bedacht, die wärmenden Decken nicht loszulassen. Die Wunde in seiner Brust pochte so wie schon während des ganzen Tages. Er versuchte, nicht daran zu denken. Es gab Wichtigeres. Er war also in Heiligenhafen. Ein Name, der keine Bilder in ihm hervorrief. Anders als Lübeck und anders als … Kopenhagen. Wieso kam ihm gerade jetzt die dänische Hauptstadt in den Sinn? Bunt verputzte Häuserfronten, ganz anders als der rote Lübecker Backstein.
Brida hatte vom Krieg zwischen Dänemark und der Hanse gesprochen. Verdammt, wenn er bloß gewusst hätte, wohin er selbst gehörte! Es fiel ihm ebenso leicht, Deutsch mit ihr zu sprechen wie Dänisch zu denken. Wenn er wirklich ein Däne war, konnte er nicht darauf hoffen, dass irgendjemand nach ihm suchte. Jedenfalls nicht hier.
Was war das eben für ein Traum gewesen? Die seltsame Frau, die so kurz aufgetaucht und dann verschwunden war. War sie eine wirkliche Erinnerung? Oder nur ein wirres Traumgespinst?
Irgendwer hatte die Fensterläden geschlossen, während er schlief. Vermutlich Marieke. Beim Gedanken an die Magd musste er lächeln. Ein scharfes Geschütz, hätte sein Bruder gesagt. Bruder? Er hatte also einen Bruder. Bruder … Name? Gesicht? Nein, da war nichts, nur eine Wand aus Nebel.
Erik … War das sein Name? Das Wort fühlte sich fremd an. Keine vertraute Wärme, nicht der Drang zu antworten, wenn er so gerufen wurde. Nichts. Andererseits - er hatte anfangs nicht einmal bemerkt, dass er verwundet war, bis Brida es ihm gesagt hatte. Und jetzt konnte er den pochenden Schmerz in der Brust kaum mehr verdrängen. Das Gespür für seinen Körper war zurückgekehrt. Vielleicht brauchte seine Erinnerung nur ein bisschen länger?
Immer wieder fischte er in seinem Gedächtnis nach bekannten Bildfetzen, aber er vermochte nichts wirklich zu fassen.
Ob sein Körper ihm wohl schon wieder ganz gehorchte? Er schob die Beine aus dem Bett. Die hölzernen Dielenbretter fühlten sich unter seinen nackten Füßen wärmer an als erwartet. Das Kohlebecken erfüllte seinen Zweck vortrefflich, obwohl es nicht besonders groß war. Ganz anders als … ja, als was? Das Bild eines silberfarbenen Beckens flackerte auf, ein massiger Löwenkopf war in das Metall getrieben, die Füße glichen Löwenpranken. Er versuchte, die Vorstellung festzuhalten, zu betrachten, doch schon verschwand sie wieder.
Immerhin fühlten seine Beine sich nicht mehr an, als wären sie abgestorben, und das unangenehme Kribbeln hatte auch nachgelassen. Doch kaum versuchte er, sich aufzustellen, schoss ihm der Schmerz durch die Unterschenkel. Kraftlos ließ er sich zurücksinken, atmete tief durch, wollte sich auf etwas anderes als das Brennen in den Beinen und das Pochen in der Brust besinnen.
Brida … Sie war keine dieser scheuen Jungfern, die mit schüchternem Augenaufschlag aus ihrem lieblichen Puppengesicht schauten. Keine wie … verdammt, eben war da doch noch ein Gesicht gewesen, ein Name. Aber schon war beides wieder entschwunden.
Er blickte sich weiter um. Eine kleine Kammer, das hatte er schon bemerkt, sauber und gepflegt. Auf einem winzigen Tisch stand eine Waschschüssel aus Steingut, daneben ein Schemel.
Die Wände der Stube waren mit Holz vertäfelt. Schlicht und zweckmäßig. Nicht so aufwendig wie … Wieder riss der Gedanke ab, kurz bevor er ihn fassen konnte.
Warum unterschied er, ob etwas kostbar oder gewöhnlich war, während er nicht einmal mehr seinen Namen wusste? Nun gut, er war kein neugeborenes Kind, er hatte in der Welt gelebt, er hatte Erfahrungen gesammelt. Anscheinend konnte er darauf zurückgreifen, um sich zurechtzufinden. Nur seine persönliche Vergangenheit hatte das Schicksal ihm geraubt. Warum?
Er legte sich wieder hin, schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Er zitterte noch immer, aber nicht vor Kälte. Zwar hatte er es sich nicht eingestehen wollen, aber er hatte Angst. Das Gefühl der Hilflosigkeit wurde unerträglich. Sein Körper war zu schwach, sich zu erheben, und sein Gedächtnis hatte ihn verlassen. Wie sollte er sich wehren? Wie erkennen, wer Freund oder wer Feind war?
Er dachte an Brida. Ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt, die so viel Selbstsicherheit ausstrahlte. Ihre dunkelblauen Augen, die ihn trotz eines kecken Blitzens voller Mitgefühl betrachtet hatten. Ihre Fürsorge war echt. Seine Sorgen schienen unnötig. Trotzdem blieb die Angst. Gerade weil er nicht wusste, wovor er sich zu fürchten hatte.
»Guten Morgen, junger Herr.«
Mariekes Stimme riss ihn aus dem Schlaf, und er fuhr auf. Sofort meldete sich der Schmerz in der Brust. Er zuckte zusammen.
»Immer mit der Ruhe.« Die Magd lächelte ihn freundlich an, in ihren Händen ein Tablett mit Brot, Käse und einem Krug Milch. »Das Frühstück läuft nicht weg.«
Sie zog den Schemel neben sein Bett und stellte das Tablett darauf ab. Dann warf sie einen Blick in das Kohlebecken. »Soll ich noch einmal anheizen?«
Er nickte.
»Ich bin gleich wieder da.« Mit geübtem Griff hob Marieke das Becken vom Ständer und trug es hinaus. Er stellte sich vor, wie sie die Asche ausleerte und neue Kohlen auflegte. Wie sie die Glut entfachte und in die Kohlen blies.
Ein neues Bild. Wieder Kohlen, doch nicht in einem Becken. Ein Blasebalg. Funken stieben aus dem Kohlebett, der Schmied fasst das lang gezogene, glühende Eisen mit einer Zange, legt es auf den Amboss. Schläge zwingen es in eine neue Form. Eine Klinge wird geboren …
Unwillkürlich griff er nach seiner Wunde. Ein Schwerthieb, hatte Brida gesagt.
»Geht es Euch nicht gut?« Marieke war zurückgekehrt und stellte das Becken zurück auf das Gestell. »Habt Ihr Schmerzen?«
Er ließ die Hand sinken. »Nicht der Rede wert, ich danke Euch.«
»Man kann’s mit der Höflichkeit auch übertreiben. Und ich bin nu wirklich kein vornehmes Fräulein, das mit Ihr angeredet wird. Also, keine falsche Scham. Zwackt’s Euch arg? Ich werd’s Fräulein Brida sagen, die weiß schon, was zu tun ist.«
»Ist schon in Ordnung«, wehrte er ab.
Marieke blieb unmittelbar vor ihm stehen und verschränkte die Arme vor dem üppigen Busen. »So sind sie, die Mannsbilder. Die einen tun noch im Sterben so, als könnte sie nichts dahinraffen, und die andern sterben schon an einem kleinen Schnupfen. Aber ich hab noch keinen getroffen, der verständig genug war, ehrlich zu sagen, wo’s fehlt.«
»Wenn ich es recht bedenke, ich glaube, ich kriege doch einen Schnupfen.« Er grinste sie breit an.
Marieke lachte. »Ihr seid mir ja ein Schelm. Ich hoffe, das Frühstück schmeckt Euch. Falls nicht, meldet Euch, dann schau ich, was ich sonst noch finde.« Sie verließ die Kammer.
An dem Frühstück war nichts auszusetzen. Das Brot schien gerade erst aus dem Ofen gezogen worden zu sein. Der Käse war herzhaft und würzig, erinnerte ihn an satte grüne Wiesen unter einem blauen Himmel. Seltsam, dass ein Geschmack solche Bilder bewirken konnte.
Nachdem er gegessen hatte, ließ er sich ins Kissen zurücksinken und versuchte, seine Erinnerungsfetzen zu ordnen.
Er hatte einen Bruder. Doch es gab keinen Namen, kein Gesicht, kein Alter. War er der Ältere oder der Jüngere?
Seine Familie musste wohlhabend sein. Aber waren es Dänen oder Deutsche? Er hatte zuletzt Dänisch geträumt, seine Gedanken waren immer wieder ins Dänische geglitten, wenn er allein war, doch kaum standen ihm Brida oder Marieke gegenüber, war es für ihn selbstverständlich, Deutsch zu sprechen und zu denken. So, als würden beide Sprachen zu ihm gehören. Vermutlich hatte er in beiden Ländern viel Zeit verbracht.
Er hatte schon einmal gesehen, wie ein Schwert geschmiedet wurde. Ein Schwert hatte ihn verletzt. Konnte er mit einer solchen Waffe umgehen? Unwillkürlich krümmten sich die Finger seiner rechten Hand, als würde er einen unsichtbaren Schwertgriff umfassen. Seine Muskeln zuckten, als wüssten sie, was zu tun war, während in seinem Kopf nur weißer Nebel trieb.
Das Klappen der Tür riss ihn aus seinen Betrachtungen. Es war Brida.
»Guten Morgen.« Sie lächelte ihn an. »Marieke meinte, ich sollte unbedingt nach Euch schauen.«
»Marieke übertreibt, aber ich freue mich, Euch zu sehen, Jungfer Brida.«
Sie nahm das Tablett vom Schemel, um sich setzen zu können. Bildete er es sich ein, oder war es tatsächlich eine Geste der Verlegenheit, als sie sich eine Strähne ihres langen braunen Haars aus dem Gesicht strich?
»Habt Ihr Schmerzen?«, fragte sie.
»Ein Pochen in der Brust, aber es ist auszuhalten. Heute Nacht wurde ich wach und wollte mich hinstellen. Es gelang mir nicht.«
»Weil Ihr zu schwach wart?«
»Womöglich. Aber es war ein heftiger Schmerz, der mir durch die Unterschenkel zuckte.«
»So, als hättet Ihr einen Krampf?«
Er nickte. Das traf es ziemlich genau.
»Das wird vergehen. Ich habe es schon des Öfteren bei Männern erlebt, die lange im kalten Wasser getrieben sind. Mehr Sorgen macht mir das Pochen in Eurer Brustwunde. Ich dachte zunächst, sie sei nicht so schwer.«
»Es ist nicht schlimm«, wehrte er ab.
»Das mag sein«, antwortete Brida. »Aber wenn es pocht, weist es auf den Beginn einer Entzündung hin, und im schlimmsten Fall wird daraus ein hässliches Wundfieber.«
Als er nichts sagte, sprach sie weiter. »Keine Angst, dagegen kann ich etwas tun. Es gibt Salben, die ziehen die Gifte aus dem Fleisch. Ich hole sie gleich.«
Sie hatte die Kammer kaum verlassen, da kehrte sie auch schon mit einem Tiegel und einem Körbchen mit frischem Verbandszeug zurück. Er spürte kaum, wie ihre geschickten Finger den Verband lösten, nur einmal einen kurzen ziehenden Schmerz, weil die unterste Lage auf der Wunde klebte.
Die Wundränder waren gerötet und leicht geschwollen.
Er sah ihren prüfenden Blick.
»Ist es schlimm?«, fragte er.
»Das bereitet mir weniger Kopfzerbrechen.« Sie musterte ihn forschend. »Ihr könnt Euch noch immer nicht daran erinnern, wie Ihr verwundet wurdet?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gestern dachte ich, es sei eine frische Verletzung. Heute sieht sie aus, als sei sie schon einige Tage alt.«
»Und was schließt Ihr daraus, Jungfer Brida?«
Sie öffnete den Tiegel und strich behutsam die kühle Salbe auf die Wundränder. Sofort ließ der Schmerz merklich nach.
»Ich weiß es nicht … Erik.« Zum ersten Mal nannte sie ihn bei dem Namen, den sie bislang vermieden hatte. »Womöglich seid Ihr schon mit dieser Verletzung an Bord Eures Schiffs gegangen. Aber vielleicht habt Ihr auch nur ungewöhnlich gutes Heilfleisch.«
»Heute Nacht sind mir einige flüchtige Erinnerungen gekommen. Aber sie verraten mir nichts über meine Herkunft oder das Geschehen der vorletzten Nacht.«
Er erzählte ihr, was er sich bislang zusammengereimt hatte. Erwähnte sogar das Bild des Schmiedefeuers.
»Das passt«, antwortete Brida, während sie den Rest der Salbe einmassierte und die Wunde neu verband. »Ihr wart vornehm gekleidet. Ich habe Marieke gebeten, Eure Kleidung zu waschen und zu flicken. Allerdings befürchte ich, dass sie auch danach nicht mehr viel vom einstigen Glanz zeigen wird.«
»Das ist mir gleich«, erwiderte er. »Ich stehe ohnehin schon viel zu tief in Eurer Schuld. Ich hoffe, ich kann sie irgendwann begleichen.«
»Wisst Ihr noch, ob Ihr lesen und schreiben könnt?«
Vor seinem inneren Auge tauchten Buchstaben auf. Ein Pergament und eine Feder. Endlose Reihen von Zahlen.
»Ja, das kann ich. Und das Addieren und Subtrahieren beherrsche ich auch.« Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
»Also doch ein Kaufmann.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Einer, der seine Ware notfalls auch mit dem Schwert verteidigen kann.«
»Wenn ich es denn kann«, murmelte er mit Blick auf ihre Hände, die gerade den letzten Knoten in den Verband knüpften. »Mir scheint es eher, als hätte mein Gegner gewonnen.«
»Glaubt Ihr, dann würdet Ihr noch leben?«
Eine gute Frage. Er schloss die Augen, versuchte, nur auf seinen Körper zu achten, auf das Zucken der Muskeln im rechten Arm. Hochreißen, Ausfall, Parade, das Geräusch, wenn Metall über Metall schrammt. Eine schnelle Drehung. Verdammt, er ist nicht schnell genug …
Bevor er die Erinnerung fassen konnte, war sie schon wieder verblasst. Er öffnete die Augen. Sah die Frage in Bridas Gesicht.
»Ich muss wohl gekämpft haben«, sagte er leise. »Aber ich weiß nicht, mit wem und warum. Nicht einmal, wie es ausgegangen ist.«
»Ihr habt überlebt. Das ist das Wichtigste.«
Er nickte schwach.
»Gestern war der Stadtrat Claas in unserem Haus. Ihr habt schon geschlafen, aber er würde Euch gern kennenlernen. Er will auch herausfinden, zu wem das Siegel gehört.«
»Ihr gebt Euch sehr viel Mühe, dafür danke ich Euch.«
»Das klingt aber nicht so, als würdet Ihr Euch freuen. Was geht Euch im Kopf herum?«
Sie blickte ihn offen und freundlich an.
»Was ist, wenn sich herausstellt, dass ich tatsächlich Däne bin? Ihr spracht vom Krieg Dänemarks gegen die Hanse.«
»Das spielt keine Rolle. Ich habe Euch schon einmal versichert, dass hier jeder Gastfreundschaft genießt. Die der Stadt, aber auch die unseres Hauses. Die Zeiten, da Schiffbrüchige als Beute angesehen wurden, sind vorbei. Und außerdem – Stadtrat Claas hätte überhaupt keinen Grund, Euch wegen einer möglichen dänischen Herkunft gram zu sein. Seine Frau ist selbst zur Hälfte Dänin.«
Ihre Worte waren so aufrichtig wie alles, was sie bislang gesagt hatte. Und doch blieb die Angst. Eine Angst, die er nicht greifen konnte, die ihn aber niemals losließ. Die besagte, es würde etwas Furchtbares geschehen, wenn jemand herausfände, wer er war. Andererseits, was konnte ihm schon widerfahren, wenn er es nüchtern betrachtete? Wenn er ein Deutscher war, war alles in Ordnung. Man würde seine Herkunft ergründen, seine Familie würde seine Retter großzügig entlohnen, und er könnte nach Hause zurückkehren. Wenn er ein Däne war, gäbe es schlimmstenfalls eine Lösegeldforderung, die so hoch wäre, dass sich beide Seiten auf monatelanges Verhandeln einstellen würden. Auch in dem Fall würde er irgendwann unversehrt heimkehren.
Wovor um alles in der Welt fürchtete er sich dann?
Ein neues Bild. Ein dunkles Gewölbe. Wasser läuft am rauen Mauerstein hinab, an den Wänden hängen Ketten. Es riecht nach Moder, Fäulnis und Angst. Irgendwo schreit jemand. Ein Schrei, der ihn nie mehr loslassen wird …
»Was ist mit Euch? Ihr seid blass, als hättet Ihr gerade den Tod erblickt.«
Bridas Stimme riss ihn zurück in die Wirklichkeit.
»Ich … ich weiß nicht. Manchmal sehe ich seltsame Bilder.«
»Was habt Ihr gesehen?«
Bislang hatte er ihr nichts verschwiegen, ihr alles offenbart, da er ihre aufrechte Gesinnung spürte, ihre Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Doch irgendetwas mahnte ihn, ihr nichts von diesem letzten Bild zu sagen.
»Ich hatte heute Nacht einen seltsamen Traum. Sagt, Jungfer Brida, war eine Frau unter den Toten, die das Meer zurückgab?«
»Eine Frau?« Sie starrte ihn verblüfft an. »Nein, es waren acht Seeleute. Keiner von ihnen zeigte äußere Verletzungen. Sie sind vermutlich allesamt ertrunken.«
Er nickte schwach.
»Was habt Ihr geträumt?«
»Wirres Zeug«, wich er aus. »Ich war wieder im Wasser, hielt mich an einer Planke fest. Plötzlich war die Planke verschwunden, und ich hielt stattdessen eine leblose Frau in den Armen, versuchte sie zu retten. Dann war sie fort, und ich lag wieder auf der Planke.«
»Habt Ihr sie erkannt?«
Er schüttelte den Kopf. »Vermutlich klammere ich mich an die absurdesten Hirngespinste, um etwas über mich selbst zu erfahren.«
Sie drang nicht weiter in ihn, und dafür war er ihr dankbar.
Am frühen Nachmittag kam Marieke wieder, ein Bündel Kleidungsstücke und ein Paar Stiefel vor der Brust.
»Ich habe mich um Eure Sachen gekümmert«, sagte sie. »Die Stiefel sind trocken und gefettet.« Sie ließ sie vor dem Bett zu Boden fallen und legte die Wäsche auf den Schemel.
»Vielen Dank.«
»Gern geschehen. Ich habe auch versucht, das Hemd zu flicken, aber ich fürchte, viel macht’s nicht mehr her. Das Blut ist nicht ganz rausgegangen.« Sie nahm es vom Stapel, faltete es auf und zeigte es ihm. Der weiße Stoff sah sauber aus. An der Brust war eine Stelle geflickt, genau dort, wo ihn der Schwerthieb getroffen hatte, und ringsum waren einige kaum sichtbare gelbliche Ränder geblieben, die sich jedem noch so hartnäckigen Schrubben entzogen hatten.
»Danke, Marieke, das ist tadellos. Du bist eine wahre Perle.«
»Nu aber nicht übertreiben!« Sie zwinkerte ihm zu und legte das Hemd zurück auf den Stapel. »Wenn Ihr später Hilfe beim Ankleiden braucht, ruft nur.«
Nachdem sie die Kammer verlassen hatte, richtete er sich auf. In der Nacht war es unmöglich gewesen, auch nur einen Atemzug lang auf den eigenen Füßen zu stehen. Wie mochte es jetzt sein?
Er schwang die Beine aus dem Bett. Der Dielenboden kam ihm immer noch erstaunlich warm vor unter den nackten Sohlen. Vorsichtig verstärkte er den Druck seiner Füße. Kein Schmerz. Ein Ruck, dann stand er. Wackelig, aber immerhin. Zwei Schritte bis zu dem Tischchen mit der Waschschüssel. Mühelos. Er griff nach seiner Kleidung und zog sich an. Seltsam, dass er es heute zum ersten Mal so bewusst tat, als wäre ihm jede der bekannten Bewegungen neu. Zuletzt zwängte er sich in die Stiefel. Zwar war er immer noch nicht ganz sicher auf den Beinen, aber um sich ein wenig im Haus umzusehen, würde es schon reichen.
Von seiner Kammer aus trat er in eine schmale Diele. Am hinteren Ende entdeckte er eine ebenso schmale Treppe, die nach oben führte. Links und rechts gingen weitere Räumlichkeiten ab, doch die Türen waren geschlossen. Nur eine stand offen. Die zur Küche, die sich unmittelbar neben der Eingangstür befand.
»Na, da schau her!« Marieke trat aus der Küche und musterte ihn mit in die Hüften gestemmten Händen. »Da bringt man dem jungen Herrn bloß seine Sachen, und schon glaubt er, er müsse das Bett verlassen und überall rumspazieren.«
»Keine Sorge, ich glaube nicht, dass ich es muss. Ich wollte es einfach nur tun.« Sein Lächeln zeigte die erhoffte Wirkung.
»Schon wieder Schelm, was?« Sie drohte ihm spaßhaft mit dem Finger. »Na, dann kommt und setzt Euch her. Fräulein Brida und ihr Vater sind beide aus.«
Die Küche war einfach ausgestattet, aber sie strahlte eine Wärme aus, die ihm eine Geborgenheit vermittelte, die er lange nicht gespürt hatte. Neben der Herdstelle stand ein großer Eichentisch. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er den kleinen Knaben von etwa fünf Jahren, der unter dem Tisch spielte.
»Das ist der Hans«, sagte Marieke. »Elsas Enkel.«
»Elsa?«
»Die Köchin vom Herrn Käpt’n. Sie wohnt drei Straßen weiter, kümmert sich nebenher noch um den Haushalt ihres Schwiegersohns. Na, und ich pass manchmal auf den Kleinen auf.«
»Und seine Mutter?«
»Die hat der Herrgott letztes Jahr heimgerufen. Und der Peter, ihr Mann, der ist meist auf See. Der wird sich so bald wohl auch kein neues Weib ins Haus holen, der hat nämlich an der Agnes gehangen. Na, was bleibt der Elsa da anders übrig, als sich um den Lütten zu kümmern.«
Der kleine Junge war auf ihn aufmerksam geworden und kletterte unter dem Tisch hervor.
»Wer bist du?«
Wie schnell ihn doch die unschuldige Frage eines Kindes in Verlegenheit bringen konnte! Zum Glück sprang Marieke ihm bei.
»Das ist der Herr Erik. Und du solltest nicht so neugierig sein, das ziemt sich nicht.«
»Aber meine Pferde kann ich ihm zeigen, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand der Junge wieder unter dem Tisch und kam mit drei kunstvoll geschnitzten Holzpferdchen zurück.
»Die hat mir mein Papa geschenkt«, sagte er stolz und stellte die Figuren auf den Tisch. Einen Rappen, einen Braunen und einen Schimmel.
»Hast du schon mal so schöne Pferde gesehen?«
»Nein, so schöne habe ich noch nie gesehen.«
»Wart mal, ich habe auch Reiter dafür.« Hans kroch wieder unter den Tisch und holte drei bemalte Gliederpuppen hervor, die wie Ritter aussahen.
»Guck mal, Erik, die haben alle ein Wappen.« Der Junge hielt sie ihm vor die Nase. »Der ist aus Lübeck, der ist aus Hamburg, und den da … das vergess ich immer, das ist so’n komischer Name.«
Eine stilisierte Burg mit einem Turm, die über Wellen stand.
»Vordingborg«, entfuhr es ihm, noch ehe er nachgedacht hatte.
»Ja, genau, Vordings … burg«, jubelte Hans. »Das ist einer von den Dänen, deshalb ist er auch der schwarze Ritter.«
»Hans, jetzt ist gut«, mischte sich Marieke ein. »Du hast deine Pferdchen gezeigt, nu spiel mal schön wieder allein.«
Er hörte kaum, wie Hans quengelte und Marieke unerbittlich blieb. Irgendetwas an diesem Wappen war ihm so unendlich vertraut vorgekommen, doch wieder gelang es ihm nicht, das Bild zu fassen.