2 Ein Lauscher namens Kepler

Rosenblüt hatte eigentlich beschlossen gehabt, Stuttgart für immer hinter sich zu lassen. Ein frommer Wunsch! Obgleich einige Jahre ja alles gutgegangen war. Nicht, daß er ein richtiger Freund von München geworden wäre. Die Stadt war ziemlich abhängig vom Wetter beziehungsweise schien sie in einem chamäleonartigen Gleichklang mit dem Wetter zu sein. Lachte die Sonne und strahlte der Himmel, dann auch die Stadt. War das Wetter beschissen, dann München dito. Das war schlimmer als in den anderen Städten, die sich ja oft gegen schlechtes Wetter wenigstens zu wehren versuchten, bemüht waren, sich vom Wetter nicht völlig herunterziehen zu lassen. München aber ... egal. Er war hier gut aufgehoben, bewohnte eine Dachgeschoßwohnung nahe dem Englischen Garten, war mit einer japanischen Fotografin liiert und wurde von den Kollegen im Kriminalfachdezernat 1 respektiert, mitunter sogar geschätzt.

Auch wenn üblicherweise Strafversetzungen in Richtung Provinz erfolgen, so war in seinem Fall die Degradierung mittels München geschehen. Der Wechsel von einem Bundesland in ein anderes widersprach zwar den Regeln, andererseits konnten die beiden Dienstherren damit die Weichheit der Regeln unterstreichen. Zudem meinte man Rosenblüt auf diese Weise besser und eindringlicher strafen zu können, als ihn in eine baden-württembergische Wüstenei abzukommandieren. Man hoffte, in München würde ihn das Schicksal von Wollsocken ereilen, die in einen nimmer endenden 90-Grad-Waschgang geraten waren.

Rosenblüt hatte sich nämlich nach erfolgreichen Jahren als leitender Ermittler mit seinen Stuttgarter Vorgesetzten angelegt, indem er entgegen einer Weisung von höchster Stelle in einem wichtigen Fall weitergeforscht hatte. Er war in dieser Sache von seiner eigenen Sturheit überrascht gewesen. Schließlich war er weder ein geborener Revoluzzer noch ein Don Quichotte, eher zählte er zu den dandyhaften Genießern. Keiner, der die Welt zu verändern suchte. Er glaubte nicht an Veränderbarkeit. Vielmehr begriff er die Verwandlungen der Welt in die eine oder andere Richtung als bloße Schaukelbewegung. – Die Schaukel hängt immer am gleichen Baum, sie fliegt nie davon, sosehr man das, am jeweils höchsten Punkt angelangt, auch glauben mag.

Rosenblüt war Polizist geworden, weil er das Odeur dieses Berufs mochte. Die Kriminalistik hatte einfach besser als vieles andere geduftet, an dem er als junger Mann geschnuppert hatte. Etwa Kunstgeschichte, wo sein Vater, Professor in selbigem Fach, ihn gerne gesehen hätte. Doch die Kunstgeschichte hatte verdorben gerochen, die Kriminologie hingegen frisch und verführerisch, geradezu frühlingshaft, trotz der meist häßlichen Thematik. Das war freilich nicht das Vokabular, um es anderen zu erklären. Aber für ihn selbst war es genau so gewesen. – Aus dieser tiefen, geradezu kreatürlichen Beziehung zu den diversen Erscheinungsformen des Verbrechens hatte sich dann wohl der Umstand ergeben, daß fast jeder es unterließ, selbst noch im Privatbereich, Rosenblüt mit seinem Vornamen anzusprechen, sondern immer nur mit „Kommissar“ oder „Rosenblüt“ oder „Kommissar Rosenblüt“. Einer seiner Freunde hatte einmal gesagt: „Vornamen sind was für normale Menschen.“ Schwer zu sagen, ob das ein Kompliment gewesen war.

Wie auch immer – Rosenblüts Ehrgeiz war zu jeder Zeit gewesen, Fälle zu lösen und nicht etwa die Verlogenheit des Systems zu offenbaren. Weisungen gehörten nun mal zum Spiel dazu, selbst wenn sie den Duft seines Berufs beeinträchtigten. Da hätte er im Fach der Kunstgeschichte, deren Bösartigkeit gerne übersehen wird, mindestens soviel aushalten müssen. Aber er war in diesem einen Moment wie blind gegen das drohende Schicksal gewesen, hatte die Ermordung einer jungen Prostituierten nicht auf ein milieubedingtes Allerweltsverbrechen herunterspielen lassen und in der Folge begonnen, die Rolle einiger bedeutender Herren in dieser Sache zu untersuchen. Und das, obwohl er mehrmals aufgefordert worden war, Ruhe zu geben. Offiziell wie unter vier Augen. Dazu kam, daß Rosenblüt in einem anderen Fall, dem sogenannten Zweiffelsknoter Skandal, die Machenschaften des BND aufgedeckt hatte, nicht zu aller Freude, wenngleich Rosenblüt dabei das Herz der Öffentlichkeit erobert hatte. Aber öffentliche Herzen sind die, die rasch verwelken, verschrumpeln, zerbröseln, und als Rosenblüt aus Stuttgart verbannt und nach München geschickt wurde, war da kaum einer gewesen, den das aufgeregt hatte.

Auch Rosenblüt nicht, der froh gewesen war, aus der Landeshauptstadt fortzukommen, allerdings aus eher privaten Gründen. Er war ein gutaussehender Mann, so in der Robert-Redford-Richtung, blond und kompakt, wie einem After-Shave-Flakon entstiegen – und jemand, der diesen Vorteil zu nutzen wußte. Doch leider nicht optimal, wenn man das Optimale als das Ganzheitliche sieht. Denn in all den Jahren in Stuttgart hatte er sich schwergetan, eine Beziehung ordentlich zu Ende zu führen. Beziehungsweise war er der absurden Theorie gefolgt, durch das Betreiben einer neuen Beziehung automatisch die alte erledigt zu haben, was ein Irrtum ist, ein bekannter. Viele kennen ihn und machen fröhlich weiter.

Mit seinem Wechsel nach München hatte Rosenblüt somit nicht nur viele verwelkte, sondern auch einige blutende Herzen zurückgelassen. In der neuen Stadt hingegen begegnete er einer Frau, die ihn von genau dieser Unart heilte, indem sie seine absolute Treue einforderte. Nun, das hatten die meisten anderen ebenfalls getan. Aber diesmal war es anders. Rosenblüt erkannte nicht nur den tiefgehenden Reiz dieser Person, er erkannte vor allem, in einem Alter angelangt zu sein, in dem von allen Winkeln aus, erst recht dem Winkel der Liebe, die Gefahr der Lächerlichkeit drohte. Eine Frau mußte absolut genügen. Und diese eine genügte ja auch: Sie hieß Aneko, Aneko Tomita, aus Kyoto stammend, fünfzig Jahre schön, ein Gesicht wie aus einer Billardkugel herausgeschnitzt. Sie war einst eine erfolgreiche Judokämpferin gewesen, Teilnehmerin an zwei Olympischen Spielen, hatte dem Sport aber mit einer gewissen Verachtung den Rücken gekehrt, um nach Europa und in die Fotografie zu wechseln, Modefotografie, Architekturfotografie und manchmal auch Sachen, die man als Pornografie bezeichnet hätte, hätte man sie nicht als Kunst bezeichnen müssen.

Rosenblüt kümmerte sich nicht um die Arbeit seiner Freundin. Und sie sich nicht um die seine. Die beiden hatten zu wenig Zeit füreinander, um sich auf diese Weise zu belästigen, den eigenen Kram, die eigene Bedeutung ausbreitend. Nein, wenn sie zusammen waren, dann genossen sie die Stunden: Essen, Natur, Liebe, manchmal Kino, manchmal Einkaufen, manchmal ein bißchen Fesseln, ohne jedoch übers Ziel hinauszuschießen. Die gemeinsame Wohnung, die eher in die japanische Richtung tendierte, wurde von einer älteren Dame in Schuß gehalten, die im Nachbarhaus wohnte und als eine der größten Jägerinnen von Staub in die Geschichte hätte eingehen müssen, wäre je eine solche Geschichte geschrieben worden. Aber leider wurde Geschichte nun mal von Mördern geschrieben, nicht von Putzfrauen.

„Bin ich die Liebe deines Lebens?“ fragte Aneko gerne.

„Absolut“, antwortete Rosenblüt ebenso gerne.

Es war somit alles in bester Ordnung.

Daß es bei dieser Ordnung nicht bleiben würde, begriff Rosenblüt in dem Moment, als da der Hund vor ihm stand.

„Verdammt, Lauscher, was tust du hier?!“ entfuhr es Rosenblüt mit einem Stöhnen angesichts einer Kreatur mit langen Ohren und kurzen Beinen, die etwas schräg nach außen standen, die Beine, um den angefetteten Körper stabil zu halten. Der Hund erinnerte an einen Zwerg, der früher einmal ein Kraftsportler gewesen war, Ringer oder Gewichtheber, und dessen Kraft nun gerade noch ausreichte, selbst das Gewicht zu sein und von der Erde getragen zu werden. Gewichte sind in der Regel eher statische Objekte, weshalb solche Zwerge oder Hunde es vorziehen, stillzustehen.

Auch dieser Hund stand still und schaute aus seinen von Schäferhundohren flankierten Dackelaugen zu Rosenblüt hoch. Rosenblüt war bei diesem Anblick automatisch der Name Lauscher eingefallen – Lauscher, so hatte der Hund von Markus Cheng geheißen, einem Wiener Privatdetektiv chinesischer Abstammung, der in der BND-Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Aber Lauscher konnte es ja gar nicht sein. Rosenblüt wußte, daß Chengs Hund vor Jahren gestorben war, altersschwach, inkontinent, blind und taub. Das alles galt für diesen Hund hier nicht. Obgleich er kein junger Hund mehr war, war er sowenig ein Greis wie ein Geist. Dennoch sah er dem Rüden, der Lauscher gewesen war, zum Verwechseln ähnlich, dem Lauscher von damals.

Welch dummer Zufall! Nun gut, solche Dinge geschehen, müssen aber nicht ernst genommen werden. Darum sagte sich Rosenblüt: Das hat nichts zu bedeuten. Gleichzeitig dachte er: Was aber, wenn doch?

Rosenblüt herrschte den Hund an, um auch wirklich gehört zu werden: „Geh weg!“ Und, noch lauter: „Hau ab, du Mistvieh!“

Das Mistvieh haute nicht ab. Zudem hatte das Mistvieh keine Hundemarke. Und da war niemand, der etwa nach ihm gerufen hätte. Nein, er stand eisern vor dem Kommissar, welcher natürlich einen Bogen um ihn hätte machen können. Aber der Bogen gelang ihm nicht, und so stand Rosenblüt seinerseits da wie angewurzelt, keine zwanzig Meter von seinem Wohnhaus entfernt, gleichwohl unfähig, die rettende Flucht anzutreten.

„Was sollen wir mit einem Hund?“ fragte Aneko am selben Abend.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Rosenblüt.

„Du solltest ihn ins Tierheim bringen.“

„Ich glaube, er ist kein Tierheimhund.“

„Aha. Glaubst du also.“

„Ich will damit sagen, er gehört zu denen, die man nicht abschieben kann.“

„Soll ich dir beweisen, daß man das kann?“ fragte Aneko, die nichts gegen Tiere hatte, solange sie nicht ihre Haare und sonstigen Dreck auf blendendweißen Designersofas verteilten.

„Das glaube ich gerne“, sagte Rosenblüt, „daß du das kannst. Aber der Hund ist ja nicht wegen dir da, sondern wegen mir.“

„Soll das heißen, er ist ein Bote? Ein göttliches Zeichen?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er dazugehört.“

„Wo dazugehört?“

Rosenblüt konnte es nicht erklären. Er schwieg, wobei er einen Blick aufsetzte, der wohl Mitleid erzeugen sollte.

Aneko legte nach: „Frau Kepler wird toben.“

Frau Kepler war die Frau gegen den Staub. Nun, ganz sicher würde sie toben. Doch Rosenblüt schwieg fortgesetzt. In dieses Schweigen hinein grunzte der Hund in der seufzenden Weise philosophischer Ohnmacht. Er bettete seine Schnauze auf das Parkett und schloß die Augen.

„Er gehört sicher zu jemand, der ihn sucht“, meinte Aneko.

Rosenblüt schüttelte den Kopf. „Er gehört zu mir. Ob ich will oder nicht.“

„Ach was, du kennst ja nicht mal seinen Namen.“

Richtig, der Name. Sollte er ihn Lauscher nennen? Nein, lieber nicht. Er sah sich um, als sei irgendwo im Raum der Name versteckt. Sein Blick fiel auf die Klimtzeichnung an der Wand. Doch Hunde nach berühmten Malern zu benennen, war Blödsinn. Er hielt weiter Ausschau. In diesem Moment klingelte es. Der Hund rührte kein Ohr und keine Wimper. Er war ja auch nicht hier, um zu wachen oder sonstwas Sinnvolles zu tun. Er war nicht einmal ein Bote, sondern die Botschaft selbst.

Aneko ging zur Türe und öffnete sie. Es war Frau Kepler. Sie brachte die Abrechnung für den Monat.

Kepler? Genau! Das war der Name! Der Hund hieß Kepler, obschon es im ersten Moment komisch erscheinen mochte, wenn sowohl die Putzfrau als auch der Hund diesen Namen trugen. Zudem konnte man der Ansicht sein, daß, wenn es Blödsinn ist, Haustiere nach Malern zu benennen, es nicht minder Blödsinn ist, sie mit den Namen von Astronomen auszustatten. Dennoch! Für Rosenblüt stand die Sache fest.

„War das Frau Kepler?“ fragte er scheinheilig, den Namen der Putzfrau betonend und mit einer als beifällig getarnten Bewegung den Kopf schwenkend, um hinüber zu dem dösenden Hund zu sehen. Und wirklich, sowenig das Geklingel den Mischling aus seiner Ruhe geholt hatte, die deutliche Betonung des Namens führte dazu, daß seine Lider kurz hochklappten, als sei er eben gerufen worden.

Man kann sich solche Dinge natürlich einbilden. Doch auch die Einbildung besitzt eine Gravitation, die unbestechlich ist.

Am nächsten Morgen brach Rosenblüt etwas später ins Büro auf, und es war nun ein echter Zufall, ein dummer dazu, daß er gerade in dem Moment nach dem Hund rief – der quasi über Nacht sein Hund geworden war –, als Frau Kepler, die zum Reinigen der Böden gekommen war, den großen Wohnraum betrat.

„Ja bitte?“ fragte sie, etwas irritiert, weil sie es eigentlich gewohnt war, mit „Frau“ tituliert zu werden. Dann sah sie den Hund. Der Schock war doppelt. Der Hund an sich und weil sie zudem begriff, wer hier mit „Kepler“ gemeint gewesen war.

„Oh ... das ist ... ungünstig“, stammelte Rosenblüt, „aber ich kann wirklich nichts dafür, daß der Hund so heißt.“

Und das stimmte ja, wenn auch nicht auf den ersten Blick.

„Bleibt der hier?“ fragte Frau Kepler voller Verachtung für Hunde, die nach Menschen hießen.

„Ja. Ich weiß, daß das mehr Arbeit macht. Aber wir bezahlen es natürlich.“

Doch Frau Kepler erklärte knapp und mit der eindringlichen Wirkungsweise einer rasch verabreichten Injektionsnadel: „Ich bespreche das mit Frau Tomita.“

„Wie Sie wünschen.“ Rosenblüt schob seinen Hund in den Flur hinaus.

„Hör zu, Kepler“, sagte er, als sie im Aufzug standen, „manchmal wäre es gut, sich zu beeilen, ich habe nicht immer Zeit.“ Dann dachte er: „Verdammt, jetzt rede ich schon mit dem Köter. Das sollte ich mir gar nicht erst angewöhnen.“

Als wäre das möglich.

„Der schaut ziemlich komisch aus“, urteilte ein Kollege aus Rosenblüts Mannschaft. Rosenblüts Sekretärin hingegen beugte sich zu Kepler hinunter und sprach mit ihm in jener entspannten Art, mit der sich Frauen nur mit Tieren und schwulen Männern unterhalten: in einer Vertrautheit allein zur Freude Gottes. Auch vermied sie es vorerst, nach den Umständen zu fragen, die diesen Hund in dieses Büro geführt hatten, bereitete ihm einen Platz in der Ecke und kramte ein Leckerli hervor, als züchte sie selbige in ihrer Handtasche. Zu Rosenblüt sagte sie nur, die Chefin habe nach ihm gerufen. Es eile.

„Den Hund lass’ ich da“, erklärte Rosenblüt.

Wie damals bei Lauscher würde dies ohnehin die Regel werden. Auch Kepler war kein Freund großer und häufiger Bewegungen. Er stand, saß oder lag. Auf diese Weise füllte er einen bestimmten Raum. Im Moment kleidete er perfekt die Ecke aus, die Rosenblüts Sekretärin ihm liebevoll zugewiesen hatte. In solchen Augenblicken besaß Kepler die Wirkung eines Objekts von Joseph Beuys. Wozu also den Ort wechseln? Nur, um in eine andere, vielleicht sehr viel schlechtere Ecke zu gelangen?

Menschen freilich fühlen sich von schlechteren Ecken magisch angezogen. Oder unterliegen dem Sachzwang. Rosenblüt also mußte nach oben, zu Polizeirätin Doktor Ursula Procher, die fast gleichzeitig mit seiner Ankunft in München die Leitung des Kriminalfachdezernats übernommen hatte und deren unnahbare Art Rosenblüt durchaus zu schätzen wußte. Er brauchte keine gute Freundin als Chefin.

„Die beiden Herren kennen sich ja“, sagte Procher, nachdem Rosenblüt eingetreten war. Die Herren, die sich kannten, gaben sich die Hand. Bei dem anderen handelte es sich um einen Beamten des Kriminaldauerdienstes, einen Hauptkommissar Svatek.

Man nahm Platz. Procher lehnte sich zurück und überließ es dem KDD-Polizisten zu erklären, weshalb man hier zusammengekommen war.

Am Vortag war Svatek von einer Streife angefordert worden. Zwei Jogger hatten einen fünfzehnjährigen Jungen entdeckt, der nackt am Ufer der Isar stand, weil er, wie er angab, von einer fünfköpfigen Bande attackiert, bedroht und sodann ausgezogen worden war. Man hatte ihm eine Beschneidung angedroht, sich aber auf Grund des Faktums, daß eine solche bereits vorlag, damit begnügt, ihn verängstigt und gedemütigt und bar seiner Kleider zurückzulassen.

„Sie können sich denken, wie verstört der Bursche war“, sagte Svatek. „Wir haben ihn nur kurz befragt und dann so schnell wie möglich nach Hause gebracht. Beide Eltern waren da. Vermögende Leute, aber weder superreich noch prominent. Die Mutter ist Anwältin, der Vater Geologe, hat hier einen Lehrstuhl, was Geologisches halt.“

Svatek machte eine Pause, wirkte unsicher. Er äußerte, bei der Sache sofort ein komisches Gefühl gehabt zu haben.

„Komisches Gefühl?“

„Ja, ich weiß schon, mit komischen Gefühlen sollte man zum Arzt gehen und nicht die Kollegen belästigen.“

Rosenblüt nickte. Dieser Meinung war er auch.

Desungeachtet berichtete Svatek weiter, daß die Eltern des Jungen auf ihn den Eindruck gemacht hätten, als seien sie bereits informiert gewesen. Nicht aber von der Streife. Bei aller Betroffenheit hätten sie kontrolliert gewirkt, in der Art von Leuten, die sich abgesprochen haben. Und deren Ziel es ist, die Polizei soweit als möglich herauszuhalten.

„Ich bitte Sie, Herr Svatek“, wandte Rosenblüt ein, „eine Anwältin und ein Geologe, solche Leute haben sich von Natur aus im Griff. Da muß schon mehr passieren. Ich kann noch nichts Komisches erkennen. Das Kind wurde schließlich nicht entführt. Es wurde gequält, das ist sicher schlimm. Aber solche Überfälle geschehen leider nun mal, das muß ich Ihnen nicht sagen. Die Jugend spinnt heutzutage.“

„Das tut sie, keine Frage. Aber das ist es nicht. Ich sage Ihnen, die Eltern haben gewußt, daß wir kommen und ihren Sohn bringen. Sie kennen mich, Rosenblüt, ich bin kein Phantast. Ich sage Ihnen, daß da was faul ist.“

„Aber der Sohn lebt doch, oder?“ fragte Rosenblüt, mit den beiden Zeigefingern auf sich weisend und solcherart bekundend, lediglich für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig zu sein.

Es war jetzt Procher, die das Wort ergriff. Sie bat Rosenblüt, sich kurz die Zeit zu nehmen, den Jungen und die Eltern ein zweites Mal zu befragen. Nur, um sicherzugehen.

Rosenblüt schaute noch immer verwirrt. Endlich rückte Procher damit heraus, sie sagte: „Die Eltern sind Stuttgarter. Sie sind erst vor einem Jahr nach München gekommen. Wegen des Lehrstuhls.“

Rosenblüt öffnete seine Hände zu einer fragenden Geste. „Ja und? Was wollen Sie mir damit sagen? Daß das Tansanier sind, die leider Gottes nur Suaheli sprechen, und weil ich auch ein Tansanier bin, muß ich jetzt ...“

„Herr Hauptkommissar Rosenblüt“, unterbrach ihn Procher mit einer Stimme von der Art einer knisternden Bluse, „wir wollen uns in dieser Sache auf den Instinkt des Kollegen Svatek verlassen, ohne gleich alle Pferde scheu zu machen. Sie opfern eine halbe oder eine Stunde Ihrer Dienstzeit und verschaffen sich einen Überblick. Danach geben Sie mir einen Bericht, den ich weiterleite. Wir wollen Fehler vermeiden. Es stimmt, ein komisches Gefühl ist zu wenig. Genau darum möchte ich Sie bitten, dort hinzufahren, um das Gefühl des Kollegen zu bestätigen oder zu entkräften. Sie können das, Sie sind der Richtige. Und daß Sie aus Stuttgart stammen, daß Sie dort ein Held waren, daß Sie ein Gefühl für Ihre Landsleute haben ... nun, ein Nachteil ist das doch wirklich nicht.“

„Ein Held? Hm! – Was meinen Sie, was ich mit den Eltern des Jungen veranstalten sollte: ein schwäbisches Opferritual?“

„Ob ich so was gutheiße, hängt von der Art des Opfers ab.“ Frau Doktor Procher hatte völlig ernst gesprochen.

„Also gut, geben Sie mir die Adresse, und ich schau mir diese Bantu-Neger an.“

„Lieber Herr Kollege“, sagte die Dezernatsleiterin, „könnten Sie vielleicht Ihre Ausdrucksweise mäßigen? Sie sind doch sonst nicht so.“

„Es hängt wohl mit Stuttgart zusammen. Ich fühle mich verkrampft, wenn ich den Namen dieser Stadt höre.“

„Sie sind dort aufgewachsen. Jeder fühlt sich verkrampft, wenn er an die Heimat denkt. Das ist trotzdem kein Grund, so zu reden.“

„Stimmt, da haben Sie recht“, meinte Rosenblüt und erhob sich. Im Stehen fragte er, ob es Hinweise auf die fünf Typen gebe, die den kleinen Uhl angegriffen hatten.

„Noch nicht“, sagte Svatek, hielt Rosenblüt aber eine Mappe hin: „Hier sind die Aussagen des Jungen. Ziemlich spärlich. Dazu die Aussagen der Eltern, noch spärlicher. Außerdem ein paar Fakten über die beiden. Ich habe mich da schon mal kundig gemacht.“

„Na gut.“ Rosenblüt nahm die Akte, dankte knapp, empfahl sich und verließ das Büro.

Rosenblüt kannte das Gerücht, die verheiratete Frau Doktor Procher sei mit einem aus dem KDD liiert. Jetzt glaubte er es auch.

Zurück an seinem eigenen Schreibtisch, sah er sich die Aussage des Jungen an, Martin Uhl. Die Beschreibung der fünf Angreifer reduzierte sich auf den Sachverhalt, sie hätten das typische Türkendeutsch gesprochen, Sechzehn-, Siebzehnjährige, trainierte Kerle, Kraftkammer, Goldkettchen, einer mit Schnauzer, einer von ihnen der Anführer. Doch genauer wurde der Bericht nicht, bloß das gestohlene Handy sowie der Inhalt der Geldbörse waren ebenso exakt beschrieben wie die Kleidungsstücke, die in die Isar geworfen worden waren. In Ermangelung einer genauen Täterbeschreibung war gewissermaßen eine genaue Opferbeschreibung vorgenommen worden. Auch über die Eltern, Gabriele und Christoph Uhl, hatte Svatek einiges zusammengetragen. Allerdings nichts, was sich auf den ersten Blick angeboten hätte, ein Verbrechen zu erklären, welches über den sadistischen Raubüberfall einer Jugendbande hinausging und etwa Dinge wie Erpressung einschloß.

Rosenblüt machte sich auf den Weg.

„Kann ich den Hund hierlassen?“ fragte er seine Sekretärin, eine junge Frau, die in der Tat lieber in einem Zoofachgeschäft gearbeitet hätte. Sie nickte, merkte aber an, daß man so einen Hund hin und wieder füttern und hin und wieder auf die Straße führen müsse und daß dieser hier nicht einmal über ein Halsband und eine Marke verfüge.

„Könnten Sie das für mich erledigen?“ bat Rosenblüt und erklärte, der Hund sei ihm zugelaufen.

„Wie heißt er überhaupt?“

„Kepler.“

„Klingt wie der Name einer Waschmaschine oder einer Autovermietung“, fand die junge Frau.

„Ist aber nicht mehr zu ändern“, erklärte Rosenblüt. „Sie machen das für mich, oder?“

„Alles“, antwortete sie. Sie meinte damit den Hund, nicht den Mann.