3 Strahler 70

Rosenblüt wollte den Herrn Professor Uhl in seinem Büro im Department für Geo- und Umweltwissenschaften aufsuchen, erfuhr aber, Uhl sei bereits wieder nach Hause gefahren, um dort mit einigen Mitarbeitern ein Seminar vorzubereiten. Er werde erst am späteren Nachmittag in der Uni zurückerwartet.

Ohnehin war es Rosenblüt lieber, Uhl in seinem privaten Bereich zu sprechen. Um so privater, desto unsicherer wurden die Menschen. Desto leichter zu knacken. Denn das Private verriet sie, die Vase auf dem Tisch, die Bilder an der Wand, der Geschmack, der Geruch. Viele Büros hingegen waren abstrakt zu nennen, trotz Schmuck hier und da.

„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für Sie“, wurde Rosenblüt von Uhl an der Türe des dreistöckigen Jugendstilgebäudes empfangen, dessen untere zwei Etagen er bewohnte. „Außerdem wüßte ich nicht, was da noch zu bereden wäre. Sie sollten lieber diese Verbrecherbande finden, die meinem Sohn das angetan hat.“

„Bei allem Respekt, Herr Uhl“, meinte Rosenblüt, „aber das ist doch eine Phrase.“

„Was ist eine Phrase?“

„Dem Polizisten sagen, was er zu tun hat. Sage ich Ihnen denn, wie Sie ein Erdbeben zu berechnen haben? Seien Sie also so gut, mich hereinzulassen. Ich bin nicht gekommen, um im Freien zu stehen, so schön der Tag auch ist.“

Uhl zögerte. Dann gab er nach, trat zur Seite und ließ den Kommissar ein. Er hatte wohl begriffen, daß man jemanden wie Rosenblüt nicht abwimmeln konnte. Daß für einen solchen Mann nur entweder Feierabend oder Gefahr im Verzug bestand. Und für Feierabend war es einfach noch zu früh.

„Nun gut. Ich sage meinen Mitarbeitern kurz Bescheid“, erklärte Uhl und bat Rosenblüt, vorzugehen. Dieser ging vor, und zwar in einen großen, hellen Raum, der hinaus auf eine steinerne Treppe wies, hinter der ein kleiner Garten mit Springbrunnen lag.

„Wer hat heutzutage noch einen Springbrunnen?“ bemerkte Rosenblüt, nachdem auch der Hausherr eingetreten war.

Uhl erläuterte: „Eigentlich wollte der Vermieter einen Pool bauen lassen. Ich konnte ihm das ausreden. Allerdings ist er dafür mit der Miete noch weiter in die Höhe gegangen. Verrückt, aber wahr.“

„Wäre die Welt normal, wäre ich nicht hier, oder?“

„Da haben Sie leider recht“, äußerte Uhl und fragte den Kommissar, für welche Polizeiabteilung er eigentlich tätig sei.

„Das wollen Sie nicht wissen“, antwortete Rosenblüt.

Uhl stutzte. „Wie Sie meinen. Setzen wir uns.“

Sie setzten sich. Uhl schenkte Wasser in zwei Gläser und schob eines über den tiefstehenden Glastisch auf Rosenblüts Seite.

Der Kommissar sagte: „Ich will offen sein. Meine Vorgesetzten meinen, daß Sie mit mir lieber reden werden als mit jemand anderem.“

„Wieso sollte ich?“

„Nun, Sie sind Schwabe, und ich bin Schwabe. Auch wenn wir beide nicht so reden, denn weder stehen wir auf einer Volksbühne, noch sitzen wir im Landtag.“

„Rosenblüt! Ich dachte mir schon, den Namen zu kennen. Sie waren eine Weile eine kleine Berühmtheit.“

„Was mir allerdings nicht unbedingt bekommen ist. Dafür darf ich jetzt im schönen München sein“, sagte Rosenblüt, wie man lästert: Die Gesundheit eines Roggenbrotes relativiert sich, wenn einem die Zähne darin steckenbleiben.

„Ihre Vorgesetzten spinnen“, kommentierte Uhl.

„Ganz sicher tun sie das, wenigstens in diesem Punkt. Andererseits kann ich das ja schlecht in meinen Bericht schreiben. Nein, Sie und ich müssen vorher schon miteinander reden.“

„Ja worüber denn, Herrgott noch mal! Mein Sohn ist überfallen, mißhandelt und beraubt worden. Am schlimmsten aber ist, daß er da nackt am Ufer stehen mußte. Die Nacktheit ist für Jungs in diesem Alter ohnehin ein Problem. Das öffentliche Nacktsein fürchterlich.“

„Absolut richtig. Deshalb denke ich auch, daß es in erster Linie darum ging. Nicht um die paar Wertsachen, nicht darum, ein paar Ohrfeigen zu verabreichen, nein, es sollte eine Warnung sein, eine deutliche.“

„Von was reden Sie da?“

Rosenblüt entschied sich für die spekulativ-direkte Weise, indem er sagte: „Sie haben einen Anruf erhalten. Man hat Ihnen gesagt, was mit Ihrem Sohn geschehen ist.“

„Nein, Ihre Kollegen haben Martin hergebracht, ohne uns vorzuwarnen.“

„Ich rede nicht von meinen Kollegen. Ich rede von den Leuten, die Ihnen erklärt haben, daß Ihrem Sohn beim nächsten Mal mehr passieren könnte, als nackt am Fluß zu stehen und sich zu schämen.“

„Wie können Sie ...?“ Uhl riß sich zusammen. Er klemmte seine Zungenspitze zwischen die Lippen, als versuche er, sie zu häuten. Für einen Moment machte er einen geisteskranken Eindruck. Und in der Tat, sein Verstand war gefährdet. Die Angst ums eigene Kind läßt niemanden gesund bleiben.

Er mühte sich mit seiner Stimme ab, als er jetzt Rosenblüt fragte: „Wie kommen Sie auf einen solchen Unsinn? Denken Sie, ich werde erpreßt? Meine Güte, wir wohnen ganz hübsch. Aber wir sind keine Unternehmer, keine Millionäre.“

„Es gibt viele Gründe, erpreßt zu werden“, befand Rosenblüt, der ja bereits wußte, der richtigen Spur zu folgen.

Uhl tat einsichtig und gestand spöttisch ein Liebesverhältnis zu einer türkischen Studentin. Er bemerkte: „Die hat natürlich ein paar Brüder, die jetzt für Ordnung sorgen wollen?“

„Das ist sicher eine Möglichkeit von vielen“, antwortete Rosenblüt. „Aber mich interessiert nur die eine relevante.“

Uhl schwieg. Schließlich sagte er: „Auch wenn Ihnen das nun verdächtig vorkommen mag, ich brauche einen Schluck Alkohol.“

„Bringen Sie mir einen mit“, bat Rosenblüt.

Nun, es war zwar Vormittag, und angeblich tranken Polizisten nicht im Dienst. Doch Rosenblüt hatte vor einem Jahr mit dem Sport aufgehört und mit dem Trinken angefangen. Ohne zu übertreiben, weil er ja auch beim Sport nicht übertrieben hatte. Ein Schluck hin und wieder tat ihm gut. Wo früher zwanzig Sit-ups gewesen waren, war jetzt ein Glas Wein. Seinem Rücken ging es seither bedeutend besser.

Uhl schenkte Rotwein in zwei Gläser, reichte eines Rosenblüt. Nicht, daß sie miteinander anstießen, aber sie nickten sich zu, ihre Gläser nickten sich zu. Eine kleine Stille benetzte den Raum, wie Regen, der in der Luft stehenbleibt. Uhl ergriff als erster das Wort. Er sagte: „Selbst wenn Ihr Verdacht stimmt, und er stimmt nicht, dann wäre es doch sicher so, daß ich eindringlich davor gewarnt worden wäre, die Polizei zu informieren. Bedenken Sie: Mein Sohn ist gesund und in Sicherheit. Warum sollte ich riskieren, daß sich daran etwas ändert? Nur, um Ihnen den Gefallen zu tun, vor Ihren Vorgesetzten als cleverer Ermittler dazustehen?“

„Sicher, da wären Sie schön blöd. Nein, wenn schon ein Gefallen, dann natürlich einer, den Sie sich selbst tun. Denn das Problem ist, daß der tiefere Sinn der Polizeiarbeit darin besteht, Recht auch dort zu schaffen, wo dies gar nicht erwünscht ist. Es kümmert die Polizei nicht, wenn Opfer und Täter sich einig geworden sind. Die Polizei mischt sich ein, ob das gewollt ist oder nicht. Daran führt kein Weg vorbei. Aber Sie, Herr Professor, können die Sache steuern.“

„Indem ich mich Ihnen anvertraue? Was bedeuten würde, daß Ihre Vorgesetzten recht hatten, auf diese dümmliche Schwabenkarte zu setzen.“

„Stimmt. Das wäre der negative Aspekt.“

„Und der positive?“

„Ich bin ja nicht nur Schwabe, sondern auch ganz allein gekommen. Womit ich sagen will: Es ist ein Unterschied, ob ein versammelter Haufen von Polizisten hier herumtappt oder ein einzelner Mann mit aller Diskretion und Vorsicht und Fürsorge den Fall behandelt.“

„Noch einmal: Für welche Abteilung arbeiten Sie?“

„Wie in Stuttgart. Mord.“

„Niemand wurde ermordet.“

„Und das soll so bleiben. Meistens kommt die Polizei zu spät, das ist ihr Schicksal, vor allem im Fall von Tötungsdelikten. Wo ich hinfahre, sehe ich Tote. Es hat etwas für sich, daß es diesmal anders ist.“

„Es könnte ein böses Omen sein, daß Sie hier sind.“

„Es könnte ein gutes sein“, erwiderte Rosenblüt. „Einmal einen Fall zu übernehmen, wenn es noch nicht zu spät ist.“

Uhl schenkte nach. Es war ein guter Wein, wobei Rosenblüt Trinker genug war, um zu erkennen, daß in manchem guten Wein ein mickriger Geist steckte, ein Spießer, ein Angeber, ein Ignorant.

Uhl überlegte. Man sah ihm an, wie sehr er sich quälte. Sein kahler, kantiger Schädel offenbarte einen rötlichen Glanz mit welligen Streifen von kaltem Grün. – Das kommt nämlich vor, daß Menschen aussehen wie auf expressionistischen Gemälden.

„Wenn ich mit Ihnen rede“, begann Uhl mit Vorsicht in der Stimme, „wie sehr kann ich mich darauf verlassen, daß Sie kein Unglück über mich und meine Familie bringen?“

„Das Unglück ist doch schon da, Herr Uhl. Und es geht nicht fort, indem Sie mich rauswerfen. Ich kann das Unglück sehen. In Ihrem Gesicht. An Ihren Händen. An der Art, wie Sie Ihr Glas halten.“

Der solcherart Durchschaute blickte zur Seite. Dann atmete er tief ein und führte am eintretenden Luftstrom vorbei seine Worte. Leise, zögerlich zuerst, als sei viel zuviel Luft im eigenen Mund, allmählich aber hörbarer und deutlicher. Es stimme, sagte er, in der Tat habe er einen Anruf erhalten. Ein Mann, der seinen Namen nicht genannt habe, hätte erklärt, dem Jungen gehe es gut. „Sie können sich denken, daß ich sofort gefragt habe, wie das zu verstehen sei. Wieso gut? Ich dachte an einen Unfall.“

Indes sei ihm rasch klar geworden, wie der Anrufer es meine, als dieser sagte, dem „kleinen Martin“ wäre nichts Schlimmes zugestoßen, aber doch Schlimmes genug, um sich gut vorzustellen, wie schlimm es noch werden könnte. Um dann anzufügen: „Hätte ich ein solch schönes Haus wie Sie, Professor, eine solche Frau, ein solches Kind, keine Sorgen weit und breit, ich würde aufpassen, daß es dabei bleibt. Ich würde nicht den Helden spielen. Klar, es gibt geborene Helden. Aber ... sind Sie einer? Können Sie Schmerzen aushalten? Opfer bringen? Ich glaube nicht. Als Held sind Sie Amateur. Ich rate Ihnen, halten Sie Ihren Mund. Die Maschine geht Sie nichts an. Vergessen Sie alles, was damit zusammenhängt. Verstanden?“

„Ich habe geschworen“, fuhr Uhl fort, „verstanden zu haben. Natürlich habe ich das! Doch dann hat der Kerl plötzlich begonnen, englisch zu sprechen.“

„War das seine Muttersprache?“

„Nein, nein, er war eindeutig Deutscher, Türkischdeutscher, unverkennbar.“

„Und was hat er da auf englisch gesagt?“

„Nur zwei Sätze. Klang so, als würde er jemanden zitieren, ungefähr so: ‚You will hear me one more time, if you do good. You will hear me two more times, if you do bad.‘ Dann hat er aufgelegt. Können Sie damit etwas anfangen?“

„Eigentlich nicht“, antwortete Rosenblüt. Aber das stimmte nicht. Statt jedoch seine Ahnung preiszugeben, fragte er: „Der Anrufer hat von einer ,Maschine‘ gesprochen. Was für eine Maschine denn?“

Doch Uhl verweigerte sich. Er sagte: „Hören Sie, Herr Rosenblüt, ich habe Ihnen von diesem Anruf erzählt, damit Sie aufhören, mich zu bedrängen. Gut, Sie wissen jetzt, daß hinter alldem mehr steckt als ein bloßer Raubüberfall. Es geht um meine Familie. Es gibt Leute – und ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sind –, die darauf bestehen, daß ich in einer bestimmten Sache meinen Mund halte. Also werde ich ihn halten. Kein Wort über die Maschine. Da können Sie mich foltern, soviel Sie wollen. Ich habe Ihnen das nur erzählt, weil mir klar war, daß Sie keine Ruhe geben werden. Und daß es schlecht für mich ist, wenn hier jeden Tag ein anderer Polizist auftaucht und Fragen stellt. Ich hoffe, Sie begreifen nun, wie ernst es ist. Ich bin jetzt nicht nur in der Hand von diesen Leuten, sondern auch in Ihrer Hand, Herr Kommissar Rosenblüt.“

„Das sehe ich und werde mich danach richten. Trotzdem wäre es gut, wüßte ich, worum sich alles dreht. Beim Begriff Maschine tauchen in meinem Kopf verwirrend viele Eintragungen auf.“

„Kein Wort darüber. Begreifen Sie doch. Ich weiß ja nicht einmal, ob wir vielleicht abgehört werden.“

„Von wem denn, bitte schön?“

„Von denen, von Ihnen, von jemand Drittem, was weiß ich. Das einzige, was für mich zählt, ist, daß meinem Jungen nie wieder etwas Derartiges zustößt. Stellen Sie sich vor, er hat wirklich geglaubt, diese Kerle würden ihm seinen Penis abschneiden! In jedem Alter wäre das ein Schock. Aber wenn einer fünfzehn ist, kann ihn so eine Angst ruinieren. – Ganz offen gesprochen: Ich pfeife auf Recht oder Unrecht. Ich will nur meinen Sohn schützen. – Können Sie ihn denn schützen, meinen Sohn? Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie können das!“

„Also gut“, gab sich Rosenblüt geschlagen und trank sein Glas in der Manier jener aus, die sich viel mehr vor dem gern unterschätzten Schluck-zu-wenig fürchten als dem oft zitierten Schluck-zu-viel. Er erhob sich, trat kurz an die hohe Scheibe und schaute auf den gepflegten Garten und den mietpreiserhöhenden Springbrunnen. Dann wandte er sich um und folgte Uhl aus dem Raum.

Der Hausherr öffnete die Eingangstüre und streckte die Hand aus. Rosenblüt ergriff sie. Kurz zuckte er zusammen. Aus dem einfachen Grund, weil sein Gehirn einen Kontakt registrierte, der nicht zu erwarten gewesen war – Papier statt Haut. In der Innenfläche der Uhlschen Hand befand sich ein gefaltetes Stück, das nun den Besitzer wechselte.

Rosenblüt unterließ eine Bemerkung. Schlimm genug, daß er gezuckt hatte. Das geschah jetzt hin und wieder. Bei allem selbstsicheren Auftreten meldete sich das Alter. Nicht nur aus dem Winkel der Liebe.

„Machen Sie’s gut, Herr Uhl“, sagte Rosenblüt und ging.

Der Professor sah ihm nach, schweigend, erneut die Zunge zwischen die Lippen klemmend. Die grünen Streifen auf seinem blanken Schädel aber waren verschwunden. Er war jetzt wieder frei von Kunst, kein blauer Reiter mehr, sondern ein grauer Geologe.

Erst als Rosenblüt in seinem Wagen saß, öffnete er die Faust und entfaltete den Zettel. Selbiger war aus einem Magazin herausgerissen worden. Das Papier besaß die Festigkeit und den Glanz aller Kostspieligkeit. Vor dem Hintergrund einer mehrfarbigen, jedoch im Ausschnitt undefinierbaren Grafik stand ein einziger Begriff: Stuttgart 21.

„Herrgottsack!“ entfuhr Rosenblüt nun doch ein schwäbischer Fluch, eine für diesen Dialekt typische Beschwörungsformel. Das Humorige solcher Ausdrücke war bitterernst, die Komik spitz und scharf und sadistisch. Eine Komik von der Art eines herabsausenden Fallbeils. Den meisten Spaß hatte das Fallbeil selbst. – Es war Rosenblüt stets peinlich, wenn ihm eine derartige Phrase entglitt, selbst wenn er alleine war. (Er gehörte zu den Menschen, die den Verdacht hegten, man sei nie so ganz alleine. Daß das völlige Alleinsein auf einem Aberglauben der Aufklärung beruhe.)

Stuttgart 21 also. Für Leute, die von dieser Stadt keine Ahnung oder bloß aus der Ferne ein paar verwaschene Eindrücke gewonnen hatten, klang dieser Terminus (wie auch sein gängiges Kürzel S 21) wie ein zwischenzeitlich überholter Werbespruch oder Filmtitel aus den 70er oder 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als man sich die Zukunft noch gigantisch vorgestellt hatte: augenbetäubend, glitzernd, selbst die Katastrophe ein Wegweiser, das Weltall ein offenes Tor. – Wenn man sich Filme wie 2001 und seinen Nachfolger 2010 ansieht und dies mit der Realität von 2001 und 2010 vergleicht und auf der anderen Seite Orwells 1984 mit dem tatsächlichen 1984, muß man feststellen, daß die Eroberung des menschlichen Geistes um einiges leichter zu sein scheint als die Eroberung jener „unendlichen Weiten“.

So gesehen war es verständlich, daß sich ein Uneingeweihter bei der Bezeichnung Stuttgart 21 an die Zahnpasta Strahler 70 erinnert fühlen mochte, jene Zahnputzcreme, die mit einem gar wundersamen Poem gelockt hatte: „Strahlerküsse schmecken besser / Strahlerküsse schmecken gut! / So ein Strahlerkuß / ist ein Hochgenuß / und was sich küßt, das liebt sich / ja das macht strahlersüchtig! / …“ Etwa zur gleichen Zeit war auch noch die Creme 21 auf den Markt gekommen, deren Benutzern die Werbung eine „junge Haut“ versprochen hatte. Aber Versprechen kommen primär in die Welt, um gebrochen zu werden. Sowenig die Phantasien von Raumschiffen und Mondstationen und fliegenden Stadtbahnen sich verwirklicht hatten, sosehr waren die Gebisse und die Haut der Menschen aus den 70er Jahren dem Zahn der Zeit erlegen. Man hätte also meinen können, bei Stuttgart 21 handle es sich um eine längst verblaßte Träumerei, einen nicht mehr ganz frischen Strahlerkuß, ein zu Tode gewaschenes Riesenstück weißer Wäsche. Doch das war der Irrtum derer, die sich nicht auskannten.

Rosenblüt kannte sich aus. Natürlich tat er das. Damals, als er die Stadt verlassen hatte, hatten sich erste Bürgerproteste gegen dieses getarnte Immobilienprojekt, gegen diese Verwandlung eines oberirdischen Kopfbahnhofes in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof unüberhörbar gerührt. Überraschende Proteste in einer Stadt, deren Bürger sich über so lange Zeit lediglich in der Kunst ohnmächtigen Schulterzuckens geübt hatten. Eine Kunst, die man wie alle Kunst besser oder schlechter ausüben kann. Doch die Virtuosität körpersprachlicher Bruddelei war den immer lauter werdenden und zum Schrecken der Politik auch noch sachverständigen, ja geradezu im Sachverstand kulminierenden Einmischungen der Bürger gewichen. Während anderswo in Europa die Eliten eher die Wut der Vorstädte, der Wohlstandsverlierer fürchten mußten, waren sie in Stuttgart mit einer wachsenden Gruppe rebellierender Fachleute konfrontiert. Und wer noch kein Fachmann war, der wurde es.

Nirgends auf der Welt hatten die Menschen derart viel Ahnung von Bahnhofsarchitektur, Gleiswesen, Fragen der Statik und Tektonik, der Finanzmathematik und Steuerkalkulation, der Luftbelastung im Zuge städtischer Verbaustellung und was da sonst noch dazugehörte. Es war kaum noch möglich, jemandem zu begegnen, der nicht in diesen Thematiken bewandert war. Mitunter nervte das. Jeder zweite ein selbsternannter Architekt, jeder dritte ein versierter Denkmalschützer, von den Rechenkünstlern ganz zu schweigen. Diese Leute konnten einen vollquatschen, bis man bewußtlos umfiel. Schlimm! Aber alle diese Leute hatten – und das war nun wirklich der Punkt –, ja sie hatten recht, sie hatten die Mathematik auf ihrer Seite, die Geometrie, die Physik, letzten Endes die Naturgesetze. Und genau dieser Kenntnisreichtum drängte so viele auf die Straße, auch wenn die wenigsten zum Demonstrieren geboren schienen. Ihr Demonstrationsgehabe wirkte unbeholfen, als hätten sich ein paar Kricketspieler auf eine Eistanzfläche verirrt. Aber sie blieben auf dieser Eisfläche, hielten sich so aufrecht es ging und analysierten wortreich die Beschaffenheit des gefrorenen Wassers, auf dem sie da standen.


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