Die sieben im Anhang versammelten Texte fanden sich auf der Rückseite von 20 der insgesamt 33 Briefe an Nicoletta Hansen. Die rechte Hälfte der Manuskriptseiten war unbeschrieben, um Platz für Korrekturen zu lassen. So erklärt sich der im Vergleich zum jeweiligen Brief geringere Umfang. Obwohl Türmer teilweise ausführlich auf einzelne Arbeiten eingeht, nimmt er doch nie direkt Bezug auf die Rückseiten. Lediglich am Ende des Briefes vom 9. Juli findet sich eine eher fragwürdige Herleitung dieser doppelgesichtigen Blätter. Über Motive und Absichten Türmers ließe sich spekulieren. Ich habe mich darauf beschränkt, den zeitlichen Zusammenhang der »Rückseiten« mit den entsprechenden Briefen zu dokumentieren.
Die Lesbarkeit seiner Arbeiten muss Türmer offenbar wichtig gewesen sein, sonst ginge die Chronologie der Briefe nicht einher mit der Chronologie der einzelnen Prosaversuche. Der Abdruck hält sich an die von Türmer vorgegebene Reihenfolge.
I. S.
Über den Autor:
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, studierte klassische Philologie in Jena und arbeitete in Altenburg als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur. Seit 1993 lebt er in Berlin. Bereits sein erstes Buch 33 Augenblicke des Glücks (1995) wurde vielfach ausgezeichnet. Für Simple Stories (1998) erhielt er den Berliner Literaturpreis mit der Johannes-Bobrowski-Medaille. 2005 erschien sein großer Roman Neue Leben, für den er in diesem Jahr mit dem Premio Grinzane Cavour geehrt wurde. Für seinen Erzählungsband Handy (2007) bekam er den Preis der Leipziger Buchmesse. Zuletzt erschien sein Roman Adam und Evelyn (2008). Ingo Schulze ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.
[Brief vom 9. 3. 90]
… und sende Euch viele Grüße aus Thalheim! In unserem Ferienlager ist immer was los. Nie bleibt Zeit zum Schreiben. Nur heute regnet es dauernd. Die Stimmung ist klasse. Adelheid, die unsere Gruppe leitet, hilft immer, auch wenn jemand immer noch nicht richtig sein Bett machen kann. Es ist uns ja oft genug gezeigt worden. Die Mädchen aus den andern Gruppen beneiden uns wegen Adelheid. Nur wenn abends Schluß ist und das Licht aus und wir in den Betten liegen, dann ist sie nicht mehr da.
Wir haben oft Dienst in der Küche oder Saubermachen. Ich komme mit allen gut aus. Zweimal war Tanzabend. Morgen ist wieder Tanzabend. Die Großen sind alle in Rolf verliebt, den Stellvertreter von Herrn Funke. Der hat ein Moped und Helm. Herr Funke sagt immer: Sein Rolf ist seine rechte Hand. Am Gedenkstein hat Rolf Trompete gespielt, um alle Opfer zu ehren. Davor machten wir Subbotnik und jäteten Unkraut.
Gestern war Schnitzeljagd. Maik hat ganz schön geweint, als er vortreten mußte. Frau Borchert hat den Brief vorgelesen. Maik will nicht im Ferienlager sein. Frau Borchert hat ihn gefragt, was er denn zu Hause will, wo doch alle arbeiten und niemand Zeit für ihn hat und die Kinder alle im Ferienlager sind. Wir haben ganz schön lachen müssen. Herr Funke hat dann gefragt, warum er lieber zu Hause spielen will und nicht hier im Ferienlager. Er sollte sagen, was ihm nicht gefällt. Da hat er natürlich nichts gewußt. Erst solche Briefe schreiben und dann keinen Mucks rausbringen und sich nie ausmären. Adelheid sagt: Maik ist ein Kandidat fürs Abhauen. Kinder wie Maik hauen leicht mal ab, und dann müssen Polizei und alle anderen suchen gehen. Und in der Zeit kann natürlich allerhand passieren und niemand ist dann da, weil die Maik suchen müssen.
Maik hat angefangen zu heulen. Das hätte er sich eher überlegen sollen. Wir waren alle erschrocken, weil Maik gegen die Lagerordnung verstoßen hat. Herr Funke hat ihn gefragt, aber natürlich wieder kein Mucks. Herr Funke sagte, er hat keine Wahl mehr, wenn Maik nicht redet. Das hat Maik sich selbst eingebrockt. Aber eine Chance gibt er ihm noch. Da kann sich Maik bewähren und Maik hat genickt und dann hat er ja gesagt. Wir sind dann zum Sportplatz marschiert und haben Appell gemacht. Als Brigadeleiter melde ich immer die Bereitschaft. Es ist großer Mist, wenn ich als letzte melde, weil jemand aus meiner Brigade schwatzt und einfach nicht zur Ruhe kommt. Wir mußten uns mit Maik befassen. Maik hat allen gelobt, nicht abzuhauen. Da hat er was gutzumachen. Solche Briefe schreiben! Wenn die in falsche Hände fallen hat Herr Funke gesagt. Überall auf der Welt sehnen Kinder sich nach Ferienlager wie bei uns und müssen arbeiten gehen und dürfen nie in ein Lager. Und zu essen haben sie auch nicht genug. Aber wir dürfen jedes Jahr fahren. Alle waren dafür, daß Maik es macht. Herr Funke hat gefragt, wer nicht damit einverstanden ist, aber alle wollten das mit Maik, und der hat selbst die Hand gehoben, also einstimmig. Er ist dann losgerannt, wie er war, mit kurzen Hosen und Unterhemd. Wir haben alle laut gezählt, acht, neun, zehn, Klasse! Auf Klasse gings los! Maik rannte mit dem Sack den Weg hoch zum Wald. Herr Funke hat noch gerufen, er soll dran denken, er hat schließlich was gelobt. Dann hat Herr Funke geredet und gesagt, wir sollen uns jetzt nicht blamieren. Eine halbe Stunde Vorsprung ist ganz schön lang. Aber wir müssen eben üben bis es klappt. Immer üben am besten jeden Tag. Schnitzeljagd ist nämlich eine feine Sache, hat Herr Funke gesagt, und die Küche wird auch entlastet. Wenn es nach Herrn Funke ginge, würde viel mehr Schnitzeljagd gemacht, überall bei uns in der Republik. Vier Gruppen haben wir gebildet. Die großen Jungens wurden in zwei Gruppen geteilt. Und ein paar von den großen Mädels dazu. Wir sollten Tannenzapfen sammeln. Adelheid hat alles in Beutel getan und zugemacht und die Jungens nahmen es mit. Herr Funke ging natürlich mit und auch Rolf. Wir haben hier die Augen aufgemacht. Kann ja keiner wissen was so ein Maik macht. Wenn der die Kurve kratzt und plötzlich hier ist und alle im Wald. Wir hielten die Augen auf und sammelten Holz. Wir haben es dorthin getan wo immer Anstoß ist, also genau in die Mitte vom Sportplatz. Im Wald war mir mulmig, aber keiner wollte Schiß haben. Immer schreien hat Adelheid gesagt, wenn Maik kommt schreien. Kann gar nix passieren. Der ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich. Na ja, wir haben die Augen aufgehalten. Mehr als genug Holz war dann rangeschafft. Konnte keine meckern. Und dann hörten wir die Sirene. Herr Funke hat die Lagersirene mitgenommen. Und da wußten wir, es hat geklappt. Dann sind wir los mit Adelheid und Sylvia, die ganz lange Haare hat bis zum Po. Die wird immer schnell zum Tanzen aufgefordert. Sylvia ist die Schönste im Lager. Sie hat auch einen breiten Gürtel mit goldner Schnalle dran, sie will mir von ihren Eltern einen besorgen wenn wir zurück sind, weil ihr Vater den besorgen kann. Dann haben wir beide einen. Bestimmt einen Kilometer sind wir in den Wald rein. Adelheid zeigte uns Kacke von Rehen oder andern Tieren. Das wollen wir in den nächsten Tagen mal lernen und auch die Vogelstimmen erkennen.
Wir warteten an einem Häuschen mit vielen Wegweisern. Da kamen dann Herr Funke und die Jungens mit Maik. Zwei Jungens vorn und zwei hinten, und Rolf zeigte immer wie es nicht weh tut auf der Schulter, wie sie den Ast tragen sollen. Herr Funke hat erzählt, wie sie schon wütend gewesen sind. Maik hat ganz wenig gestreut. Dabei hatte er es versprochen gehabt. Dann saß er auf einmal auf einem Baumstumpf mit dem leeren Sack auf den Knien. Ringsherum Kiefern. Maik ist weggerannt als die Jungens angefangen haben zu werfen. Hat natürlich nichts genützt. Grad wenn Herr Funke mit dabei ist. Der wirft hundert Meter weit und trifft immer. Sie haben immer zusammen geworfen. Herr Funke sagte, das war wie früher ne Orgel, wie aus einer sowjetischen Stahlorgel. Maik hat sein Unterhemd anbehalten, das hat geleuchtet egal wohin er ist. Sie mußten immer nur nach dem Unterhemd werfen. Maik hat auch keine Schuhe mehr gehabt, aber die Augen offen. Ist aber paarmal gegen was gehauen. Als Herr Funke merkte, daß wir alle mit dabeisein wollen, hat er gesagt, wir sind in Ordnung. Herr Funke ist ein Strenger, sagt Adelheid immer, aber gerecht. Das ist was ganz Seltenes, wenn er nichts zu meckern hat. Wir haben es aber geschafft, weil wir zusammengehalten haben mit Adelheid. Wir stellten uns hin wie morgens beim Appell drum rum um Maik. Herr Funke sagte, wie stolz er auf uns ist. Alle haben ihre Aufgabe erfüllt.
Die Jungs haben ihn dann auf die Veranda getragen wo Herr Funke und Herr Meinhardt, der Hausmeister, standen. Adelheid sagte, Herr Meinhardt hat gesagt, da könnte jeden Tag so ein Satansbraten kommen, das würde die Küche ganz schön entlasten. Das ging dann schnell, und weil alle was mitbekommen wollten. Herr Funke lobte Herrn Meinhardt, weil der sein Handwerk versteht und auch immer an die Schüssel denkt und die drunterhält. Die Jungens mußten die ganze Zeit rühren. Wir kümmerten uns ums Brotschneiden und brachten den Teekübel auf den Sportplatz. Wir nahmen den Handwagen und die Jungens haben das Gestell für den Spieß gebracht. Und Rolf hat das Holz angemacht über das dann der Lagerspieß kam. Herr Funke lachte, weil der Maik gar nicht wiederzuerkennen war. Hat ganz schön lang gedauert, bis wir randurften, lange nach Nachtruhe. Ich esse aber lieber Wurst. Wurst schmeckt mir besser als so ein Schnitzel. Herr Funke hat viel erzählt von früher und wie sie gekämpft haben und die ganzen Opfer und wie sie trotzdem immer an den Sieg geglaubt haben. Deshalb machen wir auch Ehrenwache. Und dann hat Herr Funke Gitarre gespielt, und Adelheid hat gesungen und wir auch. Ich dachte immer an den Gürtel. Wenn ich den schon gehabt hätte. Und dann sagte Herr Funke: Wer will denn den Kopf mal sehen? Und hat ihn rausgeholt aus dem Sack, wo er die ganze Zeit drin war. Wer will den Kopf tragen, hat Herr Funke gefragt. Ich hab Maiks Kopf so angefaßt, wie Herr Funke es uns gezeigt hat, an den Haaren. Ganz schön schwer war der, weil ich mich ja nicht dreckig machen wollte. Das hatte ich nicht gedacht, daß Maiks Kopf so schwer ist. Ach du grüne Neune hab ich gedacht. Weil er so schwer war, haben wir uns abgewechselt, Sylvia und ich. Sylvia ist meine beste Freundin. Wenn wir zurück sind, wollen wir uns besuchen.
Es grüßt Euch Eure Sabine, Gruppe M 4
[Brief vom 24. 3. 90]
Salwitzky steht zwischen Tür und Tisch, die Hände in den Hosentaschen der Ausgangsuniform, und blickt zum Fenster. Wegen der Nachmittagssonne und der Hitze ist die Verdunkelung halb zugezogen. Davor sitzt Vischer, einen Ellbogen auf dem breiten Fensterbrett, den Rücken am Spind, in der Linken das Buch. Es ist still wie auf dem Land. Nur manchmal hört man das Schlurfen von Stiefeln oder die hohen Schwungradtöne der Mannschaftswagen. Die Kompanie ist auf dem Schießplatz.
»Dreiviertel fünf«, sagt Salwitzky, schiebt die Schirmmütze noch weiter zurück und fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Und?«
»Nichts«, sagt Vischer.
»Du siehst ja nicht hin.«
»Ich seh, wenn sich was bewegt.«
»Wenn du nicht hinsiehst, kannst du auch nichts sehn!«
Ein Pfiff ist zu hören, nicht auf ihrem Flur, dann das Kratzen von Hockern über ihnen.
»Wenn die wiederkommen und uns hier sehen und sich scheckig lachen, mach ich Randale.«
»Mach Randale«, sagt Vischer leise, legt das aufgeschlagene Buch auf die Seiten, steht auf, nimmt Schreibblock und Kuli aus dem Spind und setzt sich wieder. Er schiebt das Linienpapier zurecht.
»Was wird denn das jetzt?« Salwitzky geht ein Stück um den Tisch, gerade so weit, daß er die grau-blaue Tür der Stabsbaracke mit der kaputten Klinke sehen kann.
Vischer hält den Kopf schief und dicht über dem Blatt.
»Was machst du denn?«
Vischer schaut in das Buch und schreibt weiter.
»Ich hab dich was gefragt.«
»Mensch, Sally, das siehst du doch!«
Salwitzky dreht sich um. Er rüttelt am Schloß seines Spinds, stellt seine Tasche vom Hocker auf den Tisch, öffnet den Reißverschluß und schließt ihn wieder. Er lüftet seine Schirmmütze und wischt sich mit dem Unterarm über Augen und Stirn. Die Achselhöhlen seines hellgrauen Hemdes sind dunkel.
»Schreibst du ’ne Beschwerde?«
»Nee«, sagt Vischer, blättert die Buchseite um, schlägt ein Bein über das andere und beugt sich wieder vor.
»Mach ich nie wieder«, sagt Salwitzky, »so was ist nichts für mich. In Urlaub geht’s zusammen mit der Kompanie oder gar nicht.«
»Kommst schon nach Hause.«
»Wenn ich dich ansehe, wenn ich dich da so hocken sehe, glaub ich’s nicht mehr.«
»Vor fünf passiert da nichts, das weißt du doch.«
»Wenn ich den Achtundzwanziger nicht krieg …«
»Kriegste auch nicht.«
»Ja! Scheiße auch!« Salwitzky tritt gegen den Hocker vor ihm, der ans Bettgestell kracht und umfällt. Salwitzky hebt ihn auf und tritt erneut dagegen. Der Hocker bleibt kurz vor der Tür liegen.
»Das ist der Jahrhundertsommer, Visch! Jahrhundertsommer ohne uns! Wir hängen hier rum, und da draußen … Das kommt nie wieder!«
»Kannst dich auf’n Kopp stellen, Sally …«
Salwitzky fährt herum. »So siehste aus! Sally und auf’n Kopp stellen, das würde dir gefallen.« Salwitzky hebt den Hocker auf und schiebt ihn zurück unter den Tisch. »Das würde dir gefallen, oh, Mann!«
Salwitzky wirft sich auf eines der unteren Betten in der Mitte, die Ausgehschuhe auf der Querstrebe am Fußende. »Haste Kummer, Visch? Ist sie dir davongelaufen?«
Vischer blättert weiter.
»Sag an, Visch. Stimmt’s?«
»Quatsch.«
»Schon gut, Visch, brauchst nichts zu sagen.« Salwitzky preßt seine Hände gegeneinander und läßt die Finger nacheinander knacken. »Mußt halt öfters mal hier raus, Visch, dann haste den Ärger nicht.«
Vischer schreibt weiter. Auf dem Flur über ihnen dröhnt das Radio. Solange es zu hören ist, singt Salwitzky mit.
»Nee, wirklich«, sagt er dann. »Gesprächig wie ein Schraubenzieher – lesen, schreiben, lesen! Mehr machste zu Hause wohl ooch nicht.« Mit den Händen drückt Salwitzky gegen die Matratze über seinem Kopf.
»Haste kein Geld mehr? Brauchste welches?«
»Danke, nein.«
»Wirklich?«
»Hast doch selber nichts.«
»Hier nicht, hier brauch ich ooch nichts. Aber zu Haus, was denkste, was ich zu Haus hab. Brauchste welches? Mußte nur sagen.«
»Mußt nichts machen, Sally.« Vischer lehnt sich zurück und liest, den Kuli noch zwischen den Fingern.
»Gibt schon Sachen, die du gern hättest, bin doch nicht blöd!«
»Zum Beispiel Ruhe«, sagt Vischer. Das Radio über ihnen ist nicht mehr zu hören.
»Auf’n Kopp stellen. Das gefällt dir doch. Dir gefällt’s ja überhaupt hier.«
»Was?«
»Kannst es gar nicht besser haben als hier, wo sich die Jungs auf’n Kopp stellen.«
»Wie ›auf’n Kopf stellen‹?«
»Weißte genau, weißte doch ganz genau. Und dazu Blumenvase und Tischdecke und der ganze Scheiß.«
»Das hier?« Vischer zeigt auf die Milchflasche hinter der Verdunkelung, in der ein paar verblühte Wiesenblumen im Wasser stehen.
»Schleimst dich doch wie ’n Gaskranker an jeden ran. ›Kann ich dir was mitbringen? Kaffee, Wodka? Hattatatata und schönen Dank auch.‹ Wie mir das auf’n Sack geht!«
Vischer schüttelt den Kopf und schreibt weiter.
»Bringst das Zeug doch immer nur rein, aber selbst trinken, nee, damit bezahlst du sie doch!«
»Was?«
»Deine Schwänze.«
Vischer lacht auf. »Nur Scheiße im Kopp, Sally, nur Scheiße.«
»Hast dich doch massieren lassen, von dem Weib, hab ich doch gesehen, wie du hier lagst und dich nicht mehr eingekriegt hast.«
»Von Rosi?«
»Hast dir einen abgestöhnt, war doch dabei!«
»Und hast dich hingelegt, Sally, vergiß das nicht«, sagt Vischer und sieht zum ersten Mal auf. »Da war einer ganz heiß drauf, von Rosi massiert zu werden.«
»Ich hatte das Hemd an und hab nicht rumgestöhnt …«
»Hochgeschobenes Unterhemd, Sally, und weißte, was du gesagt hast, wer da auf deinem Arsch sitzen sollte?«
»Dir gefällt’s hier doch, Visch, genau wie der Tunte, hat Rosi selbst gesagt, weil er hier nicht allein ist, lauter saftige Jungs, die sich für ihn auf’n Kopp stellen, hat Rosi gesagt. Und du, Visch, du bist genauso, ganz genauso.«
»Mach ’n Kopp zu, Sally«, sagt Vischer, steht auf und zieht die Verdunkelung zurück. »Halt einfach deine Klappe.«
Über der Stabsbaracke blitzt es. Vischer setzt sich, das Fensterbrett wie einen Tisch vor sich, die Knie an der kalten Heizung, den Rücken Salwitzky zugewandt, der weiterredet.
[Brief vom 30. 3. 90]
Vischer dreht sich erst wieder herum, als das Gequietsche beginnt. Salwitzky hält sich mit beiden Händen an den Eisenstäben hinter seinem Kopf fest, drückt die Füße gegen die Querstrebe am anderen Ende und bewegt sich, das Bettgestell schuckert hin und her. »Rosi, du Sau!« schreit Salwitzky und kommt aus dem Rhythmus, stemmt die Füße gegen die Matratze des oberen Bettes, und dann, als hätte er nur Schwung geholt, tritt er gegen das Fußende und wieder gegen die Matratze. Er schaukelt hin und her, er schreit: »Du Sau!« Die Stahlfedern quieksen, das Gestell scheuert auf dem Boden. »Du Sau, du Sau, du Sau!«
Plötzlich ein hoher Ton – die Metallrohre fahren auseinander, Salwitzky schreit, hält das Bett mit den Füßen über sich, schreit. Salwitzky ist ein Artist, ein schreiender Artist. Er kann Vischer nicht sehen, weil ihm die Beine, das Bett, die Matratze im Weg sind. »Hast du’s, hast du’s?«
Vischer antwortet nicht. »Hast du’s?« schreit Salwitzky und reckt, was eine übermäßige Anstrengung zu sein scheint, seinen Kopf zur Seite, so daß er endlich Vischer sehen kann, der das obere Bett festhält und lächelt.
Salwitzky wälzt sich zur Seite und steht auf. Gemeinsam stecken sie die Röhren am Fußende ineinander. Salwitzky bückt sich und nimmt die Bügelfalte seines rechten Hosenbeins so vorsichtig, als würde sie schmerzen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann untersucht er die Bügelfalte des linken Hosenbeins. Auf seinem Rücken sieht man kleine über die Schultern verteilte Schweißflecken.
Vischer schreibt wieder, den Kopf schief und dicht über dem Blatt. Salwitzky steht hinter ihm. Nur an den Grasbüscheln ist zu sehen, wie windig es ist.
Die ersten Regentropfen sind so groß, daß man sie einzeln auf dem hellgrauen, bei diesem Licht fast bläulichen Asphalt erkennt.
Salwitzky beugt sich über Vischers Schulter hinweg, dreht den Fenstergriff und öffnet einen Flügel. Die Tropfen klatschen so laut wie Schneebeeren auf den Asphalt. Sie übertönen sogar das Stiefelgetrappel, zumindest so lange, bis der Rost des Fußabtritts zu scheppern beginnt, regelmäßig, fast rhythmisch.
Vischer erblickt eine Hand vor seinen Augen, eine fremde schwere Hand mit dicken Fingern, die Vischer, als sie sich spreizen und sich die Kuppen mit den halb zugewachsenen Fingernägeln emporrecken, an Würmer oder ähnliches erinnern. Sehnen und Adern treten hervor, und die Narbe unter dem Ehering wird weiß. Langsam sinkt diese Hand auf Vischers Papier, und während das Stiefelgetrappel und die Stimmen auf dem Gang immer lauter werden und Türen aufschlagen und der Asphalt bereits ganz dunkel ist, zerknüllt diese Hand das Blatt vor Vischers Augen lautlos.
»Müssen wir ihn eben zum Sprechen bringen, wenn Spitzel schweigt, was, Spitzel? Ist doch logisch, findet Spitzel auch, daß das logisch klingt?«
Edgar schob die Bohnerkeule auf dem Gang hin und her. Zentimeterweise kam er wieder näher an die Meute heran, die sich vor der offenen Stubentür drängte. Um besser zu sehen, stützten sich die hinteren auf die Schultern der Vordermänner und sprangen hoch oder rissen andere, die sich ebenfalls hochstemmten, nach hinten. Wenn sie nicht gerade johlten oder schrien, verstand Edgar jedes Wort.
»Prima Idee! Also, Spitzel, warum so stumm?«
»Der ist nicht stumm. Wenn er was nicht ist, dann stumm, stumm nu wirklich nicht.«
Es war noch dasselbe Gerede wie vorhin. Edgar hatte geglaubt, es würde zehn, fünfzehn Minuten dauern, höchstens zwanzig. Zwanzig Minuten mit der Bohnerkeule sind eine lange Zeit, ein ganzer Flur: vom Zimmer des Polit und den Toiletten aus entlang der Türen der Zugchefs, des KC und der Waffenkammer, vorbei am Treppenhaus und der Schreibstube, dann zwei Türen erster Zug, zwei zweiter, zwei dritter, Waschraum, Treppenhaus, die Unteroffiziere, Fernsehzimmer, Klubraum.
»Hörst du, Spitzel, was er sagt? Warum weigert sich Spitzel?«
»Der spricht nur mit dem Polit – gewählter Ausdruck, Käffchen, Milch, Zucker, ›Duett‹, alles vom Feinsten.«
»Geh jede Wette ein, der macht’s Maul nicht auf, macht der nicht auf!«
Diese Stimme erkannte Edgar nicht. Die beiden anderen waren Mehnert und Pitt, Pitt, das rosa Schwein mit seinen Sprüchen.
»Dann muß er was zu fressen kriegen«, sagte Mehnert.
»Knöpf ihn auf«, rief der, den er nicht erkannte.
Edgar hatte gedacht, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Deshalb war es ihm leichtgefallen, sich weiter mit dem Spitzel zu unterhalten. »Niemand darf sich etwas anmerken lassen«, hatte Mehnert gesagt. »Wenn die Wind davon kriegen, versetzen sie ihn oder machen sonstwas«, obwohl keiner wußte, was Mehnert mit »sonstwas« meinte. Mehnert war so weit gegangen, sich bei dem Spitzel Geld zu borgen. Im Gegenzug wollte er ihm Ausgang verschaffen. Der Spitzel hatte ihm dreißig Mark gegeben, den Ausgang aber abgelehnt. »Da habt ihr’s«, hatte Pitt gesagt. »Jetzt, da bei den Polen der Teufel los ist, brauchen die alle Augen und Ohren hier drinnen.« Der Spitzel war vorsichtiger geworden. Er schrieb jetzt weniger und nur noch, wenn er allein war. Aber vorhin hatten sie ihn wieder erwischt.
Heute war der neunte Tag. Seit neun Tagen wußte Edgar, was mit dem Spitzel passieren würde, mit dem Spitzel, der in seiner Gruppe war, dritter Zug, zweite Gruppe.
»Wir wollen deine Stimme hören, Spitzel, du weißt so viele Worte, gebildete Worte, richtig schöne Spitzelworte.«
»Ich hab doch gesagt, Spitzel wird nicht antworten, Spitzel braucht Hilfe, Spitzel braucht Anregung, Spitzel braucht uns.«
So unangenehm die Sache mit dem Spitzel war, sie vertrieb dumme Gedanken. Jedenfalls besser als das Gesinge. Edgar verstand nicht, wie man freiwillig von Kompanie zu Kompanie ziehen und Weihnachtslieder singen konnte, als wäre man im Pflegeheim. Der Resi-Oberleutnant, der den KC über Weihnachten vertrat, hatte sich dazugestellt – mehrstimmiger Gesang. Dann war er mit ihnen abgezogen, einfach mitgegangen, wie zum Biertrinken, und der UvD war fort zum Essen, und der GUvD, Daumen und Mittelfinger in den Mundwinkeln, hatte gepfiffen, ein privater Pfiff sozusagen. Und dann hatte er das Radio laut gestellt, irgendein Westsender, und das hatte sie in Stimmung gebracht – Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar –, da waren sie dann alle über den glänzenden Flur vor die Tür des Spitzels gezogen und hatten abgewartet, bis das Lied vorbei war.
Edgar hatte gedacht, daß in dem Schweigen, mit dem sie da vor der Tür verharrten, tatsächlich Zustimmung lag. Disziplin, hatte Mehnert verlangt. Es war ein Sieg der Disziplin gewesen, die ganze Kompanie schweigend vor der Tür zu versammeln.
»Der fängt doch nur zu flennen an, mehr kommt da nicht, wirst sehen.«
»Wird schon was kommen. Was denkste, was da alles kommen wird.«
Edgar machte weiter, noch gleichmäßiger, noch rhythmischer, wie er fand. Wie ein Musiker konnte Edgar die Augen schließen, konzentriert allein auf das Rauschen der mit Metallplatten beschwerten Bürste und auf das klackende Geräusch beim Richtungswechsel. Seine Arme wußten, sein ganzer Körper wußte, wann er die Bürste abzubremsen hatte, damit sie nicht gegen die Wand knallte. Sooft die Bohnerkeule mit einer Ecke anstieß, gab es Löcher, aus denen der Putz rieselte, der dann zusammen mit dem Bohnerwachs gleichmäßig verteilt wurde. Edgar störte nur, daß er an Pitts blöden Spruch vom Keulen und von den Bauchmuskeln und vom Vögeln denken mußte.
Der Spitzel trug als Waffe das Maschinengewehr. Edgar hätte gern mit ihm getauscht, obwohl das MG schwerer war. Doch die Panzerfaust sah aus wie ein Fagott oder so ähnlich. Er fand es immer lächerlich, mit so einem Instrument über der Schulter durch den Sand zu kriechen, auch wenn er als einziger mit einem Panzer fertig werden würde. So hieß es zumindest. Im SPW saßen sie nebeneinander auf der Bank hinter dem Richtschützen. Dort konnten sie die Beine ausstrecken oder sich abwechselnd auf den Boden legen. Aber Edgar war auf einer anderen Stube. Sonst stünde wahrscheinlich er anstelle der Spitzelopfer Teichmann und Bär, um zu bezeugen: Ja, das habe ich gesagt, ja, das habe ich gesagt, so regelmäßig, daß Edgar drei Bewegungen mit der Bohnerkeule reichten, hin, her, hin – ja, das habe ich gesagt, dreimal die Breite des Flurs, klack, klack, klack – ja, das habe ich gesagt. Wort für Wort hatte der Spitzel alles mitgeschrieben. Und Mehnert hatte den Beweis in der Hand, Soldat Mehnert, Vize, Fahrer, Stubenältester.
Teichmann, den man wegen seines schwerfälligen Ganges und seiner grauen Haare für einen Resi hielt, wollte mit diesem Zirkus nichts zu tun haben. Bär ist da anders. Bär findet gut, was Mehnert macht. Aber zuschlagen wollte auch Bär nicht, jedenfalls stand das nicht im Plan.
»Keiner hat was von ›Rührn‹ gesagt. Hat jemand ›Rührn‹ befohlen?«
»Mann, Spitzel, das ist ’ne Frage, hat jemand ›Rührt euch!‹ befohlen?«
[Brief vom 4. 4. 90]
Sie hatten dem Spitzel die Beine weggeschlagen.
Edgar schob die Bohnerkeule dicht an den ersten Stiefeln und Hausschuhen vorbei, und Frank, der Richtschütze aus seiner Gruppe, der immer sagte, daß er das große Los gezogen habe, weil er beim Angriff nicht hinaus und über den Acker zu rennen brauchte, bot Edgar seinen Hocker an. »Der will es doch so, der provoziert ja noch«, rief Frank und rannte zur Toilette.
Der Spitzel weiß nichts von dem Plan, und deshalb hat er keine Angst. Und man merkt ja, ob einer Angst hat oder nicht. Da muß man nichts sagen. Da reicht schon ein Blick. So ein Blick ist die schlimmste Provokation. Oder die Bewegung einer Hand. Die Hände nämlich sind nicht festgebunden, nur die Handgelenke, auf Kopfhöhe, wo die Querstrebe des oberen Fußendes an den Rahmen stößt. Bär hatte bei der Probe die Hände bewegt, als wollte er winken oder fliegen, jedenfalls war es komisch gewesen, und sogar Mehnert und Pitt hatten gelacht.
Das Klatschen waren Ohrfeigen. Eine Steigerung lag in der Natur der Sache. Füße wegschlagen war kindisch. Traf man die Ferse richtig, lag der andere flach. Aber der Spitzel konnte nicht hinfallen, er war festgebunden. Ohrfeigen taten weh.
»Stopf ihm den Dreck rein!«
»Würg’s runter, Spitzel.«
»Schwanzparade! Schwanzparade!«
Wenn der Spitzel den Mund nicht aufmachte, versuchten sie es mit Ohrfeigen. Mehnert wollte das Blatt zerreißen, dreimal, nicht zu klein und nicht zu groß, der Spitzel sollte ein bißchen kauen müssen.
Edgar hatte das Blatt mit den schiefen Zeilen und dem Krickelkrakel selbst in der Hand gehabt. Mehnert hatte es jedem gegeben, der es hatte sehen wollen. Aber wer es lesen wollte, mußte dann auch mitmachen, so eindeutig war das, eineindeutig, hatte Bär gesagt. Edgar versuchte sich vorzustellen, wie es aussieht, wenn man jemandem Papier in den Mund stopft. Zusammengeknüllt oder in übereinandergelegten Schnipseln wie ein Stück Baumkuchen. Beim Zukleben eines Kuverts hatte sich Edgar einmal in die Zunge geschnitten. Aber wie zwang man ihn zum Kauen und Schlucken? Und wenn er alles ausspuckte? Wer sammelte die feuchten Schnipsel wieder ein? Ginge es dann von vorn los? Sie johlten so laut, als gäbe es im ganzen Regiment keinen Offizier mehr.
Edgar schob die Bohnerkeule hinter der Meute entlang. Als er wieder Platz hatte, fand er nur langsam zu seinem Rhythmus zurück.
Edgar hörte auf zu summen, als er merkte, daß es die Melodie von »Ich möchte ein Eisbär sein« war. Das Lied mochte er genausowenig wie den Spruch von Pitt. Aber eine andere Melodie fiel ihm in dem Lärm nicht ein. Edgar bewegte sich viel zu schnell, als liefe er vor dem Gejohle davon. Aber er wollte nicht davonlaufen. Er hatte keine Angst. Er kannte den Plan und auch das Lachen von Mehnert, bei dem der Mund die Rundung des Kinns wiederholte, ein clownhaftes Lachen. Vielleicht würde Mehnert so lachen, wenn er dem Spitzel das Koppel abgenommen und die Hose heruntergezogen hatte, stolz, weil sein Plan kein leeres Versprechen gewesen war. Bei der Uniformhose reichte es, sie aufzuhaken und die Hosenträger zu lösen, die lange Unterhose jedoch würde er selbst anfassen und herunterziehen müssen. Oder rieben Mehnert und Bär den Hintern des Spitzels bereits mit Schuhcreme ein? Nein, Mehnert würde sich schonen, das war niedere Arbeit, da würde er einen anderen ranlassen, einen, der die Leute zum Lachen brachte. Der Spitzel würde nicht lachen, selbst wenn es kitzelte. Wer weiß schon, wie sich Schuhbürsten auf dem nackten Hintern anfühlen und ob man sich daran gewöhnt und ob der Spitzel die Backen reflexhaft zusammenkneift oder nicht. Und wenn er doch lachte? Das würde er bereuen. Oder heulen. Was macht man mit einem heulenden Spitzel? Er würde nicht heulen. Der Spitzel hielt den Blick gesenkt oder richtete ihn zur Decke. Und wenn er die Leute ansah, ihnen in die Augen sah? Aber wozu? Um sich die Namen zu merken? Rache zu schwören? Dafür war die Sache zu eindeutig. Wenn es je einen Beweis gegeben hat, dann in diesem Fall. Der Spitzel erhielt eine gerechte Strafe, eine Lektion. Edgar wunderte sich nur, wieviel Mehnert riskierte, daß er sich das traute. Mut hatte Mehnert, er war der Rädelsführer, er würde als erster verurteilt.
Wo der Flur in das Treppenhaus überging, ließ Edgar der Bohnerkeule mehr Auslauf. Er spürte tatsächlich seine Bauchmuskeln. Der GUvD stand von dem Tisch auf, als wollte er Edgar Platz machen, und ging zur Meute.
Warum hatte der Spitzel nicht nach den Unteroffizieren gerufen? Zwei hatten zugesehen, Detchens und Freising, der schöne Spanier. Jemand hatte ihnen sogar einen Hocker gebracht. Aber selbst wenn sie etwas sagen würden, wenn sie den Befehl zum Aufhören geben würden, hätte das keine Folgen. Es schadete nur ihrer Autorität. Und wenn der Spitzel sie anflehte, ihn zu befreien? Er sollte es versuchen, einfach nur: »Genosse Unteroffizier, helfen Sie mir!« Dann säßen Freising und Detchens in der Klemme.
»Mehnert malt ihm den Schwanz an«, sagte der GUvD und ging an Edgar vorbei Richtung Toilette.
Sie waren jetzt richtig in Fahrt. Mehnert tippte mit der Bürste von unten gegen die Schwanzspitze. Wie ein Dompteur würde Mehnert den Spitzelschwanz zum Stehen bringen. Und alle wollten sehen, wie es bei einem anderen aussah, wenn er hochging, weil sie immer nur den eigenen Schwanz in der Hand hatten. Edgar zwang sich, an Fußball, an Schule, an Wandertage zu denken. »Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar, dann müßte ich nicht mehr schrein, alles wär so klar …« Mehnert in der Rolle seines Lebens. Der Schwanz des Spitzels würde sich über den rechten Winkel hinaus aufrichten, wie ein obszöner Gruß. Mehnert wollte dem Spitzel das Koppel über den Steifen hängen und zählen lassen, wie lange er’s hielt, Zählen wie beim Boxkampf. Dann käme das Photo an die Reihe, die Frau, die der Spitzel als seine Freundin ausgegeben hatte, die ihm aber nie schrieb. Das hatte der Spitzel nicht bedacht. Briefe, sagte Mehnert, kriegt er nur von Muttern und von einem Kerl.
Vielleicht wäre es das beste, wenn der Spitzel einfach losheulte oder sich wehrte, aber richtig, schreien und spucken, was halt noch ging. Die Meute zog sich plötzlich zusammen, es wurde still, dann wieder Pfiffe, Applaus.
Edgar ließ die Bohnerkeule zwischen der Tür des Polit und der Toilette hin- und hergehen. Gleich mußte er wenden. Mehnert wollte »den Spitzel melken«. Aber vielleicht war der Spitzel so eingeschüchtert, daß sein Schwanz nichts hergab, egal was Mehnert anstellte, ob mit Handschuhen oder ohne.
Edgar versuchte an etwas anderes zu denken. Aber nicht an zu Hause.
Eigentlich waren Teichmann und Bär schuld. Wären die bereit gewesen, dem Spitzel eine zu verpassen – denn jemand, der sich auf dem Boden krümmt, hätten sie nicht ans Bett gebunden und geschwärzt und gemolken.
Edgar machte kehrt und sah die Meute vor sich. Das ist unsere Weihnachtsfeier, dachte er, und im selben Augenblick, da er die Meute sah und Weihnachtsfeier dachte, wußte Edgar, daß er von nun an zu Weihnachten immer an diese Weihnachtsfeier würde denken müssen. Es war wie ein Urteil, als er begriff, daß er nie wieder ohne die Meute, ohne Mehnert, ohne Pitt, ohne Bär und Teichmann, ohne Spitzel und den Plan, Weihnachten feiern würde. Der Plan hatte sich ihm auf immer eingeprägt, Schritt für Schritt, Wort für Wort, er hatte zu oft daran gedacht. Der Plan bliebe bei ihm wie dieses Eisbär-Lied und wie Pitts Spruch über die Bauchmuskeln. So wie er auch diesen Moment, da er das alles verstand, nie mehr vergessen würde, obwohl er gar nicht mitmachte, obwohl er nicht einmal zusah. Er hörte nur dieses gleichmäßige Johlen und Lachen. Sollte er sich noch die Ohren zuhalten? Er konnte gar nicht mehr anders, als sich das alles einzuprägen.
Er wollte etwas anderes tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er konnte jetzt nicht aufhören, was sonst sollte er tun? Es war vollkommen unmöglich, jetzt aufzuhören.
Zuerst merkte er gar nicht, wie ihm die Stiefel in den Weg der Bohnerkeule gerieten. Dann aber flohen sie wie eine Herde, Hausschuhe, Turnschuhe, Strümpfe, Stiefel, sie sprangen und hüpften vor der Bohnerkeule, und die, die nicht sprangen und hüpften, traf die Bohnerkeule. Es war wie ein Kinderspiel, wie Abschlagen. Je schneller er war, desto mehr wurden getroffen. Eene, meene Muh, und raus bist du! Ich möchte ein Eisbär sein. Er ließ der Bohnerkeule freien Lauf. Raus bist du noch lange nicht, am kalten Polar.
Er hörte die Schreie, aber die waren Teil des Spiels. Auch daß man ihn schlug und niederriß, gehörte dazu. So sind nun mal Kinder. Wenn sie verlieren, werfen sie alles um. Aber er mußte weitermachen. Gerade hier, wo die Meute gestanden hatte, gab es viel zu tun, denn hier waren die Sohlenabdrücke zahllos und ergaben ungewohnte und komplizierte Muster.
Und plötzlich erblickte er ihn – den Spitzel. Der Spitzel kam aus der Stube. Der Spitzel wirkte nicht wütend oder böse, nicht mal traurig. Der Spitzel hatte nicht geschrien, er hatte auch nicht geweint. Der Spitzel hatte die Waschtasche unterm Arm und ein Handtuch über der Schulter. Mit einer Hand hielt er seine Hose fest. Ein paar Schritte, dann war der Spitzel im Waschraum verschwunden.
Und Edgar machte weiter. Er hatte, wie er jetzt bemerkte, ganz still gestanden, still und aufrecht, die Bohnerkeule am Fuß, den Stiel senkrecht im Arm.
Nun aber mußte er sich wieder das Muster der Sohlenabdrücke einprägen, und das im selben Augenblick, da seine Bohnerkeule darüberging. Das war nicht einfach, aber er arbeitete hart, er spürte seine Bauchmuskeln. Und schließlich wurde er auch belohnt. Denn je schneller er die Bohnerkeule hin und her zog, desto deutlicher sah er die Sohlenabdrücke dort unter dem Glanz, eingeschlossen im ewigen Eis.
[Brief vom 17. 4. 90]
– Also zwanzig?
– Zehn, zehn Mark bei vier Knöpfen.
– Du Saftsack! Eben hast du noch gesagt, zwanzig! Bei vier Knöpfen zwanzig!
– Zehn! – Michael hielt ihm die Hand hin.
– Das kannste dir abschminken, Saftsack! Rolf blinzelte durch den Rauch seiner Zigarette. Die herabfallende Asche streifte seinen Pullover.
– Zwanzig!
– Zehn! Hab nur zehn, hier. – Michael lächelte und zog einen zerknitterten Schein aus der Tasche.
– Dann mach dir ’nen Kopp, wo du den Rest herkriegst. Bei vier Knöpfen zwanzig! – Rolf schnippte die Kippe ins Blumenbeet und setzte sich auf den Rand des Abfallkübels.
– Und wenn sie schon da war? – Michael sah auf die Uhr.
– Denkste, die warten auf dich? – Rolf nickte in Richtung des Wahllokals, an dessen Eingang zwei Photographen standen. Eine Gruppe von Frauen kam lachend heraus. Zwei von ihnen trugen rote Papierfähnchen in Händen. Ein Mann im hellen Anzug lief hinter ihnen her und sang: »Völker hört die Signale! Auf zum …« und verstummte, als sich einige Leute nach ihm umdrehten. Die Frauen pruschten und gicksten und liefen schneller.
Rolf kramte in seinem Beutel. Er nahm die rote Kappe von der Plasteflasche, füllte sie bis zum Rand und trank. Er schenkte erneut ein und reichte die Kappe Michael.
– Rauchen macht durstig.
– Was issen drin? – Michael kostete vorsichtig.
– Tee, was denn sonst! – Rolf grinste.
Michael nippte ein zweites Mal und verzog das Gesicht.
– Schau mal – flüsterte Rolf. Ein gutgekleidetes Paar mittleren Alters war nicht weit von ihnen stehengeblieben. Der Mann beugte den Oberkörper vor, als hätte er Seitenstechen. Die Frau sprach ihm gut zu und streichelte kurz seine Schulter. Der Mann richtete sich wieder auf. Untergehakt setzten sie langsam und mit kleinen Schritten ihren Weg zum Wahllokal fort.
– Volle Stimme – sagte Michael.
– Der hat bestimmt drei Tage nicht. Hab ich an meinem Alten gesehen.
– Drei Tage?
– Wenn ich’s dir sage! – Rolf trank aus der Flasche. – Für die ist das gar nichts. Früher haben die sogar ’ne Woche durchgehalten.
– Früher hatten die auch nichts zu fressen. Früher war das keine Kunst.
– Quatsch! Vor den Wahlen gab’s immer was, sogar Schokolade. Da haben die richtig gefuttert.
– Meine Mutter hat’s gestern nicht mehr ausgehalten und geheult, richtig geheult. Und mein Alter immer nur: Du schaffst das, du schaffst das, das schaffst du. Und als sie nicht aufgehört hat mit Heulen, hat er gesagt, na bitte, dann mach, wie du denkst.
Rolf wieherte. – Mach, wie du denkst? … wie du denkst!
– Mach, wie du denkst – wiederholte Michael ernst.
– Und, hat sie’s gemacht? – Rolf hustete. Er riß eine Packung alte »Juwel« auf und klopfte gegen den Boden der Schachtel, bis ein Filter etwas vorstand.
Michael zuckte mit den Schultern. – War Ruhe dann. Ist zurückgekrochen ins Bett oder so. Krieg ich eine?
– Schlaucher! – Rolf hielt ihm die Schachtel hin. – Ich denk, dir schmeckt’s morgens nicht? – Rolf gab ihm Feuer.
– Schau mal, wie die dackeln. – Michael sah zur Bushaltestelle.
– Sind die so gewöhnt. Die dackeln schon ihr ganzes Leben so.
Den alten Leuten fiel es schwer, vom Bus aufs Trottoir zu steigen. Wer es geschafft hatte, eilte so schnell wie möglich ans Ende der Warteschlange.
– Warum bestellen die nicht die fliegende Wahlurne? Ich würde mit der fliegenden Wahlurne wählen.
Rolf verzog das Gesicht. – Is mir zu eklig.
– Eklig isses, aber immer noch besser als so ein Gemache.
– Absolut eklig. – Rolf trank die Flasche auf einen Zug leer, schraubte sie zu, schlug die letzten Tropfen aus der roten Kappe und drückte sie auf die Flasche.
– Fliegende Wahlurne ist saueklig! – Rolf beugte sich zur Seite und ließ seine Spucke auf den Rand des Kübels fallen.
– Die Rollmann hat gesagt, daß die FDJ drei Türen ausgehängt hat, mindestens drei!
– Drei Türen? Dürfen die gar nicht, wegen der Gesetze und so!
– Quatsch doch nicht, wirst ja sehn. War ’ne FDJ-Initiative, von ganz oben.
– Meine Oma ohne Tür, nee.
– Deine Oma kriegt ja ’ne Tür.
– Und Tina?
– Biste so blöd, oder tuste nur so? – Rolf ließ die Spucke zwischen seine Turnschuhe auf die Fußwegplatte klatschen.
– Mann, Mann! – Michael verbarg die Zigarette in der hohlen Hand. – Kacke, die winken, eh, die winken uns!
– Piß dich nicht voll. – Rolf wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Seine Zigarette fiel zu Boden, er schlang den Beutel ums Handgelenk und folgte Michael.
– Schlaft nicht ein, Sportsfreunde! – Michael und Rolf begannen auf den letzten Metern zu laufen.
– Was gibt’s denn hier rumzuspucken? – Der Polizist hakte seine Daumen ins Koppel.
– Hab nur einmal …
– Nicht wie oft, Sportsfreunde, sondern warum lautete die Frage!
– Mir ist schlecht – sagte Rolf.
– Aber rauchen wie ein Schlot?
– Gelegenheitsraucher.
– Und das da? – Der Polizist deutete auf Rolfs rechte Hand, auf die gelben Stellen an Zeige- und Mittelfinger.
Rolf verzog den Mund.
– Erstwähler, was?
– Ja – antworteten Rolf und Michael gleichzeitig.
– Ihre Dokumente!
Rolf und Michael übergaben dem Polizisten ihre Personalausweise.
– Was machen Sie denn dauernd in der ČSSR?
– Bergsteiger – sagte Michael hastig. Aus dem Wagen war die Funksprechanlage zu hören. Der Beifahrer meldete sich mit Toni 17.
– Rote Bergsteiger, mal davon gehört? – Der Polizist blätterte in den Ausweisen vor und zurück.
– Kurt Schlosser, klar, kenn ich – sagte Michael.
– Den Beutel mal her. – Rolf reichte ihm den Beutel. Der Polizist schraubte die Flasche auf und roch daran.
– Kamillentee, wofür denn das?
– Mir ist übel – sagte Rolf.
– Und warum gehen Sie dann nicht zur Wahl?
– Warten auf ’n Kumpel.
– Und wie heißt Ihr Kumpel?
– Sebastian – sagte Michael – Sebastian Keller.
– Keller, Sebastian also. Und wo wohnt dieser Keller, Sebastian?
– Georg-Schumann-Straße einhundertund…
– Haben Sie kein Blauhemd?
– Hab ich drunter – Michael zog an dem Rundkragen seines Pullovers und stülpte den blauen Kragen darüber.
– Und Sie?
– Bin nicht in der FDJ.
– Nicht im Jugendverband?
– Religiöse Gründe.
– Aber wählen, ich meine, Ihre Stimme, Sie werden doch Ihre Stimme abgeben?
Rolf nickte bedächtig. – Hatte ich vor. – Rolf wandte sich um und spuckte auf die Wiese.
– Na dann, viel Vergnügen, gute Verrichtung! – Er reichte Rolf beide Ausweise. – Und herzlichen Glückwunsch zum Erstwähler! – Er salutierte flüchtig. Als er die Fahrertür des Lada öffnete, sagte der Beifahrer gerade – Verstanden!
Michael und Rolf schlurften in Richtung Wahllokal.
– Was erzählst du da für ’nen Scheiß, religiöse Gründe? – flüsterte Michael.
– Haste gemerkt, wie der Schiß gekriegt hat?
– Und wenn er’s nachprüft?
– Was solln der nachprüfen?
Der Toniwagen fuhr an ihnen vorbei und hielt direkt vor dem Wahllokal.
– Religiös hilft immer. Die sind sogar froh, wenn du religiös sagst und sagst, daß du deine Stimme abgibst.
– Stell dir mal vor, du wärst der einzige, der so was macht.
– Was macht?
– Na, wählen gehen!
– Wieso der einzige?
– Nur mal vorstellen! Du gehst hierher und alle anderen nicht, nur du gibst deine Stimme ab, du allein.
– O Mann …
– Ich würde sterben, lieber würde ich sterben.
– Warum sterben?
– Weil es so peinlich ist! Alle würden sagen, das ist der, der seine Stimme abgegeben hat, und dann würden sie kichern und mir was hinterherrufen.
– Du hast Probleme, nu ma wirklich.
– Mensch, Röhre, da is Tina! Da!
In die Menge vor dem Wahllokal war Bewegung gekommen. Die beiden Photographen trabten in Richtung Bordstein, ein zweiter Toniwagen stoppte, ein Mann mit umgehängtem Tonband und Mikrophon trat als erster vor die Familie, in deren Mitte eine junge mittelgroße Brünette im Blauhemd stand, eine hellrote Schleife im Pferdeschwanz.
Rolf und Michael rannten das letzte Stück und hörten, wie Tina dem Mann mit dem Tonband sagte – Ach, ganz normal, wie immer, viel Bewegung, gesunde Ernährung, viel frische Luft. – Als der Reporter schon zur zweiten Frage ansetzte, fügte sie lächelnd hinzu – Und nicht zu spät ins Bett!
Alle lachten, Tinas dunkle Augen leuchteten.
Michael zog den Pullover aus, so daß auch er jetzt im Blauhemd dastand.
– Vier, es sind genau vier! – triumphierte Rolf. Sie mußten sich auf die Zehenspitzen stellen. – Zwanzig, Mischi, ich krieg von dir zwanzig, vier Knöpfe!
Michael sah gebannt auf das Blauhemd von Tina und nickte. – Is ja gut!
– Schon im Kindergarten – sagte Tina – habe ich mir vorgestellt, wie das ist, das erste Mal die Stimme abzugeben. Wir haben es gemalt, immer wieder. Und einmal durften wir es auch mit Plasteline kneten. Das haben wir heute noch bei uns im Wohnzimmer.
Vater und Mutter nickten. Tina war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Selbst die in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen waren die gleichen.
– Meine Stimme ist meine Gesundheit. Das haben mir meine Eltern ganz früh schon beigebracht. Und ich hab meine Eltern immer beneidet, weil die jedesmal so richtig glücklich waren, wenn sie ihre Stimme abgegeben hatten. Ja, wirklich, die kamen immer so strahlend nach Hause. Und da dachte ich, das will ich auch machen.
Die Gesichter der Wartenden wirkten konzentriert und angestrengt, wenn überhaupt gesprochen wurde, dann leise. Da es so langsam voranging, hatten sich einige hingehockt und standen selbst beim Vorrücken nicht auf.
– Ist das wirklich nötig? – fragte ein hagerer Mann mit Halbglatze, der gerade aus dem Wahllokal gekommen war. Doch die Frau, die sich auf die Stufen des Eingangs gesetzt hatte, antwortete nicht. Sie sah nicht einmal auf. Der Wahlhelfer schüttelte den Kopf, ging weiter, grüßte hin und wieder jemanden und griff an seinen Krawattenknoten. Neben Michael blieb er stehen.
– Genosse Becker! – rief er. – Genosse Be… – Ein Ellbogen traf sein Brustbein. Der Wahlhelfer krümmte sich.
– Was pläkst du rum! Hier is kein Rummel! – zischte ein junger kräftiger Mann im beigefarbenen Anorak. – Siehste nicht, daß die auf Sendung sind!
Der Wahlhelfer nickte und hob beschwichtigend eine Hand. Er keuchte, er räusperte sich, stand aber wieder gerade und griff nach seinem Krawattenknoten.
– Mein Lieblingsbuch ist ›Ein Menschenschicksal‹ von Michail Scholochow, das hat mich sehr bewegt, dieses harte und schwere Leben, und wie er kämpft und hofft, weil er will, daß das Leben schön wird. Und dann muß ich sagen, wie es Scholochow gelingt, ein Menschenschicksal auf hundert Seiten zu bannen, wo andere dicke Wälzer schreiben und viel weniger sagen,
[Brief vom 21. 4. 90]
ja, Scholochow. Den bewundere ich. Und Aitmatow, Djamila, das schwere Glück, ja, Aitmatow und Scholochow.
Der Wahlhelfer hielt seinen linken Arm hoch und tippte penetrant auf seine Armbanduhr. Der junge Mann in dem beigefarbenen Anorak sah ihn mißtrauisch an.
– Laß das jetzt mal.
– Der Zeitplan. Wir haben einen Zeitplan!
– Wir auch. – Der junge Mann im beigefarbenen Anorak grinste hämisch.
– Ich denke, ich bin gut vorbereitet. Und ich freue mich darauf, meine Stimme jetzt abgeben zu dürfen. Und daß ich das zusammen mit anderen Erstwählern tun kann, darüber freue ich mich auch.
Der Wahlhelfer griff in die Ärmel seines Jacketts und zog die Hemdsärmel vor. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Michael.
– Erstwähler?
Michael nickte.
– Und Sie?
– Auch Erstwähler.
– Und Ihr Blauhemd?
– Vergessen.
Der Wahlhelfer zupfte noch immer an seinen Ärmeln. – Sie kommen mit, gleich mit rein – sagte er zu Michael.
– Ich?
– Ausweis dabei? Vorbestraft?
– Nein, also ja, den Ausweis hab ich.
– Ich auch?
Der Wahlhelfer schüttelte kurz den Kopf. Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und sah Michael an.
– Kämm dich mal und schlaf nicht, wenn’s losgeht.
Der Wahlhelfer reichte Michael einen kleinen weißen Kamm und stellte sich auf die Zehenspitzen.
– Wir, mein Freund und ich, er ist auch Erstwähler, wir wollten eigentlich zusammen …
– Ohne Blauhemd? Tut mir leid!
– Und wenn ich’s hole, ich wohn gleich …
Der Wahlhelfer machte einen Satz zur Seite. – Genosse Becker, Wilfried, hier, hier bin ich! – Er winkte mit beiden Armen und lief an der Warteschlange entlang Richtung Eingang. Michael und Rolf folgten dem Wahlhelfer.
– Saftsack! So ein Saftsack!
– Kann ich doch nichts dafür, ich hab ihn gefra…
– So ein Arsch!
Plötzlich zog der Wahlhelfer Michael am Arm – einen Augenblick später befand sich die hellrote Schleife von Tinas Pferdeschwanz genau vor seiner Nase. Der Kragen ihres Blauhemds stand etwas ab. Sie roch nach Shampoo und frischer Wäsche. Von hinten wurde geschoben – Saftsack! – rief jemand.
Im nächsten Moment wurde Michael gegen Tina gedrückt. Er spürte ihren Hintern, ihre Haare, eine Schulter.
– Oh, oooh.
Sie drehte sich halb zu ihm um, so daß er das Grübchen auf ihrer rechten Wange sehen konnte.
– Oh, Entschuldigung, aber …
Michael tastete nach seinem Ausweis. Als er aufsah, waren Schleife und Pferdeschwanz verschwunden. Es roch ungelüftet, Schritte hallten durch den großen gefliesten Raum, dessen Rückseite aus Glasziegeln bestand. Die Wahlkommission hinter den aneinandergeschobenen Tischen hatte sich wie eine Schulklasse erhoben und wartete. Genau in der Mitte stand die Wahlurne, ein A4-Blatt bedeckte den Schlitz. Das Transparent an der Wand dahinter verkündete in weißer Schrift auf rotem Grund: Unsere Stimme den Kandidaten der Nationalen Front!
Das Licht wurde angeschaltet, die Neonröhren flackerten. Die Stimmen verloren sich wie in einer Schwimmhalle.
Eine Fliege krabbelte über Michaels rechten Handrücken. Er hob die Hand, die Fliege verschwand und kehrte einen Augenblick später auf dieselbe Stelle zurück. Es knallte, als Michael zuschlug.
Der Wahlhelfer sah kurz auf und winkte Michael. Mit ihm traten eine FDJlerin und ein FDJler heran. Sie warteten auf Tina. Ein Mann mit dottergelben Haaren und einer schwarzen Lederjacke schüttelte ihr die Hand und lächelte. Die Frau neben ihm bewegte ihre dünnen hellroten Lippen im aschfahlen Gesicht. Eine Brille mit Goldrand hing ihr um den Hals.
– Stellt euch mal hierher, Jugendfreunde. Jetzt noch mal zusammenreißen. So, jetzt geht’s los! Los! Viel Glück!