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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95486-0
© Piper Verlag GmbH 2012
Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Wollt ihr wissen, woher ich’s hab,
Mein Haus und Hab?
Hab allerlei Pfiff ersonnen,
Es mit Müh, Schweiß und Angst gewonnen.


Johann Wolfgang von Goethe

1

Heute Abend würde es nach dem hektischen Wochenende endlich mal wieder ruhig bleiben. Mittlerweile war es Mitternacht, der Übergang von Montag auf Dienstag, die Zeit, die Gastwirte in die Verzweiflung treibt und den Bewohnern des Viertels ausnahmsweise mal einen ruhigen Schlaf ermöglicht. Nichts sprach dafür, dass es diesmal anders sein könnte.

Es regnete leicht, und es war deutlich zu kalt für Ende April. Kein Wetter für Nachtschwärmer. Wer nicht bereits behaglich im Bett lag, würde freiwillig nicht vor die Tür gehen.

Der Rentner Walter Meerkötter schob die »Paderborner Nachrichten« beiseite. Er ärgerte sich. In der Zeitung stand ein Artikel über sein Ükernviertel, in dem sich der Journalist lobend darüber ausließ, dass sich der graue Stadtteil mehr und mehr zu einem Schmuckstück wandele.

Wie kam dieser Schnösel dazu, so etwas zu schreiben? Meerkötter gefiel die Grauemausvariante. Klar, der Ükernplatz war schön geworden. Doch je mehr Kneipen sich hier ansiedeln, desto mehr Volk rennt hier am Abend herum, dachte Meerkötter.

Und je mehr Schickimickiwohnungen in den ruhigen Seitenstraßen geschaffen wurden, desto höher stiegen die Mieten. Womöglich würde man seinesgleichen sogar hier wegekeln, weil alte Leute nicht mehr ins Bild passten oder weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Nein, er wollte das Ükern so, wie es war, das Alte, das Ursprüngliche. In dem die Bewohner auch mal Dreck unter den Fingernägeln haben durften und trotzdem keiner die Nase rümpfte.

Meerkötter öffnete sein Fenster und horchte hinaus. Es roch nach feuchtem Staub und Flieder. Kaum ein Laut war zu hören, nur das entfernte Rauschen der Stadt. So sollte es bleiben. Er wollte nichts anderes. Kein Viertel, in dem irgendwann einmal die Schönen und Reichen Paderborns wohnten. Die Journalisten sollten bloß die Füße ruhig halten.

Er schob das Fenster wieder zu, zog seine Schuhe und eine dicke Jacke an und ging zur Wohnungstür. Sein alter Cockerspaniel stand schon aufgeregt bereit und drängte sich noch vor seinem Herrn hinaus in die kühle Nachtluft.

Meerkötter hatte sich seit Langem angewöhnt, zu dieser Uhrzeit seinen Hund noch einmal Gassi zu führen. Manchmal bekam er dabei dumme Sprüche von angetrunkenen Passanten zu hören, die sich über den alten Mann mit dem ebenso alten Hund lustig machten. Aber Angst hatte er dabei nie verspürt. Es war sein Stadtteil. Hier im Paderborner Ükernviertel war er aufgewachsen, hier hatte er sein ganzes Leben verbracht, hier kannte er sich aus.

Sein nächtlicher Rundgang begann stets am Heierstor. Gelangweilt beobachtete er seinen Hund, der aufgeregt herumschnüffelte. Mit diesem Cockerspaniel lebte er nun bereits seit dreizehn Jahren zusammen. Herr und Hund waren sich im Laufe der Jahre zunehmend ähnlicher geworden. Die herunterhängenden Lefzen des Tieres spiegelten sich in den nach unten weisenden Mundwinkeln des Mannes, beide betrachteten mit entzündeten müden Augen illusionslos die Welt. Das glanzlose mausgraue Fell des Hundes fand sein Gegenstück im dünnen grauen Haar des Rentners, der dies am Hinterkopf schulterlang trug.

Heute wirkte der Cockerspaniel deutlich agiler als sonst.

Hier war ein griechischer Imbiss, klar, dass es für den Hund verlockend roch. Doch als Meerkötter seinen müden Blick schweifen ließ, traute er plötzlich seinen Augen nicht mehr. Um das Fenster herum, das der Grieche für den Straßenverkauf nutzte, war alles mit blauer Farbe beschmiert. Kreuz und quer hatte jemand die Farbe mit einem dicken Quast aufgetragen.

Vorsichtig streckte Meerkötter einen Finger aus. Die Farbe war noch frisch. Verständnislos schüttelte er den Kopf. Der Hund war währenddessen weitergestreunt, immer noch die Nase in der Gosse. Meerkötter ging schwerfällig ein paar Schritte weiter, um gleich wieder stehen zu bleiben. Die elegante und nicht recht in diese raue Umgebung passende Boutique neben dem Gyrosstand war ebenfalls Opfer der Farbattacke geworden. Beide Schaufenster waren in allerschönstem Ultramarinblau angepinselt.

Was geschah hier? Langsam, mit einem ihm bislang völlig unbekannten Gefühl von Besorgnis, zog Meerkötter weiter. Auch in der Mühlenstraße waren etliche Fassaden beschmiert.

Plötzlich tauchten drei vermummte Gestalten vor ihm auf und versperrten den Bürgersteig. Einer von ihnen trug in der einen Hand einen großen Eimer mit Fassadenfarbe und in der anderen einen Quast. Sie sprachen kein Wort, stellten sich Meerkötter aber so provozierend in den Weg, dass er nicht weitergehen konnte, ohne es auf eine Auseinandersetzung ankommen zu lassen.

Sein Hund jedoch ging fröhlich wedelnd auf die Männer zu. Der mit dem Quast stellte seinen Eimer ab und streichelte scheinheilig mit der frei gewordenen Hand das zutrauliche Tier, tauchte dann blitzschnell den breiten Pinsel in seinen Farbeimer und zog dem Cockerspaniel einen breiten blauen Streifen über den Rücken. Die drei Vermummten lachten laut.

Meerkötter starrte auf die Untat mit wachsendem Entsetzen und fing am ganzen Körper an zu zittern. Gleichzeitig schoss heiße Wut in seinen Kopf, dann brannte bei ihm eine Sicherung durch. Sein unbändiger Zorn verlieh ihm ungeahnte Energie. Mit erhobenem Regenschirm ging er auf den Rüpel los, der seinen Gefährten so entwürdigend bepinselt hatte.

Geschickt wich der Mann dem ungestümen Angriff des Rentners aus. Meerkötter fand sich plötzlich umzingelt von drei Kerlen mit schwarzen Motorradhauben, die allesamt einen halben Kopf größer waren als er und den Kreis um ihn immer enger zogen. So eng, dass es nicht mehr nötig war, ihn festzuhalten, als einer der drei dem Rentner den Farbeimer über den Kopf stülpte. Meerkötter wollte schreien, doch sein Schrei erstickte in der Farbe, die ihm in Mund und Nase drang.

Dann ließen die Männer von ihm ab. Zu viel Zeit brauchte Meerkötter, um sich panisch den Eimer vom Kopf zu zerren und notdürftig die Farbe aus den Augen zu wischen. Die Typen waren verschwunden, bevor er hätte erkennen können, welche Richtung sie eingeschlagen hatten.

2

Weinrote Jacke, gelbes Hemd. Johannes Winter fasste die Klamotten nur mit spitzen Fingern an. Es war die Dienstkleidung der Tanzkapelle »Ramona«. Wie er dieses Outfit hasste. Mindestens ebenso wie die Tanzmucke, die diese Band spielte. Aber was blieb ihm anderes übrig? Irgendwoher musste ja das Geld für die Brötchen kommen.

Widerwillig schlüpfte er in die Verkleidung. Die Smokinghose ließ er achtlos auf dem Bett liegen. Stattdessen zog er sich seine knallenge schwarze Lederhose an. Sie spannte zwar mittlerweile über dem Bauch, aber das ließ sich mit der Jacke hervorragend kaschieren. Winter war eben ein Rocker und kein Tanzmusikfuzzi. Auch wenn er heute auf dem Vogelschießen in Wewer in der Schützenfestcombo »Ramona« spielen musste.

Als er eine Stunde zu spät zum Soundcheck in das Festzelt kam, das der Schützenverein aufgestellt hatte, gab es gleich den ersten Ärger. Egon, der Bandleader von »Ramona«, ein fetter aufgedunsener Mann von etwa sechzig Jahren, steuerte direkt auf ihn zu.

»Mann, Johnny, warum kommst du so spät? Wir mussten den ganzen Kram allein reintragen. Und wie du aussiehst! Ich hab dir schon tausendmal erklärt, dass hier Smoking angesagt ist. Keine Lederhose, wir sind hier nicht bei den Stones! Wir machen Tanzmucke! Und eine Krawatte hast du auch nicht um. Das geht so nicht, Johnny. Du bist zwar nur Ersatz, aber wenn du dich nicht an die Regeln hältst, bist du ganz raus. Ist das klar?«

»Nun mach aber mal halblang, Egon, du hast gesagt, um siebzehn Uhr geht es los. Und?« Winter streckte dem Chefmusiker seine Armbanduhr hin. »Wie spät ist es? Punkt siebzehn Uhr! Also pünktlich wie die Maurer.«

Winter wusste, dass der Dicke ziemlich vergesslich war. Wahrscheinlich hatte er sich schon einen Großteil seines Hirns weggesoffen. Daher ließ er sich durch den Gitarristen schnell verunsichern.

»Okay, Johnny, lassen wir Gnade vor Recht ergehen. Aber Strafe muss sein. Weil du aus der Reihe getanzt bist, musst du die erste Runde Schnaps holen.« Versöhnlich fügte er hinzu: »Brauchst du nicht selbst zu berappen, zahlt der Schützenverein. Los, mach hinne! Wir müssen den Soundcheck zu Ende bringen und festlegen, welche Lieder wir spielen.«

Schlecht gelaunt ging Winter zur Theke.

»Vier Korn«, bestellte er. »Und ein Schnapsglas mit Wasser.«

Der Mann hinter dem Tresen grinste. Winter zog einen Zehneuroschein aus der Tasche und schob ihn über die Theke.

»Der ist für dich. Sorg dafür, dass ich den ganzen Abend Wasser statt Schnaps bekomme. Aber meine Musikerkollegen dürfen davon nichts merken. Alles klar?«

Der Mann hinter der Theke nickte und steckte das Geld ein.

Ein paar Minuten später kam Egon mit einigen Blättern Papier zur Bühne.

»So, Jungs, ich hab mir schon mal Gedanken gemacht und die Reihenfolge der Stücke zusammengestellt. Wir fangen mit ›Schöne Maid‹ an, dann spielen wir ›Heute haun wir auf die Pauke‹.«

Minutenlang ging der Dicke die Liste der Musikstücke durch. Immer dieselbe Reihenfolge. Das Durchsprechen hätte man sich auch sparen können. Winter verdrehte die Augen. Das entging weder Egon noch den anderen Musikern.

»Brauchst gar nicht so mit den Augen zu rollen, Johnny. Hier sage immer noch ich, wo es langgeht. Du bist nur Ersatz, merk dir das. Und Ersatz hat zu spuren. Ist das klar?« Um seiner Aussage Gewicht zu verleihen, tippte Egon ihm mit dem Finger gegen die Brust. »Und wenn die ganze Chose gelaufen ist, sozusagen als Letztes, kommen wir mit unserem Erkennungssong.«

Der Dicke stimmte sein Lieblingslied an:

Ramona, zum Abschied sag ich dir goodbye.

Ramona, ein Jahr geht doch so schnell vorbei.

Verzag nicht und frag nicht, denn in Gedanken bin ich bei dir.

Bei Tag bringt die Sonne, bei Nacht der Mond

die Grüße von mir.

Das war zu viel für Winter.

»Ich will ja nichts sagen, Egon, aber ich glaube, die Band schießt sich langsam selbst aus dem Rennen. Die Leute, die so ’ne Musik hören wollen, wie ihr sie spielt, sind euch doch schon längst weggestorben. Ihr habt das nur noch nicht gemerkt.«

Der Bandleader lief rot an, doch Winter fuhr unbeirrt fort: »Sieh dir doch mal das Programm der Schützenfeste in Paderborn und Umgebung an. Nächsten Freitag, hier in Wewer, legt zum Auftakt des Schützenfestes DJ Micky auf, und anschließend spielt Libero5. Die Ramonas spielen doch heute nur, weil es kaum was kostet. Beim Vogelschießen ist eben nicht so viel los wie auf dem eigentlichen Schützenfest. Da kommt weniger Geld in die Kasse. Daher begnügt man sich eben mit euch.«

Mittlerweile kochte der dicke Bandleader vor Wut. Und als der Schlagzeuger sich zu Wort meldete und Winter zustimmte, platzte Egon der Kragen.

»Du bist ab heute auch nur noch Ersatz!«, brüllte er den Drummer an. Am liebsten hätte er die beiden Aufmüpfigen gleich nach Hause geschickt, aber im Moment brauchte er sie noch. Deshalb versuchte er die Kurve zu kriegen.

»Okay, okay, ganz ruhig, Männer! Wir sind Profis. Über die Zukunft reden wir später. Jetzt müssen wir uns auf unseren Auftritt konzentrieren. Johnny, los, bring endlich den Schnaps.«

Winter machte sich erneut auf den Weg zur Theke. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt. In dieser Sekunde schwor er sich: Das ist mein letztes Schützenfest.

»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, fluchte Feldmann und schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. Gleichzeitig mit dem klatschenden Geräusch, das diese Kollision hervorbrachte, bereute er seine Gefühlsexplosion. Der unkontrollierte Wutausbruch verursachte ihm höllische Schmerzen. Solche Aktionen brachten einfach nichts. Das hatte er schon mehrfach leidvoll erfahren. Wut frisst nun mal Hirn. Diese Erkenntnis war nicht neu für ihn, und dennoch gingen hin und wieder die Pferde mit ihm durch. Ich muss unbedingt einen klaren Kopf bewahren, versuchte er sich einzubläuen.

Nachdenklich rieb sich Feldmann seine schmerzende Handfläche. Die Zeit wurde langsam knapp. Das gesamte Projekt hing mittlerweile am seidenen Faden. Die geplanten Transaktionen zogen sich weitaus länger hin als erwartet. Wenn es ihm jetzt nicht gelingen würde, Druck auf den Kessel zu bringen, könnte sein gesamter Plan scheitern. Einige Investoren drohten schon damit, aus den Verträgen auszusteigen. Wenn die ihre Warnung wirklich in die Tat umsetzten, würde das nicht nur bedeuten, dass seine Karriere beendet war, nein, er wäre persönlich ruiniert. Und auch die Geschicke der Bank waren ungewiss.

Seit die Finanzmärkte verrücktspielten, gab es für solche Vorhaben wie seines keine verlässlichen Partner mehr. Was heute noch gut und richtig war, konnte schon morgen tödlich enden.

Feldmann fragte sich, wie er mit diesem Dilemma umgehen sollte. Alle bisher getätigten Maßnahmen schienen nicht hinreichend zu sein, um die Vorbereitungen im geplanten Zeitraum zu Ende zu bringen. Besondere Anforderungen bedürfen besonderer Mittel, dachte er.

Dann müssen wir jetzt zum Äußersten greifen. Feierabend mit dem Schmusekurs! Ab jetzt wird mit harten Bandagen gekämpft!, versuchte er sich selbst zu puschen. Die Kreditabteilung sollte noch einmal alle Verträge der betroffenen Anrainer prüfen. Und allen, die sich als nicht liquide Geschäftspartner herausstellten, würde der Stuhl vor die Tür gesetzt, und ihr Häuschen käme unter den Hammer. Alles andere war Zeitverschwendung, das war ihm längst klar geworden. Jede Suche nach Kompromissen würde sein Vorhaben nur weiter in die Länge ziehen und unnötige Kosten verursachen. Nein, jetzt galt es zu handeln!

Feldmann stand auf und ging zum Fenster. Minutenlang starrte er hinaus, ohne etwas zu sehen. Dann ging er zurück zu seinem Schreibtisch. Er und seine Bank würden ihrer Verantwortung gerecht werden. Dafür konnte er garantieren. Doch was war mit den anderen Partnern und seinen Mittelsmännern? Denen musste er noch einmal richtig Dampf machen. Das durfte er nicht auf die lange Bank schieben. Feldmann griff entschlossen zum Telefon.

Zärtlich strich Johnny Winter über seine Gitarre, eine Fender Stratocaster. Sie war so weiß wie die von Jimi Hendrix. Sanft ließ er seine Fingerspitzen über die Saiten gleiten. Dann nahm er sie aus dem Koffer und hängte sie sich um. Er griff ein paar Akkorde, schlug die Saiten an und summte dazu:

Deep down in Louisiana close to New Orleans

way back up in the woods among the evergreens.

Es waren die ersten Zeilen von seinem Lieblingslied »Johnny B. Goode«.

Die Gitarre hatte er sich neu gekauft. Damit hatte er sich einen Traum erfüllt. Das Instrument war eine Anschaffung fürs Leben. Er hatte seinen letzten Cent dafür ausgegeben. Aber die Investition würde sich lohnen. Nächste Woche würde er mit seiner neu zusammengestellten Band auf Tournee gehen. Seine erste große Tour. Johnny Winter würde mit einigen berühmten Musikgruppen auftreten. Endlich hatte er es geschafft. Er hatte immer an sich geglaubt, hatte viele Nackenschläge einstecken müssen, und dennoch, er wollte nach oben, wollte berühmt werden. Jetzt war er diesem Ziel einen gewaltigen Schritt näher gekommen.

Nach dem Streit mit dem Chef der Schützenfestcombo »Ramona« war es ihm endgültig klar gewesen: Er, Johnny Winter, der alle Schützenhallen des Paderborner Landes kannte, wollte dort nicht mehr spielen. Wollte nicht mehr mit den drittklassigen Musikern auf Hunderten von Dorffesten beschissene Tanzmucke machen. Für wenig Geld, wässriges Bier und schlechten Schnaps. Wenn Winter nur an den Geschmack von Doppelkorn dachte, stellten sich ihm vor Abscheu die Haare auf seinen Armen kerzengerade auf.

Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, war alles wie von selbst gegangen. Der große Durchbruch ließ keine zwei Wochen mehr auf sich warten. Endlich!

Michael Balhorn, Besitzer der bekanntesten Konzertagentur weit und breit, hatte Johnny Winter nach einem Auftritt in der Kulturwerkstatt angesprochen. Er hatte ihn gefragt, ob er mit seiner Band nicht als Vorgruppe bei einigen der von ihm organisierten Konzerte auftreten wolle. Das Angebot an sich war schon so verlockend, dass Winter auf keinen Fall ablehnen konnte. Und dann die Bands, mit denen er zusammen spielen sollte – die Crème de la Crème der Rockmusik. Endlich würde man auf ihn aufmerksam werden. Endlich konnte er zeigen, was er wirklich drauf hatte.

In seinen Tagträumen rissen sich die berühmtesten Musiker dieser Welt um ihn. Sie alle wollten ihn, Johnny Winter, als Leadgitarristen in ihrer Band haben. Ein schönes Gefühl.

In diesem Augenblick holte sein Handy ihn jäh ins Hier und Jetzt zurück.

»Hey, Johnny, ich bin im Capitol, wollte noch ein Bier trinken, und stell dir vor, was mir da an der Theke gesteckt wurde.«

»Ja, wer bist du denn überhaupt? Kannst du nicht wenigstens deinen Namen sagen!«, schnauzte Winter den Anrufer an.

»Oh, ich dachte, du hättest mich an der Stimme erkannt. Karl, hier ist Karl, dein neuer Schlagzeuger.«

»Okay, okay, also, Karl, was hast du nun gehört?«

»Dieser Balhorn ist pleite. Du weißt doch, der, der uns für die Tournee angeheuert hat. Gypsy sagt, die fällt ins Wasser.«

»So ein Quatsch! Was hat der denn geraucht?«

»Nein, Johnny, es stimmt! Die anderen Musiker haben es bestätigt. Bei Balhorn stehen viele auf der Gehaltsliste.«

Johnny Winter traf die Nachricht wie ein Faustschlag ins Gesicht. Er hatte all sein Erspartes aufgebracht, sich noch Geld dazugeliehen. Er hatte mit Freunden und früheren Bandmitgliedern gebrochen, die seiner Meinung nach nicht gut genug für das Projekt waren, und er hatte alle Schützenfestgigs abgesagt. Damit hatte er sich seine Existenzgrundlage genommen. Wenn das stimmte, was Karl da gerade zum Besten gab, dann war er ruiniert.

»Johnny? Johnny, bist du noch dran?«

»Ja, Karl, ich bin noch dran. Aber ich kann das nicht glauben, das kann doch nicht sein. Ich habe heute noch mit Balhorn gesprochen und die Termine abgestimmt. Ich rufe ihn sofort an, dann melde ich mich wieder. Ach was, ich komme anschließend ins Capitol.«

Johnny Winter legte auf und tippte hastig die Nummer des Konzertagenten in sein Handy. Niemand ging ans Telefon. Der Musiker drückte die Wahlwiederholungstaste. Er ließ es wieder klingeln. Gerade wollte er aufgeben, da meldete sich jemand. »Ja«, ertönte eine angetrunken wirkende Männerstimme.

»Balhorn, sind Sie es?«

»Ach, Winter, jetzt auch noch Sie. Nein, es ist kein Gerücht, ich bin pleite. Wie Sie sich denken können, steht mir jetzt nicht der Sinn nach Erklärungen. Rufen Sie mich morgen an, oder kommen Sie vorbei. Guten Abend!«

Balhorn hatte aufgelegt, und Johnny Winter starrte fassungslos auf sein Handy. Wütend wählte er die Nummer erneut. Vergeblich, der Anschluss war vorübergehend nicht erreichbar.

3

Die Haustür stand sperrangelweit offen.

Johnny Winter kniff die Augen zusammen, um die Klingelschilder neben der Tür zu entziffern und erkannte, dass er in den zweiten Stock musste. Dann erst trat er, etwas unsicher, in das Treppenhaus. Sofort schlug ihm der Geruch von grüner Tonne entgegen. Es knarrte, als er langsam eine hölzerne Stufe nach der anderen erklomm. Auf der ersten Kehre legte er eine kleine Pause ein, um seinen Atem zu beruhigen. Winter war Musiker und kein Leichtathlet. Trotzdem würde er über kurz oder lang diese verdammten Selbstgedrehten weglassen müssen. Eine Schande, als knapp Vierzigjähriger so schlaff zu sein. Als er hörte, dass von oben jemand die Treppe herunterkam, zwang er sich weiterzugehen. Keine Schwäche zeigen. Eine Stufe nach der anderen wollte er nehmen, ruhig und gleichmäßig wie ein Bergsteiger. Plötzlich kam ein Mann laut polternd die Stiege herunter, rennend, jede zweite Stufe überspringend. Der Kerl rempelte ihn an, während er an ihm vorbeistürmte. Keine Entschuldigung, keine Erklärung, er rannte nur weiter treppab.

Johnny Winter schüttelte den Kopf und stapfte weiter nach oben. Hektiker konnte er nicht ausstehen. Und unfreundliche Hektiker erst recht nicht. Na ja, es war nicht seine Sache, sich über die verkorkste Zeitplanung dieses Unbekannten Gedanken zu machen. Er war mit seinen eigenen Problemen genug beschäftigt. Gleich würde er seine volle Konzentration und Durchsetzungsfähigkeit bei dem Gespräch brauchen, das er mit Balhorn zu führen hatte. Diesem sauberen Herrn, der alles versprach und nichts hielt.

Winter atmete tief durch, als er im zweiten Stock angekommen war, und schaute sich um. Es gab zwei Eingänge auf dieser Etage. Eine der Türen stand weit offen. Auf dem Klingelschild las er den Namen »Balhorn«. Hier war er richtig, daran gab es keinen Zweifel. Aber konnte er einfach so in eine fremde Wohnung spazieren? Einfach so in die Privatsphäre eines Fremden eindringen? Er blieb vor der Tür stehen und drückte die Klingel. Niemand kam, um zu öffnen. Er klingelte noch mal. Keine Reaktion. Dann rief er leise: »Hallo, Herr Balhorn?« Ganz schwach vernahm er in der Wohnung ein Poltern. Dann war wieder alles still.

Beunruhigt trat Johnny Winter, mehr weil ihm nichts Besseres einfiel als aus Überzeugung, in den schmalen und schmucklosen Flur der Wohnung. Der war etwa drei Meter lang. Die Zimmertüren sahen alle gleich aus, keine drängte sich ihm auf.

Er blieb mitten im Eingangsbereich stehen und lauschte. In der Wohnung war nun nicht mehr der leiseste Ton zu hören. Nur der übliche diffuse Geräuschbrei der Nachbarwohnung drang herein. Der zu laut eingestellte Fernseher, das schreiende Kleinkind, der Staubsauger. Und dennoch hatte Winter hier eben etwas gehört, da war er ganz sicher. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Stille schrie ihn geradezu an. Es war keine entspannte Stimmung, keine, die einen ruhiger werden lässt. Diese Ruhe war aggressiv, lauerte ihm auf, drang in ihn ein.

Johnny Winter nahm sich zusammen, entschied sich für die Tür am Kopfende des Flures und öffnete sie. Vor sich sah er ein kleines, nicht sehr sauberes Badezimmer, in dem niemand war. Dann, seine Tatkraft implodierte förmlich, stand er eine Weile zögernd und mutlos vor der einzelnen Tür auf der linken Flurseite. Vorsichtig drückte er sie auf, warf einen schnellen Blick in ein geräumiges, völlig überladenes Wohnzimmer – und erstarrte.

Auf dem abgewetzten orientalischen Teppich lag der Körper eines Mannes. Es hätte sehr friedlich aussehen können, wie er dort lag, hätte da nicht die Blutlache neben seinem Kopf das Bild gestört.

Da war doch jemand an seinem Schreibtisch gewesen! Horst Schwiete zog ärgerlich die Stirn kraus. Dann setzte er sich auf seinen Stuhl, öffnete die linke Schublade und entnahm ihr einen Radiergummi. Den legte er längs neben seine Schreibtischunterlage, parallel zu deren Kante. Den Ratzefummel als Abstandhalter nutzend, richtete er seinen Bleistift aus. Anschließend drapierte er den Radiergummi längs neben den Stift und den etwas kürzeren Kuli exakt daneben. Peinlich genau überprüfte er nun, ob die beiden Spitzen der Schreibwerkzeuge den gleichen Abstand zur Schreibtischkante hatten.

Jetzt war Hauptkommissar Schwietes Welt wieder im Gleichgewicht. Wohlwollend betrachtete er die neu geschaffene Ordnung. Dabei kam ihm der Gedanke, dass wohl seine Kollegen sich während seiner Abwesenheit einen Spaß daraus machten, sein ausgeklügeltes System zu zerstören. Zukünftig würde er darauf achten und wehe …!

Den Gedanken konnte Schwiete nicht mehr zu Ende denken, denn im nächsten Moment schoss sein hektischer Kollege Kükenhöner in das Büro, fläzte sich auf die Schreibtischkante und verschob die gerade neu ausgerichteten Stifte.

Absicht! Das war ganz klar Absicht! Schwiete holte tief Luft, um seinen Kollegen so richtig zusammenzuscheißen. Doch dazu kam es nicht.

»Horsti, endlich! Ich habe dich schon gesucht! Es gibt eine Leiche in der Kilianstraße. Beeil dich, wir müssen los!«

Schwiete war hin- und hergerissen. Sollte er den erneut in Unordnung gebrachten Schreibtisch ignorieren und diesem Getriebenen folgen? Nein, so viel Zeit musste sein. Wieder begann er, die Stifte penibel auszurichten. Das brachte Kükenhöner zur Weißglut. Doch er biss sich auf die Zunge, hielt die Klappe und wartete ungeduldig.

Nachdem der Polizist seine Schreibutensilien wieder in Position gebracht hatte, ging er zu seiner Garderobe, nahm den Mantel vom Kleiderbügel und hängte den Bügel wieder zurück an die Stange. Er prüfte die Abstände zu den restlichen Bügeln und zog dann zufrieden seinen Trenchcoat an.

Kükenhöner raufte sich die Haare. Irgendwann gab es bestimmt eine Leiche in der Kreispolizeibehörde Paderborn, sie würde fein säuberlich ausgerichtet, parallel zu Schwietes Schreibtischkante liegen. Kükenhöner war sich sicher, dass er mit diesem Ritual seinem dann toten Kollegen die angemessene letzte Ehre erwiesen hätte. Das Tötungsinstrument, vielleicht ein Brieföffner, würde er gründlich abputzen, ganz im Sinne Schwietes. Dann würde er ihn akkurat im Abstand einer Radiergummibreite neben die ordentlich ausgerichteten Stifte legen. Das perfekte Verbrechen! Kein Ermittler, der Schwiete nicht kannte, würde darauf kommen, die Mordwaffe an dieser Stelle zu suchen, und diejenigen, die ihn kannten, würden mit Sicherheit die Klappe halten. Schwiete sah einen zufrieden lächelnden Kükenhöner und wunderte sich.

Es klang wie eine Detonation, als die Tür aufsprang und gegen die Wand schlug.

Die elegante Dame am Tisch zuckte zusammen. Unmittelbar nach dem Knall drang ein Mann in die blitzsaubere Wohnküche ein. Sie atmete tief durch. Ihren Mieter Johnny Winter kannte sie seit Jahren. Er hatte seine Schwächen, aber er war keine Bedrohung für Damen Mitte der Sechziger. Winter, schusselig und für das praktische Leben nicht recht zu gebrauchen, war gutmütig, gelassen und in der Regel ein zwar zahlungsschwacher, aber angenehmer Mieter. Doch von Gelassenheit konnte nicht die Rede sein, als Johnny Winter nun in die Küche hereinplatzte. Er sah aus, als sei er von einem ganzen Rudel Teufel gehetzt worden.

Er ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und atmete heftig. Hilde Auffenberg blickte ihn besorgt an. So hatte sie den sonst eher phlegmatischen Mann noch nie erlebt.

Vor sieben Jahren war ihr Ehemann gestorben, und sie war allein in ihrem kleinen Haus üm Ükern geblieben, der Straße, die dem ganzen Viertel den Namen gegeben hatte. Mitten im Paderborner Kneipenviertel. Weil sie ungern allein wohnen wollte, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen, hatte sie zwei Mieter aufgenommen. Die beiden fast gleich alten Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Horst Schwiete war Polizist, jede Pore seines mächtigen Körpers atmete Solidität. Eine Ikone des deutschen Beamtenwesens, korrekt, sauber, unbestechlich und humorfrei. Hilde Auffenberg schätzte ihn trotzdem. Johannes »Johnny« Winter war Musiker. Theoretisch ein bedeutender Rockmusiker – praktisch jedoch musste er seine Brötchen mit Tanzmucke verdienen. Hilde Auffenberg war immer wieder fasziniert davon, wie Johnny Winter das, was andere in die Depression getrieben hätte, mit einem fatalistischen Achselzucken abtat. So war das bei ihm eben! Sie hatte gelernt, seine Tagträume vom ultimativen Hit von der Wirklichkeit zu unterscheiden, gönnte ihm aber diese kleinen Fluchten aus dem Alltag.

Erstaunlicherweise hatte sich im Verlauf der Jahre dieses ungleiche Trio zu einer angenehmen Hausgemeinschaft zusammengefunden. Mittelpunkt und Herz dieser merkwürdigen Gemeinschaft war Hilde Auffenberg, ihre Wohnküche war der Thronsaal dieses kleinen Reiches. Hier liefen alle Fäden zusammen.

»Was ist los mit Ihnen?«, fragte sie besorgt. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen. Geht es Ihnen nicht gut?«

Johnny Winters Atmung hatte sich immer noch nicht beruhigt.

»Ein Gespenst? Nee, etwas viel Handfesteres.«

Er machte eine Pause, die er für einige tiefe Atemzüge nutzte. Endlich konnte er wieder reden.

»Sie werden mir nicht glauben, aber ich habe gerade eine Leiche gefunden. Ich hatte doch diesen Termin bei …«

»Was haben Sie gefunden?«, rief die Frau entsetzt. »Damit treibt man keinen Scherz!«

Flehend blickte er sie an.

»Das ist leider kein Scherz.« Er sprach so leise, dass Hilde Auffenberg sich ganz nah zu ihm hinüberbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Was soll ich denn jetzt machen?«

Es brauchte eine Weile, bis sie endlich von ihm zu hören bekam, was vorgefallen war. Wie er in das Haus gegangen war. Dass er im Treppenhaus beinahe umgerannt worden war. Die offene Wohnungstür. Die Leiche.

»Aber warum waren Sie denn in dieser Wohnung? Kannten Sie den Toten?«

Johnny Winter nickte stumm. Er zog eine zerknitterte Packung Tabak aus seiner hinteren Hosentasche und wollte sich gerade, einem Reflex folgend, eine Zigarette drehen. Als er ihrem strengen Blick begegnete, zuckte er resigniert mit den Achseln und steckte das Päckchen wieder ein.

»Sie wissen doch, dass ich diese Tournee klargemacht habe. Nicht irgendeine Tournee, sondern die Tournee. Das sollte der ganz große Durchbruch werden. Und jetzt so was. Ich habe alles so weit stehen, die Band, das Equipment, die Helfer. Und vor allem das Programm. Mann, was für ein unglaubliches Programm. Wir könnten alle anderen an die Wand spielen. Gestern habe ich rein zufällig gehört, dass Balhorn, also der Veranstalter dieser Tournee, pleite sein soll. Ich habe sofort angerufen, wollte ihn zur Rede stellen, aber er hat mich auf heute vertröstet. Er sagte, er hätte schon einen Plan B und alles würde gut gehen. Heute wollten wir alles besprechen.«

»Haben Sie aber nicht, oder?«, fuhr Hilde Auffenberg dazwischen.

Er schüttelte den Kopf.

»Nee! Er konnte mir nichts mehr erzählen. Wenn Sie ihn gesehen hätten, wie er dalag und …«

Winter sprang auf, machte zwei, drei schnelle Schritte quer durch die Küche, drehte wieder um und blieb mit verzweifeltem Blick vor seiner Vermieterin stehen.

»Der ist nicht einfach so umgefallen. Dem hat einer kräftig was auf den Schädel geschlagen. Da war Blut, Frau Auffenberg. Viel Blut. Das war Mord, verstehen Sie?!«

Die letzten Worte schrie er laut heraus. Sie blickte sich unwillkürlich um, stellte fest, dass eines der Küchenfenster geöffnet war, stand auf und schloss es. Dann ging sie zu einem Schrank, holte eine Flasche Kräuterlikör und zwei kleine Gläser heraus und stellte alles auf den Tisch.

»Kommen Sie, Johannes! Trinken wir erst einmal einen Schluck. Sie sind ja völlig daneben. Und schreien Sie hier nicht so rum. Muss ja nicht jeder mitkriegen. Los, trinken Sie!«

Sie wartete, bis Winter den Schnaps geschluckt hatte bevor sie weitersprach.

»Und dann rufen wir Schwiete an. Das ist der richtige Mann für so was, der soll die Sache in die Hand nehmen. Keine Angst, der regelt das schon.«

Winter schien von der Vorstellung, seinen Nachbarn einzubeziehen, nicht begeistert zu sein. Sicher, Horst Schwiete war Polizist, aber vielleicht war es gerade deshalb nicht klug.

»Ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee ist. Er wird mir kein Wort glauben. Ihm bleibt doch gar nichts anderes übrig, als mich sofort festzunehmen.«

»Warum das denn?«, jetzt war Hilde Auffenberg vor Empörung kaum weniger laut als eben ihr Mieter.

Winter dachte nach.

»Weil tatsächlich alles gegen mich spricht. Überlegen Sie doch mal. Ich hatte Kontakt zu dem Toten. Wir wollten zusammen Geschäfte machen. Er hat die Sache versaut, und ich habe allen Grund, auf ihn sauer zu sein. Wir haben uns am Telefon gestritten. Ich Blödmann habe das brühwarm einem Musiker aus meiner Band erzählt. Das wird die Polizei schnell rausfinden und mir ruckzuck ein Motiv anhängen. Dass dann ausgerechnet ich in Balhorns Wohnung bin, wahrscheinlich nur wenige Minuten nach dem Mord, das wird den Bullen gerade passen. Die werden mir kein Wort glauben. Horst auch nicht. Der erst recht nicht, superkorrekt, wie der ist.«

»Aber …«, wandte die Herrin der Küche zögernd ein, »warum sollte die Polizei überhaupt auf Sie kommen? Woher sollen die wissen, dass Sie in der Wohnung waren? Sie waren doch alleine da, oder?«

Winter schüttelte verneinend die langen, leicht grau gewordenen Locken.

»Ich habe alles verbockt, fürchte ich. Als ich den toten Balhorn daliegen gesehen habe, bin ich in Panik geraten und aus dem Haus gerannt. Ich war so hektisch. Beim Starten des Autos habe ich zu viel Gas gegeben. Da bin ich dem vor mir parkenden Wagen hinten auf die Stoßstange gekracht. In einem Fenster lag ein alter Knacker und hat alles beobachtet. Der Kerl ist der Typ Blockwart, so wie der aussah. Der wird mich anschwärzen, daran habe ich keinen Zweifel. Schließlich hat er mein Nummernschild gesehen. Wie lange wird es dauern, bis die Polizei durch mein Autokennzeichen auf mich kommt? Frau Auffenberg, ich bin am Ende. Was soll ich nur machen?«

Er holte von Neuem seine Tabakpackung hervor und drehte sich, ohne das Einverständnis seiner Vermieterin abzuwarten, eine etwas krumme Zigarette. Beide schwiegen, während er geräuschvoll rauchte. Dann unterbrach sie die Stille und fragte sehr ernst:

»Haben Sie nicht am Anfang von einem Mann erzählt, der Sie im Treppenhaus beinahe umgerannt hatte? Kannten Sie den? Wirkte der sehr eilig?«

Winter schaute sie erstaunt an.

»Nein, den kannte ich nicht. Hektisch war er schon, sehr sogar, geradezu kopflos. Aber was meinen Sie damit?«

Sie seufzte und wurde noch ernster.

»Überlegen Sie doch mal! Sie sagen, dieser Balhorn sei kurz vor Ihrer Ankunft erschlagen worden. Dann dieser Mann, der wie ein Wilder die Treppe runterläuft, dass er Sie völlig übersieht und fast umrennt. Und dann einfach wortlos weiterhetzt. Ist es völlig ausgeschlossen, dass dies der Mörder Ihres Herrn Balhorn war? Ich denke nicht. Und was das für Sie bedeutet, das ist Ihnen doch auch klar, oder nicht?«

Der Musiker starrte seine Vermieterin begriffsstutzig an.

»Jetzt blicken Sie mal nicht in die Welt wie ein Ochse, wenn’s donnert«, fuhr die Vermieterin Winter an. »Es ist doch völlig klar, dass Sie der gefährlichste Zeuge überhaupt sind. Ein Zeuge, der aus dem Weg geschafft werden muss.«

Die letzten Worte sprach Hilde Auffenberg leise, aber eindringlich. Doch mittlerweile hatte auch Winter die ganze Tragweite der Ereignisse erfasst.

Hilde Auffenberg stand vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Was sollte sie tun, die Polizei anrufen? Winter überreden, dass er sich stellte?

Sie selbst hatte in ihrer wilden Zeit auch ihre Erfahrungen mit der Polizei gemacht und war einmal unschuldig in die Mühlen der Justiz geraten. Sie wusste, wie das lief. Wenn die Ermittler einen möglichen Täter gefasst hatten, hatten sie oft nur Augen für die belastenden Indizien, und die Unschuldsvermutung blieb auf der Strecke.

Erst letzte Woche hatte sie in einer Zeitung gelesen, dass einige Gefängnisinsassen unschuldig verurteilt worden waren, weil die Justiz gern schnelle Erfolge feierte.

Hilde Auffenberg fasste einen spontanen Entschluss: »Sie müssen verschwinden! Und zwar ganz schnell!«

Kaum hatte Hilde Auffenberg ihre Warnung ausgesprochen, da machte sie dem völlig verdatterten Musiker schon mit einer ungeduldigen Geste klar, dass es nun allerhöchste Zeit würde, ihre Worte in Taten umzusetzen. Johannes Winter brauchte deutlich länger, um seine Situation in vollem Ausmaß zu begreifen. Noch während bei ihm die ersten klaren Gedanken an die Oberfläche perlten, war seine Vermieterin bereits voll im Einsatz.

»Los, Junge!«, rief sie aufgekratzt. »Kofferpacken, aber schnell!«

Sie hatte eindeutig die Führung übernommen. Winter hasste es, wenn sie ihn, obwohl sie sich nicht duzten, Junge nannte, aber er folgte ihr wie hypnotisiert. In seiner Wohnung zog er, auf ihre Anweisung hin, einen völlig verstaubten kleinen Koffer unter dem Bett hervor und warf einige Kleidungsstücke hinein. Als er mit wehmütigem Blick seine neue Gitarre in die Hand nahm, riss Hilde Auffenberg ihm die aus der Hand.

»Dafür haben wir keinen Platz! Los, sehen Sie zu, dass Sie fertig werden!«

Eine volle Packung Tabak und eine Flasche Scotch passten aber dann doch noch hinein. Die alte Dame atmete tief durch, als Winter endlich den Reißverschluss zuzog.

Traurig blickte er sich noch einmal in seiner kleinen Wohnung um. Als fürchtete er, für immer von dem Raum Abschied nehmen zu müssen. Erst als die beiden wieder in der Küche saßen, wurde Winter klar, dass er nun zwar seine Reisetasche gepackt, aber keinen blassen Schimmer hatte, wohin er gehen sollte. Er besaß nun mal keine Zweitwohnung. Freunde? Die männlichen Freunde kamen durchweg aus dem Paderborner Musiker- oder Kneipenmilieu. Sie hausten in kleinen, häufig unbeheizten Buden und waren außerdem im Dunstkreis des Konzertveranstalters Balhorn bekannt und damit als Fluchtorte unbrauchbar. Eine Freundin, bei der er hätte untertauchen können, gab es aktuell nicht. Und sonst? Er hatte keine Ahnung. Mit dieser Erkenntnis verließ ihn schlagartig sein Rest an Tatkraft. Aber Hilde Auffenberg war nicht die Frau, die so ohne Weiteres ein Projekt aufgab, das sie einmal angefangen hatte.

»Passen Sie auf!«, rief sie. »Ich habe es Ihnen nie erzählt, aber ich besitze noch ein kleines Häuschen in Schloß Neuhaus. Schon älter, aber man kann drin wohnen. Ich habe das Anwesen von meiner Oma geerbt. Bei den Mietern gibt es eine hohe Fluktuation. Normalerweise wohnen da vier Studenten, aber einer ist letzte Woche ausgezogen. Da ist also eine Wohnung frei.«

»Aber …«, murrte Winter, »wie wollen Sie den anderen erklären, dass so ein alter Sack wie ich da plötzlich einzieht? Das fällt doch auf.«

»Keine Sorge, mein Junge! In dem Haus wohnten schon die verrücktesten Leute. Die Nachbarn sind einiges gewohnt. Da können Sie nackt vom Balkon hängen, das interessiert keinen mehr. Genau das Richtige für einen, der ein bisschen untertauchen muss. So, aber jetzt los! Bevor die Polizei Sie hier findet.«

Johannes Winter blieb nicht viel Zeit, über die unfassbare Energie und Kaltblütigkeit dieser so unscheinbaren, nicht mehr jungen Dame zu staunen. Denn in diesem Augenblick konnten sie beide hören, dass die Haustür geöffnet wurde. Das Geräusch schwerer Schritte folgte, die den Hausflur durchquerten und dann die Treppe emporstiegen.

»Das ist Schwiete!«, zischte Hilde Auffenberg leise. »Verdammt, den können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Warum kommt denn der Kerl heute so früh?«

Der Polizist Horst Schwiete, ihr gemeinsamer Mitbewohner, würde in seinem unerschütterlichen Glauben an das segensreiche Wirken der deutschen Justiz mit absoluter Sicherheit darauf bestehen, dass Winter sich augenblicklich der Polizei stellte. Mit all den Folgen, die sich Winter und die alte Dame bereits ausgemalt hatten. Nein, ein Zusammentreffen der beiden Männer musste unbedingt verhindert werden.

»Er geht hoch in seine Wohnung. Wahrscheinlich hat er irgendwas vergessen. Danach kommt er mit Sicherheit kurz in die Küche. Bis dahin müssen wir Sie aus dem Haus haben.«

Sie stürzte zum Fenster, räumte die Blumen beiseite und hebelte das zweiflügelige Fenster auf. Sofort drang kühle Luft in den überheizten Raum.

»Los! Raus mit Ihnen! Sie wissen doch, wo früher auf dem Hof der Kohlenschuppen war. Verstecken Sie sich da drin. Ich trinke ganz in Ruhe mit Schwiete eine Tasse Tee, damit dem nichts auffällt. Dann komme ich zum Schuppen, und wir beide verschwinden mit meinem Auto in die neue Unterkunft. Haben Sie alles verstanden? Und sehen Sie zu, dass Sie sich im Schuppen nicht so dreckig machen. Nachher versauen Sie mir noch die Wohnung.«

Doch diese Aufforderung registrierte Winter schon nicht mehr. Er hatte bereits seinen Koffer aus dem Fenster geworfen und sprang hastig hinterher. In der nächsten Sekunde klemmte er ihn unter den Arm und sprintete über den Hof Richtung Schuppen.

Hilde Auffenberg schloss hastig das Fenster und versuchte die Topfblumen wieder an ihren Platz zu bringen. Sie war noch nicht fertig, da klopfte Schwiete an die Küchentür und trat ein. Für ihn war es das Normalste von der Welt, Blumentöpfe ordentlich auszurichten. Daher wunderte er sich in keiner Weise. Seine Vermieterin hingegen richtete sich verlegen ihre Frisur.

»Oh, Herr Schwiete, Sie sind schon da! Mit Ihnen hätte ich noch gar nicht gerechnet. Aber ich koche sofort einen Tee.«

»Ich würde ja gern eine Tasse mit Ihnen trinken, Frau Auffenberg, aber ich bin im Einsatz. Ich musste nur mein Hemd wechseln, weil ich auf der Fahrt zum Tatort einen Kaffeefleck darauf entdeckt habe. Was sollen denn die Leute denken, ein Polizist mit einem bekleckerten Hemd. Das geht nicht.«

»Schwiiiete!!!«, brüllte jemand in den Hausflur. Hilde Auffenberg hätte beinahe einen Blumentopf von der Fensterbank gestoßen. In ihrem Hause wurde in Zimmerlautstärke kommuniziert, und auch sonst galten allgemeine mitteleuropäische Benimmrituale.

Hauptkommissar Schwiete verzog sein Gesicht und wollte damit eine Entschuldigung andeuten.

»Die jungen Leute haben einfach nicht die Nerven. Es hat einen Mord gegeben. Tot ist tot, da braucht man sich kein Bein mehr auszureißen. Nach den neuesten Statistiken werden Mörder innerhalb eines Tages gefasst. Da kann man doch etwas mehr Gelassenheit an den Tag legen, oder? Was meinen Sie, Frau Auffenberg?«

»Schwiiiete! Ich werde noch wahnsinnig! Beweg endlich deinen Hintern nach draußen!«

Der Polizist machte noch einmal eine entschuldigende Geste. Dann verließ er die Küche.

Auch Winter hatte die Schreie in seinem Versteck gehört. Sie sorgten bei ihm nicht gerade für Gelassenheit. Daher war er heilfroh, als die Schuppentür sich einen Spaltbreit öffnete und das Gesicht seiner Vermieterin vor ihm auftauchte.

»Kommen Sie, Johnny! Jetzt wird es aber Zeit. Ich fahre Sie zu Ihrer neuen Unterkunft. Wenn die Studenten da sind, stelle ich Sie als meinen arbeitsscheuen Neffen vor. Morgen treffen wir uns dann an einem unauffälligen Ort. Da können wir überlegen, wie es weitergeht. Haben Sie den Paderborner Dom schon mal von innen gesehen?«

4

Kükenhöner knallte die Wagentür mit aller Kraft ins Schloss. Die Energie, die er hierfür aufbrachte, hätte er lieber dazu verwendet, Hauptkommissar Schwiete seine Faust auf dessen Kinn zu dreschen. Doch er konnte sich mühsam beherrschen. Kükenhöner beließ es bei dem Gedanken, seinen Kollegen irgendwann umzubringen. Bis zur Ankunft in der Kilianstraße redeten sie kein Wort miteinander.

Als die beiden Polizisten aus dem Auto stiegen, kam ihnen augenblicklich ein aufgeregter, hagerer, sicherlich über siebzig Jahre alter Mann entgegen. Er war unrasiert und roch nach kaltem Rauch und Schweiß.

»Mann, Mann, Mann, wie lange dauert das denn mit Ihnen? Wenn Sie immer so langsam sind, dann möchte ich aber keine Leiche sein. Na, wenigstens Ihre Kollegen von der Streife sind schon da. Die sind fixer als Sie. Ist wohl kein Zug mehr in Ihrem Laden.«

Der Alte friemelte sich eine Reval aus einer zerknitterten Zigarettenpackung, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Tief inhalierte er einen Zug. Hustete und blies den Rauch in Richtung der beiden Polizisten.

»Früher wäre das nicht passiert. Da wäre bei einem Mord ruckzuck die Kripo da gewesen. Aber heutzutage? Alle verweichlicht – selbst die Polizei.«

Schwiete ließ sich durch den Alten nicht aus der Ruhe bringen. Wer so verwahrlost herumlief wie der, bei dem war sowieso Hopfen und Malz verloren.

Bei Kükenhöner war das anders. Bei ihm entlud sich die gesamte Wut, die sich innerhalb der letzten Stunde in ihm aufgestaut hatte.

»So, Herr …, wie heißen Sie überhaupt?«

»Gärtner. Hans-Hubert Gärtner, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Also, Herr Hans-Hubert Gärtner, wer hier ein Weichei ist und wer nicht, das werden wir noch sehen. Sagen Sie uns nicht, wie wir unsere Arbeit zu tun haben. Davon haben Sie nämlich keine Ahnung. Und wenn Sie weiterhin eine dicke Backe riskieren, dann dürfen Sie gleich einmal Polizeiauto fahren. Dann findet das Verhör nämlich in der Kreispolizeibehörde an der Riemekestraße statt. Anschließend können Sie zurücklaufen. Sie haben die Wahl. Entweder jetzt ein angemessener Ton, oder wir ziehen andere Saiten auf.«

Das war eine Sprache, die Gärtner verstand. Er nahm eine devote Haltung ein. Kükenhöner bemerkte die Veränderung wohlwollend.

»So, und nun erzählen Sie uns mal, was Sie gesehen haben, aber haarklein.«

»Wissen Sie, Herr Kommissar, ich habe stets die Straße im Auge. Mir entgeht nichts. Einer muss ja alles im Blick haben. Ich liege da also mit meinem Kissen im Fenster und passe auf, dass die Blagen ihre Finger von den Autos lassen.«

Der Alte plusterte sich auf.

»Hier laufen welche rum, das sage ich Ihnen. Die Südstadt ist auch nicht mehr das, was sie früher mal war. Türken, Spanier, Russen, gibt’s alles hier. Aber wenn die glauben, die könnten hier machen, was sie wollen, nee, nicht mit Hans-Hubert Gärtner. Ich habe die Straße im Blick …«

»In Ordnung«, fiel ihm Kükenhöner ins Wort. »Sie sahen also aus dem Fenster und beobachteten die Straße. Und was haben Sie gesehen?«

»Ja, was habe ich gesehen? Ach ja, da kam so ein Langhaariger aus dem Haus. Die laufen hier öfters rum. Die sind meist bei Balhorn zu Besuch, diesem Musikfritzen. Ich wusste schon immer, dass es mit dem kein gutes Ende nimmt. Der hat nicht mal den Hausflur geputzt.«

»Herr Gärtner, was haben Sie gesehen?«

»Ja, sage ich doch, da kommt dieser Langhaarige aus dem Haus gerannt. Er setzt sich in seinen Bully und fährt dem Müller von nebenan direkt hinten an das Auto. Und wer hat es gesehen? – Ich! Rein zufällig hatte ich einen Bleistift auf der Fensterbank liegen. Also habe ich die Autonummer von diesem Langhaarigen sofort auf den Rand meiner Bild-Zeitung geschrieben. Die lag da auch noch rum.«

Gärtner triumphierte.

»Die anderen Nachbarn haben natürlich nichts mitgekriegt. Also wollte ich nach unten und mir den Schaden angucken. Da komme ich an der Wohnung von Balhorn vorbei, und stellen Sie sich vor, die Tür stand sperrangelweit offen! Ich meine, ich bin ja nicht neugierig. Aber das kam mir doch komisch vor. Also bin ich da rein. Mache die Tür zum Wohnzimmer auf, und was sehe ich? – Den Balhorn in seinem eigenen Blut! Was sagen Sie jetzt?«

Es war Hilde Auffenbergs unverzichtbares Nachmittagsritual, Zeitunglesen mit Kaffee und Kuchen. Auf diese lieb gewonnene Gewohnheit hatte sie heute verzichten müssen, da sie Johannes Winter in Sicherheit bringen musste.

Das war geschafft! Jetzt war sie fest entschlossen, ihre Versäumnisse nachzuholen. Es wurde Zeit, sich nach all der Aufregung etwas zu entspannen.

Sie öffnete den grauen Metallkasten neben ihrer Haustür, in den ihr Nachbar Herbert Höveken wie jeden Tag die gemeinsam abonnierte Zeitung gesteckt hatte.

Nur wenige Minuten später hatte Hilde Auffenberg die »Paderborner Nachrichten« auf dem Küchentisch ausgebreitet. Genüsslich kaute sie den ersten Bissen vom selbst gebackenen Käsekuchen. Gleichzeitig widmete sie sich ihrer Lektüre.

Auf einer ganzen Seite brachte man einen Bericht über die anstehende Bischofskonferenz. Einem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten hätte man weniger Aufmerksamkeit gewidmet, dachte Hilde Auffenberg.

Ein besonderes Augenmerk galt dabei Lorenz Engels, dem derzeitigen Bischof von Passau, der eigentlich ein Paderborner Urgestein und hier früher einmal Weihbischof gewesen war.

Hilde Auffenberg musste schmunzeln. Der Lorenz, dachte sie. Als junger Mann war er in Paderborn zum Gymnasium Theodorianum gegangen. Während dieser Zeit hatte der junge Schwerenöter Hilde Auffenberg den Hof gemacht. Fußball, Frauen und die CDU waren damals die wichtigsten Lebensinhalte des jungen Engels gewesen.

Die »wilde Hilde« vom Michaelskloster hatte ihn immer fasziniert. Gegensätzliches provozierte ihn. Erst hatte er sich über Hilde Auffenberg lustig gemacht. Später ihre politische Haltung diskreditiert. Auch das erfolglos. Mit jeder Niederlage, die er sich bei Hilde Auffenberg einfing, faszinierte ihn die junge Frau mehr. Zu guter Letzt hatte er ihr den Hof gemacht. Wie ein liebestoller Kater stand Engels fast jeden Nachmittag vor dem Auffenbergschen Haus. Vergeblich! Bei Hilde hatte er nicht landen können.

Versonnen blickte sie ins Leere. Wieso war Engels eigentlich Priester geworden? Damals hätte jeder darauf gewettet, dass er versucht hätte, in die Fußstapfen von Ludwig Erhard zu treten.

Nach dem Abitur hatten sie sich aus den Augen verloren. Hilde war nach Berlin gegangen. Hatte sich in der APO engagiert. Sie wollte dabei sein, wenn die Talare gelüftet wurden, um dem Muff von tausend Jahren beizukommen.

Und Engels? Ja, was hatte Engels gemacht? Über ein Jahrzehnt war er in ihrem Bewusstsein nicht mehr präsent gewesen. Dann hatte sie eines Tages sein Konterfei in der Zeitung entdeckt. Er war der neue Weihbischof von Paderborn. Der jüngste!

Engels war zwar nicht der Nachfolger von Ludwig Erhard geworden, aber immerhin Kirchenfürst. Gab es da Unterschiede? Wieder kam sie ins Grübeln. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie hatte eine Idee. Eine geniale Idee! Doch ihr blieb nicht viel Zeit, sie weiterzuentwickeln.