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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014
Originalcopyright © 2013 by Natasha Farrant
Originalverlag: Faber and Faber Ltd.
Originaltitel: After Iris
Umschlagfotografien: Himmel: shutterstock.com/© flyinglife; Wäscheleine: shutterstock.com/© Africa Studio; Haus: GettyImages/© Dave King
Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Annette von der Weppen
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Layout und Herstellung: Björn Liebchen
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92662-0

Bestehend aus einer Kombination von herkömmlichen Tagebucheinträgen und den Transkriptionen von Kurzfilmen; aufgenommen von der Verfasserin mit der Kamera, die sie zum dreizehnten Geburtstag bekommen hat, beginnend am Ende des Sommers.

Für Justine und Lily

LONDON

Blume

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

1. Szene (Transkript)
Und wieder ein Tag wie im Paradies

TAG. DAS HAUS DER GADSBYS. GARTEN.

KAMERAMANN (BLUEBELL) verweilt auf zwei Füßen in ausgelatschten Chucks (ihren eigenen), dann folgt ein Schwenk die Steinstufen hinunter in den Garten, wo FLORA (16, ihre älteste Schwester) sich im Bikini sonnt. Um sie verstreut liegen ihr iPod, ihr Handy, eine Flasche Sonnenmilch, eine Flasche Wasser und ein paar Zeitschriften. Sie liest ein Buch.

Schwenk nach rechts, dorthin, wo das Kreischen herkommt und wo ihre jüngeren Geschwister JASMINE (8) und TWIG (10) auf der Schaukel unter der Platane spielen. Jasmine fällt runter. Twig jubelt. Jasmine heult. Blut quillt aus ihrer aufgeplatzten Lippe und tropft auf ihr zerrissenes rosafarbenes Kleid. Twig – nicht mehr jubelnd – rennt auf das Haus zu. Schwenk nach links, zurück zu Flora, die ihren iPod lauter dreht, dann nach drinnen in die Küche. Das Bild wackelt, als der Kameramann (immer noch Blue) hastig ein Geschirrtuch von der Herdstange reißt. Wieder draußen folgt eine Nahaufnahme von Jasmines blutverschmiertem Gesicht. Das Bild steht auf dem Kopf, während der Kameramann Jasmine das Geschirrtuch an die Lippe drückt.

JASMINE

Ah! Ah!! Ah!!!

TWIG

Ich kann nichts dafür! Ich kann nichts dafür!

FLORA

ICH VERSUCHE GERADE, MEINE MUSIK ZU HÖREN?

Freitag, 26. August. Morgens.

Heute Morgen hat Flora etwas in der Küche gehört und meinte, es sei nicht fair, dass sie allein runtergehen sollte.

»Bloß, weil ich die Älteste bin«, sagte sie, »muss ich ja nicht auch als Erste sterben.«

Also schnappte sich jeder, was er finden konnte – Twig einen Kricketschläger, Jas und ich je einen Tennisschläger und Flora das große Ruder, das Dad in Oxford bekommen hatte, mit den Namen seiner ganzen Mannschaft drauf. Für eine Familie, die nie Sport treibt, sind wir erstaunlich gut ausgerüstet. Jas meinte, Dad würde Flora umbringen, wenn sie das Ruder kaputt macht, und Flora erwiderte, sie würde daran denken, wenn ihre gesamte Familie ermordet worden sei, nur weil sie nicht ausreichend bewaffnet gewesen war. Am Ende mussten wir den Einbrecher aber gar nicht verprügeln, denn als wir in die Küche kamen, stellte er sich als Zoran heraus, obwohl wir noch gar nicht wussten, dass er es war. Er trug eine geblümte Schürze und Sandalen und einen kleinen Ziegenbart, mit dem er aussah wie Herr Tumnus in den Narnia-Filmen, der, wie jeder weiß, am Ende auf der richtigen Seite stand, auch wenn er ein paar schwache Momente hatte.

»Wer bist du und was machst du hier?«, fragte Flora gebieterisch.

»Ich bin euer neuer Babysitter«, sagte Zoran.

»Ein Babysitter!«, rief Flora. »Wieso das denn?«

Zoran warf einen Blick, den Dad beredt nennen würde, auf Jas, die sich auf die Lippe biss, damit keiner sehen konnte, dass sie im Krankenhaus genäht worden war.

»Eure Mutter hat mich gestern Abend angerufen«, sagte Zoran. »Sie macht sich Sorgen.«

»Woher kennt sie dich denn überhaupt?«, fragte Flora.

Wir starrten ihn alle an. Es war wirklich kaum vorstellbar, dass Mum jemanden wie Zoran kannte.

»Über euren Vater«, sagte Zoran.

»Aha«, sagte Flora.

Und das war’s. Zoran ging nicht weiter darauf ein, und wir fragten nicht nach.

»Wie wär’s, wenn wir ein bisschen aufräumen?«, sagte er stattdessen. »Und dann frühstücken wir alle zusammen.«

Als er das mit dem Aufräumen sagte, sackten seine Schultern ein Stück nach unten, und nach einem Blick durch die Küche wusste ich auch, warum. Ihr eigenes Zimmer hält Flora in Ordnung, aber den Rest des Hauses behandelt sie wie eine Müllhalde. Und der Rest von uns müllt eh alles zu.

»Macht hier eigentlich keiner den Abwasch?« Dabei schaute Zoran zur Decke, als könnte Gott das irgendwie interessieren.

»Das ist doch nur der von gestern Abend«, sagte Flora.

Zoran grinste spöttisch und griff nach einem Stapel Teller. Ich hätte ihn warnen können, aber ich tat es nicht. Er machte einen Schritt nach hinten, trat auf Twigs ferngesteuerten Aston Martin DB2/4 Competition Spider und ging unter dem Getöse zerbrechenden Porzellans zu Boden.

*

Zoran behauptete, eine Gehirnerschütterung zu haben. Die beiden Kleinen (alias Twig und Jas) saßen im Schneidersitz zu seinen Füßen und schnitten ein Laken, das sie in der Waschmaschine gefunden hatten, in Streifen, mit denen Flora Zorans Kopf umwickelte. Dabei erklärten sie ihm die Sache mit dem Aston Martin.

»Die Autos sind für die Ratten«, sagte Jas. »Wir haben drei davon. Weiße, mit rosa Augen.«

»Wir binden sie mit Daddys Krawatten fest, und dann lassen wir sie Rennen fahren«, sagte Twig. »Wir haben ganz viele verschiedene Modelle. Der Spider gehört mir, aber ist schon okay, du hast ihn ja nicht kaputt gemacht.«

»Ich hab einen Jaguar XK 120«, sagte Jas. »Den finden die Ratten super, ehrlich.«

»Fertig!« Flora hörte auf zu wickeln und drehte Zoran zum Spiegel um.

Zoran schnappte nach Luft. Jas fing an zu weinen, weil die Naht an ihrer Lippe beim Lachen spannte. Twig schnaubte so heftig, dass ihm der Schnodder aus der Nase schoss.

»Um Himmels willen!«, rief Zoran. »Ich sehe ja aus wie eine Mumie!«

»Du hast doch gesagt, du hättest eine Gehirnerschütterung!«, protestierte Flora.

Zoran schien verärgert, aber Flora grinste ihn an und zog die Nase kraus, wodurch sie immer wie zehn statt wie sechzehn aussieht. Diesem Grinsen kann keiner widerstehen.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, knurrte Zoran.

Da fing auch Flora an zu lachen, und dann lachten sie alle, Zoran allerdings etwas weniger als die anderen.

»Das hätte ich echt filmen sollen«, sagte ich.

Alle starrten mich an.

»Du kannst ja sprechen!«, rief Zoran. »Ich habe mich schon gefragt, ob du weißt, wie das geht.«

Er war aufgestanden und die beiden Kleinen umkreisten ihn mit einer Rolle Toilettenpapier, um zu vollenden, was Flora begonnen hatte. Das wäre auch ein guter Film gewesen, aber was ich eigentlich haben wollte – und ärgerlicherweise verpasst hatte –, war dieser Blick zwischen Zoran und Flora, nachdem er das mit der Mumie und sie das mit der Gehirnerschütterung gesagt hatte.

Sie grinste und er schmolz dahin.

Da wusste ich, dass wir nichts von ihm zu befürchten hatten.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

2. Szene (Transkript)
Mutter und Tochter

TAG. IM GARTEN DER GADSBYS.

Wieder der Garten, diesmal von oben gesehen, durch die Zweige der Platane. MUTTER, barfuß, ansonsten aber noch im Geschäftskostüm, erntet mit einer rostigen Schere die Blüten von einem Lavendelbusch. Als alle Halme abgeschnitten sind, geht sie in die Hocke und sammelt sie in einen bereitstehenden Korb. Sie vergräbt das Gesicht in den Händen, und ihre Schultern entspannen sich, als sie den Duft der Blüten einatmet.

FLORA, ebenfalls barfuß, aber in abgeschnittenen Jeans, erscheint oben an der Treppe der Steinveranda. Der Ton reicht nicht bis zur Kamera, aber sie ist ganz offensichtlich verärgert. Mutter macht einen Schritt auf sie zu, zögert dann und nimmt einen Halm aus ihrem Korb. Mit Daumen und Zeigefinger streift sie die Blüten ab und zerdrückt sie in ihrer Faust. Wieder atmet sie tief ein, dann öffnet sie die Hand und streckt sie aus. Der Wind trägt die Blüten davon. Mutter strafft die Schultern und dreht sich zu ihrer wütenden Tochter um.

Das Bild wird schwarz, als der KAMERAMANN (BLUE) die Kamera abschaltet, um vom Baum zu klettern.

Freitag, 26. August. Nachmittags.

»Er ist komisch«, verkündete Flora, jetzt wieder in der Küche.

»Er hat bei deinem Vater studiert. Jetzt schreibt er an seiner Doktorarbeit über die Literatur des Mittelalters, und er ist ein sehr netter junger Mann.« Mum war wieder in ihre Schuhe geschlüpft, die Louboutin-Pumps mit den roten Sohlen, mit denen sie größer wirkt als Flora.

Ich stand direkt vor der Tür, wo sie mich nicht sehen konnten. Durch die Kamera erschien Mum geradezu winzig, aber ich sah trotzdem, wie sich ihre Faust immer wieder öffnete und schloss, wie so oft, wenn Mum sich mit Flora streitet.

»Wir brauchen doch gar keinen Babysitter«, rief Flora empört. »Ich bin sechzehn! In manchen Ländern wäre ich schon längst verheiratet.«

»Er ist kein Babysitter, sondern ein Au-pair. Und wir sind hier nicht in manchen Ländern

Flora machte ein finsteres Gesicht und schwieg. Mum streckte die Hand nach ihr aus, aber Flora wich zurück, und Mum seufzte.

»Jetzt, wo der Sommer vorbei ist, werde ich wieder viel unterwegs sein, und da euer Vater nun mal in Warwick arbeitet, brauchen wir sehr wohl einen Babysitter. Ich habe deine Geschwister einen Tag mit dir allein gelassen, Flora, und schon ist Jas im Krankenhaus gelandet! Außerdem kann Zoran euch bei den Hausaufgaben helfen, wenn die Schule wieder anfängt. Er ist ziemlich klug, sagt euer Vater. Und Twig und Jas finden es sicher lustig, so was wie einen großen Bruder zu haben.«

»Und was ist mit Blue?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Ja, was ist mit mir?«, fragte ich, und beide zuckten zusammen.

»Hör auf, dich von hinten anzuschleichen!«, sagte Flora. »Und hör auf, ständig durch diese bescheuerte Kamera zu glotzen.«

»Die ist gar nicht an. Und bescheuert ist sie auch nicht.«

»Du musst auch Hausaufgaben machen«, sagte Mum.

»Aber ich brauche dabei nie Hilfe«, wandte ich ein.

»Du Genie«, murmelte Flora, aber Mum lächelte mir zu.

»Dann nimm ihn halt einfach so hin, mein Schatz. Als erfreulich anwesend.«

*

Es waren einmal, vor etwa vierzehn Jahren, zwei kleine Punkte, die erst zu Körnern, dann zu Bohnen und dann zu Babys heranwuchsen. Sie lebten beide in der gleichen warmen, mit Wasser gefüllten Hülle und wurden durch einen langen Schlauch ernährt, der direkt in ihre Mägen führte. Den Babys wuchsen Ohren und Münder und Finger und Zehen, und immer hielten sie sich eng umschlungen. Die Ärzte machten Fotos von ihnen, und die Leute sagten, sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Schon vor der Geburt nannten ihre Eltern sie Iris und Bluebell – Frühlingsnamen für Frühlingskinder, sagten sie. Als es Zeit wurde, das Wasser zu verlassen, dachten alle, Bluebell käme zuerst heraus, weil sie größer war, aber Iris drängte sich vor und schoss so rasant in die Welt, dass die Hebamme sie fast hätte fallen lassen.

Grandma sagt immer, dass Iris sich von niemandem aufhalten ließ, nicht einmal von mir. So überstürzt, wie sie geboren wurde, so ist sie zehn Jahre später auch gestorben.

Iris ist jetzt schon drei Jahre tot. Damals konnte Flora gar nicht mehr aufhören zu weinen, aber ich bin nicht sicher, ob sie heute überhaupt noch an sie denkt. Jedenfalls nicht so wie ich. Manchmal träume ich, dass wir immer noch eng umschlungen schlafen, und dann strecke ich beim Aufwachen die Arme nach ihr aus. Als Grandma nach der Beerdigung noch bei uns blieb, hat sie gesagt, manche Leute müssten gar nicht miteinander sprechen, um zu wissen, was der andere denkt, und dass zwischen Iris und mir eine besondere Bindung bestand, weil wir Zwillinge waren. Sie sagte, wenn Soldaten im Krieg einen Arm oder ein Bein oder einen Fuß verlieren, können sie diesen Körperteil später trotzdem noch spüren, und genauso würde sich für mich der Verlust von Iris anfühlen. Sie sagte, die Erinnerung an Iris würde mich immer begleiten.

»Wie ein Soldat mit nur einem Fuß«, sagte Flora. »Dann muss Blue jetzt immer humpeln.« Aber Grandma sagte, so hätte sie das nicht gemeint.

Anfangs, nachdem Iris gestorben war, habe ich sie überall gesehen. Sie war mir so nahe, dass ich immer dachte, unsere Schatten wären durcheinandergeraten. Auch jetzt, wenn die Sonne beim Filmen von hinten kommt und ich meinen Schatten sehe, stelle ich mir manchmal noch vor, es wäre ihrer, aber das ist nicht dasselbe, und wenn Mum irgendwas von erfreulich anwesenden großen Brüdern erzählt, möchte ich am liebsten schreien, weil ich weiß, dass sie eigentlich über was ganz anderes redet, nämlich über Iris und wie unerfreulich abwesend sie ist.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

3. Szene (Transkript)
Das Feiertags-Familienpicknick

TAG. IRGENDEIN PICKNICKPLATZ AUF DEM LAND.

Ein Tischtuch liegt ausgebreitet unter einer Eiche. Brot, Käse, Plastikschälchen mit Hummus, Oliven und Weinblättern vom Feinkostladen. Tomaten, Schinken, zermatschte Erdbeeren in einer Tupperdose. Eine halb leere Flasche Weißwein. VATER liegt auf dem Rücken, den verbeulten Strohhut auf dem Gesicht. Er trägt eine zerknitterte Khakihose, ein Baumwollhemd ohne Kragen und eine Tweedjacke mit Lederaufsätzen am Ärmel. MUTTER liegt neben ihm, auf die Ellbogen gestützt, und sieht zu, wie TWIG und JASMINE am nahe gelegenen Waldrand eine Höhle bauen. FLORA sitzt im Schneidersitz, mit dem Rücken zu ihnen, und hört Musik auf ihrem iPod. Das Scheppern und Rauschen ist mehrere Meter weit zu hören. Vater wacht auf, nimmt den Hut vom Gesicht und setzt sich hin. Er ist unrasiert und hat Ringe unter den Augen.

VATER

Liebes Kind, musst du solch einen schauderhaften Lärm machen?

Flora beachtet ihn nicht, ihr Kopf wippt im Takt der Musik. Vater schleicht sich auf Zehenspitzen an und zieht ihr die Stöpsel aus den Ohren.

VATER

Es hat einen Grund, warum man Kopfhörer benutzt und keine Lautsprecher.

FLORA

(kreischt und versucht ihm die Ohrstöpsel wieder wegzunehmen)

Gib die sofort wieder her!

KAMERAMANN (BLUE) schnaubt verächtlich. Aller Augen richten sich auf sie. Mutter wirkt besorgt. Vater reibt sich übers Gesicht, hebt die Augenbrauen und unterdrückt vergeblich ein Gähnen.

FLORA

(wütend)

Mach die Kamera aus!

BLUE

(tapfer)

Das ist für mein Filmtagebuch.

FLORA

Mach sie sofort aus, oder ich werfe sie in den Teich.

Montag, 29. August

Ich habe mir vorgenommen, mein Leben in Wort und Bild festzuhalten. Als Bildanteil nehme ich das Filmmaterial, mit ein paar gesprochenen Worten. Viel wird nicht gesprochen, weil die Leute meist aufhören zu reden, wenn sie merken, dass ich filme. Dad sagt, bis ich erwachsen bin, haben sie sich bestimmt so sehr daran gewöhnt, dass sie gar nicht mehr aufhören können zu reden, und dass ich als Fernsehjournalistin mein Glück machen werde. Aber Dad sagt so einiges. Vorerst schreibe ich jedenfalls alles, was ich nicht filmen kann, in das, was Dad als ›die moderne Form des althergebrachten Notizbuchs‹ bezeichnet: meinen Laptop, kürzlich von Flora geerbt.

Beim Schreiben kann mir keiner sagen, ich soll abhauen. Also habe ich jetzt ziemlich viele Mini-Filme, wegen der Atmosphäre, dazu ihre Transkripte, und dazwischen immer wieder längere Kapitel zur Erläuterung. Ein Multimedia-Dokument. Solche Installationen habe ich auch schon in der Tate Gallery of Modern Art gesehen, wohin mich Dad manchmal mitnimmt, wenn es ihm, wie er sagt, zu Hause ein bisschen viel wird.

Gerade, als es heute Nachmittag interessant wurde, als Flora anfing rumzuschreien und Dad hilflos danebenstand, hat Mum gesagt, ich soll die Kamera ausmachen. Ich habe ihr – mal wieder – zu erklären versucht, dass ich mein Leben dokumentieren will und dass ich sowieso alles, was ich nicht filmen kann, später aufschreibe, aber Flora hat gesagt, das wäre ihr egal.

»Dein blödes Tagebuch muss ich ja nicht lesen«, sagte sie. »Aber auf keinen Fall filmst du mich ohne Make-up.«

»Nun sei mal ein bisschen nett«, sagte Mum. »In ein paar Tagen fängt die Schule wieder an.«

»Gottseidank!«, rief Flora.

Dad strahlte und sagte: »Entdecke ich da die späte Blüte einer Akademikerin?«, und diesmal schnaubte Flora verächtlich.

»Ich glaube, Flora freut sich vor allem auf ihre Freunde«, murmelte Mum.

»Könnt ihr mir das verdenken?«, rief Flora. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und stöhnte. »Alle meine Freundinnen kommen heute zurück, und ich sitz hier irgendwo auf einem Hügel fest, ohne Netz und ohne jemanden, mit dem ich reden kann.«

»Du könntest mit uns reden«, schlug Mum vor. »Oder mit Blue spazieren gehen.«

»Blue!«, sagte Flora, und danach sagte keiner mehr was. Was schade war, denn morgen fliegt Mum nach Moskau, und Dad fährt die hundertfünfzig Kilometer nach Warwick zurück, während wir Kinder in der doch eher zweifelhaften Obhut von Zoran zurückbleiben, bis am Donnerstag die Schule wieder anfängt.

Als wir klein waren, hat Flora Iris und mir oft was vorgelesen. Sie hat sogar mit uns gebadet. Unser Kindergarten lag gleich neben ihrer Schule, und wir haben immer zusammen mit Mum am Tor auf sie gewartet. An unserem ersten Schultag war es Flora, nicht Mum, die uns zu unserem Klassenzimmer brachte und uns die ganze Zeit an der Hand hielt, auch wenn das in den Augen ihrer Freunde vielleicht nicht cool aussah (obwohl Flora eigentlich immer cool aussieht). Und Flora war es auch, die Digby Jones eine runtergehauen hat, als er über meine Brille lachte, und die sich beim Direktor beschwerte, als Mrs Fraser, meine Klassenlehrerin in der Zweiten, behauptete, ich wäre im Lesen nicht gut genug. Flora erzählte ihm, ich könnte schon seit der Vorschule lesen und wäre bei den Leseübungen nur deshalb so unkonzentriert, weil ich zu Hause schon Charles Dickens las. Was nicht ganz stimmte, aber es war nett von ihr, das zu sagen.

Jetzt kriege ich bloß noch ein: »Blue!«

Mittwoch, 31. August (morgens)

Heute Morgen wurde das Frühstück von Twigs Geschrei unterbrochen. Er war hinten im Garten und hüpfte vor dem Rattenkäfig auf und ab, und als wir bei ihm ankamen, brachte er kein Wort heraus, sondern zeigte nur darauf.

»Was ist?«, schrie Flora.

»Sind sie tot?«, rief Jas.

»Sie haben sich vermehrt«, brüllte Twig.

Wir starrten in den Käfig, und er hatte Recht. Gestern Abend waren es noch drei Ratten gewesen, aber heute Morgen waren es sieben, vier davon noch ganz klein. Einen Moment lang sagte niemand etwas.

»Aber das waren doch alles Mädchen«, flüsterte Jas irgendwann.

»Tja, das kann wohl kaum sein«, sagte Zoran.

»Vielleicht sind sie lesbisch?«, schlug Flora vor.

»Wie soll das denn gehen?«, fragte ich.

Wir starrten weiter in den Käfig. Die Ratten hatten sich alle auf einem Haufen ins Stroh gekuschelt und die Sonne warf durchs Käfiggitter Zickzackschatten auf ihre Körper.

»Aber wer ist dann der Junge?«, fragte Twig.

»Das Männchen«, sagte Zoran. »Nicht der Junge.«

»Und wer ist die Mutter?« Flora ging in die Knie, um besser sehen zu können. »Ihr müsst doch gemerkt haben, dass sie immer dicker wurde.«

Aber die erwachsenen Ratten waren alle riesig.

»Wenn ihr sie lange genug beobachtet«, sagte Zoran, »seht ihr, wie die Mutter ihre Jungen stillt.«

»Aber die sind doch gar nicht laut«, sagte Twig.

»Er meint, dass sie ihnen zu trinken gibt«, sagte Flora. »Aus ihrer Brust.«

»Ratten haben Brüste?« Jas war entsetzt.

»Nicht direkt«, seufzte Zoran.

»Kannst du mal nachsehen?«, fragte Twig. »Kannst du druntergucken und rausfinden, wer die Mutter ist?«

Davon hatte Mum Zoran beim Vorstellungsgespräch bestimmt nichts gesagt, dass er eines Tages vielleicht eine Ratte hochnehmen musste, um nachzusehen, ob sie kürzlich geworfen hatte. Er seufzte wieder und wirkte deprimiert.

»Ich bin nicht sicher, ob ich das kann«, sagte er.

»Kannst du sie filmen, Blue?«, fragte Jas. »Bitte!«

Ich filme keine Tiere. Aus Prinzip nicht. Ich finde sie schon süß und so, aber längst nicht so interessant wie Menschen, und außerdem stört mich, dass sie nicht sprechen können. Wenn Flora nicht will, dass ich sie filme, sagt sie, ich soll abhauen, oder sie schlägt nach mir. Eine Ratte kann sich nur im Stroh verkriechen, und dann filme ich eben einfach das Stroh.

Jas machte ihren Katzenblick, bei dem ihre Augen ganz rund werden und ihre Pupillen ganz schwarz. Ihr Kleid ist an der Schulter gerissen und wird von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten. Jas hat einen ganzen Schrank voller Kleider, aber das hier ist schon seit Jahren ihr Lieblingskleid und sie zieht kein anderes an. Es ist rosa, ziemlich verwaschen, und reicht ihr nur noch bis halb über die Oberschenkel. Außerdem sind seit letzter Woche Blutflecken vorne drauf. Sie hat Schorf auf dem rechten Knie, und ihre Haare hat sie seit Ferienbeginn nicht mehr gekämmt. Anfangs wollte Mum sie dazu zwingen, aber Jas hat einfach auf stur geschaltet, und dann gibt man besser nach.

Jas’ große Katzenaugen haben ungefähr die gleiche Bedeutung wie ihr Auf-stur-Schalten. Und es war ja auch wirklich süß, wie sie und Twig die Rattenbabys beobachteten. Im Schneidersitz saßen die beiden neben dem Käfig und redeten leise auf sie ein.

»Aufwachen, aufwachen«, sagten sie. »Macht die Augen auf.«

Ich glaube kaum, dass so kleine Ratten überhaupt schon hören können, geschweige denn die menschliche Sprache verstehen, aber versucht mal, so was einer Acht- und einem Zehnjährigen klarzumachen. Die Ratten wollte ich zwar nicht filmen, aber ich wollte festhalten, wie die beiden Kleinen sie anschauten. Ich ließ alle zurück, wo sie waren – Jas und Twig auf dem Boden, Flora auf der Schaukel, Zoran mit düsterer Miene –, und suchte mir einen Weg durch das feuchte Gras, um meine Kamera aus dem Haus zu holen. Ein Schatten huschte über den Rasen – ich sah ihn noch gerade so aus dem Augenwinkel. Und ich weiß, dass sich das völlig verrückt anhört, aber ich schwöre, es war der eines Menschen.

»Iris?«, flüsterte ich, aber das war Unsinn, und als ich zu der Stelle kam, wo ich den Schatten gesehen hatte, war er längst verschwunden.

Die Filmtagebücher der Bluebell Gadsby

4. Szene (Transkript)
Die geschlechtliche Zuordnung der Ratten

IM HAUS DER GADSBYS/IM GARTEN DER GADSBYS.

Das Bild hüpft auf und ab, während der KAMERAMANN (BLUE) rennt, und zeigt wahllos nackte Füße, einen Streifen Wand, Stufen, den schwarz-weißen Marmor im Flur, die Steinveranda, Kies, einen Baum, Gras.

TWIG

Beeil dich, Blue, schnell!

BLUE

Ich komm ja schon!!

Das Bild beruhigt sich, als der Kameramann stehen bleibt, und richtet sich dann – erneut – auf den Rattenkäfig.

TWIG UND JAS

(im Chor, dabei auf und ab hüpfend)

GUCK MAL! GUCK MAL! GUCK MAL!

Das Bild wackelt, als der Kameramann in die Hocke geht, um in den Käfig zu schauen. BEISSER, DIE GROSSE WEISSE RATTE (einst so getauft wegen ihres Versuchs, Twig den Finger abzubeißen), starrt zurück. Um ihren Hals, mit einem Stück Kordel festgebunden, hängt ein kleines Holzschild. Die Kamera zoomt heran. Die Schrift auf dem Schild wird immer schärfer. Sie lautet:

ICH BIN DER PAPA

Mittwoch, 31. August (Fortsetzung)

»Was für ein merkwürdiges Schild!«, sagte Zoran.

Nachdem wir den Käfig untersucht hatten, gingen wir in die Küche zurück, wo Zoran Kakao für uns kochte, und Flora stöhnte unter ihrer Decke, die sie von oben runtergeholt hatte.

»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, fragte sie. »Was für ein merkwürdiges Schild?«

»Ist es doch auch«, sagte Zoran.

»Das wirklich Seltsame«, rief Flora, »das Gruselige und Abgedrehte daran ist doch, dass uns offenbar jemand beobachtet und in den Rattenkäfig eingebrochen ist!«

Ich weiß nicht, ob sonst noch jemand gesehen hat, wie Zorans Mundwinkel zuckten.

»Warst du das?«, fragte ich.

»Ich?«, fragte er. »Soll mich in die Nähe dieses Monsters wagen?«

»Wer dann?«, fragte Jas, und Twig wiederholte wer wer wer?

Das Wetter ist umgeschlagen und heute hat es den ganzen Tag geregnet, aber wir haben trotzdem abwechselnd am Rattenkäfig gewacht, sogar Flora, die es sich mit einer Decke, noch mehr Kakao und einem Buch unter dem Regenschirm gemütlich machte und sagte, sie würde diesen Kerl, der uns nachspioniert, gern erwischen und ihm mal gründlich die Meinung sagen. Genau das waren ihre Worte. Sie hörte sich an wie Grandma.

Aber wir haben ihn natürlich nicht erwischt.

Morgen gehen wir wieder zur Schule. Noch nie habe ich mich weniger auf etwas gefreut. Dad sagt immer, alles ist möglich. Vielleicht ändert sich in diesem Schuljahr ja wirklich was, aber irgendwie habe ich meine Zweifel daran.

Donnerstag, 1. September

Seit Iris gestorben ist, bin in der Schule ich der Schatten. Ich husche die Flure entlang, von einer Stunde zur nächsten, in die Pause und wieder zurück, und keiner sieht mich, keiner redet mit mir. Manche Mädchen aus meiner Klasse, die mich seit der Grundschule kennen, die mit mir zusammen ins Planschbecken gepinkelt und mir Geburtstagstorte ins Gesicht geschmiert haben – die kreischen bei jeder Begegnung und fallen sich um den Hals, sie kichern und flüstern miteinander, aber mich übersehen sie einfach, und ich weiß, dass sich nichts geändert hat.

Heute Morgen dachte ich einen Moment lang, es hätte sich vielleicht doch etwas verändert. In der ersten Stunde begegnete ich Dodi Cartwrights Blick und war ziemlich sicher, dass sie mich grüßte – nicht so richtig, nur so ein halbes Kopfnicken, ein Beinahe-Lächeln. Aber als ich mich dann in der nächsten Stunde, in Englisch, hinten ans Fenster setzen wollte, kam Dodi angerauscht und pflanzte sich auf meinen Stuhl. Ich habe versucht, was zu sagen, wirklich. Ich dachte, was würde Flora jetzt machen, und wollte sagen He, Cartwright, hau ab, hier sitz ich, aber es kam kein Wort heraus, und selbst wenn, hätte es nichts gebracht, weil da schon alle um sie rumstanden, um sich ihr endloses Geplapper über ihren Urlaub in Italien oder Spanien oder sonst wo anzuhören. Also nahm ich bloß meine Sachen und trottete zu dem einzigen noch freien Tisch, vorn in der ersten Reihe, neben Jake Lyall, der dort immer sitzen muss, weil die Lehrer ihn im Auge behalten wollen, und der schon wieder schlief und deshalb nicht mit mir reden konnte, selbst wenn er gewollt hätte, was aber vermutlich nicht der Fall war.

Englisch haben wir bei Miss Foundry, die selbst nach den Maßstäben der Clarendon Free School ziemlich durchgeknallt ist. Heute trug sie einen perlenbestickten Schal, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, bat uns, sie Anthea zu nennen, und wollte uns für die Weihnachtsaufführung der Clarendon Players anwerben.

»Dieses Jahr«, verkündete sie, »führen sie die Märchen der Brüder Grimm auf.«

Alle schauten sie verständnislos an. »Was für Brüder?«, gähnte Jake.

»Schneewittchen! Hänsel und Gretel! Rotkäppchen!«, rief Miss Foundry.

»Wovon redet sie?«, fragte Tom Myers.

»Jakob und Wilhelm Grimm«, sagte Hattie Verney und bestätigte damit, dass sie in der Neunten eine ebenso unerträgliche Streberin sein würde wie in der Achten. »Gemeinsam haben sie über zweihundert traditionelle Volksmärchen gesammelt und aufgeschrieben, von denen wir einige heute auch als Disney-Verfilmungen kennen.«

Tom schnitt ihr eine Grimasse. Miss Foundry tat, als würde sie es nicht bemerken.

»Wie jedes Jahr suchen die Clarendon Players für ihre Weihnachtsproduktion in den umliegenden Schulen nach Verstärkung. Bluebell, Liebes, weißt du, ob Flora wieder dabei ist?«

Cressida Taylor, Dodis beste Freundin, wiederholte kichernd Bluebell, als wäre das der bescheuertste Name der Welt. Was er ja auch ist.

»Ich glaube schon, Miss«, stammelte ich. Flora macht schon ungefähr so lange bei den Aufführungen der Clarendon Players mit, wie sie laufen kann. Sie träumt davon, entdeckt zu werden, von der Schule abzugehen, in einer Show im West End aufzutreten und dann am Broadway zu landen. »Bitte, Liebes, nenn mich Anthea.«

»Antheaaaaahhh«, sagte Tom, aber Miss Foundry beachtete ihn wieder nicht.

»Und du selbst?«, fragte sie. »Willst du nicht vorsprechen?«

»Was, die?«, rief Cressida höhnisch.

»Nein, Miss«, sagte ich.

Anthea wirkte bekümmert und traurig und enttäuscht. Alles auf einmal.

*

Dad sagt immer, dass es im Leben Opfertypen und Kämpfertypen gibt. Und dass er hofft, dass wir immer zu den Kämpfern zählen werden, aber in der Mittagspause hat es mir dann gereicht. Auf keinen Fall wollte ich Cressida und Dodi die Befriedigung verschaffen, mich alleine essen zu sehen. Es war nicht schwierig, inmitten einer Gruppe von Oberstufenschülern durchs Schultor zu schlüpfen. Die meisten von ihnen bemerkten mich gar nicht, und die, die es doch taten, schlossen sich so um mich zusammen, dass die Lehrerin am Tor mich nicht sehen konnte. Was jedoch, in Anbetracht dessen, dass diese Lehrerin Madame Gilbert war, gar nicht nötig gewesen wäre.

In einem Café in einer Seitenstraße der Portobello Road aß ich eine Tomatensuppe mit Brot und Butter. Das Café heißt Home Sweet Home und war voller Mütter mit Kinderwagen und Handwerker im Blaumann und Leute mit schwarzen Brillengestellen, die auf ihre iPads starrten. Ein sehr alter Labrador lag hechelnd vorm Tresen. Im Radio lief Capitol FM, und der ganze Raum roch nach Pommes und Kaffee und nassem Hund. Niemand redete mit mir, aber das war egal, denn hier sollte das ja auch niemand.

Als ich zurückkam, rauchte Madame Gilbert gerade ihre Gauloise zu Ende. Ich durfte eigentlich nicht rausgehen, aber sie durfte eigentlich auch nicht rauchen, darum schaute sie mich nur ausdruckslos an und winkte mich durch. In Mathe haben wir Faktorzerlegung wiederholt. Öde, aber so was von einfach. Ich habe die ganze Zeit geschlafen und Mr Forsyth (alias Mr Mathe) hat es nicht mal gemerkt.

Wie ich schon sagte: vollkommen unsichtbar.

Donnerstag, 1./Freitag, 2. September. Mitten in der Nacht.

Ich sitze auf dem Flachdach vor meinem Zimmerfenster und mir ist sehr kalt.

Beim Abendessen (Würstchen mit Kartoffelbrei – Zoran kocht nichts anderes und wenn man sich beschwert, ist er zutiefst gekränkt) hat Twig gesagt, wir müssten die Ratten eigentlich rund um die Uhr bewachen. Seine Worte. Er meinte, es wäre bloß Glück, dass seit gestern nichts mehr passiert ist. Jas fragte, was ist, wenn wir in der Schule sind, und Twig sagte, dann könnte Zoran doch auf sie aufpassen. Aber Zoran sagte, er müsste zur Uni und könnte nicht den ganzen Tag hier rumsitzen und darauf warten, dass wir zurückkommen, und ob wir nicht wüssten, dass er eine Dissertation zu schreiben hat? Jas sagte, nein, das wüsste sie nicht, und was ist eine Dissertation, und dann sagte Twig, was ist, wenn wir alle schlafen?

»Das letzte Mal ist er auch nachts gekommen«, fügte er hinzu.

»Er war doch sowieso erst ein Mal hier«, sagte Flora. »Außerdem ist er vielleicht eine Sie.«

»Na und? Deshalb kann er doch trotzdem noch mal kommen, und wenn er kommt, dann bestimmt, wenn wir im Bett sind.«

»Ihr könnt nicht die ganze Nacht aufbleiben«, sagte Zoran. »Das verbiete ich ausdrücklich.«

Zoran hatte schon den ganzen Abend Mühe gehabt, seine Autorität aufrechtzuerhalten, weil Mum heute Morgen gemailt hat, dass sie zwischen Moskau und New York nicht nach Hause kommt, und weil Flora nach der Schule bei ihrer Freundin Tamsin war, wo sie sich die Haare knallpink gefärbt und dann auch noch Dreadlocks reingemacht hat, mit einem Starter-Paket, das sich Tams Bruder im Internet bestellt hatte.

Im Ernst. Pinkfarbene Dreadlocks. Zoran ist an die Decke gegangen.

»Und noch was.« Twig schob seinen Teller beiseite, zog ihn für einen letzten Mundvoll Würstchen noch mal heran und sprang dann auf. »Wir haben gar nicht nach Indizien gesucht.«

»Oh Gott«, stöhnte Flora.

»Blue?« Wenn Twig etwas haben will, macht er keine runden Katzenaugen wie Jas, sondern seine Unterlippe zittert, und man kann einfach nicht Nein sagen.

»Na gut, ich komme mit«, seufzte ich.

Am Ende kamen alle mit, sogar Zoran, der, was den Abwasch angeht, schon nach einer Woche klein beigegeben hat. Flora bleibt dabei, dass es vollkommen sinnlos ist, abends noch den Abwasch zu machen, denn was, wenn man dann im Schlaf stirbt? Also machen wir ihn jetzt immer reihum morgens. Wir liefen über den Rasen und blieben vor dem Käfig stehen, und Twig erteilte uns Anweisungen, die im Prinzip alle darauf hinausliefen, jeden Stein einzeln umzudrehen.

»Dieses Kind sieht zu viel fern«, knurrte Flora.

Jas hat dann schließlich die Fußabdrücke entdeckt. Auf dem Rasen und im Kies waren keine – jedenfalls haben wir keine gefunden, zumal es ja auch ziemlich geregnet hatte –, aber hinten in der Ecke, hinter den Rhododendren, am Fuß der Mauer zu den Batemans rüber, hatte jemand mit seinen Turnschuhen zwei tiefe Abdrücke hinterlassen.

»Männlich, würde ich sagen.« Zoran schien sich allmählich für die Detektivarbeit zu erwärmen. »Der Größe nach zu urteilen. Und sie zeigen zur Wand, was darauf hinweist, dass er hier runtergesprungen oder hochgeklettert ist.«

»Mr Bateman?«, schrie Jas.

»Der ist schon mindestens hundertdrei«, erklärte Flora, an Zoran gewandt.

»Der wäre tot, wenn er von dieser Mauer springen würde«, sagte Twig.

»Also muss da noch jemand anderes wohnen.«

Zoran wollte gleich zu den Batemans rübergehen und fragen, aber wir sagten, dass wir die schon unser ganzes Leben lang kennen und das einfach zu peinlich wäre. Er seufzte (auf sehr unautoritäre Art) und fragte, was wir denn sonst tun wollten, und wir drucksten ein bisschen rum und sagten ach nichts, ist doch egal.

Und jetzt sitze ich hier. Auf dem Flachdach. Und friere mir mitten in der Nacht die Ohren ab.

*

Um ein Uhr habe ich Flora abgelöst. Alle zwei Stunden ist Schichtwechsel.

Ich liebe London bei Nacht. Bei Grandma in Devon sind die Nächte rabenschwarz und die Sterne viel heller, aber es ist so unheimlich still. Hier dagegen hört man immer noch den Verkehr, und der Himmel ist zwar dunkel, aber orangefarben, und obwohl die meisten Leute schlafen, spürt man das Leben überall, weil es nie ganz aufhört. Grandma nennt London DIESES DRECKLOCH und sagt, dass sie nicht versteht, wie man hier auch nur eine Minute überleben kann. Sie sagt, es war die beste Entscheidung ihres Lebens, aus London wegzuziehen, als Grandpa in Rente ging, aber letztes Frühjahr hat sich hier jeden Morgen ein Fuchs auf dem Schuppendach der Batemans gesonnt. Im Sommer kann man sich auf den Rasen legen und den Mauerseglern zuschauen, und am Wochenende riecht man die ganze Straße runter, wie überall gegrillt wird.

Gerade hat sich etwas bewegt.