Das Wohnzimmer der Familie Selicke.
(Es ist mässig gross und sehr bescheiden eingerichtet. Im Vordergrunde rechts führt eine Thür in den Corridor, im Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendt’s. Etwas weiter hinter dieser eine Küchenthür mit Glasfenstern und Zwirngardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, grossgeblumtes Sopha ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gypsstatuetten „Schiller und Goethe“ der bekannte Kaulbach’sche Stahlstich „Lotte, Brod schneidend“ hängt. Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl photographischer Familienportraits. Vor dem Sopha ein ovaler Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr eine brennende weisse Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetenthür, die in eine Kammer führt. Ausserdem noch, zwischen den beiden Thüren an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und, hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende, dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm verdeckt wird. Am Fussende des Bettes, neben dem Fenster, schliesslich noch ein kleines Nachttischchen mit Medizinflaschen. Zwischen Kammer- und Küchenthür ein Ofen, Stühle.
Frau Selicke, etwas ältlich, vergrämt, sitzt vor dem Bett und strickt. Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause.)
Frau Selicke (seufzend): Ach Gott ja!
Walter (noch hinter der Scene, in der Kammer): Mamchen?!
Frau Selicke (hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schneuzt sich).
Walter (steckt den Kopf durch die Kammerthür. Pausbacken, Pudelmütze, rothe, gestrickte Fausthandschuhe): Mamchen? darf ich mir noch schnell ’ne Stulle schneiden?
Frau Selicke (ist zusammengefahren): Ach, geh’ du ungezog’ner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! (ist aufgestanden und an den Tisch getreten, auf den sie ihre Brille legt). Kannst Du denn auch gar nicht ’n bischen Rücksicht nehmen?! Siehst Du denn nich, dass das Kind krank ist?
Walter (ist unterdessen auf’s Sopha geklettert und trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste aus. Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra raus): Aber ich hab’ doch noch solchen Hunger, Mamchen?
Albert (ebenfalls noch hinter der Scene, in der Kammer, deren Thür jetzt weit aufsteht. Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft sich grade seine Kravatte um. Hemdärmel.): Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber ’n Katzenkopp un denn is jut!
Frau Selicke (die jetzt Walter die Stulle schneidet): Na, Du, Grosser, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk’, ihr seid überhaupt schon lange weg?
Albert (ärgerlich): Ja doch! Gleich! Aber ich wer’ mir doch wohl noch erst den Rock abbürschten können?
Frau Selicke: Na ja, gewiss doch! Steh Du man immer recht vor’m Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da werd’t Ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf ’m Comptoir sitzen!
Albert: Ach Jott! Nu thu doch man nicht wieder so! Vor Sechs kann er ja doch heute so wie so nich aus ’m Geschäft!
Frau Selicke: So! Na! Und wie spät denkste denn, dass es jetz’ is? (hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick inne gehalten, den Schirm von der Lampe gerückt und nach dem Regulator gesehen) … Jetz’ is gleich Dreiviertel!
Albert: Ach, Unsinn! Die jeht ja vor!
Frau Selicke (für sich, fast weinend): Hach nee! Ich sag’ schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer’n wir ’n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! …
Albert (noch immer in der Kammer und vor’m Spiegel): Hurrjott, Mutter! Räsonnir’ doch nich immer so! Du weisst ja noch gar nich!
Frau Selicke: Ach was! Lass mich zufrieden! Beruf’ mich nich immer! Ich weiss schon, was ich weiss! (unwirsch zu Walter) Da — haste! Klapp se Dir zusammen und dann macht, dass Ihr endlich fortkommt! Aus Euch wird auch nischt!
(Es klingelt.)
(Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Thür, die in’s Entree führt.)
Frau Selicke (endlich): Na? Machste nu auf, oder nich?
(Walter hat die Stulle liegen lassen und läuft auf die Thür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.)
Albert (der eben aus der Kammer getreten ist, in der er das Licht ausgelöscht hat. Zieht sich noch grade seinen Ueberzieher an. Aus der Brusttasche stecken Glacees, zwischen den Zähnen hält er eine brennende Cigarrette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt, Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sopha plazirt. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fusse die Thür hinter sich zudrückt): Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?
Frau Selicke (die sich wieder mit dem Kaffeegeschirr zu thun macht, unruhig): Ach wo!
(Unterdessen ist draussen die Flurthür aufgegangen und man hört die Stimme des alten Kopelke: „Brrr … is det heit ’n Schweinewetter?!“ — Die Thür klappt wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausgelassen: „Ah! Olle Kopelke! Olle Kopelke!“ — „Nich doch, Kind, nich doch; du thust mir ja weh! Du drickst mir ja! Du musst doch aber ooch heer’n! Da — nimm mir mal lieber hier ’n bisken det Menneken ab! … Brrr … nee … ä!“)
Albert (zu Frau Selicke, sich die Handschuhe zuknöpfelnd): Ach, der alte Quacksalber?!
Frau Selicke: Na, Du, Grossmaul, wirst doch nich immer gleich das Geld geb’n für’n Docter!
Albert (aufgebracht): Ach, Blech! Nich wahr? Nu fang wieder davon an! …
Walter (noch halb im Entree): Au, Mamchen, sieh mal! ’n Hampelmann! Mamchen, ’n Hampelmann! (Er kommt mit ihm in’s Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück): Wah? den schenken Se mir?
Kopelke (behutsam hinter ihm drein. Klein, kugelrund, freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasirt. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollshawl): Sachteken! Sachteken!
Albert (hat sich den Stock schnell unter den Arm geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affectirt): Ah, gut’n Abend, Herr Kopelke!
Kopelke: ’n Abend! ’n Abend, junger Herr! (Reicht Frau Selicke die Hand) ’n Abend! (Nach dem Bett hin) Na? Und meene kleene Patientin? Ick muss doch mal sehn kommen?
Frau Selicke (weinerlich): Ach Gott ja! Na, ich kann wohl schon sagen!
Kopelke (sie beruhigend): Ach wat, wissen Se! det … det … e ....
Walter (hat sich unterdessen mit seinem Hampelmann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, „Bah!“ zu ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten Kopelke rum, diesen unterbrechend): Olle Kopelke! Olle Kopelke!
Kopelke (sanft abwehrend): Ach, nich doch, Kind! det ’s jo unjezogen! Du musst nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!
Walter (Rübchen schabend): Oh …! Olle Kopelke! …
Albert: Hörst Du denn nich, Du Schafskopp? Du sollst still sein!
Walter (den Ellbogen gegen ihn vor): Nanu? Du hast mir doch garnischt zu sagen?
Albert (holt mit der Hand aus).
Frau Selicke (mit dem Strickstrumpf, den sie unterdessen wieder aufgenommen hat, dazwischen): Nein! Nein! Nun sehn Sie doch blos! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!
Albert (der sich achselzuckend wieder abgewandt hat): Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem lässt Du ja Alles durchgehn! Der kann ja machen. was er will! Aus dem Bürschchen erziehst Du ja schon was Rechtes! Vater hat janz recht!
Frau Selicke: Nein! Nein! Nu hören Se doch blos! Und da soll man sich nich gleich schlagrührend ärgern?
Kopelke (zu Albert): Sachteken, werther junger Herr, sachteken … (Zu Frau Selicke) Immer in Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reenjanischt! … Ibrijens … (Er hat sich mitten in die Stube gestellt und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum) … wat ick doch jleich noch sagen wollte … det … det … riecht jo hier so anjenehm nach Kafffe? … Hm! Pf! Brrr! … Nee, dieset Schweinewetter?! Ick bin — wahhaftijen Jott — janz aus de Puste! (Er hat sich seinen grossen, dicken Wollshawl abgezerrt und schlenkert ihn nun nach allen Seiten um sich rum) Kopp weg! (Zu Walter, den er dabei getroffen hat) He? Wah det Deine Neese?
Walter (der sich den Schnee von den Backen wischt, vergnügt lachend): Hohohoo!
Albert (bereits äusserst ungeduldig, den Hut in der Hand): Na, jedenfalls ich jeh jetzt! Wir kommen ja sonst wahrhaftig noch zu spät!
Frau Selicke: Ja, ja! Macht man, dass Ihr fortkommt!
Kopelke (zu Albert): Aha! Wol zu Papa’n uf’t Contor?
Albert (ausweichend): Ach! ja! Das heisst .. e .. wir wollten so … blos ’n bischen vorbeijehn!
Kopelke (ihm mit einer Handbewegung gutmüthig zublinzelnd, verschmitzt): Weess schon! (Zu Frau Selicke, halb in’s Ohr) Edewachten kenn ick doch? … (Wieder zu Albert) Na, denn … e … denn beeilen ’sick man! Sowat looft weg!
Albert: (schon unter der Thür stehend zu Walter, der sich eben seinen Hampelmann an die Jacke knöpft): Na, willste nu so jut sein oder nich?
Walter (giebt dem alten Kopelke die Hand): Atchee!
Kopelke: Atchee, mein Sohn, Atchee! Un jriess ooch Vatern!
Frau Selicke: Na, und die Stulle? (Reicht sie ihm noch schnell nach, Walter beisst sofort in sie hinein) Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen! Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!
Albert (hat die Thür bereits aufgeklinkt und macht nun zum alten Kopelke hin eine stumme, ceremonielle Verbeugung).
Kopelke: War mich sehr anjenehm, werther junger Herr! War mich sehr anjenehm! (Die Beiden verschwinden. Draussen im Entree schlägt Walter hin. Schreit. Albert: „Na, du Ochse!“)
Frau Selicke: Ei Herrgott! Was is denn nu schon wieder … (Will auf die Corridorthür zu, draussen schlägt die Flurthür zu). Hach! Gott sei Dank, dass man die Gesellschaft endlich los ist!
Kopelke (sich die Hände reibend, schmunzelnd): Jo! Wahr is’t! ’n bisken wiewe sind se! Abber — Jotteken doch! det is doch nu mal nich anders! det …
(Vom Bett her Geräusch und Husten.)
Frau Selicke (wirft ihr Strickzeug in das Kaffeegeschirr und eilt auf das Bett zu): Ach, nein! Ich sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind glücklich wieder wachkrakehlt! … Na, mein liebes Herzchen? … Wie ist Dir. mein liebes Linchen, he? (Kleine Pause. Frau Selicke hatte sich übers Bett gebeugt, leises Stöhnen.) Hast Du Schmerzen, mein liebes Puttchen?
Linchen (feines, rührendes Stimmchen): Ma — ma — chen?
Frau Selicke: Ja, mein Herzchen? Hm?
Linchen: Ma — ma — chen?
Frau Selicke: Hast Du Appetit, mein Schäfchen? … Nein? Ach, Du mein Mäuschen!
Linchen: Ich — bin — so — müde …
Frau Selicke: Ach, mein Herzchen! Aber, nicht wahr? Du willst jetzt noch einnehmen?! Onkel Kopelke ist ja da!
Linchen: On — kel — Ko — pel — ke?
Kopelke (hat sein rothbaumwollenes Schnupftuch gezogen und schneuzt sich).
Frau Selicke (halb zu ihm zurückgewandt): Wollen Sie se mal sehn? Ich misch’ solange die Tropfen! (Lässt ihn an’s Kopfende treten und mischt während des Folgenden am Fussende des Bettes, auf dem Nachttischchen, die Medizin).
Kopelke (hat sich jetzt ebenfalls über das Bett gebeugt. Täppisch-zärtlich): Na, Lin’ken? Kennste mir noch? Ach Jotteken doch, die Aermken! Nich wah? Det — watt doch mal. Kind, ’n Oogenblickchen! — Det … thut doch nich weh? … Na, sehste!! Ick sag’ ja! det … det is Allens man auswendig! Det ’s janich so schlimm! Uf de Woche kannste all dreist widder ufstehn! Denn jehste for Mama’n bei’n Koofmann! Denn jehste mit ihr uf ’n Marcht! Inholen! He? Weesste noch? Uf ’n Pappelplatz? Der mit ’t Schielooge? „Jungens.“ sag’ ick, „Bande! Wehrt ihr wol det Meechen sind lassen?“ Abber da!! Heidi! Wat haste, wat kannste! … Nich wah? Nu nehmste abber ooch sauber in? (Zu Frau Selicke, während er diese an’s Bett treten lässt): Wat det Kind blos for’n Schwitz hat?!
Frau Selicke (besorgt): Ach Gott ja!