Eva Ibbotson

Das Geheimnis
der Geister von Craggyford

Aus dem Englischen
von Sabine Ludwig

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuausgabe 2013

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-42374-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71576-8

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1. Kapitel

Humphrey der Schreckliche war ein Gespenst. Eigentlich hieß er nur Humphrey, er hatte »der Schreckliche« seinem Namen hinzugefügt, in der Hoffnung, dann auch schrecklich zu werden, was er nämlich nicht war.

Niemand wusste, was bei Humphrey schiefgelaufen war. Vielleicht lag es an seinem Ektoplasma. Ektoplasma ist der Stoff, aus dem Geister sind, und normalerweise ist es ein gespenstisches, bleiches, schlüpfriges Nichts – ein bisschen wie die Schleimspuren von Schnecken in feuchtem Gras oder wie Nebel, der aus sumpfigen Moorlöchern aufsteigt. Doch Humphreys Ektoplasma war pfirsichrosa und erinnerte an flauschige Lammwolle oder Sommerwölkchen. Seine Augenhöhlen grinsten nicht höhnisch oder starrten einen hohl an, sondern zwinkerten freundlich, und wenn seine Fingerknochen aneinanderschlugen, dann klang es wie das Klingeling kleiner Glöckchen.

Seine Eltern wollten natürlich, dass er schrecklich und furchterregend und abstoßend wirkte wie alle guten Geister, und sie machten sich große Sorgen um ihn.

»Ich weiß wirklich nicht, was mit ihm los ist«, pflegte seine Mutter zu sagen.

Humphreys Mutter war eine Hexe mit Hakennase und Buckel. Ihre schuppigen schwarzen Flügel verströmten bei jeder Bewegung einen grauenvollen Geruch. Humphreys Mutter konnte an einem Nachmittag abwechselnd nach verschimmelten Eingeweiden, ungewaschenen Achselhöhlen und zerstückelten Maden riechen.

Humphreys Vater versuchte, sie zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, Mabel. Der Junge ist wahrscheinlich nur ein Spätentwickler.«

Humphreys Vater war ein schottischer Geist. Er war 1388 in der Schlacht von Otterborn umgekommen. Es war eine sehr blutige Schlacht gewesen, in der die Engländer und Schotten sich auf alle erdenklichen Arten umgebracht hatten. Gleich zu Beginn der Schlacht hatte ein grausamer englischer Baron Humphreys Vater beide Beine abgeschlagen. Er hatte jedoch auf den Stümpfen weitergekämpft, bis ein anderer böser Engländer ihm ein Schwert in die Brust stieß. Nun wurde er der Schwebende Kilt genannt, denn man sah nur den Kilt und dann die Leere, wo eigentlich seine Beine hätten sein müssen. Er war ein eindrucksvoller Geist und ein guter Vater.

Aber wie die meisten Mütter wollte sich die Hexe nicht so leicht beruhigen lassen. »Er hat so überhaupt nichts von George oder Winifred«, jammerte sie.

George, Humphreys älterer Bruder, war ein Schreiender Schädel. Das sind Schädel ohne Körper. Versucht man, einen Schreienden Schädel zu begraben, dann schreit und schreit er so lange, bis man ihn wieder ausbuddelt. Auch wenn man versucht, so einen Schädel zu bewegen, schreit er, oder wenn jemand Geräusche macht, die er nicht mag. Eigentlich schreien diese Schädel fast immer und dieses Schreie klingen so, als ob man einem halben Dutzend Leute die Eingeweide herausreißt. Niemand, der jemals einen Schreienden Schädel schreien hörte, ist hinterher noch ganz er selbst. Natürlich waren Georges Eltern sehr stolz auf ihren Sohn.

Und was Humphreys Schwester Winifred betraf, so geisterte sie in einem langen grauen Totenhemd herum und versuchte, eine Schüssel mit Wasser zu ergreifen, die vor ihr her schwebte. Mit dem Wasser wollte sie ihre Blutflecken abwaschen. Niemand wusste genau, woher diese Blutflecken stammten, aber sie musste etwas wirklich Schreckliches getan haben, denn sie war über und über mit Blut befleckt. Doch wie schnell Winifred auch schwebte, die Wasserschüssel war immer schneller als sie. Natürlich regte sie das furchtbar auf und sie klagte viel und daher nannte man sie die Wehklagende Winifred.

Sie waren eine glückliche Familie. Sicher gab es kein Paar auf der Welt, das sich zärtlicher zugetan war als die Hexe und der Schwebende Kilt. Ihre besten Gerüche reservierte sie nur für ihn. Er fand ihre schielenden Augen und die langen schwarzen Borsten in ihrem Gesicht wundervoll. Und sie liebten ihre Kinder George und Winifred. Sie liebten auch Humphrey, sehr sogar – obwohl er nicht schrecklich war. Und da Humphrey der Jüngste war, wurde er vielleicht auch ein wenig zu sehr verwöhnt.

Sie waren nicht nur eine glückliche Familie, sie lebten auch an einem Ort, der für Gespenster bestens geeignet war. Das war ein Schloss im Norden Englands mit einem feuchten, dunklen Verlies, in dem es vor riesigen grauen Ratten nur so wimmelte. Es gab einen Schlossgraben mit grünem, schleimigem Wasser und einer Zugbrücke, an deren rostiger Eisenkette noch das Haar und getrocknete Blut eines ermordeten Räubers klebte.

Das Schloss hieß Craggyford Castle, sodass Humphrey und seine Familie überall nur die Craggyfordgeister genannt wurden.

Sie lebten sehr schlicht. Humphrey schlief in einem Sarg unter einer Eibe in einer Ecke des Friedhofs und jeden Abend kam die Hexe, um ihm Gute-Nacht-Flüche zu erzählen. Dabei stieg ihm der Geruch von Schweißfüßen oder verrottetem Hammelfleisch in die Nase und ließ ihn glücklich einschlafen.

Tagsüber hatten die Kinder natürlich Unterricht. Sie mussten lernen, höhnisch zu grinsen, mit den Ketten zu rasseln und wie man Leuten mit eisigen Knochenfingern die Bettdecke wegzieht. George, der ja nur ein Schädel war und keine Finger hatte, musste stattdessen ein paar Extra-Schreiübungen machen. Am wichtigsten jedoch waren die Übungen im Unsichtbarwerden.

Humphrey war darin besonders schlecht. Er war so unglaublich schlampig und nachlässig im Verschwinden, dass jedes Mal irgendein Teil von ihm übrig blieb. Manchmal vergaß er einen Fuß, manchmal eine Schulter, und einmal verschwand alles bis auf seinen Bauch, der hing wie ein großer runder Goudakäse in der Luft. Aber am schlimmsten war sein Ellbogen. Humphreys linker Ellbogen wollte einfach nicht unsichtbar werden.

»Du gibst dir keine Mühe, Humphrey«, kreischte seine arme Mutter jedes Mal.

»Doch, Mummy, ehrlich«, ertönte dann Humphreys Stimme. »Es ist nur … er hängt irgendwie fest.«

Winifred, die trotz ihrer ständigen Jammerei ein sehr freundliches Mädchen war, versuchte, die Mutter zu trösten.

»Es fällt doch gar nicht auf, Mummy. Es sieht aus wie … wie eine Spinnwebe oder etwas Staub.«

»Blödsinn, Winifred. Es sieht nicht im Mindesten wie Spinnweben oder Staub aus. Es sieht aus wie ein Ellbogen. Versuch es noch einmal, Humphrey. Streng dich an!«

So mühsam der Unterricht auch sein mochte, sie hatten hinterher immer noch genügend Zeit, um sich zu vergnügen.

Es gab einen Wald, in dem Eulen mit gelben Augen hausten, wo sie Verstecken spielten, oder sie schwebten um die Wette rund ums Schloss. Natürlich hatten sie auch viele Freunde. Da gab es den Verrückten Vladimir, einen Baumgeist, der in einer hohlen Eiche auf dem Galgenberg lebte. Den ganzen Tag stöhnte und brabbelte er vor sich hin und wartete darauf, dass Leute an ihm vorbeikamen. Deren Haar wurde dann vor Schreck über Nacht weiß. Dann gab es ein Phantomschwein, das im Craggyford-Moor lebte. Normalerweise werden Schweine nicht zu Gespenstern, aber dieses war von keinem Geringeren zur Strecke gebracht worden als von einem Vetter zweiten Grades von Robin Hood. Nicht dass es sich darauf etwas einbildete, das Schwein war eine friedliche Sau, die es mochte, wenn Humphrey ihr den Rücken kratzte, und die gern nach Bucheckern wühlte wie ein ganz normales Hausschwein.

Dann war da noch die Graue Lady, die auf dem Friedhof herumspukte, auf dem Humphrey schlief. Geisterladys, von welcher Farbe auch immer, suchen für gewöhnlich nach etwas: nach vergrabenen Schätzen oder jemandem, den sie ermordet haben, was sie inzwischen zutiefst bereuen – so etwas in der Art. Die Graue Lady suchte ihr Gebiss. Als man sie begrub, hatte sie noch alle Zähne – zumindest behauptete sie das. Aber dann hatten Grabräuber ihr das Gebiss gestohlen, worüber sie sich sehr ärgerte. Wenn sie mal nicht an ihre Zähne dachte, was sehr selten vorkam, war die Graue Lady sehr gut darin, sich Spiele auszudenken, so zum Beispiel Mikado mit alten Zehenknochen oder »Schlange und Leiter« mit lebenden Vipern.

Wer mit seiner Familie und seinen Freunden ein glückliches und friedliches Leben führt, vermag sich nicht vorzustellen, dass es jemals enden könnte.

Humphrey glaubte, dass sie für weitere fünfhundert oder tausend oder dreitausend Jahre auf Craggyford Castle leben würden. Aber die Welt draußen veränderte sich. Für Geister wurde das Dasein schwierig und gefährlich. Wie schwierig und gefährlich, begriffen sie erst in einer dunklen, stürmischen Nacht kurz nach Halloween …

Sie saßen beim Abendessen. Es war ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl: gehackte Rattenschwänze im eigenen Fett gebraten, die sie mit kaltem Krötenblut herunterspülten. Wer glaubt, Geister müssten nicht essen und trinken oder auf die Toilette, der irrt. Sie müssen es nicht, aber sie tun es gern. Es vertreibt die Zeit.

George war ungezogen gewesen und hatte zu laut geschrien. Die Hexe litt unter Migräne und stülpte den Kaffewärmer über ihn, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber wer nichts sieht, hört oft umso besser, und vielleicht hielt deshalb George als Erster mit Kauen inne und fragte: »Was ist das für ein Geräusch?«

Dann hörten sie es alle: Pferdehufe, die durch die Luft stampften.

Das Stampfen kam näher. Das Stampfen von vielen Hufen, dazu das Klirren von Zaumzeug, das Quietschen von Leder … Dann machte es »Wusch!« und mit einem Windstoß, der die Rattenschwänze vom Teller fegte, raste eine riesige Geisterkutsche, von vier schwarzen Pferden gezogen, durchs Fenster und kam über ihnen zum Stehen.

»Das ist doch nicht möglich!«, rief der Schwebende Kilt.

»Ist es doch! Es ist Tante Hortensia!«, kreischte die Hexe und schlug aufgeregt mit den Flügeln.

Der Wagenschlag ging auf. Heraus schwebte eine Dame in einem riesigen, mit Malven bestickten Flanellnachthemd und trat auf den Esstisch. Aus dem ziemlich schmuddeligen Kragen des Nachthemdes ragte nur ein Halsstumpf. Er trug noch die Spuren des Henkerbeils und leuchtete rosig im Abendlicht.

»Was ist los, Tantchen? Was ist passiert?«, fragte die Wehklagende Winifred.

Es gab eine Pause, während der Hortensias Hals sich hin und her drehte. Sie schien nach etwas zu suchen. Schließlich stieg sie wieder in die Kutsche und holte etwas heraus. Ihren Kopf.

»Ich bin aus meinem Zuhause vertrieben worden«, sagte der Kopf der kopflosen Tante Hortensia. Er sah verstört und traurig aus, das verfilzte graue Haar stand wirr von ihm ab.

»Oh nein!«

»Ja.« Der Kopf nickte und aus seinem linken Auge rann eine Träne. »So eine Unverschämtheit«, fuhr er fort. »Ihr wisst, wie bequem ich es auf Night Abbey hatte, nicht wahr?«

Alle nickten. Als sie noch lebte, war Tante Hortensia die Haushälterin von Heinrich dem Achten in Hampton Court Palace gewesen. Leider war Mathematik nie Tante Hortensias starke Seite gewesen und als sie eines Tages das Haushaltsgeld abrechnete, kam sie für drei dicke Kapaune, eine Flasche Met und zwei Talglichte auf elfdreiviertel Pence. In Wirklichkeit kostete alles zusammen aber nur elfeinhalb Pence. Und gerade als sie dabei war, ins Bett zu gehen, ließ König Heinrich (der eine Woche lang niemanden hatte köpfen lassen) sie festnehmen und ihr den Kopf abschlagen.

Eine Zeit lang spukte Tante Hortensia noch im Schloss herum, aber das war von Geistern übervölkert (allein drei von Heinrichs Frauen schwebten jammernd und klagend durch die Korridore) und sie fühlte sich zwischen den großartig gekleideten Hofdamen in ihrem Nachthemd und den langen wollenen Unterhosen so unpassend gewandet, dass sie sich in einer Nacht des Jahres 1543 eine Geisterkutsche aus den königlichen Stallungen auslieh und davonfuhr, um sich einen eigenen Ort zum Spuken zu suchen.

Sie fand Night Abbey – ein halb verfallenes, knarrendes Gemäuer an der Ostküste. Die Türen hingen malerisch in den Angeln, Fledermäuse baumelten als wunderbar gruseliger Klumpen von den Dachbalken und rundherum gab es salziges Marschland für ihre kopflosen Pferde.

»Vierhundertzweiunddreißig glückliche Jahre habe ich in diesem Haus verbracht«, sagte Tante Hortensias Kopf. »Und dann, vor drei Monaten …«

Vor drei Monaten hatte anscheinend ein Mr Hurst Night Abbey gekauft und beschlossen, es zu modernisieren.

»Was heißt ›modernisieren‹?«, fragte Humphrey.

»Du kannst Fragen stellen«, klagte Tante Hortensias Kopf. »Das heißt, in der Spülküche sind jetzt keine Frösche mehr, sondern Waschmaschinen, das heißt Halogenlampen, die meine Vibrationen durcheinanderbringen. Und vor allem heißt es: Zentralheizung!«

»Igitt!« Die Hexe und der Schwebende Kilt schauderten vor Mitgefühl.

»Ihr habt gut ›igitt‹ sagen«, jammerte Tante Hortensia. Sie streckte einen üppigen Arm aus, schob den Ärmel zurück und zeigte auf ihr Ektoplasma, das ganz vertrocknet aussah und einen ungesunden gelblichen Schimmer aufwies. »Ich kann euch sagen, dieser Ort ist unbewohnbar geworden.«

»Du bleibst natürlich bei uns«, sagte die Hexe.

»Es betrifft ja nicht nur mich«, sagte Tante Hortensia düster. »Es ist überall das Gleiche. Alte Gemäuer werden abgerissen, nette dunkle Tümpel trockengelegt, eindrucksvolle Ruinen in Hotels oder Bingohallen verwandelt. Ich habe gehört, dass Leofric der Lädierte jetzt in einer Würstchenfabrik herumspukt, der Ärmste!«

»Nun, uns hier auf Craggyford wird schon nichts passieren«, sagte die Hexe beschwichtigend und häufte für den Kopf ihrer Tante Rattenschwänze auf einen Teller.

2. Kapitel

Tante Hortensia meinte es gut, aber sie war keine einfache Mitbewohnerin. Zum einen war sie furchtbar vergesslich. Nicht nur, dass sie ihren Kopf im Schlafzimmer vergaß, wenn sie hinunter zum Frühstück kam, sie ließ ihn auch im Schuhschrank liegen, wenn sie in den Garten ging, um Nieswurz oder Schwarzen Nachtschatten zu pflücken. Und einmal warf sie Humphrey den Kopf aus einer spielerischen Laune heraus so plötzlich zu, dass der ihn fallen ließ, woraufhin der Kopf den armen Humphrey einen Tollpatsch schimpfte.

Außerdem verwirrte sie die Familie, wenn sie versuchte, etwas mitzuteilen. Tante Hortensias Halsstumpf hatte zwar gelernt, so einfache Dinge zu sagen wie: »Bitte mehr!«, »Nein« oder »Pah!«, aber wenn sie etwas Kompliziertes ausdrücken wollte, wozu mehr Worte gehörten, dann brauchte sie ihren Kopf. Da sie so vergesslich war, konnte es jedoch passieren, dass der Hals etwas anderes sagte als ihr Kopf. Wenn zum Beispiel die Hexe fragte: »Möchtest du noch ein Krötenhautsandwich, Tante Hortensia?«, so antwortete der Stumpf mit Ja, während der Kopf von der anderen Seite des Raumes her rief: »Du weißt doch, Mabel, dass ich von Krötenhaut immer Blähungen bekomme.« Dergleichen macht das Zusammenleben nicht gerade einfacher.

Am meisten ärgerten sich alle darüber, wie ekelhaft sie sich Humphrey gegenüber benahm. Natürlich wusste jeder, dass er nicht so schrecklich war, wie er hätte sein müssen, aber sie wollten nicht von anderen darauf hingewiesen werden. Wenn man bei jemandem zu Gast ist, sollte man keine abfälligen Bemerkungen über dessen Kinder machen. Genau das aber tat Tante Hortensia.

»Also wirklich, Mabel«, störte sie die Hexe, wenn die gerade Flüche in ein Rezeptbuch schrieb oder die Dochte der Leichenkerzen putzte, »dieser Junge riecht wie frisch gemähtes Gras.«

Das ärgerte die Hexe sehr. »Tut er nicht. Nicht wirklich. Ich gebe zu, dass Humphrey nicht gerade meine besten Gerüche geerbt hat, aber –«

»Bist du sicher, dass er ein Gespenst ist?«, unterbrach sie Tante Hortensia. »Vielleicht ist er ja ein Elf oder ein Heinzelmännchen, so etwas in der Art. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich nachts aus dem Haus schleicht und Leuten Gutes tut.«

Jetzt war die Hexe so wütend, dass sie durch den Schornstein fuhr.

»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen, Tante Hortensia«, schimpfte sie, als sie wieder in der Küche landete. »Gerade erst gestern im Garten habe ich gesehen, wie ein Küken in Panik vor Humphrey weglief.«

»Ein Küken! Pah!«, schnaubte Tante Hortensia.

Wenn die Hexe sich über etwas aufregte, sprach sie immer mit ihrem Mann darüber.

»Sie hat Humphrey mit ihrem Messer gestochen«, erzählte sie dem Schwebenden Kilt am Abend vor dem Zubettgehen. »Nur weil er ihren grässlichen Kopf fallen gelassen hat.«

»Wir müssen Geduld haben, meine Liebe«, sagte ihr Gatte. Er zog sich das Schwert aus der Brust und legte es ordentlich auf sein Kopfkissen. »Schließlich hat sie schwere Zeiten hinter sich. Hast du bemerkt, wie verkrumpelt ihr Halsstumpf aussieht? Und außerdem weißt du sehr wohl, dass das Küken nicht vor Humphrey weggelaufen ist, Mabel. Es wollte nur zu seiner Mutter.«

Die Hexe errötete und eine Gestankwolke erfüllte den Raum. Diesmal roch es nach zertretenen Mistkäfern.

»Naja, mag sein.« Sie legte sich zu ihrem Mann ins Bett und legte ihren hässlichen Kopf liebevoll auf seine klaffende Wunde in der Brust. »Vielleicht könnten wir ihn mit irgendetwas einsprühen, damit er wenigstens ordentlich stinkt«, murmelte sie schlaftrunken. »Eiter aus einem geöffneten Furunkel wäre nicht schlecht … vermischt mit saurer Milch … oder dem Geruch nach verbrannten Gummistiefeln …«

Am nächsten Morgen jedoch gab es Wichtigeres, als sich über Humphreys Geruch Gedanken zu machen. Denn an diesem Morgen kamen die Männer.

Zunächst erschienen in einem blauen Lieferwagen vier Männer, die in ihren Regenmänteln und Mützen ganz normal aussahen. Sie liefen mit Maßbändern, Senkblei und langen gestreiften Pfosten herum. Dann kam ein großer grauer Wagen und zwei bedeutender aussehende Männer mit feisten roten Nacken stiegen aus. Sie trugen dicke Mäntel und hatten Papiere dabei, die im Wind flatterten.

Sie blieben den ganzen Vormittag, schritten das Gelände ab, stachen mit ihren Taschenmessern in das Gebälk und riefen einander etwas zu. Als sie fort waren, erschienen am nächsten Tag noch mehr Männer und am übernächsten ebenfalls.

Das war für die Geister eine große Belastung. Sie wussten nicht, was da vorging, und natürlich mussten sie bei all den Leuten unsichtbar bleiben. Geister können tagelang unsichtbar sein, wenn es sein muss, aber sie mögen es nicht. Sie fühlen sich dann jedes Mal unerwünscht.

Dann kam ein paar Wochen lang niemand mehr und alle waren beruhigt. Die armen Geister konnten die Ruhe auf Craggyford jedoch nicht lange genießen, denn als Nächstes kamen die Bulldozer.

»Sie reißen die Westwiese auf, Mummy«, sagte Humphrey besorgt. »Was wird nur aus all den lieben Maulwürfen?«

Aber die Männer kümmerten sich nicht um Maulwürfe und auch nicht um die jungen Bäume im Haselwäldchen oder um die Amseln und Drosseln, die in den Hecken brüteten. Sie walzten mit ihren Bulldozern einfach Baum und Strauch nieder, und als alles flach und nur noch totes Gestein war, fingen sie an zu bauen. Kleine hölzerne Bungalows, die sich in langen, schnurgeraden Reihen bis zum Schloss zogen.

»Vielleicht kommt die Armee?«, überlegte der Schwebende Kilt. Der Gedanke tröstete ihn etwas, denn er war ein begeisterter Soldat gewesen.

Aber es war nicht die Armee. Die Männer errichteten keine Kasernen, sondern eine Ferienanlage. In den kleinen Holzhäusern sollten die Urlauber schlafen und sich zum Essen und zu Unterhaltungsveranstaltungen ins Schloss begeben. Dafür musste das Schloss natürlich modernisiert werden.

»Dass mir das noch einmal passieren muss!«, jammerte Tante Hortensia, als die Lkws mit den Bauarbeitern über die Zugbrücke donnerten. »Zweimal in einem Leben, das ist zu viel! Mein Ektoplasma! Was wird nur aus meinem Ektoplasma?«