Über den Autor

Martin Balluch, geboren 1964 in Wien, studierte Philosophie, Mathematik und Astronomie und arbeitete zwölf Jahre als Universitätsassistent in Wien, Heidelberg und Cambridge. Seit 1997 ist er beim Verein Gegen Tierfabriken engagiert und im Zuge eines 14-monatigen Prozesses in den Jahren 2010–2011 wegen Bildung einer angeblich kriminellen Organisation im Tierschutz zu Österreichs bekanntestem Aktivisten avanciert. Im Jänner 2012 erhielt er den internationalen Myschkin-Preis für Kultur und Ethik in Paris. Im Promedia Verlag sind von ihm bisher erschienen: »Widerstand in der Demokratie. Ziviler Ungehorsam und konfrontative Kampagnen« (Wien 2009) sowie »Tierschützer. Staatsfeind. In den Fängen von Polizei und Justiz« (Wien 2011, 2. Auflage 2014, als E-Book erhältlich).

Vorwort

Vor genau 10 Jahren habe ich meine Dissertation in Philosophie an der Universität Wien zu Tierrechten verfasst. Es war mir ein großes Anliegen, dieses Thema in einer seriösen und wissenschaftlichen Weise in die akademische Welt zu tragen. Wenig gab es damals zu diesem Komplex an den Universitäten zu hören. Doch vieles hat sich seitdem getan. Mittlerweile sind die Human-Animal-Studies etabliert und Tierrechte sind in der Philosophie und auch in der Biologie kein Fremdwort mehr.

Im Jahr 2008 schlug eine Gruppe maskierter Personen mitten in der Nacht die Türe zu meiner Wohnung ein, hielt mir im Bett Schusswaffen an den Kopf und strahlte mich mit Scheinwerfern an. Es war die Polizei. Ich sei verdächtig, Chef einer kriminellen Organisation zu sein, die eine Tierrechtsrevolution plane. Für 105 Tage verschwand ich im Gefängnis. Meine Dissertation, die mittlerweile sogar in Buchform erschienen war, wurde bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmt. Letztlich wurde ich wegen ihr sogar angeklagt, Vordenker für kriminelle TierschützerInnen zu sein.

Heute bin ich endgültig rechtskräftig in allen Punkten freigesprochen. Lange nach diesem Urteil gab man mir die letzten beschlagnahmten Gegenstände zurück, darunter meine Dissertation. Sie brachte auch das Rektorat der Uni Wien dazu, mir ein allgemeines Redeverbot in ihren Räumlichkeiten aufzuerlegen. Auf meine Anfrage hin wurde mir mitgeteilt, ich sei ein Sicherheitsrisiko. Wenn ich sprechen würde, könne nicht garantiert werden, dass meine ZuhörerInnen nicht zu randalieren beginnen.

Was für einen Sprengstoff müssen meine Gedanken denn haben, um zu solchen Reaktionen zu führen? Oder haben die Mächtigen in unserer Gesellschaft so viel zu verlieren, wenn wir Tiere ernst nehmen und ihre Autonomie respektieren würden? Als ich das Gefängnis verließ, nahm ich mir vor, wieder einen Hund aus einem Tierheim bei mir aufzunehmen. So lange in einer Zelle zu sitzen machte mir bewusst, wie schrecklich es ist, unschuldig seiner Freiheit beraubt zu werden. Ich fand meinen neuen Freund Kuksi im Tierparadies Schabenreith in Oberösterreich. Er war 2 Monate davor an einer Autobahnraststation ausgesetzt worden. Für uns beide begann ein neues Leben.

Das ist mehr als 6 Jahre her. Wir sind sehr eng zusammengewachsen und unzertrennlich. Unsere Freundschaft hat mich dazu inspiriert, dieses Buch zu schreiben. Im täglichen Zusammenleben ist es mir selbstverständlich, dass Kuksi fühlt und denkt und autonom handelt. Wie könnte das irgendjemand bestreiten?

Als Naturwissenschaftler habe ich zusätzlich zu unseren persönlichen Erlebnissen auch viele Fakten zusammengetragen, um Kuksis Forderung nach Autonomie in unserer Gesellschaft umfassend vorbringen zu können. Immanuel Kant, so hieß es in einer Vorlesung über Tierethik an der Veterinärmedizinischen Universität Wien im Jahr 2008, habe zurecht behauptet, dass Tiere nur Sachen seien. Und er war einflussreich, unser Zivilrecht ist bis heute nach seinen Gedanken formuliert. Dieses Buch stellt Kants Sittenlehre in Zweifel und nützt seine Argumentationsweise, um auch für Tiere Rechte und einen Personenstatus zu fordern. Ich denke, mit dem heutigen Wissen über Tiere ist diese Schlussfolgerung unumgänglich.

Ich hoffe, dieses Buch hat eine nachhaltige Wirkung. Aber keine, die mir neuerliche Verfolgung durch die Behörden einbringt.

Wien, im August 2014
Martin Balluch

Editorische Anmerkung:

Ich habe mich bemüht, meine Standpunkte anhand von meinen eigenen, lebensnahen Beobachtungen mit Kuksi und Hiasl zu verdeutlichen. Dennoch war es unumgänglich, auf eine Vielzahl an Literatur aus diversen Wissenschaftsbereichen zurückzugreifen, um meine Argumente zu untermauern. Deswegen werden in diesem Buch etliche ForscherInnen und AutorInnen genannt, die vielen LeserInnen unbekannt sein dürften. Nicht in allen Fällen wurde deren Herkunft und Disziplin angeführt, sondern nur das Erscheinungsjahr ihrer Veröffentlichung in Klammer hinter den Namen gesetzt. Ich hoffe, diese (notwendige) wissenschaftliche Nomenklatur trübt nicht den Leseeindruck. Am Ende dieses Buches habe ich alle erwähnten Werke angeführt, sodass sich die/der interessierte LeserIn weiter in die Thematik vertiefen kann.

Danksagung

Mein Dank gilt zu allererst meinem lieben Hund Kuksi für seine Freundschaft und Liebe, und seine unendliche Geduld während des Schreibens dieses Buches. Ich freue mich schon auf viele Wochen und Monate mit dir in der Wildnis!

Ich möchte mich auch bei Estella Kubek bedanken, die mich unterstützt und aufgebaut hat. Vielen Dank für die wertvollen Kommentare zu den einzelnen Kapiteln.

Danke auch an Paula Stibbe, die mir Hiasl vorgestellt und das Kapitel über ihn kommentiert hat.

Dank an unsere Menschenaffen Hiasl und Rosi für die gemeinsame Zeit und ihre Freundschaft, obwohl sie mehr als genug Gründe gehabt hätten, Menschen zu hassen.

Bedanken will ich mich zudem bei Birgit Deutsch und der Tierarztpraxis Hirschstetten in Wien, die uns durch die dramatischen Monate der Chemotherapie von Kuksi begleitet und dabei viel geholfen haben.

Danke an Eberhart Theuer und Stefan Traxler für die Hilfe beim gemeinsam ausgefochtenen Sachwaltschaftsprozess für Hiasl, sowie an Eva-Maria Maier, Stefan Hammer, Volker Sommer und Signe Preuschoft für ihre hervorragenden Gutachten.

Vielen Dank an den Promedia Verlag für seine Unterstützung und an Stefan Kraft für das Lektorat.

Mein Dank gilt auch dem VGT als meinem Arbeitgeber, dass er mir das Schreiben des Buches ermöglicht hat.

Danke an Kurt Kotrschal, der mir das Wolf Science Center gezeigt und mich durch seine Vorträge zu diesem Buch inspiriert hat.

Vielen Dank an alle WissenschaftlerInnen, die sich in nicht-invasiver Forschung für Hunde und Schimpansen interessieren, insbesondere jene, die dafür ihre Zeit im Dschungel verbringen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sie ihr wertvolles Wissen weitergeben.

Und nicht zuletzt möchte ich mich bei all jenen bedanken, die sich für Tiere und Tierschutz engagieren, oder die ihr Leben auf eine pflanzliche Ernährung umgestellt haben. Ihr gebt mir die Hoffnung, dass es eines Tages doch zu einem fundamentalen Umdenken der Menschheit gegenüber Tieren und zu einer Multi-Spezies-Gesellschaft kommt!

Einleitung

Ich liebe die Natur. Und damit meine ich nicht, dass ich gerne durch städtische Parks gehe, Bücher über Naturschutzgebiete lese oder auf ausgetretenen Pfaden klassische Berggipfel besteige. Nein, ich kann nicht leben, ohne immer wieder in die Wildnis zu gehen, so oft es sich ausgeht. Und ich suche möglichst unberührte Wälder, die keine menschlichen Spuren zeigen, ich verlasse Wege und weiche Berghütten aus. Ich gehe in die Arktis in Nordskandinavien oder verbringe Wochen in den Wäldern der Südkarpaten. Der innere Drang in der Natur zu sein ist so groß, dass ich um die 100 Tage pro Jahr aus meinem beruflichen und sozialen Alltag abzweige, um die Wälder, die Berge oder die Tundra zu betreten. Einen Besuch kann man das schon fast nicht mehr nennen, es ist eher ein Nach-Hause-Kommen. Jeden Tag, den ich nicht in der Natur verbringe, empfinde ich als einen verlorenen Tag.

Eigentlich, hätte ich gedacht, ist dieses Verlangen für einen Primaten wie mich das Normalste auf der Welt. Für das Erklettern von Bäumen sozusagen gemacht, d. h. evolutionär adaptiert, ist zu erwarten, dass ich das dringende Verlangen verspüre, es auch tun zu wollen. Und tatsächlich geht es mir so. Einmal durfte ich für einige Wochen am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf arbeiten. Das Erste, was ich bei meiner Ankunft tat, war, einen Baum im Campus zu erklettern. Jener Wissenschaftler, der mich gerade durch das Gelände führte, schaute sehr verwirrt drein. Aber von meinem Standpunkt aus verstehe ich überhaupt nicht, wie man ohne Bäume zu erklettern, ihre Rinde zu riechen, auf ihren Ästen zu liegen und ihre Strukturen mit den Händen zu greifen, leben kann. Ich könnte es nicht, wie ich nur zu gut in meiner Zeit im Gefängnis am eigenen Leib verspürte. 105 Tage wurde ich – unschuldig, wie später auch das Gericht bestätigte – in Untersuchungshaft genommen. 105 Tage Beton und Neonlicht, keine einzige grüne Pflanze, nicht einmal im Gefängnishof. Das war für mich die schlimmste Zeit meines Lebens.

Doch zumindest unter den Menschen meiner sozialen Umgebung liege ich mit diesem Verlangen außerhalb der Norm. Ich werde es zwar nie begreifen, aber den meisten anderen Menschen scheint die Natur im Sinne einer Lebenswelt für sie kaum abzugehen. Das konnte ich an jenen Personen beobachten, mit denen ich die verschiedenen Zellen während meines Gefängnisaufenthalts teilte. Kaum jemand, der, wie ich, am mangelnden Zugang zur Natur litt. Die Wildnis war für sie hauptsächlich negativ konnotiert, als etwas Kaltes, Unwirtliches, Unangenehmes, Mühsames, Nasses, Ungeschütztes. Dagegen wurde die warme Zelle als ein vergleichsweise angenehmer Ort erlebt. Als ich das einzige Mal in meinen 105 Tagen Aufenthalt aus der Gefängnisbibliothek drei Bücher zum Lesen bekam, die alle von der Wildnis handelten, stellte mein Zellennachbar voller Überzeugung fest, dass er lieber hier eingesperrt sitze, als auf 80 Grad nördlicher Breite im Franz-Josef-Land in einer winzigen Hütte zu wohnen. Mir ging es genau umgekehrt.

Dieses Natur-Defizit-Syndrom (Louv 2008) begegnet mir aber auch außerhalb der Gefängnismauern auf Schritt und Tritt. Viele Menschen zieht es überhaupt nicht in die Natur, sie sind mit einem Bildband oder einem Film darüber zufrieden. Andere gehen gerne wandern, aber nur auf breiten Wegen ohne Mühsal, maximal von Hütte zu Hütte. Und jene, die außerhalb der touristischen Bereiche unterwegs sind, scheinen die Berge mehr als Sportgerät statt als ihren Lebensraum zu betrachten. Touren sind nur interessant, wenn sie auf schwierige Gipfel, über Gletscher, vereiste Wasserfälle oder senkrechte Felswände führen. Im Wald zu wandern und dort tagelang zu verbleiben, im Dickicht ohne Wege, im Zelt ohne Hütte, ist ein Minderheitenprogramm.

Der Hauptgrund dafür dürfte in der Bequemlichkeit liegen. Wenn man ohne Schutz im Regenguss steht, lernt man ein Dach über dem Kopf so richtig zu schätzen, wenn die Insekten beißen, wirkt die Abschottung von der Natur durch dichte Fenster ideal, wenn in der Hitze die Wasserquelle ausbleibt, ist ein Wasserhahn ein Segensbringer, und wenn man durchs Dickicht kriecht, träumt man von einem asphaltierten Weg. Doch das ist zu kurz gedacht. Wer alle diese Errungenschaften der Zivilisation besitzt, schätzt sie nicht mehr. Kein Wunder, dass im luxuriösen Umfeld die Depression grassiert.

Ich möchte meinen Körper spüren. Ich will vom Regen nass werden, vom Dickicht zerkratzt und von Wasser- und Nahrungsmangel herausgefordert. Die stechenden Insekten brauche ich nicht unbedingt, aber für das Erleben der Wildnis nehme ich sie gerne in Kauf. Tatsächlich fühle ich mich pudelwohl, wenn ich im Regen ohne Zelt und Schlafsack am Waldboden die Nacht verbringe, oder im Schneesturm eine Schlafhöhle grabe. Dann erst bin ich am Leben, alles andere wirkt eher wie eine Fantasie, wie eine Seifenoper im Fernsehen.

Dieser Zugang zur Natur eröffnet mir aber auch einen anderen Blickwinkel auf Lebewesen. Kein Wunder, wenn Menschen von ihrem Sofa aus die Tiere im Wald, die sie am Fernseher sehen, als grundsätzlich anders empfinden. Hier Kultur, dort Natur. Sie selbst könnten ohne technische Hilfen gar nicht überleben, die Tiere da draußen wirken hingegen wie geschaffen für ein Überleben in der Wildbahn. Wie schnell entsteht so der Eindruck einer unüberbrückbaren Kluft, die eine völlige Andersbehandlung rechtzufertigen scheint. Wenn ich dagegen im Regen im Wald liege, begegnet mir der Fuchs in Augenhöhe. Er und ich haben die gleichen Probleme, und die sind ganz andere, als diese Wesen auf ihren Sofas hinter Doppelglasscheiben vor dem Fernseher beschäftigen. Wir haben Hunger, diese anderen müssen eher darauf achten, nicht zu dick zu werden, wir bekämpfen die Kälte, diese anderen haben das Problem, durch zu viel Heizen das Klima zu zerstören, wir überlegen uns, wie wir die nächsten Stunden weiterkommen, diese anderen langweilen sich zu Tode und suchen verzweifelt irgendwelche Formen der Unterhaltung, um die Zeit totzuschlagen. Kein Wunder, dass von meinem Blickwinkel aus der Unterschied zwischen Mensch und Tier völlig verschwimmt.

Ich bin ein Wildtier. Müsste ich mich entscheiden, auf welcher Seite ich stehe, dann für den Wald, als Tier unter Tieren. Und das ist ein tiefes, inneres Gefühl, kein intellektuell erarbeitetes Weltbild, keine rationale Absage an die Zerstörungswut und Gewalt in der Gesellschaft und kein Wegschieben meiner Verantwortung für das, was die Menschheit in der Natur angerichtet hat. Letzteres ist es ja, was mich immer wieder dazu bringt, in die Städte zurückzukehren. Die Überreste von Urwald und unberührter Natur sind zu klein geworden, als dass ich mich dort verkriechen könnte und so tun, als hätte es die letzten 20.000 Jahre Menschheitsgeschichte nicht gegeben.

Von jenen Menschen, die, wie ich, die Wildnis suchen, denken allerdings die meisten wie der Abenteurer und vielfache Buchautor Nicolas Vanier. Er schwärmt nicht nur von den PelzjägerInnen, die mit Metallfallen Wildtieren auflauern, um ihre Felle zu verkaufen, sondern er ist ebenso auf seine 2-jährige Tochter stolz, wenn sie knöcheltief im Blut eines erschossenen Elchs steht und dabei keinerlei empathische Regung zeigt. Mitgefühl sei etwas für die Weichlinge in der Zivilisation, so Vanier, draußen in der Wildnis würden andere Gesetze gelten, da heiße es töten oder getötet werden, da sei Mitleid hinderlich und eine fehlende Anpassungsleistung an die Gegebenheiten. Seltsam nur, dass er diese Ansicht nicht auf Menschen in der Wildnis ausdehnt. Entweder diese sind auch Wildtiere, und rechtfertigen so ihre Gewalt gegenüber Tieren, dann müsste es aber auch vertretbar sein, den nächsten Wanderer zu erschlagen, um an seine Reserven zu kommen. Oder die Menschen stehen außerhalb dieses Geschehens und damit außerhalb der Gesetze der Wildnis, wie Vanier sie begreift. Demzufolge sind ihre Grundrechte zu respektieren, aber dann können sie auch nicht das Recht des Stärkeren bemühen, um ihre Blutspur durch die Natur zu begründen. Entweder das Eine oder das Andere.

Die Wildnis als Ort der rohen Gewalt nimmt im menschlichen Denken eine politische Funktion ein. Am bekanntesten ist vermutlich die Betonung des angeblichen Schreckens des Naturzustandes in Thomas Hobbes’ Behemoth, in dem der Kampf aller gegen alle dargestellt wird und nur durch eine staatliche Zivilisation überwunden werden kann. Vom »survival of the fittest« und »nature red in tooth and claw« schreibt auch Richard Dawkins in seinem Buch The Selfish Gene (Dawkins 1976). Und der wegweisende deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sieht sogar eine moralische Verpflichtung des Menschen darin, sich von der Natur loszusagen und in der menschlichen Gemeinschaft zu organisieren, um Freiheit erst zu ermöglichen. Die Wildnis sei ein ständiger Kampf ums Überleben, grausam, brutal, kurzlebig. Heute merken wir diese feindliche Einstellung zur Natur daran, dass Nutztiere in Tierfabriken weggesperrt und Haustiere, wie Hunde, aus immer größeren Bereichen der Gesellschaft verdrängt werden. Das bürgerliche Bedürfnis nach Sauberkeit, im physischen wie im psychischen Sinn, umfasst eine Distanzierung von Tieren, eine Abgrenzung der Zivilisation von der Natur.

Mein Erlebnis in der Natur ist ganz anders als die Schilderungen von Kant und Hobbes vermuten lassen. Von den unzähligen Tagen, die ich draußen verbracht habe, kann ich jene Vorfälle, in denen ich Gewalt und Leid sah, an den Fingern einer Hand abzählen. Wie oft beobachtete ich Gämsenherden friedlich grasen, Steinbockkinder fröhlich spielen, Bärenfamilien durchs Unterholz streifen, Füchse in der Sonne liegen, Dachse im Boden wühlen und Raben im Paarflug durch die Luft rauschen. Keine Gewalt, sondern schiere Lebensfreude, soziale Beziehungen, Vertrauen, Kooperation. Die tägliche Aktivität der Wildtiere wirkt befriedigend, symbiotisch und partnerschaftlich. Das Sozialleben ist fast ausschließlich friedlich, die Kämpfe zwischen Steinböcken oder Hirschen sind ritualisiert und haben in meiner Erfahrung immer ohne Verletzungen geendet.

Jonathan Balcombe geht in seinem lesenswerten Buch Second Nature (Balcombe 2010) auf diese Aspekte ein. Er meint, die Darstellung der Gewalt in der Natur sei in Dokumentarfilmen, die die öffentliche Meinung bestimmen, total übertrieben, sie würden sich auf blutrünstige Szenen fokussieren, weil diese mehr Aufmerksamkeit erregen. In Wirklichkeit aber ist die Anzahl der Raubtiere in Ökosystemen viel geringer als die ihrer potenziellen Opfer, sodass solche Szenen im Durchschnitt sehr selten sind. Und es träfe hauptsächlich ganz junge Tiere, oder kranke bzw. alte. Fitte Erwachsene könnten sich sicher fühlen und seien bei der Flucht ihren Raubtiergegnern generell überlegen. Viele Tiere würden in der Natur sehr alt werden, so etwa Eisbären mit einem Alter von bis zu 32 Jahren und Narrwale mit stattlichen 115 Lebensjahren.

Sozial lebende Arten bekommen wenige Kinder, kümmern sich aber um diese intensiv. Und oft wurde beobachtet, dass kranke und behinderte Tiere überleben können, weil ihre Familien und Gruppen ihnen helfen. De Waal (2013) berichtet von einem Rhesusaffenmädchen mit Down-Syndrom, das in seiner Gruppe wildlebender Primaten nicht nur toleriert, sondern auch gefüttert und gepflegt wurde. Und in den Japanischen Alpen wurde ein körperlich schwer behinderter Makake gesichtet, der kaum gehen und schon gar nicht klettern konnte, aber ein langes Leben führte und fünf Kinder großzog. Ohne die Hilfe seiner sozialen Umgebung wäre das nie möglich gewesen. Die Populationskontrolle geschieht durch mangelnde Fruchtbarkeit bei geringerem Nahrungsangebot, oder durch eine Re-Absorption des Fötus im Bauch der Mutter, viel seltener durch Gewalt. Parasiten haben sich evolutionär zu einem symbiotischen Zusammenleben mit ihrem Wirtstier entwickelt, weil sie mit dem Tod ihres Wirts selbst sterben müssten. Aus dem Umstand, dass viele Tiere, wie der Pfau, Extravaganzen entwickeln, kann man ableiten, dass ihnen das Überleben normalerweise leicht fällt. Die Tiere in der Wildnis stünden nicht ständig im Überlebenskampf, meint Balcombe, sondern haben auch viel freie Zeit für Spiel und Sozialleben. Friedliche Kooperation statt Gewalt bestimme das Geschehen.

Ich sehe das auch so. Auch meine Einstellung gegenüber anderen Tieren in der Natur ist durch Mitgefühl bestimmt und das ist keine Kulturleistung, sondern eine natürliche, weit verbreitete Veranlagung. Einmal wanderte ich als Alpinlehrwart mit einem zahlenden Gast nach erfolgter Durchsteigung einer Kletterroute über eine Hochebene. Als wir über einen Bergrücken kamen, trafen wir auf ein großes Gämsenrudel, das, durch unser überraschendes Auftauchen erschreckt, in alle Himmelsrichtungen auseinander lief. Rasch zogen wir uns hinter einen Felsen zurück, um nicht weiter zu stören. Von dort aus konnten wir die Gämsen beobachten. Ein Kind war durch den Vorfall von seiner Mutter getrennt worden. Es lief laut rufend von einer zur anderen Gämse, fand sich aber nicht zurecht. Die Mutter, auf der anderen Seite des Hanges, schrie und suchte ebenfalls verzweifelt. Wir beide, meine Begleiterin und ich, hatten spontan ein starkes Mitgefühl mit Mutter und Kind und waren zutiefst erleichtert, als sie sich wieder vereinten. Wer könnte sich solchen Gefühlen schon verschließen?

Es gibt noch eine andere Seite meines Lebens, die Mathematik und die Philosophie. 12 Jahre lang habe ich als Universitätsassistent für mathematische Physik an den Universitäten von Wien, Heidelberg und Cambridge gearbeitet. Meine Dissertation in Philosophie wurde auch in Buchform herausgegeben (Balluch 2005). Dabei handelt es sich um eine tierethische Analyse mit Mitteln der Mathematik und auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Dieser abstrakt-intellektuelle Zugang zur Welt komplementiert mein unmittelbares Naturerleben.

So kam ich auch in Berührung mit Immanuel Kant, der als zentraler Philosoph der Aufklärung bis heute die Diskussion über Ethik dominiert. Das Zivilrecht, das das Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Tieren regelt, basiert auf seinem Gedankengut. Er hat sich das Verdienst erworben, eine von der Religion unabhängige Metaphysik zu entwickeln bzw. zu entdecken. Doch er hatte keinerlei Naturerfahrung, zeit seines Lebens kam er aus Königsberg nicht heraus. Ich behaupte, das unmittelbare Erleben der Wildnis kann Impulse liefern, die die künstlich-kalte Mensch-Tier-Dichotomie bei Kant zu überwinden helfen. Für Kant war die Natur etwas, was der Mensch transzendieren muss, um zu sich selbst zu finden. Ich plädiere dafür, das wilde Tier in uns wieder zu finden, und sich nicht davor zu fürchten. Es ist nicht durch Gewalt, sondern durch Kooperation und Mitgefühl bestimmt.

Für Kant stand die Freiheit des Menschen im Mittelpunkt seiner Metaphysik der Sitten. Moralisches Handeln hieß für ihn, die Autonomie aller anderen nach Möglichkeit zu respektieren. Kants Ethikkonzeption ist nicht daran orientiert, das Leiden von Menschen zu minimieren, ganz im Gegensatz dazu, wie beim Tierschutz gegenüber Tieren vorgegangen wird. Die autonome Entscheidung ist im Prinzip zu beachten, selbst wenn sie mehr Leid bedeutet. Doch einen Menschen zu berauben oder zu töten, um vielen anderen zu helfen, ist grundsätzlich ausgeschlossen. In heutigen Gesetzen ist diese Moral in Form von Grundrechten verankert, die vor einem utilitaristischen Umgang schützen sollen. Darunter sind im Wesentlichen die Rechte auf Leben, körperliche Freiheit und Unversehrtheit zu verstehen. Sie spannen das Recht auf, die eigene Autonomie ausleben zu können.

Aber auch bei meiner Betrachtung der Natur ist Autonomie der zentrale Begriff. In der Pelzfarm werden Wildtiere, wie Nerze und Füchse, in Drahtgitterkäfige gesperrt. Man versorgt sie dort mit ausreichend Nahrung und Trinkwasser und sie sind vor anderen Raubtieren geschützt. Sie müssen nicht jagen gehen und könnten den ganzen Tag zufrieden herumliegen. Doch die Pelztiere brechen, wenn sie es können, aus ihren Käfigen aus. Sie versuchen alles, um in Freiheit zu gelangen. Sie beißen sich durch die Gitterstäbe oder sie laufen überraschend davon, wenn der Käfig geöffnet wird. Im Waldviertel in Niederösterreich lebt bereits seit Generationen eine Population amerikanischer Nerze, die ursprünglich aus Pelzfarmen stammen. In England haben sich die aus Pelzfarmen entflohenen Nerze bereits so etabliert, dass sich die Tradition entwickelt hat, sie mit speziellen Hunderudeln zu jagen.

Durch ihre Flucht stimmen die Pelztiere aus den Farmen mit ihren Füßen ab, für Autonomie statt einem »bequemen Leben«. Sie wollen lieber den Stress der Freiheit in der Wildnis erleben, lieber hungern müssen, verfolgt werden, dem Regen ausgesetzt sein usw., als im Käfig vor sich hin zu vegetieren. Ich kann diese Einstellung nachvollziehen. Auch ich setze mich lieber den Unannehmlichkeiten und Gefahren der Natur aus, als am Sofa zu liegen, wobei natürlich das Leben eines Menschen in der Zivilisation mit dem eines Pelztiers in Farmkäfigen nicht zu vergleichen ist. Aber ich klettere lieber in der Felswand, mit allen Risiken, die damit verbunden sind, als mich im geschützten Haus zu langweilen. Mir ist intuitiv Autonomie wichtiger als Bequemlichkeit und Schutz.

Und damit dürfte ich nicht alleine dastehen. Die Frauenbewegung, insbesondere um 1900 und ab den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren, forderte ebenfalls Autonomie. Die Frauen waren vielleicht durch ihre Ehemänner gut versorgt und mussten nicht einer Lohnarbeit nachgehen, aber sie konnten weder über ihr eigenes Leben, noch über die Politik im Land bestimmen. Die Forderung der Frauenbewegung bestand darin, Autonomie zu bekommen, aber im Gegenzug für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen und sich in der Gesellschaft eigenständig durchsetzen zu müssen. Es mag mühsamer sein, für sich selbst gerade zu stehen, aber das ist die Voraussetzung für Freiheit und Autonomie. Und heute ist weithin anerkannt, dass diese Ziele der Frauenbewegung berechtigt waren.

Bei meinen Wildniseskapaden haben mich über Jahrzehnte hinweg immer wieder Hunde begleitet. Ich habe bei ihnen dieselbe Leidenschaft und dasselbe Feuer gespürt, wie in mir. Was aber die Wildnis in der Begleitung von Hunden auszeichnet, ist, dass wir uns dort als Gleiche begegnen können. Zwei autonome Wesen, die aufeinander Rücksicht nehmen, aber grundsätzlich gleichberechtigt sind. In der Natur sind uns Menschen die Hunde in vieler Hinsicht überlegen. Hatten sie in ihrer Jugend ausreichend Freiheit, um ihre Persönlichkeit zu entfalten, brauchen sie uns in der Wildnis nicht mehr. Hier können sie für sich selbst sorgen und sogar, umgekehrt, uns beraten und helfen. Deshalb sind meine Touren durch die Arktis mit meinem Hundefreund der Ausgangspunkt in diesem Buch, um mich einer Neudefinition des Mensch-Tier-Verhältnisses zu nähern.

Autonomie bei Hunden? Für viele Menschen ist das ein Widerspruch. In der städtischen Welt führt man Hunde an der Leine, hängt ihnen einen Beißkorb um und gibt ihnen Kommandos. Hunde müsse man kontrollieren, sie seien potenziell gefährlich. Und insbesondere auf der Straße könne man ihnen nicht vertrauen, die Verkehrsregeln würden ihre beschränkte Intelligenz übersteigen. Seltsam, leben doch insbesondere in den Außenbezirken der Städte überall Marder, Füchse und sogar Dachse, ohne dass sie ständig überfahren werden. Wer solche Ansichten und einen Hund hat, dem bzw. der würde ich dringend empfehlen, einmal in die Wildnis zu gehen. Eine Woche lang mit dem Zelt ohne menschliche Spuren unterwegs zu sein wird diese Meinung ändern. Hunde sind in Wahrheit unglaublich selbstständig und, wenn gut sozialisiert, sehr kooperativ und friedlich. Es ist nicht notwendig, sie zu kontrollieren oder ihnen einE RudelführerIn zu sein. Hunde sind sozial eher wie Menschen, sie wollen in egalitären Gruppen leben und selbst entscheiden können, schließen sich aber gerne der Meinung erfahrener Individuen an. So jedenfalls funktionieren Wolfsrudel und Menschenfamilie.

Für Menschen, die der Natur und den Tieren völlig entfremdet sind, wirken Hunde manchmal bedrohlich, wie tickende Zeitbomben. Mangels Sprache sei es nicht möglich herauszufinden, was in ihnen vorgeht. Abgesehen davon hätten Tiere keine Moral und wären deshalb unberechenbar. Besser, sie werden möglichst aus der menschlichen Gesellschaft ausgesperrt. Zumeist reduziert man sie in der Wahrnehmung zu instinktgetriebenen Robotern oder zu behavioristischen Reiz-Reaktions-Maschinen. Hunden sei jederzeit jede Gewalttat zuzutrauen.

Auch bei dieser Denkweise würde ich einen Besuch in der Wildnis empfehlen, um die Realität zu erfahren. Weder handeln Menschen nur rational und vernünftig, noch sind Hunde völlig irrational und unvernünftig. Wenn ich mit meinem Hundefreund in der Wildnis unterwegs bin, verstummt bald die Stimme in meinem Kopf. Ich denke, ohne zu sprechen – wie die Hunde auch. Entscheidungen, in welche Richtung wir als nächstes weitergehen, wo wir unseren Lagerplatz aufschlagen oder welche Route durch die steilen Felsen die sicherste ist, werden ohne Worte getroffen. Abgesehen davon kommunizieren wir ständig und verstehen uns sehr gut. Die Hundeseele ist für mich keine fremde Welt, zumeist kann ich sehr klar nachfühlen, was mein Freund gerade empfindet und umgekehrt. Wir können uns blind aufeinander verlassen. In der Natur wird uns letztlich klar, dass wir gar nicht so verschieden sind.

Aus diesem Zugang heraus ergibt sich ein ganz anderes Weltbild. Die Aufklärung hat den Menschen in den Mittelpunkt gestellt und es ist zweifellos ein großartiger Fortschritt, alle Menschen als Gemeinschaft aufzufassen. Doch die Gemeinsamkeit wurde durch die Abgrenzung von den Tieren erkauft, zu deren Leidwesen. Wir müssen uns fragen, ob dieses »wir« nicht erweiterbar ist, ob nicht neben multiethnischen Gesellschaften auch echte Multi-Spezies-Gesellschaften eine Zukunftsoption wären, die die Lebensqualität aller Beteiligten erhöht. Mein Buch will dieser Frage nachgehen.

KAPITEL 1:
Kuksi und ich

Wir waren schon länger in der skandinavischen Tundra nördlich der Baumgrenze unterwegs, jetzt haben wir uns für eine ausgiebige Rast auf das kurze Gras gelegt. Alles ist ruhig und entspannt, kein Schlechtwetter in Sicht, es ist angenehm kühl. Plötzlich kommt die Sonne hinter den Wolken hervor und brennt auf uns herab. Diese unmittelbare Hitze weckt mich und ich hebe den Kopf. Direkt neben mir liegt Kuksi und macht genau dasselbe. Wo ist der nächste Schatten, denke ich mir, und sehe etwa 20 Meter entfernt einen größeren Felsblock. Also stehe ich auf, Kuksi genauso. Ich gehe direkt auf den Felsen zu und Kuksi, wie auf Kommando, neben mir her. Im Schatten angekommen lege ich mich wieder nieder und Kuksi macht gleichzeitig genau dasselbe. Kuksi ist mein Hundefreund, mit dem ich schon seit Tagen in der Wildnis unterwegs bin.

Die Hitze wurde zum Problem, ich suchte gedanklich eine Lösung und fand sie im Schatten des Felsens. Kuksi ging es nicht nur gleich, er hat genauso und ebenso schnell das Problem auf dieselbe Weise gelöst. Sonne und Schatten mögen simple Dinge sein, aber sie machen das Leben aus. In der Natur erlebe ich ständig, wie ähnlich Kuksi und ich empfinden. Es ist für mich selbstverständlich, dass er denkt und entsprechend handelt. Dafür brauchen wir beide keine Sprache.

Spät am Abend stelle ich das Zelt auf. Kuksi wandert derweil davon, wie er es von unserem abendlichen Lager aus gerne tut. Als ich fertig bin, sehe ich ihn in der mitternächtlichen Sonne auf einem Hügel einige Hundert Meter entfernt sitzen und in die Landschaft schauen. Er scheint den Blick in die Weite zu genießen. Ich folge ihm. Oben angekommen setze ich mich neben ihn. Von hier aus kann man kilometerweit in die schier unendliche Ebene schauen, überall liegen Seen, in denen sich tiefliegende Wolken spiegeln, die, wie in der Arktis typisch, purpurrotes Sonnenlicht reflektieren.

Auf Kuksi und mich wirken Ruhe und Stille dieser Gegend stark ein. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Da stupst mich Kuksi mit seiner feuchten Nase an. Ich streichle ihn über die Stirn. Wir zwei gehören zusammen, nichts kann uns trennen. Er legt seinen Kopf auf meinen Oberschenkel, seine Nähe gibt mir die Sicherheit, nicht alleine auf dieser Welt zu sein. Was haben wir beide schon alles gemeinsam erlebt!

Rückblick

Ich hatte bereits zwei Jahrzehnte mit Hunden zusammengelebt, bevor ich Kuksi traf. Mein erster Hundefreund war Hassan, ein kohlrabenschwarzer Schäferhund. Wir verstanden uns großartig. Als er noch jung war, sollte ich mit ihm die Hundeschule besuchen. Damals hieß es, dass Hunde instinktiv die Menschen beherrschen wollen würden und deshalb müsse man sie dominieren und unterdrücken. Ich musste Hassan an der kurzen Leine nehmen, laufend »Sitz!« und »Fuß!« brüllen, und ihn an der Leine reißen, wenn er nicht gehorchte. Mit meinen damals 16 Jahren schien mir das schon völlig absurd. Im täglichen Leben gingen wir ganz anders miteinander um.

Obwohl mir dieses Verhalten zutiefst zuwider war, und ich selbst im Gymnasium und gegenüber dem Elternhaus Autorität verabscheute, hielt ich mich in der Hundeschule an diese Vorgaben. Hassan tolerierte das eine Weile. Doch dann sprang er an mir hoch und riss mich an den Haaren. Ich schaute ihm ins Gesicht und er schien zu fragen, warum ich mich so seltsam benehme. Ich musste ihm recht geben. Das war das letzte Mal, dass ich einen Hund zu dominieren versuchte.

Später kam Max zu mir, ein Mischlingshund aus dem Wiener Tierschutzhaus. Dort soll er zwei Pfleger gebissen haben, aber bei meiner Partnerin und mir entwickelte er sich zu einem sozial völlig verträglichen, durch und durch liebenswürdigen Wesen. Auf Schreie und Drohgebärden reagierte er aggressiv, offenbar hatte er in der Vergangenheit damit schlechte Erfahrungen gemacht, aber solange man freundlich mit ihm umging, war er eine Seele von einem Hund. Im Sommer 2007 starb er im Alter von 13 ½ Jahren an einer sogenannten Magenumdrehung. Nach der Notoperation blieb er noch 8 Tage am Leben, doch sein Körper hatte nicht mehr die Kraft, sich zu regenerieren. Letztlich fiel er ins Koma und wachte davon nicht mehr auf.

So traurig sein Tod für mich war, so sehr bin ich doch erleichtert, dass er nicht mehr miterleben musste, was kurze Zeit später geschah. Die Polizei hatte, ohne dass wir davon wussten, eine Sonderkommission gegen den Tierschutz gegründet und leitete in den frühen Morgenstunden des 21. Mai 2008 eine Großoperation ein. An 23 verschiedenen Adressen quer durch ganz Österreich, so auch bei mir, schlugen maskierte BeamtInnen die Türen ein, stürmten teilweise mit gezogenen Schusswaffen ins Haus und zerrten die überraschten Menschen nackt aus ihren Betten. Wäre Max da noch am Leben gewesen, hätte man ihn möglicherweise erschossen. In diesen Dingen kannte er keine Kompromisse, Menschen, die ihn bedrohten und anschrien, hätte er wahrscheinlich angegriffen. Und selbst wenn er diese Polizeiaktion überlebt hätte, wären wir danach für 105 Tage getrennt gewesen, da ich unmittelbar ins Gefängnis in Untersuchungshaft musste.

Nach meiner Freilassung war mir deutlich bewusst geworden, was es heißt, unschuldig eingesperrt zu sein. Daher wollte ich wieder einen Hund aus dem Zwinger im Tierheim befreien und bei mir aufnehmen. Bei meinem Besuch im Tierparadies Schabenreith in Oberösterreich wurden mir fünf Hunde gezeigt, die gerade aus dem Tierheim Wels gebracht worden waren. Einer davon hatte den Namen Habakuk erhalten. Das Tierparadies ist für seine exzentrische Namensgebung bekannt. Habakuk war gerade einmal 10 Monate alt, ein undefinierbarer Mischling mit definitiv etwas Bracke, vielleicht Schäferhund und, laut einem behandelnden Tierarzt, auch ein bisschen Rottweiler in seinen Genen. Der Großteil seines Fells war schwarz, am Bauch dagegen »semmelweiß«, wie sich eine Wachebeamtin am Landesgericht später ausdrückte. Jemand hatte ihn auf einer Autobahnraststation angebunden und einfach stehen gelassen. Dabei sah er so entzückend aus mit seinen Schlappohren, so dass ich ihn sofort ins Herz schloss.

Vom Tierparadies aus unternahmen ein Freund und ich mit allen fünf Hunden zunächst einmal einen Testspaziergang. Kurz darauf holte ich Kuksi, wie ich ihn nun nannte, für eine mehrtägige Tour im nahegelegenen Waldviertel ab. Wir waren 4 Menschen und 5 Hunde und wanderten gemeinsam fast eine ganze Woche lang durch Wälder und Wiesen und an zahlreichen Seen vorbei. Kuksi und ich verstanden uns auf Anhieb hervorragend. Er achtete sehr darauf, was ich gerade tat und hielt sich meistens in meiner Nähe auf. Seltsamerweise wollte er damals noch nicht schwimmen. Mittlerweile ist er eine echte Wasserratte, oft schwimmen wir eine Stunde lang und mehr am Stück gemeinsam herum. Selbst in der Nordsee sind wir schon durch die hereinbrechenden Wellen gesprungen und haben das Wasser genossen. Bei einer Rast im Wald legte Kuksi zum ersten Mal vertrauensvoll seine Schnauze auf meinen Schoß. Ich hatte mich verliebt.

Bald zog Kuksi bei mir ein und als Einstandswanderung durchquerten wir Anfang November 5 Tage lang das Hochschwabgebirge in der Obersteiermark von West nach Ost. Natürlich war er sehr aufgeweckt und an allem interessiert und lief jeder Tierspur hinterher, sodass ich alle Hände voll zu tun hatte, ihn von seinen Jagdgelüsten abzuhalten. Er war schließlich noch ein Kind und völlig unerfahren. Unsere zweite Nacht verbrachten wir am im Schafwald versteckten Teufelssee bei Minusgraden auf etwa 1100 Meter Seehöhe. Ich lag im Schlafsack, er neben mir auf dem Boden. Bis dahin war ich immer nur mit langhaarigen Hunden unterwegs gewesen, denen bei keiner Witterung kalt wurde. Aber Kuksi war kurzhaarig und nichts gewöhnt. Er fror wie ein Schneider. Ich nahm ihn zu mir in den Schlafsack. Durch unsere vielen Touren in den nächsten Jahren wurde er aber, wie ich, abgehärtet und ist heute sehr kälteresistent. Vorigen Winter kletterten wir bei -15 °C in einem Schneesturm über 4 Stunden lang weit über der Baumgrenze durch Fels und Eis. Sein Fell war zwar mit Graupeln überzogen, aber sonst völlig intakt. Weder mir noch ihm war zwar richtig warm, doch dennoch begeisterte die Tour uns beide.

Da Kuksi bei unserem Kennenlernen noch sehr jung war, stellte sich die Frage, ob eine Art von Erziehung nötig wäre. Eine auf Dominanz basierende Hundeschule kam für mich sowieso nicht in Frage. Doch ich ließ mich breitschlagen, mit ihm einen Kurs für gewaltfreie Hundeerziehung zu besuchen. Dort wurde mir gelehrt, ich solle ständig mit einem Sack voller Leckerlis herumlaufen und jene Verhaltensweisen, die mir gefallen, positiv verstärken, und alles, was mir auf die Nerven geht, ignorieren. Die Grundlage dieser Vorgangsweise ist die Konditionierung auf Basis des Behaviorismus. Das Verhalten des Hundes wird dabei auf Reiz-Reaktionen reduziert. Die Befehle sollen möglichst emotionslos erfolgen, damit sie identisch reproduzierbar bleiben. Den Hund darf man nicht eng umarmen und liebevoll drücken, weil ihn das stressen würde, und unter Stress könne er nicht konditioniert werden. Steckerlwerfen ist verboten, das würde ebenfalls nur zu Stress führen.

Auch diese Schule brach ich nach drei Besuchen ab. Es schien mir nach jahrelanger Erfahrung mit Hunden völlig lebensfremd, nicht auf emotionale Kommunikation mit meinem Hund zu setzen, ihn durch Konditionierung einer Gehirnwäsche zu unterziehen und nach meinem Willen zu formen. Ich sehe meine Aufgabe im Zusammenleben mit einem jungen Hund vielmehr darin, ihm zu helfen, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Er soll möglichst viele eigene Erfahrungen machen und selbstständig handeln können, um ein Selbstvertrauen zu bekommen, das ihn befähigt, die Probleme des Lebens zu lösen. Bei Menschen nennt man das eine nicht-direktive Erziehung.

Als ich jung war, dominierte auch unter den Menschen noch der Behaviorismus. Meiner Mutter wurde beigebracht, sie solle Kinder, die schreien, in ihrem Bettchen in einen Nebenraum stellen und die Türe schließen. So würde man ihnen das Schreien abgewöhnen. Heute lernen wir in der Hundeschule, dass man Hunde, wenn sie bellen, ignorieren soll. Beides scheint mir völlig unmenschlich. Wenn Kinder schreien oder Hunde bellen, haben sie ein Problem und wollen sich mitteilen. Sie brauchen unsere Aufmerksamkeit. Und die steht ihnen zu, schließlich sind wir ihre SozialpartnerInnen.

Kuksi wurde nie auf Kommandos konditioniert. Er wurde aber auch nie bestraft. Und dennoch kann ich ihn bitten zu kommen, oder nicht wegzulaufen, und sich an unsere sozialen Regeln zu halten. Nicht-direktiv heißt keineswegs, Hunde oder Kinder verwahrlosen zu lassen, im Gegenteil. Wenn ich ihnen nichts befehlen kann, muss ich viel mehr auf sie eingehen und mit ihnen gleichrangig kommunizieren. Wenn ich Kuksi bitte zu kommen, wird er das auch tun, außer, er hat wichtige andere Angelegenheiten zu erledigen. Er muss das Gefühl haben, dass meine Bitten Sinn machen. Unsinnige Befehle ignoriert er. Und er hat recht damit. Er ist längst kein Kind mehr.

Die Vorstellung, ein Hund (oder Kind) würde aus Angst vor Strafe meine Regeln beherzigen oder meinen Anweisungen folgen, finde ich erschreckend. Was für ein Verhältnis zwischen uns wäre das? Wie kann es Vertrauen geben, wenn man Angst haben muss? Insofern ist ein Durchsetzen von Regeln durch Strafdrohung für mich von vornherein ausgeschlossen. Trotzdem kann ich natürlich Grenzen setzen, kann sagen, dass ich dieses oder jenes nicht mag. Der Hund lernt die sozialen Regeln des Zusammenlebens einfach dadurch, dass er sehr aufmerksam die Gefühle seiner Bezugsmenschen beobachtet. Deshalb ist es wichtig, diese Gefühle auch zu zeigen, und zwar nicht nur, wenn man lustig und fröhlich ist, sondern auch, wenn man sich verletzt fühlt oder wütend wird. Hunde interessieren sich nicht nur dafür, was wir tun, sondern vor allem dafür, was wir fühlen. Davon abhängig entwickeln sie ein Verständnis für richtiges oder falsches Handeln im Sinne der Gemeinschaft.

Auf diese Weise ist Kuksi zu einem sozial sehr kompetenten Wesen geworden. Es ist fast unmöglich, mit ihm zu streiten. Und das gilt nicht nur für uns zwei, sondern auch für seine Begegnungen mit anderen Hunden. In der Stadt sind wir immer ohne Leine unterwegs. Die meisten Menschen mit Hund, die auf uns zukommen und uns sehen, zerren ihre Tiere auf die andere Straßenseite, als ob jeden Moment ein Kampf auf Leben und Tod ausbrechen würde. In Wahrheit hat Kuksi noch nie mit irgendeinem Hund ernsthaft gekämpft, fast alle Begegnungen verlaufen völlig friedlich. In Ausnahmefällen wird geknurrt, die Haare stellen sich auf und man trennt sich dennoch ohne Verletzung. Ich bin davon überzeugt, dass die Leine erst für eine Spannung zwischen den Hunden sorgt, die gar nicht nötig wäre.

Als ich Kuksi mit dem Auto vom Tierparadies abgeholt habe, musste er nach den ersten Kurven bereits erbrechen. Bei Menschenkindern ist das auch oft so. Wenn sie sich langsam an das Autofahren gewöhnen, wird es besser. Genauso bei Hunden, heute kann ich mit Kuksi 3700 Kilometer bis nach Nordschweden fahren und er erbricht nicht mehr. Im Gegenteil, er verfolgt den Straßenverlauf und das Geschehen draußen oft sehr genau. Kommt eine Kurve, lehnt er sich in Erwartung der Zentrifugalkraft nach innen und beweist damit, dass er genau weiß, was eine Straße ist und dass das Auto darauf fährt.

Eine Gebirgsregion in Ostösterreich besuchen wir besonders oft, das ist quasi unser Revier. Auf der Fahrt dorthin, wird Kuksi bereits unruhig und kann seine freudige Erwartung nicht mehr verbergen. Ganz offensichtlich erkennt er durch die Fensterscheiben des Autos, wo wir sind. Und das ist beeindruckend, weil wir zu diesem Zeitpunkt noch 20 Kilometer und mehr von unserem Zielort entfernt sind. Allein mit den Augen kann er gewisse Aspekte der Landschaft wiedererkennen, die ihm im Gedächtnis geblieben sind und ihm anzeigen, wo er gerade ist. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich kaum von uns Menschen.

Unser Zusammenleben

Für unser Zusammenleben haben wir uns gemeinsam Regeln erarbeitet, an die wir uns freiwillig halten. Kuksi hat die Regel beigetragen, dass es unhöflich von mir ist, ihm nichts von meinem Essen anzubieten, wenn er selbst gerade keines hat.

Viele Menschen haben den Eindruck, Hunde seien regelrechte Fressmaschinen und würden alles essen, was sie kriegen können. So stimmt das auf keinen Fall. Am meisten aufs Essen versessen sind Hunde meiner Erfahrung nach, wenn sie sonst wenig zu tun haben und ihnen langweilig ist. Auch im Gefängnis war das Essen für meine Mitgefangenen der Höhepunkt des Tages und wurde daher ausgiebig zelebriert. Wenn man nichts zu tun hat, bleibt einem nicht viel Anderes übrig.

Kuksi ist sicher mehr an Essen interessiert als alle Hunde, die bisher mit mir zusammengelebt haben. Trotzdem bleibt er aber wählerisch. Obst nimmt er nur in größerer Menge zu sich, wenn wir viele Tage in der Wildnis unterwegs sind. Sein Appetit auf Gemüse beschränkt sich auf wenige Bissen, mit Ausnahme von Melanzani und Erbsen, die ihm offensichtlich schmecken. Zu Tofu, Gluten und Fleisch sagt er selten nein. Hat er aber auf unseren Wanderungen Aas gefunden und sich einmal satt gegessen, dann lehnt er oft 24 Stunden oder länger jedes weitere Nahrungsangebot ab. An manchen Tagen isst er von sich aus gar nichts. Und wenn ich ihm fünf seiner geliebten Müslisticks in seinen Napf lege, teilt er sie sich über den ganzen Tag auf und isst sie nicht auf einmal.

Eine weitere Regel, die Kuksi bei uns eingeführt hat, betrifft den Beißkorb. Unter normalen Umständen verwende ich dieses Utensil nie, allerdings ist es in öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien vorgeschrieben und wird auch kontrolliert. Daher legen wir vor Betreten der U-Bahn einen Beißkorb an. Kuksi bleibt dabei ruhig und lässt sich das Ganze ohne Widerrede gefallen. In der U-Bahn erträgt er die Umstände in stoischer Ruhe, kaum aber haben wir sie verlassen, bleibt er stehen und fordert, dass ich den Beißkorb herunternehme. Sollte ich dem nicht sofort nachkommen, stößt er mich heftig und schmerzhaft mit seiner Schnauze, bis ich reagiere. Diese Regel beachte ich daher sehr genau.