Seelenwahn

 

 

 

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Band 66

 

Seelenwahn

 

von Logan Dee und Michael M. Thurner

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte.

Nach vielen Irrungen hat Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi angenommen. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und niemand ahnt von den Schwierigkeiten, die sie quälen und die es ihr fast unmöglich machen, die Kräfte der Höllenplagen-Dämonen einzusetzen, die sie sich am Höhepunkt ihres perfiden Plans einverleibt hat. Dorian Hunters Trick scheint ihr mehr zuzusetzen, als sie es zunächst für möglich hielt … und der Dämonenkiller ahnt nicht einmal, welcher Schlag ihm gegen den angeblichen Asmodi gelungen ist, dessen Wiedererstarken er sich nicht erklären kann.

Olivaro, der ehemalige Januskopf, schickt Hunter auf die Spur eines geheimnisvollen Geschehens auf den Scilly-Inseln, einer kleinen vorgelagerten Inselgruppe. Gleichzeitig fällt Coco Zamis in einen magischen komatösen Zustand – wenn Dorian ihr helfen will, so Olivaro, dann auf den Scilly-Inseln.

Heimlich weist Olivaro jedoch auch Lucinda Kranich alias Asmodi die Spur dorthin. Dort könne auch ihr geholfen werden. Weiß der alte Intrigant wieder einmal mehr als alle anderen? Es sieht ganz so aus, denn er nennt Lucinda Kranich bei ihrem wahren Namen, als er »Asmodi« gegenübertritt, und er scheint sich gut mit der geheimnisvollen Maschine auszukennen, die Menschen in den Wahnsinn treibt …

Dorian entdeckt Hinweise auf eine versunkene Insel, die noch vor zweihundert Jahren zu den Scillys gehörte, an die sich seltsamerweise aber niemand mehr erinnern kann; nur noch Legenden sprechen davon. Vom Keller eines Sanatoriums für Geistesgestörte aus gibt es einen unterirdischen Tunnelzugang zu dieser Insel, doch noch ehe der Dämonenkiller ihn betreten kann, erobert die Kranich ihn im Sturm.

In einem U-Boot, das von der russischen Kapitänin Darja Kusnezow gesteuert wird, versucht er einen anderen Zugang zu finden, doch sie werden Opfer einer dämonischen Attacke. Überraschenderweise taucht das völlig lädierte U-Boot in letzter Sekunde unter Wasser in einer riesigen Höhle auf. An Bord haben nur drei Personen überlebt: Dorian selbst, die Kapitänin und der Freak Professor Harrison, der die Klinik leitete und von dort aus stets »Nachschub an Wahnsinnigen« über den Tunnel zur Insel schickte. Warum, bleibt unbekannt. Der Freak erkennt in Dorian seinen »Meister« … auch das nach wie vor aus ungeklärten Gründen.

Gemeinsam schlagen sie sich durch, bis sie den geheimnisvollen Flammenschädel finden, der über unfassliche Macht zu verfügen scheint. Die Kapitänin wird verletzt und magisch infiziert. Schließlich treffen sie auf eine Gruppe von Dämonen, die einem geheimnisvollen Kult zu frönen scheint – sie veranstalten eine Feier für … Dorian Hunters frühere Existenz als William David Hadley!

Gleichzeitig setzt sich auch Jeff Parker auf die Spur der Verschwundenen. Auf einer anderen Insel der Scillys begegnet er einem mysteriösen Spuk; ein geisterhaftes Mädchen verlangt von ihm, den Feuerschädel zu finden, der ihm einst gestohlen wurde. Jeff befreit sich mit einem Trick aus der Zwangslage, doch was es mit dem Feuerschädel auf sich hat, erfährt er nicht. Er ahnt allerdings, dass er nicht der Einzige ist, der sich auf dieser Suche befindet.

Derweil erinnert sich Dorian an einige Geschehnisse aus seinem elften Leben, der Existenz nach dem Jungen Daniel. Dort begegnete er schon einmal dem Freak Harrison – nur dass dieser damals noch ein echter Dämon war, den außerdem eine Besonderheit auszeichnete. Harrison, der sich damals noch anders nannte, litt in der Gegenwart von Wahnsinnigen keine Schmerzen, was ihn von allen anderen Dämonen unterschied. Er versuchte, zu ergründen, warum dies so war, und unternahm Versuche mit Irrsinnigen.

Dabei schlug sich Dorian in seinem elften Leben als Sir William an seine Seite und unterstützte ihn, geriet immer tiefer in die Faszination der morbiden Forschungen. Oder doch nicht? Zum ersten Mal erinnert sich Dorian an zwei Versionen eines vergangenen Lebens. War er vielleicht doch der Dorfdepp Billy, eines der Versuchskaninchen?

Dorian ist verwirrt, und die Erinnerungen stocken, als eines der Experimente fehlschlägt, ein Experiment, in dem der Feuerschädel eine große Rolle spielte. Sir William verliert den Verstand … Ein großes Geheimnis scheint hinter allem zu stehen: Warum ertragen Dämonen den Anblick von Wahnsinnigen nicht … und was ist auf der Insel geschehen, als diese unterging?

 

 

 

 

Erstes Buch: Machina dementiae: Nächte des Wahnsinns

 

 

Machina dementiae: Nächte des Wahnsinns

 

von Logan Dee

 

1. Kapitel

 

Vergangenheit 1756

Blitze zuckten vom Himmel und vergruben sich tief in die grünbewaldeten Hügel, die vor ihnen lagen.

»Bitte, Spencer, lass uns umkehren!«, flehte Emily. Ihre Stimme klang hoch und dünn und wurde augenblicklich vom Fahrtwind fortgeweht. Mehr und mehr überkam sie das Gefühl, dass Spencer sie gar nicht hörte.

Er saß auf dem Kutschbock und trieb den alten Gaul nur noch mehr an. »Hüah! Hüah, du Schindmähre!«, schrie er und ließ die Peitsche knallen. Spencer schien ebenso entfesselt wie das plötzliche Unwetter, das unvermittelt seit einer Viertelstunde auf sie niedertoste.

Erneut durchpflügte ein Blitz den schwarzen Himmel. Der Donner ließ nicht lange auf sich warten. Emily konnte sogar das Beben spüren – trotz der rasanten Fahrt. Sie schrie auf, vor Angst und Sorge, doch Spencer hielt nach wie vor direkt auf das Gewitter zu.

Seit einem halben Jahr waren sie nun verheiratet. In London hatten sie unter den elendigsten Bedingungen gehaust. Spencers Lohn als Werftarbeiter hatte gerade noch gereicht, um ihnen ein schmutziges Quartier und eine tägliche warme Mahlzeit zu garantieren. Ansonsten gehörte ihnen nicht viel: ein wenig Hausrat und die Kleider, die sie trugen.

Bis vor Kurzem hatte Emily in einer kleinen Fabrik als Näherin gearbeitet. Es war ein Hungerlohn, den sie erschuftete, aber zumindest hatten sie durch ihre Arbeit etwas Geld angespart. Ihre Hände waren noch immer zerstochen und entzündet, obwohl sie seit zwei Wochen nicht mehr beschäftigt war.

Emily war ein hübsches Mädchen. Zwar gerade erst sechzehn, spannte sich die Bluse über volle Brüste. Sie war ein wenig drall, aber genau das mochten die meisten Männer und verdrehten sich den Hals nach ihr. Sie hatte rotes Haar und Sommersprossen.

Eines Tages, noch vor diesen zwei Wochen, war sie zusammengebrochen. Einen Arzt konnten sie sich nicht leisten, aber eine ältere Freundin hatte rasch diagnostiziert, dass sie schwanger war. Von da an war es ihr jeden Tag schlechter gegangen, aber dennoch hatte sie sich zu ihrem Arbeitsplatz geschleppt. Sie war überzeugt, dass sie das Geld dringend brauchen würden.

Wenn erst das Baby da war, musste man irgendwie drei Mäuler stopfen. Woher sollte Spencer das Geld nehmen? Nein, ihre Aussichten auf die Zukunft erschienen alles andere als einladend.

Auch Spencer schien dies zu ahnen. Seitdem sie ihm gebeichtet hatte, dass sie ein Kind erwartete, griff er immer öfter zur Flasche. Einmal war er in volltrunkenem Zustand nach Hause gekommen und hatte sie sogar verprügelt.

Doch dann kam die Wende in ihr Leben. Es war genau ein Tag nach dieser Auseinandersetzung, dass sie erneut beim Nähen zusammenbrach. Sie hatte Blutungen und schon befürchtet, das Kind zu verlieren. Der Vorarbeiter hatte sie angeschrien, sich zusammenzureißen, und sie schließlich nach Hause geschickt. Für immer.

Sie hatte sich nicht zu ihrem Ehemann getraut. Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren hatte? Er würde wieder zur Flasche greifen, sie noch ärger verprügeln. Sie dachte an Lizzy, ihre Nachbarin. Deren Mann hatte sie letztens mit dem glühenden Schürharken bearbeitet.

Emily irrte durch die Straßen. Sie hatte niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Ihre Eltern waren vor einem Jahr bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Ihr blieb nur Spencer …

Unweit des Leicester Square war plötzlich die alte Zigeunerin vor ihr aufgetaucht. Sie hatte bunte, fremdländische Kleider getragen und sie angesprochen. »Du siehst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen, Kindchen.«

Emily hatte stumm genickt, aber dann war sie auch schon in Tränen ausgebrochen.

Die alte Frau hatte ihre Hand ergriffen und sie beruhigt. »Du hast keinen Grund, ängstlich in die Zukunft zu schauen. Es wird sich alles zum Guten wenden. Bereits, wenn du gleich nach Hause kommst, wird dich eine erfreuliche Nachricht erwarten. Sei gewiss, dass dir ein guter Weg beschieden sein wird.«

»Und mein Kind?«, fragte Emily. »Wird es gesund auf die Welt kommen?« Ihre Tränen waren ebenso schnell versiegt, wie sie sich Bahn gebrochen hatten. Von der alten Frau ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. Sie vertraute ihr. Die Weissagung der Zigeunerin war Balsam für ihre Seele. Und wenn sie wirklich in die Zukunft blicken konnte, woran Emily keinen Zweifel hegte, dann würde sie auch wissen, wie es um ihr Baby bestellt war. Noch immer spürte sie, wie das Blut zwischen ihren Schenkeln hinabrann.

»Du wirst einem gesunden, kräftigen Sohn das Leben schenken«, versprach die Alte. »Doch er wird nicht hier zur Welt kommen, nicht in diesem dreckigen, schmutzigen London.«

»Wo dann?«, fragte Emily überrascht. Sie war in London geboren und konnte sich nicht vorstellen, jemals diesem Moloch zu entrinnen. Niemals war sie weiter als bis zur Stadtgrenze gekommen. Ja, sie hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, dass sie woanders vielleicht ein schöneres Leben erwartete.

»Lass dich leiten«, antwortete die Zigeunerin. »Folge einem Mann aus dem Süden. Du erkennst ihn an seinem Akzent und daran, dass er mit viel Gepäck reist.«

»Aber wie sieht dieser Mann aus? Und wie heißt er? Und wo werde ich ihn treffen?« Sie stellte tausend Fragen, doch die Wahrsagerin ließ ihre Hand los, lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu und verschwand so schnell in der Menge, dass Emily glaubte, sie hätte sich in Luft aufgelöst.

Was sie nicht sah, war die Verwandlung auf den Gesichtszügen der Alten. Die milden Züge wichen einem abgrundtief bösartigen Ausdruck. Die Passanten, die in ihre Fratze starrten, zuckten unwillkürlich zusammen und wankten von ihr weg.

Rasch eilte die Alte weiter. Vor einem winzigen, im Souterrain untergebrachten Laden, blieb sie stehen, schaute sich schnell um, ob ihr niemand gefolgt war, und stieg die Stufen hinab.

In diesem Moment öffnete sich die Tür des kleinen Antiquitätenladens und eine hochgewachsene, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt kam heraus. »Nun, hast du deine Botschaft weitergegeben?«, erkundigte sich der Mann mit französischem Akzent.

Die Wahrsagerin nickte unterwürfig. »Das habe ich, Meister. Ich habe alles zu Eurer Zufriedenheit arrangiert. Werde ich nun die Gnade erhalten, der Schwarzen Familie beitreten zu dürfen?«

Der Fremde zog ein Buch hervor. Es war in Menschenhaut gebunden. »Hier ist deine Belohnung«, versprach er und warf das Buch der Alten zu. »Studiere seinen Inhalt gut. Nur wenn du ihn verstehst, bist du würdig, aufgenommen zu werden. Doch ich warne dich …«

Die Alte konnte es nicht erwarten. Sie schlug das Buch auf, las die ersten Absätze – und augenblicklich kroch der Wahnsinn über ihre Gesichtszüge. Rasch, bevor es ihren kraftlosen Fingern entgleiten konnte, schnappte sich der hochgewachsene Fremde die Schrift, steckte sie wieder ein und zog von dannen.

Er drehte sich nicht einmal mehr um, während die Alte hinter ihm zu kreischen begann und sinnlose Worte lallte.

 

Gegenwart

»Dorian!«

Trevor Sullivan schreckte auf. Die flehende Stimme, die er soeben zu hören geglaubt hatte, konnte nur auf Einbildung beruhen. Dennoch lauschte er angestrengt. Die Hoffnung war größer als die Vernunft.

Doch der Ruf wiederholte sich nicht. Im Hause herrschte Stille.

Mit einem Seufzer legte Trevor Sullivan das schwere Buch beiseite und rieb sich die müden Augen. Er musste über der Lektüre eingeschlafen sein. Es war nicht das erste Mal gewesen. Die Sorge ließ ihn kaum zur Ruhe kommen. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb eingebildet, den Ruf zu hören.

Dennoch, für einen Moment hatte er tatsächlich gehofft, Coco Zamis möge aus ihrem Komaschlaf erwacht sein. Wunschdenken, nichts anderes.

Er seufzte. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte an, dass es bereits auf drei Uhr zuging. Drei Uhr in der Nacht. Regentropfen prasselten auf die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road. Sogar hier unten, in seinem Kellerbüro, vernahm er sie.

So deutlich wie zuvor den verzweifelten Ruf.

Und wenn es doch keine Einbildung gewesen war?

Vielleicht war Coco aus ihrem Koma zumindest für einen Augenblick erwacht. Abermals lauschte er. Am liebsten hätte er den Regen abgestellt, um besser hören zu können.

Nein, er konnte sich jetzt nicht einfach in sein Bett legen und weiterschlafen. Er musste sich Gewissheit verschaffen.

Bevor er sich erhob, betrachtete er noch einmal das aufgeschlagene Buch – eine Rarität aus dem Jahr 1906. Es hatte ihn Unsummen gekostet, es zu beschaffen. »Tiefschlaf-Patienten und ihre Erweckung« war der Titel. Der Verfasser, Dr. Conrad Caragi, hatte tatsächlich, glaubte man den damaligen Berichten in den Sensationsblättern, Erfolge erzielt. Allerdings war er im Alter von siebenundvierzig Jahren wahnsinnig geworden. Er war überzeugt davon gewesen, dass Dämonen sein Leben bedrohten. Zwei Jahre später war er in der Pankower Irrenanstalt gestorben. Er hatte sich in seiner Gummizelle selbst zerfleischt, wie es hieß.

Trevor Sullivan konnte sich denken, dass es damals nicht so verlaufen war, wie die Öffentlichkeit glaubte. Dämonen waren alles andere als Hirngespinste …

Dennoch hatte ihn Caragis Buch nicht weitergebracht. Es war ein einziger theoretischer Sermon ohne jeglichen praktischen Nutzen. Trevor hatte es bis auf Seite einhundertzweiunddreißig geschafft. Dann hatte der Schlaf ihn übermannt.

Er erhob sich. Seine Knochen knirschten. Er war nicht mehr der Jüngste, aber zum alten Eisen gehörte er noch längst nicht, auch wenn die Geheimdienstära als Observator Inquisitor lange vorbei war. Er war das Gehirn der Jugendstilvilla. Das lebende Archiv.

Doch seitdem Coco Zamis von einer Sekunde zur anderen in ein Koma gefallen war, beschäftigte ihn nur noch dieses eine Thema. Mittlerweile wusste er wahrscheinlich mehr über den »tiefen Schlaf«, wie die Übersetzung des griechischen Begriffes lautete, als mancher Arzt. Doch der Tiefschlaf, in dem sich Coco befand, war weder eine Bewusstseins- noch eine Gesundheitsstörung der üblichen Art. Inzwischen war klar, dass es sich um eine magisch beeinflusste Reaktion handelte.

Doch wer oder was steckte dahinter? Das war das große Rätsel, das es nach wie vor zu lösen galt. Dass nun auch noch Dorian Hunter als verschollen galt, machte die verfahrene Angelegenheit nicht gerade leichter.

»Dorian!«

Da war er wieder! Der Ruf, der ihn geweckt hatte! Und diesmal hatte er nicht geträumt.

Die Stimme hatte wie Cocos geklungen. War sie erwacht und wunderte sich nun, dass der Dämonenkiller nicht an ihrer Seite lag?

Trevor Sullivan spürte, wie sich seine Laune augenblicklich verbesserte. Coco hatte ihr Bewusstsein wiedererlangt. Alles würde wieder so sein wie zuvor. Auch Dorian würde sicherlich bald auftauchen – wie so oft in der Vergangenheit. Alles konnte mit einem Schlag so sein wie vorher. Das bewährte, unschlagbare Team …

Sein Herz schlug schneller, als er die Tür öffnete.

»Dorian!« Der Ruf schallte durch das Haus. Sie musste sich in einem der oberen Räume befinden.

Er betrat den langen schmalen Korridor, der zu dieser nächtlichen Stunde im Dunkeln lag. Als er den Lichtschalter klickte, ergoss sich neonhelles Licht über den Flur. Sullivan kniff die Augen zusammen.

Die Stufen, die ins Erdgeschoss führten, verloren sich irgendwo weiter oben in der Dunkelheit.

Und wenn sie es nicht ist? Der Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Ebenso schnell verwarf er ihn wieder. Gut, die Stimme klang nicht hundertprozentig wie die von Coco. Irgendein fremder Ton schwang darin. Aber immerhin war sie soeben erst erwacht … Und außerdem: Wer sollte sonst mit Cocos Stimme nach Dorian rufen?

Dennoch spürte er, wie sich in die ursprüngliche Freude Misstrauen schlich. Er war auf der Hut. Aber wahrscheinlich war ihm eine gewisse Vorsicht sowieso in Fleisch und Blut übergegangen.

»Dorian, wo bist du?«

Sullivan warf alle Bedenken über Bord und stürmte hinauf in die große Halle. Er machte Licht, doch weder Coco noch sonst jemand war zu sehen.

»Coco?«, rief er fragend. Niemand antwortete. Allmählich fühlte er sich genarrt. Doch augenblicklich unterdrückte er jeglichen aufkommenden Ärger. Ganz sicher versuchte Coco ihn nicht auf den Arm zu nehmen. Sie mochte aus dem Koma erwacht sein, aber ihr Bewusstsein befand sich noch auf einer anderen Ebene. Vielleicht schlafwandelte sie.

Während er noch darüber nachdachte, erfolgte ein Knall. Sullivan schrak zusammen. Die Eingangstür! Er hastete dorthin und riss sie auf. Über den Kiesweg sah er für einen Moment einen Schatten davonlaufen. Das weiße, wehende Nachthemd, die schwarzen, flatternden Haare … Coco!

Aber warum lief sie davon? Ihr Verhalten bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass sie verwirrt war und nicht normal handelte.

Der Regen hatte aufgehört, dafür kam unverhofft Nebel auf. Innerhalb von Sekunden wurde die Suppe dichter und dichter. Die Flüchtende entschwand seinen Blicken. Es war totenstill. Allein die sich entfernenden Schritte auf dem Kiesweg drangen an Sullivans Ohren.

Er nahm die Verfolgung auf, kam ins Stolpern und fiel der Länge nach hin. Fluchend rappelte er sich wieder hoch. Er war wirklich nicht mehr der Alte!

Er lauschte. Die Schritte waren nicht mehr zu hören. Der Nebel war so dicht, dass er kaum die Hand vor Augen sah. Er gaukelte ihm Gestalten vor, wo keine waren.

Das Gelände in der Baring Road war wahrscheinlich das dämonengeschützteste Areal auf der ganzen Welt. Dennoch fühlte sich Sullivan nicht wohl in seiner Haut. Allein hier draußen im Nebel zu sein, behagte ihm wenig. Er fühlte sich schutzlos und wie auf dem Präsentierteller.

Was, wenn es eine Falle war?

Nein, er war sich sicher, Coco erkannt zu haben. In dem Zustand, in dem sie sich offensichtlich befand, war sie gefährdet. Er musste sie finden!

Entschlossen lief er weiter vorwärts. Sein Weg führte ihn tief in den Park hinein. Und plötzlich hörte er wieder ihre Stimme. Diesmal rief sie nicht nach Dorian!

Er schlich näher heran. Eine zweite Stimme war mit einem Mal zu vernehmen: »Alina!«, krächzte jemand.

Sullivan erkannte die Stimme, und ein Schauer lief über seinen Rücken. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

»Es ist alles in Ordnung!«, hörte er Coco antworten. Sie sprach behutsam, wie zu einem Kind. »Die Dämonen können den magischen Kreis nicht überwinden – noch nicht jedenfalls.«

Eine Weile schwiegen die beiden Stimmen. Dann war wieder Coco zu hören: »Versuche zu schlafen!«

Doch der andere schien sich zu wehren. »Alina! Alina!«, flehte er.

Sullivan zögerte nicht länger. Er trat aus dem Nebel hervor. Die Gestalt in dem Nachthemd und mit den schwarzen Haaren wandte ihm den Rücken zu. Wie hatte er sich nur so täuschen können! Der nackte Körper malte sich unter dem fast transparenten Nachthemd ab. Im Gegensatz zu Cocos aufreizenden, femininen Kurven wirkte dieser fast schmächtig. Auch die dunklen Haare entpuppten sich als schlecht gemachte, improvisierte Perücke. Sie bestand aus Wollfäden und Filzresten.

»Es ist alles in Ordnung, Phillip«, sagte Sullivan und hielt den Hermaphroditen fest am Arm, damit er nicht wieder davonlaufen konnte. Außer ihm befand sich niemand im Park. Phillip Hayward war in Cocos Rolle geschlüpft. Aus welchen Gründen auch immer.

Phillip Hayward war ein Zwitterwesen. Er besaß hellseherische Fähigkeiten. Durch seine seltsame Psyche konnte er aber nicht klar in Worten ausdrücken, was er mit seiner Seherfähigkeit erkannte, sondern drückte sich zumeist in der Art eines Orakels mystisch und umschreibend und in Gleichnissen aus.

Wollte er ihm etwas über Coco mitteilen? Aber was hatte dies mit Alina zu tun? Aus seiner Zeit als O.I. wusste Sullivan, dass Alina ein junges Mädchen gewesen war, das in eine Puppe verwandelt wurde. Phillip Hayward hatte eine besonders starke emotionale Beziehung zu dem Kind entwickelt. Das lag Jahre zurück, aber wenn man so wollte, so war Alina der Grund gewesen, dass Dorian und Coco Phillip kennengelernt und seitdem in ihrer Obhut behielten.

Nun wandte der Hermaphrodit Sullivan sein engelsgleiches Antlitz zu. »Alina? Dorian? Coco?«, fragte er verwirrt.

»Du musst dir keine Sorgen machen«, erwiderte Sullivan mit außergewöhnlich sanfter Stimme. »Es wird schon alles gut werden …« Glaubte er wirklich, was er da von sich gab? Kein Mensch wusste, wo Dorian Hunter steckte, und genauso wenig wusste irgendjemand ein Mittel, um Coco Zamis aus ihrem Tiefschlaf zu erwecken.

Und jetzt flippte auch noch Phillip mal wieder aus.

Behutsam führte er den Hermaphroditen zurück zum Haus. Ihre Schritte knirschten auf dem feuchten Kiesweg. Ansonsten war nach wie vor kein Laut zu hören. Phillip ließ sich anstandslos zum Haus führen. Sullivan erkannte, dass sich unter dem Nachthemd kleine Brüste abzeichneten. Offensichtlich war Phillip mit Haut und Haaren in die Rolle Cocos geschlüpft. Sogar ihre Stimme hatte er fast perfekt imitiert.

Als er Phillip in dessen Schlafgemach brachte, begehrte dieser auf. Er wand sich in Sullivans Griff. Dieser packte fester zu. »Dorian! Coco!«

Gottseidank rief er nicht mehr nach Alina, dachte Sullivan. Wahrscheinlich hatte er sich wie in einem bösen Albtraum nur deswegen daran erinnert, weil er damals Coco und Dorian kennengelernt hatte. Und die waren in einer bedrohlichen Situation gewesen.

Das ist der Punkt!, erkannte Sullivan.

»Was ist mit Dorian?«, bohrte er nun nach.

»Dorian! Gefahr!«, beschwor ihn der Hermaphrodit.

»Damit erzählst du mir leider nichts Neues«, knurrte Sullivan. »Und Coco?«

»Coco in großer Gefahr!«, orakelte Phillip. Er war kaum mehr zu halten. Sullivan musste beide Hände zu Hilfe nehmen.

»Von wem droht Coco Gefahr?«, bohrte Sullivan nach.

Doch der Hermaphrodit schwieg beharrlich.

»Von Alina?«

»Alina ist tot«, antwortete Phillip mit erstaunlich klarer Stimme. »Es hat nichts mit Alina zu tun. Nicht mit damals. Aber die Gefahr ist genauso groß. Größer …«

»Ich habe einen Vorschlag.« Allmählich kam Sullivan ins Schwitzen. Sein Schützling war kaum mehr zu halten. Phillip entwickelte gewaltige Kräfte. »Du legst dich hin, und ich schaue nach Coco. Danach komme ich zu dir und …«

»Coco! Gefahr!«, schrie Phillip und riss sich los. Sullivan strauchelte nach hinten. Blitzschnell war der Hermaphrodit durch die offene Tür aus dem Zimmer verschwunden. Fluchend rappelte sich Sullivan auf und raste dem Flüchtenden hinterher. Er hatte nicht die geringste Lust auf einen weiteren Spaziergang im Nebel.

»Halt! Warte!«, schrie er, aber Phillip dachte nicht daran. Die Perücke rutschte ihm vom Kopf. Es kümmerte ihn nicht. Doch er lief nicht zur Eingangstür.

Sullivan wusste plötzlich, wohin es Phillip zog.

In Cocos Schlafzimmer. Augenblicklich verlangsamte Sullivan seine Schritte. Phillip wollte nicht wieder flüchten, sondern zu Coco.

Die Tür stand auf, als Sullivan ihr Zimmer betrat.

Doch von Coco war keine Spur zu sehen. Stattdessen lag Phillip in ihrem Bett.

»Coco! Gefahr!«, wiederholte er. Hilfe suchend sah er Sullivan an. Der zuckte die Schultern und stieß die Luft durch die Zähne.

Das hatte ihm noch gefehlt, dass auch Coco spurlos verschwand!

 

Er suchte zunächst die Villa ab, dann den Park. Gegen Morgengrauen hatte er die Gewissheit, dass sich Coco weder im Haus noch auf dem Gelände befand. Keine der Alarmanlagen hatte angeschlagen. Keine der zahlreichen Kameras hatte ihr Verschwinden aufgezeichnet.

Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Die entscheidende Frage war: War sie erwacht und hatte aus eigenen Stücken das Grundstück verlassen? Oder war sie entführt worden?

Trevor Sullivan seufzte.

Er fühlte sich plötzlich so einsam wie der letzte Mensch auf Erden. Phillip war ihm keine große Hilfe. Und ansonsten war er auf sich allein angewiesen.

Ihm fiel nur eine Person ein, die sein Bedürfnis nach Hilfe stillen konnte. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Jeff Parker.

Seines Wissens trieb sich der Milliardär noch immer irgendwo auf den Scilly-Inseln herum.

 

 

2. Kapitel

 

Vergangenheit 1756

Als sie nach Hause kam, dämmerte es bereits.

Im Gegensatz zu sonst erwartete Spencer sie schon. Er war in höchstem Maße erregt. Seine Wangen waren gerötet, sodass sie befürchtete, er würde sie wieder schlagen. Doch diesmal lag es nicht am Alkohol, dass er derart in Aufruhr war.

Er schwenkte einen Brief in Händen. Einen Brief! Wo er doch gar nicht lesen konnte!

Er sprang auf sie zu. Sie zuckte zusammen, doch er schlang nur seine kräftigen Arme um sie, hob sie in die Luft und wirbelte sie im Kreise – ganz so wie damals, am Anfang ihrer Ehe, als er noch verliebt in sie war.

»Es wird alles gut!«, rief er. »Wir werden in meine alte Heimat reisen. Mein Onkel ist gestorben, was natürlich bedauerlich ist, aber er hat mir sein Anwesen vererbt! Kein Ruß und Schmutz mehr! Kein Hunger und keine Armut mehr! Auf den Scillys erwartet uns ein viel besseres Leben! Dort scheint den ganzen Tag die Sonne. Es wachsen Palmen am Strand und Orchideen. Unser Kind wird im weißen Sand spielen anstatt im Dreck. Ist das nicht alles herrlich?«

»Und das alles steht in diesem Brief?«, fragte sie atemlos, nachdem er sie wieder aus seinen Armen entlassen hatte.

»Ein Notar hat ihn mir gebracht und vorgelesen«, bekräftigte Spencer. »Mein Onkel Jacob ist schon vor einem halben Jahr gestorben, aber es hat einige Zeit gedauert, bis man mich ausfindig gemacht hat. Ich bin der einzige Erbe!«

Und so hatten sie ihr gesamtes Hab und Gut versetzt, von ihren geringen Ersparnissen einen Gaul – wahrscheinlich die älteste Mähre ganz Londons – und einen Karren gekauft und sich auf den Weg nach Cornwall gemacht.

Dies alles kam Emily wie eine Ewigkeit her vor. Und obwohl sie seit damals fest an ihr Glück glaubte, beschlich sie nun die Angst. Seitdem sich das Gewitter über ihren Köpfen zusammengebraut hatte, war sie beunruhigt. Es hing weniger mit dem drohenden Unwetter als mit der Veränderung Spencers zusammen. Er war wie entfesselt. Er trieb das Pferd zur Eile. Blutige Striemen zierten den Rücken des Gauls. Längst goss es in Strömen. Die Straße hatte sich in einen unberechenbaren Matschpfad verwandelt.

Der Himmel schoss nun Blitz auf Blitz hinunter auf die Erde, so als würde ein zorniger Gott damit um sich werfen. Der Donner rollte wie eine einzige ewig währende Welle über sie hinweg.

»Halt an! Halt bitte an!«, schrie Emily. »Du fährst uns ins Verderben! Denk an unseren Sohn!«

Seit der Weissagung ging sie ganz selbstverständlich, auch Spencer gegenüber, davon aus, dass sie einem männlichen Nachkommen das Leben schenken würde. Zunächst hatte Spencer sie milde belächelt, doch nach und nach hatte auch er von »unserem Sohn« gesprochen. Natürlich hatte sie ihm nichts von der Wahrsagerin erzählt. Warum auch? Er hätte sie höchstens ausgelacht. Spencer war ein Mann der Tat. Er war realistisch und geradlinig. Nie und nimmer hätte er an derlei Spökenkiekerei geglaubt.

Umso merkwürdiger kam ihr sein jetziges Verhalten vor. Er wirkte alles andere als abgeklärt. Eher so, als sei er von einem fremden Geist besessen. Emily schauderte angesichts dieses Vergleichs. Noch nicht einmal der Hinweis auf seinen Sohn konnte ihn bewegen, die Geschwindigkeit zu drosseln.

Emily klammerte sich irgendwo fest. Sie hatte Todesangst.

Als sie ein Schlagloch durchfuhren, schrie sie auf. Beinahe wäre sie vom Wagen gefallen! Spencer drehte noch nicht einmal den Kopf. Eine Kurve tauchte vor ihnen auf. Spencer hielt mit unverminderter Geschwindigkeit darauf zu.

Emily schloss die Augen und tat etwas, was sie noch nie in ihrem Leben getan hatte: Sie betete!

Spencer gelang es tatsächlich, die Kutsche bei voller Fahrt unversehrt um die Kurve zu bekommen. Doch dann setzte ein weiteres Schlagloch seiner wilden Jagd ein Ende. Das Pferd strauchelte. Es sprang noch zwei Schritte, dann knickten die Vorderbeine ein. Die Achse brach und rollte halb über den Gaul hinweg. Emily fühlte sich emporgeschleudert. Sie flog einige Meter weit durch die Luft, ehe sie unsanft auf dem aufgeweichten Boden aufkam.

Das Pferd wieherte vor Schmerzen und Todesfurcht. Aber noch schlimmer gellten Spencers Schreie in ihren Ohren. Er brüllte wie am Spieß.

Als sie ihren Kopf wendete, erkannte sie, dass seine Beine von der Kutsche verdeckt waren. Er bekam sie nicht darunter hervor. Sie robbte zu ihm hin. Ihre Hände versanken im Matsch.

»Was ist mit dir?«, rief sie.

Er sah sie an, ohne dass er seine Schreie unterbrach. In seiner Agonie erkannte er sie nicht einmal mehr. Mit den Fäusten schlug er nach ihr.

Entweder hatten die Schwingen des Wahnsinns ihn nun völlig übermannt oder es lag wirklich nur an den Schmerzen.

Sie musste etwas unternehmen! Sie war zu schwach, um seine Beine zu befreien. Sie musste Hilfe holen! Doch als sie sich erheben wollte, sackte sie nur noch tiefer in das schlammige Erdreich. Sie war am Ende ihrer Kräfte.

Sie spürte den auf sie einprasselnden Regen kaum noch, achtete nicht auf die Blitze, die nun um sie herum einschlugen, ignorierte das Beben der Erde und den grollenden Donner. Die Hölle war entfesselt, und sie machte sich daran, die Erde mit ihren Schrecken zu überrollen.

Am schlimmsten aber waren die Schreie. Spencers Schreie und die des Gauls. Beide waren sie vor Schmerzen halb irrsinnig.

Emily hielt sich die Ohren zu, doch das Kreischen vernahm sie trotzdem. Es fräste sich durch ihre Gehirnwindungen und nistete sich darin ein. Fast glaubte sie selbst schreien zu müssen, um dem Wahnsinn zu entfliehen.

Da hörte sie den Hufschlag. Es konnte nur der Leibhaftige sein, der sie nun holen kam. Vor ihrer Heirat hatte sie ein gottloses Leben geführt, und auch danach war sie nicht der Kirche beigetreten. Sie hatte stets daran gezweifelt, dass es einen Gott gab. Aber an den Teufel glaubte sie fest! Sogar an die Hölle, die in ihrem Falle bereits auf Erden errichtet war.

Das Hufgetrappel kam näher. Selbst durch den Donner hindurch war es zu hören. Durch den Regenschleier sah sie undeutlich einen Reiter herangaloppieren. Nach und nach nahm sie mehr von ihm wahr. Nein, das war nicht der Teufel. Der Teufel ritt kein weißes Pferd. Und er war auch nicht so dick und gedrungen wie der Mann, der das Pferd ritt.

Der Mann trug eine Soutane. Ein Pfaffe! Fast musste sie lachen, wie grotesk ihr Irrtum gewesen war.

Endlich fand sie die Kraft, sich zu erheben. Sie stellte sich dem Reiter in den Weg und hob die Arme. Auf einen Ahnungslosen musste sie wie eine Verwirrte wirken. Wie eine Furie, die die Naturgewalten beschwor, noch heftiger herniederzufahren.

Der Reiter hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf sie zu. Er hätte sie niedergeritten, wenn das Pferd nicht gescheut hätte. Nur mit Mühe gelang es dem Geistlichen, es einigermaßen in Zaum zu halten.

»Aus dem Weg!«, schrie er Emily zu. Der Sturm riss ihm die Worte wie Fetzen von den Lippen. »Ich habe es eilig, Weib!«

»Ihr müsst helfen!«, beschwor ihn Emily. Sie wies auf die Kutsche. »Mein Mann, seht ihr ihn nicht dort liegen und leiden?«

»Was kümmert mich dein Mann!«, schrie der Ankömmling. »Ich bin um mein eigenes Heil genug besorgt. Gebt den Weg frei!«

»Ich denke nicht daran«, entgegnete Emily trotzig.

Der Geistliche spuckte aus und griff zur Peitsche. »Aus dem Weg – oder …«

In diesem Moment schlug erneut ein Blitz ein. Der Baum, den er sich als Ziel gesucht hatte, stand nur zwanzig Meter entfernt. Emily spürte den Schlag wie ein Kribbeln, das von ihren Füßen aus durch ihren ganzen Körper fuhr. Doch es war nicht nur der Blitz. Sie hatte das Gefühl, dass sich plötzlich noch etwas Anderes, Fremdes in ihrem Leib befand. Es war nicht unangenehm, im Gegenteil. Es senkte sich wie eine schützende Decke über ihre Angst und dirigierte ihr Handeln.

Das Pferd scheute angesichts des Blitzes erneut. Es stieg hoch, und diesmal konnte sich der Geistliche nicht halten. Er wurde abgeworfen und landete im Schlamm. Blitzschnell sprang Emily vor und ergriff die Zügel des Pferdes.