Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag,
Paderborn 2014
Copyright: © der Originalausgabe: 2010 by Taylor & Francis Group, LLC
Die Originalausgabe ist 2010 unter dem Titel Psychotherapy and the Highly Sensitive Person. Improving Outcomes for That Minority of People Who Are the Majority of Clients bei Taylor & Francis Group, LLC, erschienen.
Übersetzung: Christa Broermann, Stuttgart
Fachlektorat: Ulrike Hensel, Aidlingen
Coverfoto: © bruniewska – Fotolia.com
Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2014
Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-022-4
ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-024-8 (EPUB), 978-3-95571-316-4 (PDF), 978-3-95571-315-7 (MOBI).
Jedes Baby hat ein einzigartiges Temperament. Wir wissen, dass es keine Einbildung ist, wenn Eltern sagen: „Er ist sehr pflegeleicht und immer zufrieden“ oder „Sie ist lebhafter, als es ihr Bruder war“. Aus Kindern werden selbstverständlich Erwachsene, die ihr Temperament behalten, aber wenn wir einen erwachsenen Patienten vor uns haben, ist es weitaus schwieriger, zu unterscheiden, was angeboren und was anerzogen ist. Wir wissen, dass die grundlegenden Wesenszüge noch da sind und es verdienen, als unveränderlicher Kern der Patienten gewürdigt zu werden. Aber wie können wir ihnen helfen, eine gute Beziehung zu ihrer genetischen Ausstattung zu entwickeln, besonders wenn sie bedeutet, dass sie hochsensibel sind?
Hochsensibilität, die der Definition in meinen Forschungsarbeiten (Aron & Aron, 1997) entspricht, findet sich bei rund 20 Prozent der Bevölkerung (Kagan, 1994; Suomi, 1991 in einer Untersuchung von Primaten), daher sind zweifellos einige Ihrer Freunde und Angehörigen hochsensibel und außerdem ein hoher Prozentsatz Ihrer Patienten. Sie nehmen Feinheiten wahr und leiden mehr als andere, wenn sie starken Reizen ausgesetzt sind, wie etwa lauten Geräuschen, dem Trubel in Einkaufszentren und dergleichen, Temperaturextremen oder langen Sightseeing-Tagen mit vielen Eindrücken. Sie haben starke emotionale Reaktionen und brauchen mehr Erholungsphasen. Meist sind sie umsichtig und beobachten gut. Etwa 70 Prozent von ihnen sind introvertiert und wirken in mancher Hinsicht verletzlicher, gedeihen aber durchaus auf ihre eigene Weise. (Differenzierter können Sie diesen Wesenszug erfassen, wenn Sie sich die Skala für Hochsensible Personen, abgekürzt HSP, in Anhang A ansehen.)
Warum jetzt ein neues Merkmal?
Dieses Merkmal ist natürlich nicht neu: Es findet sich sowohl bei Tieren als auch bei Menschen (Sih & Bell, 2008; Suomi, 1991; Wilson, Coleman, Clark & Biederman, 1993; Wolf, van Doorn & Weissing, 2008), sodass es schon lange bekannt ist. Dabei erhielt es eine Reihe unterschiedlicher Namen, je nach Schwerpunkt der jeweiligen Forschungsarbeit – so etwa bei Babys „niedrige Reizschwelle“ (Chess & Thomas, 1987); „tauen langsam auf“ (Thomas, Chess & Birch, 1968); „affektive Negativität“ (Marshall & Fox, 2005); „Gehemmtheit“ (Kagan, 1994), „differenzielle Suszeptibilität“ für sowohl positive als auch negative Umgebungen (Belsky, Bakermans-Kranenburg & Van Ijzendoorn, 2007); „psychobiologische Reaktivität“ (Boyce et al., 1995; Gannon, Banks & Shelton, 1989); „biologische Kontextsensibilität“ (Boyce & Ellis, 2005). „Sensibilität“ bietet anscheinend einen Schirm, unter dem die tiefer liegende angeborene Überlebensstrategie hinter dem Merkmal gut Platz hat, eine Tendenz, die im Immunsystem ebenso wie im Nervensystem zu finden ist, und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch bei über 100 Tierarten (Wolf et al., 2008), von Taufliegen und Fischen bis zu Hunden und Rhesusaffen. Diese Strategie ermöglicht einem, Information gründlich zu verarbeiten, ehe man reagiert.
Wie verhält sich dieses Merkmal zur Psychotherapie?
Obwohl sich Hochsensibilität nur bei 20 Prozent der Bevölkerung findet, haben sie in den meisten Praxen wohl eher fast 50 Prozent der Patienten. Sie zeigt sich hauptsächlich bei Menschen mit einer schwierigen Kindheit, die sie anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit macht als Nichthochsensible. Diejenigen, deren Kindheit glücklich verlief, weisen diese Probleme allerdings nicht häufiger auf als nichthochsensible Menschen (Aron, Aron & Davies, 2005; Liss, Timmel, Baxley & Killingsworth, 2005). Es gibt sogar zahlreiche Belege dafür, dass hochsensible Kinder mehr als andere von einer glücklichen Kindheit profitieren (eine Übersicht über die wachsende Literatur zu diesem Thema findet sich bei Belsky et al., 2009 und Boyce & Ellis, 2005). Das ist einer von zahlreichen Gründen dafür, dieses Merkmal nicht als Störung anzusehen.
Ein ebenso wichtiger Grund für den Wunsch so vieler Hochsensibler nach einer Therapie ist, dass sie selbst glauben, sie hätten vielleicht eine Störung, auch wenn sie gar keine haben. Sie sind eine wenig verstandene Minderheit und verstehen sich nicht einmal selbst, deshalb suchen sie uns mit der Frage auf, warum sie anscheinend so anders sind.
Außerdem kommen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit in Therapie und möchten auch mehr Sitzungen haben als andere Patienten, weil sie für psychologische Zusammenhänge offener sind und sich mehr dafür interessieren, weil sie Symptome und ihre Langzeitfolgen stärker wahrnehmen und ihren anfänglichen Widerstand leichter erkennen und überwinden können. Sie benötigen häufig auch mehr Sitzungen, weil es mehr Zeit erfordert, ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen, und weil sie neben der Bearbeitung des Problems, das sie in die Therapie führt (Präsentierproblem), ihr Wesensmerkmal verstehen und damit umgehen lernen müssen. Sie haben auch mehr Gewinn, wenn sie ihre Therapieerfahrung längere Zeit verarbeiten können, und wahrscheinlich mehr Freude daran. Da sie mehr und eine längere Behandlung benötigen, werden sie zu einem bestimmten Zeitpunkt insgesamt einen höheren Prozentsatz einer breiten Patientenpopulation ausmachen.
Da so viele hochsensible Patienten aus den unterschiedlichsten Gründen Therapeuten aufsuchen, ist es sehr wichtig, Hochsensibilität von den vielen Störungen unterscheiden zu können, mit denen man sie verwechseln kann. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass Hochsensibilität häufig zusammen mit psychischen Störungen und anderen Problemen auftritt, daher muss man wissen, in welcher Weise sich das Erscheinungsbild dieser Probleme bei hochsensiblen Patienten verändert und wie das Verständnis für ihre Sensibilität die Arbeit mit ihnen verbessern kann. Das Ziel dieses Buches ist, diese Fragen zu klären, und außerdem Wege vorzuschlagen, wie man den Bedürfnissen dieser Patienten gerecht werden kann.
Welchen Gewinn bringt mir dieses Buch?
Zunächst werden Sie eine kurze, aber gründliche Einführung in die Hochsensibilität erhalten. Obwohl dieses Buch als solide wissenschaftliche und professionelle Abhandlung gedacht ist, habe ich an den Anfang und ans Ende eines jeden Kapitels eine Zusammenfassung gestellt und nach jedem Abschnitt ein Fazit gezogen, damit Sie es auch zeitsparend lesen können. Außerdem finden Sie darin durchgängig Fallbeispiele und Dialogausschnitte. Das erste Kapitel gibt Ihnen ein Gefühl für die wichtigsten Merkmale der Hochsensibilität und verweist auf die wissenschaftliche Forschung, die dahinter steht (eine umfassendere Darstellung der Forschung enthält Anhang C), und das zweite Kapitel hilft Ihnen bei der zentralen Aufgabe, zu erkennen, ob jemand, der zur Therapie zu Ihnen kommt, hochsensibel ist. Kapitel drei, vier und fünf zeigen Wege auf, diesen Patienten bei den typischsten Problemen zu helfen und Ihre gemeinsame Arbeit für sie passend zu gestalten, sodass Sie ein möglichst gutes Ergebnis erzielen. Kapitel sechs, sieben und acht befassen sich vorrangig mit Beziehungen und Arbeit. Schwerpunkt des letzten Kapitels ist, Ihnen zu helfen, Sensibilität inmitten eines breiten Spektrums anderer Persönlichkeitsvarianten und auch Varianten bei den Hochsensiblen selbst zu identifizieren.
Allgemeiner gesagt, werden Sie durch dieses Buch die Fähigkeit erlangen, die Lebensqualität aller hochsensiblen Patienten in Ihrer Praxis in Gegenwart und Zukunft erheblich zu verbessern. Sie werden ihnen genaue Informationen über ihre Sensibilität geben, sie bestätigen und dadurch ihr Selbstwertgefühl dauerhaft steigern können. Zudem werden Sie ihnen helfen, ihr angeborenes Temperament von dem zu trennen, was sonst noch für sie von Bedeutung ist. Die Patienten werden von Ihnen lernen, welche Vorzüge dieses Wesensmerkmal hat und wie sie mit dem umgehen können, was ihnen Nachteile einbringen könnte. Bei vielen wird Ihr Verständnis für dieses zentrale Wesensmerkmal, das von anderen Therapeuten so oft übersehen und missverstanden wird, die Grundlage ihres Vertrauens in Sie sein und auch die Basis des Erfolgs bei Ihren übrigen Behandlungszielen.
Den befriedigendsten Gewinn ziehen Sie aber vielleicht daraus, dass Sie viele dieser Patienten mehr als andere von Ihren therapeutischen Bemühungen profitieren sehen. Wie ich bereits gesagt habe, gibt es eine wachsende Forschungsliteratur, die zeigt, dass sensible Kinder eine „biologische Kontextsensibilität“ (Boyce et al., 1995) besitzen, die ihnen ermöglicht, mehr als andere Kinder die Vorteile einer anregenden und förderlichen Umgebung zu nutzen. Zwar reagieren Kinder mit einer erhöhten Sensibilität für psychosoziale Prozesse empfindlich auf eine negative Umgebung, aber „vielleicht sind sie dafür auch empfänglicher für soziale Signale, die Ermutigung und Akzeptanz ausdrücken“ (S. 420). Sehr wahrscheinlich könnte eine ausgezeichnete Psychotherapie die gleichen differenziell positiven Wirkungen für sensible Erwachsene haben und ihnen helfen, ihre Verletzlichkeit in eine Empfänglichkeit für all das Gute in ihrer Umgebung zu verwandeln.
Ist diese „Hypersensibilität“ nicht doch eine Beeinträchtigung?
Diese Frage wird natürlich noch immer gestellt, weil die erwähnte Literatur über die Normalität und die Vorzüge dieser Eigenschaft noch nicht sehr bekannt ist. Außerdem bekommen Therapeuten keinen repräsentativen Querschnitt aller hochsensiblen Menschen zu Gesicht, weil diejenigen, die in einer günstigen Umgebung aufgewachsen sind, sich oft gut anpassen, sich in den Alltag einfügen und unauffällig die Situationen für sich auswählen, in denen sie die besten Leistungen erbringen, während sie die anderen Situationen meiden. Man nimmt sie kaum als besonders sensibel wahr, selbst wenn man sie gut kennt. Das sind nicht diejenigen, an die man bei Hochsensibilität typischerweise denkt.
Andererseits geraten aufgrund ihrer größeren Verletzlichkeit mehr hochsensible Menschen in seelische Nöte als andere, und dann fallen sie auf. Leiden und Sensibilität gehören in unserem Kopf zusammen. Selbst wenn es nicht um Patienten geht, bemerken wir hohe Sensibilität oft nur dann, wenn jemand „viel zu schnell“ verletzt reagiert oder sich schon von „ein bisschen Lärm“ sehr gestört fühlt. Da sensible Menschen eine Minderheit bilden, sind sie auch nicht normal in dem Sinne, dass sie so sind wie die meisten anderen Leute (und die meisten Therapeuten). Die Hochsensiblen sind wirklich anders. Auf der HSP-Skala gibt es Leute, die jede Frage mit einem Ja beantworten, und solche, die alle mit einem Nein beantworten. Das ist eine beträchtliche Bandbreite im Verhalten, aber dennoch alles normal.
Weitere Verwirrung entsteht daraus, dass sehr ausgeprägte Hochsensibilität einigen Krankheiten ähneln kann. So haben Hochsensible beispielsweise stärkere emotionale Reaktionen, die man mit Zyklothymie verwechseln könnte – und bei manchen sensiblen Menschen geht es auch so weit. Ihr Wunsch, erst innezuhalten und zu überlegen, ehe sie sich auf neue Situationen einlassen, kann nach Schüchternheit aussehen und auch dazu werden. Ihre Vorliebe dafür, nach einem Fehlschlag erst einmal ihre kognitiven Koordinaten zu überprüfen, statt sofort wieder loszulegen (Patterson & Newman, 1993), kann man mit Zwanghaftigkeit verwechseln, und ihr Wunsch, alle Konsequenzen eines Vorgehens zu bedenken, kann nach chronischer Angst aussehen – und manche hochsensiblen Personen entwickeln diese Störung auch.
Vor allem aber kann die potenzielle Überstimulation, die zu diesem Merkmal gehört, zu einer Übererregung in genau den Situationen führen, die für alle die wichtigsten sind, und Übererregung (oder Untererregung) führt bei jedem kurzfristig zu Unbehagen und einer eingeschränkten Leistung und langfristig zu geschwächtem Selbstwertgefühl und geringerer Risikobereitschaft. Wenn man also einige natürliche Folgen dieses Merkmals mit dem Merkmal selbst verwechselt, mag es so aussehen, als sei es nichts weiter als eine Störung oder ein Syndrom. Aber dieser Wesenszug an sich ist keine Beeinträchtigung. Er kann sogar große Vorzüge bieten.
Heißt das, man wird schon schüchtern geboren?
„Hochsensibilität“ beschreibt zutreffender, was einem Verhalten zugrunde liegt, das wir sonst als schüchtern, ängstlich, gehemmt, reaktiv, neurotisch oder Rückzugsverhalten bezeichnen. Diese Begriffe verwendet man nach längerer Beobachtung von Individuen, vor allem Kindern und Tieren, die nichts sichtbar Ungewöhnliches tun, also versucht man, eine Hypothese für den Grund ihres Nichttuns zu bilden. Aber Wörter wie „schüchtern“ decken nicht alle Möglichkeiten ab. Genau genommen bedeutet „schüchtern“, dass man soziale Verurteilung fürchtet. Wie können wir sicher sein, dass ein Kind, das zögert, ehe es ein Klassenzimmer betritt, Angst hat? Der Begriff „Hochsensibilität“ ist besser geeignet, um eine Lernstrategie zu erklären, bei der man seine Umgebung eher durch Beobachtung als durch Erforschung erkundet. Gleichzeitig lässt er Raum für die Tatsache, dass ein sensibles Kind, das gelernt hat, beim Betreten eines Klassenzimmers Ablehnung zu erwarten, mit höherer Wahrscheinlichkeit schüchtern wird.
Der Begriff „sensibel“ ist hoffentlich auch weniger negativ besetzt oder hat zumindest ebenso viele positive wie negative Implikationen. Der Begriff für ein Wesensmerkmal entscheidet ja durchaus darüber, wie wir es einschätzen, und wirklich neutrale Begriffe gibt es nicht. So wird etwa Spontaneität als Eigenschaft positiv betrachtet, unkontrollierte Impulsivität eher negativ, ebenso ist es bei Durchhaltevermögen im Gegensatz zu Starrsinn oder Extraversion versus Grenzüberschreitung. Im Falle der Sensibilität heben die meisten Ausdrücke das hervor, wozu sie manchmal, aber nicht immer führt, nämlich sozialen Rückzug, Angst, Grübelei, niedriges Selbstwertgefühl, Schüchternheit und Pessimismus. Tatsächlich ist nichts davon die zwangsläufige Folge von Sensibilität, kann aber durch das Zusammenwirken dieses angeborenen Merkmals mit verschiedenen Lebenserfahrungen und Schwierigkeiten entstehen. Da es viele sensible Menschen ohne diese negativen Eigenschaften gibt, wird ihnen der Gebrauch der negativ gefärbten Bezeichnungen nicht gerecht und schadet ihnen, führt Forscher in die Irre und verwirrt Kliniker.
Ist das nicht eigentlich Introversion?
Sensibilität und Introversion sind in dem Sinne dasselbe, in dem C. G. Jung diese Begriffe ursprünglich verstand (1921 / 1961): als Vorliebe dafür, eine Erfahrung subjektiv durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen zu verstehen, statt ihre objektiven Qualitäten zu erforschen. In Forschungsarbeiten über Introversion (Koelega, 1992) wird zudem immer wieder festgestellt, dass Introvertierte in vielerlei Hinsicht sensibler sind als Extravertierte. Aber dann reden alle, einschließlich Jung, so weiter, als wäre jede Introversion soziale Introversion. Zwar sind etwa 70 Prozent der Hochsensiblen sozial introvertiert, aber 30 Prozent sind sozial extravertiert, denken aber viel über ihre Erfahrungen nach und brauchen dafür mehr Erholungsphasen als andere Extravertierte. Sie blieben außen vor, würde man Sensibilität mit sozialer Introversion gleichsetzen, und gerade für diese Gruppe ist es besonders nötig, verstanden zu werden.
Sensibilität scheint fundamentaler und angeboren zu sein, während Introversion das Ergebnis mehrerer Ursachen ist, von denen Sensibilität nur eine ist. Introversion und Extraversion sind dennoch hilfreiche Begriffe, aber wenn man sehr sensible Patienten als hochsensibel bezeichnet, erfassen ihre Therapeuten ihr grundlegendes Naturell besser. Nicht minder wichtig ist, dass Patienten sich dann eher verstanden und gestärkt fühlen, weil sie in diesem Begriff mehr ihnen geläufige Erfahrungen wiedererkennen, auch jenseits ihres Sozialverhaltens.
Warum sollte Therapie für hochsensible Menschen anders aussehen
als für andere?
Weil die Unterschiede bereits im Wartezimmer und im Behandlungsraum des Therapeuten beginnen: Sensible Menschen reagieren stark auf ihre Umgebung, und wenn Sie das wissen, können Sie einen Raum leicht so gestalten, dass sie sich darin wohlfühlen. Auch ihre erste Sitzung sieht anders aus – sie werden aufgeregter sein als andere, was leicht falsch interpretiert oder durch Verhaltensweisen verstärkt werden kann, die ihnen eine unnötig leidvolle Erfahrung bescheren.
Im weiteren Verlauf der Therapie werden diese Patienten am meisten profitieren, wenn Sie sie behutsam behandeln und keinen übermäßigen Reizen aussetzen. Niemand lernt gut, wenn er übererregt ist. Und das geschieht bei diesen Patienten viel leichter, deshalb müssen Sie Ihren Stil auf sie einstellen. Sie sind auch empfindlicher gegen Kritik und fühlen sich schnell beschämt. Diese Reaktionen können Sie vermeiden, wenn Sie alles, was Sie vorzubringen haben, behutsamer ausdrücken, als Sie es vielleicht bei anderen täten. Das sind nur einige Beispiele.
Ist das nicht eher eine populäre Idee zur Selbsthilfe?
Das Thema wurde erstmals in meinem für Laien geschriebenen Buch The Highly Sensitive Person angesprochen, das 1996 veröffentlicht wurde (dt. Sind Sie hochsensibel?, 2005), ehe 1997 die ersten empirischen Forschungsarbeiten erschienen. Das Buch stieß auf breites öffentliches Interesse, doch für mich war Hochsensibilität in erster Linie ein Forschungsthema. Ich hatte nie die Absicht gehabt, ein populärwissenschaftliches Buch über Sensibilität oder was auch immer zu schreiben. Aber als ich mit der Forschung begann, arbeitete ich im Rahmen der University of California in Santa Cruz, und es wurde eine Pressemitteilung darüber veröffentlicht, die in der Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung erschien. Obwohl dort nur mein Name angegeben war, hatten mich innerhalb der folgenden beiden Wochen Hunderte von Menschen ausfindig gemacht, riefen mich an oder schrieben mir und wollten Näheres wissen. Ich erklärte mich zu einem Vortrag in der Stadtbücherei bereit, und es kamen so viele, dass sie nur stehend Platz fanden. Anschließend wurde ich vielfach um irgendeine Art von Kurs über das Thema gebeten. Ich hatte keine Ahnung, was ich über das hinaus, was ich bereits in der Bibliothek gesagt hatte, noch lehren sollte. Aber ich sagte zu, dass ich einen kleinen Kurs anbieten würde, und stellte bald fest, dass ich mehr zuhörte als unterrichtete, während einige Dutzend hochsensible Personen sich darüber austauschten, wie sie ihr Leben bewältigten.
Bald hatte ich viele Seiten von Bewältigungsstrategien festgehalten, die ich in drei Folgekursen weitergab. Ich war aber ganz entschieden nicht daran interessiert, fortan beruflich Selbsthilfeseminare abzuhalten, deshalb schien es mir das Beste, das offenkundige Bedürfnis nach einschlägigen Informationen in Form eines Buches zu erfüllen. Das erschien mir fast wie eine ethische Verpflichtung, weil das Interesse so groß und die Forschung dazu noch nicht veröffentlicht war. Als das Buch ein Bestseller wurde, gab es noch viel mehr Möglichkeiten, hochsensible Menschen zu erreichen und ihnen mit The Highly Sensitive Person’s Workbook (1999) und The Highly Sensitive Person in Love (2001; dt. Hochsensibilität in der Liebe, 2006) zu helfen. Dieses Thema ergab sich ganz natürlich daraus, dass mein Mann und ich jahrelang gemeinsam über Anziehungskraft und Nähe geforscht haben. Zuletzt erschien The Highly Sensitive Child (2002, dt. Das hochsensible Kind, 2008). Dieses Buch erschien mir nötig, als ich erkundete, wie eine ungünstige häusliche Umgebung und hohe Sensibilität korrelieren und wie daraus bei Erwachsenen Angst, Depression und Schüchternheit entstehen.
Dass ich der breiten Öffentlichkeit die Informationen zugänglich machte, die sie brauchte, ließ mir wenig Zeit, meine Forschung voranzutreiben oder an Konferenzen teilzunehmen, auf der ich sie hätte diskutieren können. Das wiederum hätte zu weiteren Studien anderer Wissenschaftler geführt, die dann irgendwann die erforderliche kritische Anzahl erreicht hätten, die eine Idee in akademischen Kreisen bekannt macht. So kommt es, dass manche Fachleute Hochsensibilität vielleicht noch immer nicht als ernsthaftes Thema innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie ansehen.
Und was gilt für die Autorin?
Ich bin selbst hochsensibel, und obwohl man meinen könnte, dass das meine Objektivität gefährdet, bedeutet es vielmehr, dass ich diesen Wesenszug von innen her kenne, was mir sehr geholfen hat, weil zur Sensibilität so viel nicht beobachtbares Verhalten gehört. Außerdem habe ich als Psychotherapeutin, die sich nach und nach zur Spezialistin für die Behandlung sensibler Patienten entwickelt hat, viele Tausend Stunden klinische Erfahrung in der Arbeit mit dieser Gruppe erworben. Ebenso viele Stunden habe ich mit Unterricht, Interviews und Beratung für die viel zahlreicheren nicht klinischen hochsensiblen Menschen zugebracht, sodass ich die beiden Gruppen gut vergleichen kann. Ich habe mich bemüht, all dieses Material so objektiv wie möglich auszuwerten, und da ich vom Typ her skeptisch bin, ist es ebenso gut möglich, dass ich dabei übermäßig vorsichtig war.
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Die in diesem Buch vorgestellten Ideen sollten für alle gleichermaßen hilfreich sein, ungeachtet ihrer theoretischen Ausrichtung. Ich habe vermieden, generell einen bestimmten Ansatz zu empfehlen, auch wenn mein eigener Ansatz gelegentlich durchschimmern mag. Die Vorschläge, die ich mache, lassen sich als Hausaufgaben in einer kurzen kognitiven Verhaltenstherapie nutzen oder können zu allmählich gewonnenen Einsichten in einer langfristigen psychodynamischen Therapiearbeit führen. Die Beispiele stammen vor allem von komplizierten Langzeitpatienten, weil ich annehme, dass Sie nicht so viel Anschauungsmaterial für die Arbeit mit Menschen brauchen, die nur eine Beratung wegen ihrer Hochsensibilität benötigen.
Die Fallbeispiele setzen sich jeweils aus mehreren Quellen zusammen (und die Namen sind folglich Pseudonyme). Ich habe mich gefragt, ob diese Lösung wirklich stimmig ist, da bei einer Mischung eine Person herauskommen kann, die es so vielleicht niemals gibt. Aber dieses Problem dürfte sich bei allen klinischen Schilderungen ergeben.
Bitte beachten Sie auch die Anhänge. Zuerst erschien es mir vernünftig, mit der Forschung zu beginnen, aber zugleich fühlte es sich verkehrt an, die Leser zu zwingen, zunächst einmal mehrere Kapitel mit komplexem Stoff zu verdauen, der sie vielleicht gar nicht interessiert. Daher präsentiere ich die Details der Forschung in Anhang C.
Kapitel 2 schien mir nach sorgfältiger Überlegung die Erwähnung der Kategorien im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) der American Psychiatric Association zu erfordern sowie den Hinweis, dass Sensibilität leicht mit verschiedenen Störungen zu verwechseln ist und dass die Sensibilität eines Patienten das Erscheinungsbild mancher Störungen verändern kann. Aber auch dieser Einstieg kam mir recht beschwerlich vor, sodass das entsprechende Material in den Anhang B wanderte.
Terminologie
Die Begriffe „Hochsensibilität“, „Sensibilität“ und „Sensory Processing Sensitivity“ (Hochsensibilität in der Sinnesverarbeitung) werden im folgenden Text ohne Bedeutungsunterschied verwendet. „Sensibler Mensch“ oder „sensible Person“ bezieht sich auf jemanden, der Teil der Gruppe aller hochsensiblen Personen in der Gesamtbevölkerung ist, und „sensibler Patient“ bezieht sich auf jemanden, der zur Untergruppe derjenigen gehört, die Psychotherapie in Anspruch nehmen. Diese Unterscheidung ist wichtig.
Dass ich mich dafür entschieden habe, öfter „Patient“ als „Klient“ zu schreiben, erklärt sich am besten aus den Überlegungen, die Patt Denning im Vorwort zu ihrem Buch Practicing Harm Reduction Psychotherapy (2000 / 2004) angestellt hat:
Wenn ich jemanden als meinen Patienten / meine Patientin bezeichne, dann spüre ich eine andere, weiter reichende Verantwortung in meiner Rolle als Therapeutin. Wenn ich mir bewusst bin, dass dieser Mensch mit Schmerzen und oft mit erheblicher Angst zu mir gekommen ist … gelobe ich mir, mich als Anker und aktive Helferin anzubieten, denn ich erkenne seine Verletzlichkeit und achte sorgfältig darauf, sie nicht zu nutzen, um ihn zu erniedrigen oder Kontrolle über sein Leben zu erlangen. Aus irgendeinem Grund löst das Wort „Klient“ in mir nicht dieses Empfinden von ehrfürchtiger Verantwortung, Respekt und Nähe aus (S. xx-xxi).
Ich möchte meinen Patienten und Patientinnen und den vielen anderen sensiblen Menschen danken, die ich kennengelernt habe. Sie haben mich vieles von dem gelehrt, was Sie in diesem Buch finden. Das ganze Konzept hätte niemals so viele Menschen mit solcher Klarheit und empirischer Validität erreicht, hätte mir nicht mein Mann, Art Aron, mit seiner Hilfe zur Seite gestanden. Mein früherer Lektor Jim Nageotte war ebenfalls sehr hilfreich. Aber der ausschlaggebende Grund dafür, dass Sie dieses Buch lesen, ist George Zimmer bei Routledge. Er war von Anfang an von diesem Projekt begeistert.
Auch andere haben bei der Forschung mit uns zusammengearbeitet, allen voran Kristen Davies, Hal Ersner-Hershfield und Jadzia Jagiellowicz. Wertvolle klinische Vorschläge machten mir Chauncy Irvine, Carole Kennedy, Gary Linker, Ellen Nakhnikian, Ellen Siegelmann und viele andere.
Sehr viel verdanke ich meiner lieben Freundin und Kollegin Jan Kristal, die zu früh starb, um alles weiterzugeben, was sie über Temperamente wusste. Ihr widme ich dieses Buch.
Ich glaube jedoch an die Aristokratie – wenn das das rechte Wort ist und wenn ein Demokrat es benutzen darf. Nicht an eine Aristokratie der Macht … sondern … eine der Sensiblen, der Rücksichtsvollen … Ihre Mitglieder sind in allen Nationen und Gesellschaftsschichten zu finden und auch durch alle Zeitalter hindurch … Wenn sie einander begegnen, herrscht zwischen ihnen ein geheimes Einvernehmen. Sie repräsentieren die wahre menschliche Tradition, den einzigen dauerhaften Sieg unserer sonderbaren Rasse über Grausamkeit und Chaos. Tausende von ihnen gehen unbeachtet dahin, ein paar haben große Namen. Sie sind sich selbst ebenso wie anderen gegenüber sensibel … rücksichtsvoll, aber nicht übertrieben besorgt, ihr Mut zeigt sich nicht in Angeberei, sondern in der Kraft, etwas zu ertragen.
(E. M. Forster, „What I Believe in“, in: Two Cheers for Democracy)
Dieses Kapitel vermittelt Ihnen ein Verständnis für hochsensible Menschen, die nicht unbedingt Patienten sein müssen, ehe es sich denjenigen zuwendet, die Patienten sind. Es bietet Ihnen eine Definition der Hochsensibilität, grenzt sie von Störungen ab, die eine Behandlung erfordern, und vergleicht sie mit anderen gut bekannten Persönlichkeitsmerkmalen. Es enthält eine Liste von Eigenschaften sensibler Menschen und schließlich eine Diskussion der Forschungsarbeiten, die darauf hinweisen, dass sensible Menschen mit einer schwierigen Kindheit tatsächlich anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit sind als andere.
„Ich war schon immer schüchtern.“ „Alle sagen, ich sei viel zu sensibel.“ „Ich verstehe das nicht. Es gibt Leute mit einer viel schlimmeren Kindheit, als ich sie hatte, die trotzdem keine Therapie brauchen.“ Diese Art von Äußerungen hören Therapeuten und Therapeutinnen häufig in der ersten Sitzung mit neuen Patienten und lassen sich dann mehrere Hypothesen für die Gründe dafür durch den Kopf gehen. Ist die Schüchternheit so groß, dass sie als Sozialphobie gelten muss? Ist „zu sensibel“ ein Zeichen für eine Persönlichkeitsstörung? Warum leidet dieser Mensch bei einer solchen Lebensgeschichte so sehr?
Viele Kliniker haben schon das Wort „sensibel“ auf einen Patienten angewandt oder das Wort beiläufig in der Literatur erwähnt gesehen. Zum Beispiel: „Individuen, die durch elterliche Bedürfnisse überstimuliert werden oder die von Haus aus besonders sensibel sind, können sowohl Schmerz als auch Freude intensiv erleben.“ (Perera, 1986, S. 34) Und auf der ersten Seite des ersten Kapitels seines Buches The Inner World of Trauma schrieb Donald Kalsched: „In den meisten Fällen waren diese Patienten außerordentlich intelligente, sensible Personen, die aufgrund eben dieser Sensibilität in der frühen Kindheit ein akutes oder kumulatives emotionales Trauma erlebt hatten.“ (1996, S. 11 f.) Aber diese Autoren lassen sich, wie die meisten Kliniker, nicht darauf ein, den Begriff zu definieren.
Die Begriffe „Hochsensibilität“, „Sensibilität“ und „Sensory Processing Sensitivity“ (Hochsensibilität in der Sinnesverarbeitung) sind Begriffe, mit denen in diesem Buch ein einzelner, angeborener Wesenszug benannt wird, der sich einerseits als Wahrnehmung von Feinheiten bei Reizen ausdrückt und andererseits als Potenzial, von zu starken Reizen überwältigt zu werden (Aron & Aron, 1997; eine umfassende Diskussion dieses Wesenszuges enthält Anhang C). Diese erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit ist keine Eigenschaft der Sinnesorgane, sondern vielmehr des Gehirns, das als Strategie die Eigenheit an den Tag legt, Information besonders gründlich zu verarbeiten. Daher sind die beobachtbaren Verhaltensweisen, die aus dieser Strategie resultieren, sehr vielfältig, wie man am breiten Spektrum der Fragen in der HSP-Skala sehen kann, die in Anhang A abgedruckt ist.
Hochsensibilität findet sich bei etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung (Kagan, 1994; Kristal, 2005). Interessanterweise hat man sie in ungefähr gleichen Prozentsätzen auch bei den meisten Tieren festgestellt, von Taufliegen (Renger, Yao, Sokolowski & Wu, 1999) bis zu Primaten (Suomi, 1987, 1991), obwohl natürlich ihre genetische Form und ihr Ausdruck bei den verschiedenen Arten variieren. Ihre Verteilung ist eher bimodal als normal (Kagan, 1994; Korte, Kohlhaas, Wingfield & McEwen, 2005); d. h., Individuen tendieren dazu, dieses Merkmal aufzuweisen oder eben nicht. Es gibt nicht viele in der Mitte.
Biologen sprechen heute von zwei generellen Strategien bei Tieren, aus denen zwei angeborene Persönlichkeitstypen hervorgehen, für die unterschiedliche Benennungen verwendet werden, wie etwa mutig versus schüchtern (Wilson et al., 1993), Falke versus Taube (Korte et al., 2005) oder reaktionsbereit (responsive) versus nicht reaktionsbereit (unresponsive) (Wolf et al., 2008). Die jeweils Erstgenannten stellen im Allgemeinen die Mehrheit. Ihre Strategie besteht darin, sich bei Bedarf schnell und kraftvoll auf mögliche Nahrungsquellen und Partner zuzubewegen, ohne die Situation vorher lange zu beobachten. Im Vergleich zu den impulsiveren oder kühneren 80 Prozent hat die sensible Minderheit eine Überlebensstrategie entwickelt, bei der sie Risiken vermeidet, indem sie aufmerksam die Feinheiten einer Situation beobachtet, ehe sie handelt. Beide Strategien – „erst denken“ und „sofort handeln“ – können erfolgreich sein, je nach den Bedingungen der Umgebung.
Beim Menschen wurde die sensiblere Strategie, erst die Umgebung zu sondieren und sich um die Details von Stimuli zu kümmern, mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie beobachtet (fMRT, Jagiellowicz, Xu et al., 2011) und allgemeiner beim Denken und Fühlen vor und während eines Verhaltens. Diese Strategie ermöglicht eine stärkere Wahrnehmung von Feinheiten und Konsequenzen. Das wiederum führt beispielsweise zu einem hohen Maß an Kreativität und Gewissenhaftigkeit. Auf der negativen Seite erzeugt diese umfangreiche Verarbeitung ein größeres Potenzial für Überstimulation und Belastung durch Lebensereignisse, die Stress mit sich bringen.
Was das Geschlecht angeht, so werden ebenso viele Männer wie Frauen hochsensibel geboren (Buss, 1989; Rothbart, 1989), und obwohl bei Männern vielleicht später das Testosteron eine gewisse Rolle spielt, erleben sie Sensibilität weitgehend unterschiedlich, je nach der Kultur, in der sie leben. Missbilligt die Kultur Sensibilität bei Männern, lernen sie im Allgemeinen, ihre Sensibilität zu verstecken, um mehr wie ein typischer Mann zu wirken. Auf der HSP-Skala (Anhang A) erreichen sie oft etwas niedrigere Werte, obwohl geschlechtsspezifische Punkte aus der Skala entfernt wurden. So enthielt die Skala z. B. ursprünglich die Frage, ob man leicht weine, die viele Befragte bejahten, Männer jedoch wesentlich seltener. Sensible Männer sagten sogar mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit als andere, dass sie leicht weinen. Aber die Eliminierung solcher Punkte hat das Gesamtbild für die Geschlechter auf der Skala nicht verändert, nämlich dass die Männer niedrigere Werte erreichten, vermutlich aufgrund ihres Gesamteindrucks von der Skala. Bei sensiblen Männern geht es definitiv um andere Dinge als bei sensiblen Frauen, und insgesamt haben sie wahrscheinlich größere Probleme. Die für beide Geschlechter jeweils relevanten Themen werden ausführlicher in Kapitel 5 behandelt.
Fazit: Hochsensibilität ist ein angeborenes Wesensmerkmal, das sich bei 20 Prozent aller Menschen und auch der meisten Tiere findet. Sie scheint das Ergebnis einer Strategie zu sein, Information sorgfältig auszuwerten, ehe man handelt, und führt zur Wahrnehmung von Feinheiten, aber auch leicht zur Überreizung. Es gibt ebenso viele sensible Männer wie Frauen, aber die Männer verbergen dieses Merkmal eher und haben normalerweise auch mehr Schwierigkeiten damit.
Hochsensibilität ist eine normale Variante von angeborenem Temperament. Sie kommt häufig vor und bringt viele Vorzüge mit sich. Sie ist keine diagnostische Kategorie. Vielmehr verhält sie sich orthogonal zu psychischen Störungen. Manche sensible Menschen haben diagnostizierbare Störungen, ebenso wie manche nichtsensible Menschen, die meisten jedoch nicht, ebenso wie die meisten nichtsensiblen Menschen.
Man hat jedoch festgestellt, dass Hochsensible anfälliger für Depression, Angst und Schüchternheit sind, wenn sie eine schwierige Kindheit hatten. Bei einer ausreichend guten Kindheit gibt es jedoch nicht mehr Hinweise auf eine solche Anfälligkeit als bei nichtsensiblen Menschen (Aron et al., 2005; Liss et al., 2005). Wie bereits im Vorwort erwähnt, profitieren sensible Kinder anscheinend sogar mehr als andere von einer guten Kindheit (Besprechungen der wachsenden Literatur darüber finden sich in Belsky et al., 2009; Boyce & Ellis, 2005). Dennoch haben viele in unterschiedlichem Maße Beeinträchtigungen, besonders Stimmungsschwankungen und Angststörungen.
Andererseits gibt es auch hochsensible Menschen, die keine Störung aufweisen, bei denen man jedoch eine diagnostiziert hat; andere haben eine Störung, jedoch wurde die falsche Diagnose gestellt. (Es werden auch einige wenige Patienten zu Ihnen kommen, die glauben, sie seien hochsensibel, weil sie davon gelesen haben, es aber wahrscheinlich nicht sind, sondern eine Störung haben.) Spezifische DSM-Diagnosen, die man mit Sensibilität verwechseln kann, werden in Anhang B besprochen. Ein Beispiel sind Störungsbilder des autistischen Spektrums. Manchmal wird behauptet, das hier diskutierte Merkmal trete in diesem Spektrum häufig auf. Die Kriterien für eine autistische Störung wie das Asperger-Syndrom überschneiden sich jedoch nicht mit der Hochsensibilität, wie sie hier definiert wird und die bei 20 Prozent der Bevölkerung zu finden ist. Viele autistische Menschen leiden unter allzu starker Stimulation durch spezifische Reize, können jedoch von anderen Reizquellen unbeeindruckt bleiben, besonders von sozialen Stimuli. Im Gegensatz dazu können sensible Menschen ein hohes Maß an Stimulation tolerieren, ohne völlig verwirrt oder gewalttätig zu werden, und sie nutzen bei zunehmender Reife immer wirksamere Methoden, um die Stimulation zu dämpfen. Außerdem ist die Sensibilität bei Autismus auf eine gestörte Umsetzung von Sinneswahrnehmungen zurückzuführen, nicht auf eine Verarbeitung bis in tiefere Schichten. Sensible Menschen beharren nicht in derselben Weise auf etwas wie Autisten, und sie legen ein hohes Maß an Empathie sowie angemessene bis ausgezeichnete soziale Fähigkeiten an den Tag, besonders in einem vertrauten Umfeld.
Probleme bei der Integration von Sinneswahrnehmungen werden ebenfalls mit Hochsensibilität verwechselt. Aber von einer Sinneswahrnehmungsstörung spricht man bei spezifischen leichten neurologischen Problemen, die normalerweise gut auf Behandlung ansprechen. Manche sensible Menschen (und auch die meisten Leute mit einer sitzenden Lebensweise, ganz gleich, welches Temperament sie haben) können von solchen Behandlungen profitieren. Diese werden jedoch nicht die weiter unten aufgeführten Merkmale beseitigen.
Eine Krankheit ist etwas, das man gerne loswerden oder auskurieren möchte. Zwar kann sich das Leben von sensiblen Menschen bessern, wenn sie um ihr Wesensmerkmal wissen, und sie können lernen, sich entsprechend zu verhalten, aber keine Behandlung wird eine angeborene Hochsensibilität beseitigen, und es gibt auch keinen Grund dafür, das überhaupt zu wollen, wenn man ihre Vorzüge in manchen Kontexten bedenkt.
Fazit: Hochsensibilität im hier gemeinten und dargestellten Sinne ist keine Störung.
Besser kann man sich dieses Merkmal als weitverbreiteten individuellen Unterschied vorstellen, ganz ähnlich wie das Geschlecht, der aber nur bei einer Minderheit zu finden ist, ähnlich wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie. Da viele Menschen jede Frage der HSP-Skala mit Ja beantworten (s. Anhang A), viele andere jedoch alle Fragen mit Nein beantworten, kann man durchaus die Meinung vertreten, dieser Unterschied sei in seiner Auswirkung ein mindestens ebenso einflussreicher Faktor wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit. Außerdem ist dieser Unterschied weitgehend unsichtbar, und das schafft einzigartige soziale Schwierigkeiten für die davon betroffenen Menschen (Frable, 1993).
Wie auch bei Geschlecht und Ethnie gehen mit hoher Sensibilität spezifische Probleme einher, von denen manche auf diesem Merkmal selbst beruhen, wie die Neigung, schnell übererregt zu reagieren, während andere der Kultur geschuldet sind, in der sie auftritt. So sind beispielsweise in China Grundschulkinder mit diesem Merkmal bei Gleichaltrigen beliebt, in Kanada hingegen nicht (Chen, Rubin & Sun, 1992). So können, abhängig von der Kultur, sensible Menschen ein hohes oder ein niedriges Selbstwertgefühl haben.
Es gibt auch Störungen, die nichts mit Sensibilität selbst zu tun haben, die jedoch durch dieses Merkmal eine eigene Färbung bekommen. Beispielsweise können Hochsensible, die unter Panikanfällen leiden, relativ leicht eine Besserung erzielen, sobald sie die Rolle der Überstimulation bei ihren Symptomen verstanden haben, während sich Panikattacken bei Nichtsensiblen weniger leicht auf diese Weise lösen lassen.
Fazit: Dieses Merkmal wirkt sich als individueller Unterschied aus, ähnlich wie das Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit.
Die HSP-Skala weist Überschneidungen mit dem Maß an Introversion auf, ist aber nicht mit Introversion identisch (s. Aron & Aron, 1997 und Anhang B), denn rund 30 Prozent der Hochsensiblen sind extravertiert. Diese Zahl hängt davon ab, welche Messung für Introversion angewendet wird (die Korrelationen variieren von .12 bis .52, Aron & Aron, 1997), da diese Messungen untereinander nicht gut korrelieren.
Die Korrelation mit Neurotizismus ist im Allgemeinen höher. Ein Grund dafür ist wiederum, dass sehr sensible Menschen mit einer schwierigen Kindheit leichter depressiv, ängstlich und schüchtern werden – also mehr negative Affekte haben (was die allgemeine Definition von Neurotizismus als Persönlichkeitsmerkmal ist) – verglichen mit nichtsensiblen Menschen mit demselben Ausmaß von Kindheitsproblemen und Traumata. Bei jeder Zufallsstichprobe von Hochsensiblen haben manche eine schwierige Kindheit gehabt und sie heben den Durchschnitt des Neurotizismuswertes für die ganze Untergruppe der Hochsensiblen an, wenn das Kindheitsumfeld nicht statistisch kontrolliert wird.
Für Schüchternheit zeigt sich dasselbe Muster, sie tritt aber nur auf, wenn auch viele negative Affekte vorliegen (Aron et al., 2005). Das heißt, sensible Menschen sind eher schüchtern, wenn sie eine schwierige Kindheit hatten und wenn diese zu einem hohen Maß von negativen Affekten geführt hat. Nicht jede schwierige Kindheit führt bei Hochsensiblen zu negativen Affekten. Schüchternheit und negative Affektlage sind das Ergebnis unglücklicher Erfahrungen, nicht des Merkmals selbst.
Fazit: Hochsensibilität ist nicht dasselbe wie Introversion, Neurotizismus oder Schüchternheit.
Die gründlichere Reizverarbeitung, die alle Hochsensiblen gemeinsam haben, führt zu den unten aufgeführten Eigenschaften. Wo nicht anders angegeben, beruht diese Liste auf Daten, die von mir oder anderen veröffentlicht wurden, und in einigen Fällen auf meiner umfangreichen Erfahrung, die ich in der klinischen Arbeit oder bei Interviews für die Forschung gesammelt habe. Kein sensibler Mensch wird alle diese Eigenschaften besitzen, sollte jedoch viele davon in breiter Streuung aufweisen, statt nur einige wenige davon zu haben (wie eine Vorliebe für die Beobachterposition oder Gewissenhaftigkeit), die auch andere Gründe haben könnten als einen grundlegenden genetischen Unterschied.
Ein Grund dafür, dass es so interessant und anspruchsvoll ist, mit sensiblen Patienten zu arbeiten, und dass man bei ihnen so leicht Fehldiagnosen stellt, ist die Tatsache, dass alle sensiblen Menschen zwar normal, aber intensiver auf eine Situation reagieren, die Gefühle weckt. Dieser Punkt wird auf dem Fragebogen nicht direkt angesprochen, unter anderem, um einen geschlechtsbezogenen Verzerrungseffekt zu vermeiden.