Teufelstaumel

 

 

 

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Band 64

 

Teufelstaumel

 

von Logan Dee und Oliver Fröhlich

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte.

Nach vielen Irrungen hat Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi angenommen. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und niemand ahnt von den Schwierigkeiten, die sie quälen und die es ihr fast unmöglich machen, die Kräfte der Höllenplagen-Dämonen einzusetzen, die sie sich am Höhepunkt ihres perfiden Plans einverleibt hat. Dorian Hunters Trick scheint ihr mehr zuzusetzen, als sie es zunächst für möglich hielt … und der Dämonenkiller ahnt nicht einmal, welcher Schlag ihm gegen den angeblichen Asmodi gelungen ist, dessen Wiedererstarken er sich nicht erklären kann.

Olivaro, der ehemalige Januskopf, schickt Hunter auf die Spur eines geheimnisvollen Geschehens auf den Scilly-Inseln, einer kleinen vorgelagerten Inselgruppe. Gleichzeitig fällt Coco Zamis in einen magischen komatösen Zustand – wenn Dorian ihr helfen will, so Olivaro, dann auf den Scilly-Inseln.

Heimlich weist Olivaro jedoch auch Lucinda Kranich alias Asmodi die Spur dorthin. Dort könne auch ihr geholfen werden. Weiß der alte Intrigant wieder einmal mehr als alle anderen?

Dorian entdeckt Hinweise auf eine versunkene Insel, die noch vor zweihundert Jahren zu den Scillys gehörte, an die sich seltsamerweise aber niemand mehr erinnern kann; nur noch Legenden sprechen davon. Vom Keller eines Sanatoriums für Geistesgestörte aus gibt es einen unterirdischen Tunnelzugang zu dieser Insel, doch noch ehe der Dämonenkiller ihn betreten kann, erobert die Kranich ihn im Sturm.

In einem U-Boot, das von der russischen Kapitänin Darja Kusnezow gesteuert wird, versucht er einen anderen Zugang zu finden, doch sie werden Opfer einer dämonischen Attacke. Überraschenderweise taucht das völlig lädierte U-Boot in letzter Sekunde unter Wasser in einer riesigen Höhle auf. An Bord haben nur drei Personen überlebt: Dorian selbst, die Kapitänin und der Freak Professor Harrison, der die Klinik leitete und von dort aus stets »Nachschub an Wahnsinnigen« über den Tunnel zur Insel schickte. Warum, bleibt unbekannt. Der Freak erkennt in Dorian seinen »Meister« … auch das nach wie vor aus ungeklärten Gründen.

 

 

 

 

Erstes Buch: Teufelstaumel

 

 

Teufelstaumel

 

von Logan Dee

 

1. Kapitel

 

Tief duckte sich Lucinda Kranich hinter der Mauer zum Garten, damit man sie nicht vorzeitig entdeckte.

Insgeheim fühlte sie sich einfach nur erbärmlich.

Alles, aber auch wirklich alles hatte sie gegen diesen verfluchten Hunter ins Gefecht geworfen, um ihn endlich los zu werden. Und mit welchem Erfolg? Sie hatte etliche ihrer Getreuen verloren. Dutzende! Hunderte und Tausende, wenn man die winzigen Erdwürmer dazurechnete, die der Dämonenkiller massakriert hatte.

Und nicht nur das: Ihre Feinde waren tatsächlich entkommen!

Aber das Schlimmste war: Dieses ewige Teleportieren und der Zwang, in der Gestalt Asmodis aufzutreten, ließ ihre Kräfte schneller schwinden, als sie befürchtet hatte. Sie brauchte unbedingt eine Erholungspause. Aber einen Joker wollte sie zuvor noch ausspielen.

Aus dem windschiefen Bruchsteinhaus kam in diesem Moment ein junger Mann herausgestampft.

Wieso nur einer? Es waren doch zwei hineingegangen?

Als der Mann, ein etwa zwanzigjähriger Fischer mit schwarzen Haaren, gutmütigem Gesicht und muskulösen Oberarmen, an ihr vorbeiging, trat sie rasch aus ihrem Versteck. Der Mann schrak zusammen. In seiner Hand hielt er etwas Längliches. Schnell versuchte er, es vor ihren Blicken zu verbergen, als handelte es sich um etwas Unanständiges.

»Was hast du da?«, fragte Lucinda. »Zeig es her! Sofort!«

Der Jüngling zog die Stirn in Falten. »Kennen wir uns …?«

»Nein, aber du wirst mich bald kennenlernen«, versprach sie. Sie mochte fast am Ende ihrer Kräfte sein, aber ein normaler Mensch – wenn er nicht gerade Dorian Hunter hieß – war noch lange kein ebenbürtiger Gegner für sie. Ehe er über eine Antwort auch nur nachdenken konnte, fing sie seinen Blick und brachte seinen Geist unter ihre Kontrolle.

»Her damit!«, befahl sie und entriss ihm seinen Schatz. Es handelte sich um eine mit Knoten versehene Kordelschnur. »Was ist das für ein Zeug?«, schnauzte sie den Fischer an.

»Die Kette garantiert mir guten Wind. Meine alte Schnur war aufgebraucht.«

Lucinda wog die Kette in den Händen. Tatsächlich ging eine vage magische Ausstrahlung von ihr aus.

»Immer wenn Windflaute ist, löse ich einen Knoten, und entsprechender Wind kommt auf«, behauptete der Mann, während er sie mit leerem Blick anstierte.

»So, so, sehr schön. Und was treibt dein Freund noch dort drinnen?«

»Er ist auch Fischer, und er hat ebenfalls eine Windkette gekauft.«

»Wartet er noch auf Wechselgeld oder was?« Allmählich verlor sie die Geduld.

»Nein, er ist noch dabei, seinen Lohn zu entrichten.«

Was immer das heißen mochte. Verkaufte er den beiden Wetterhexen etwa seine Seele?

»Verschwinde!«, befahl sie ihrem Opfer. »Du hast mich nie gesehen, verstanden?«

Der junge Mann nickte apathisch und ging mit steifen Schritten davon.

Lucinda schlich näher an das Haus heran. Durch ein Fenster konnte sie in das Innere der kleinen Wohnstube blicken. Was sie sah, ließ sie den Kopf schütteln. Die beiden Schwestern, alte hässliche Vetteln, waren völlig nackt. Ebenso wie ihr Opfer. Der muskulöse Mann auf dem Bett mühte sich redlich und die Weiber nahmen seine Liebesdienste in Anspruch: Es war ein bizarrer Anblick. Doch noch während Lucinda überlegte, wie sie die Angelegenheit am besten angehen sollte, verwandelten sich die Wetterhexen. Die schlaffe Haut wurde straffer, die herunterbaumelnden Brüste nahmen volle Formen an, die grauen, spärlichen Haare waren mit einem Mal füllig und glänzend. Die eine Hexe, von der Lucinda wusste, dass sie Elisabeth hieß, war nun blond, die andere, Mary, rothaarig. Der junge Mann, den Tätowierungen nach offensichtlich ebenfalls ein Fischer, stöhnte – aber längst nicht mehr vor Lust, sondern vor Schmerz und Anstrengung.

Endlich ließen die beiden Hexen von ihm ab. Er war um Jahre gealtert. Sein Haar war nun eisengrau, die Augen blickten stumpf – er hatte noch nicht bemerkt, was mit ihm geschehen war. Die Weibsstücke hatten ihn offensichtlich hypnotisiert.

Sie kicherten, während sie ihm seine Kleidung in die Hand drückten und ihn hinausjagten. Apathisch ging der Fischer an Lucinda vorüber.

»Und beehre uns bald wieder!«, rief ihm die rothaarige Mary hinterher. »So einen guten Stecher wie dich hatten wir lange nicht bei uns zu Gast!«

Bevor sie die Tür schließen konnte, trat die Kranich blitzschnell aus ihrem Versteck hervor.

»Auf ein Wort, liebste Schwester!«

Die Hexe war zu überrascht, um sofort reagieren zu können. Lucinda gab ihr einen Schubs, sodass sie zurück ins Haus wankte. Sie selbst trat ebenfalls ein und schloss die Tür hinter sich. »Wir wollen doch nicht, dass jemand unsere Unterredung mitbekommt, oder?«, fragte sie süffisant.

»Wer sind Sie?«, keifte Mary, während nun auch Elisabeth auftauchte und Lucinda giftig anfunkelte. Die Hexen waren noch immer nackt. Sie sahen nun jung und knackig aus, aber Lucinda ließ sich nicht täuschen. Die Wetterhexen hausten schon seit Jahrhunderten auf St. Martins – und waren dementsprechend erfahren und gefährlich.

»Asmodi schickt mich«, bluffte Lucinda. »Er hat einen Auftrag für euch.«

Die beiden Frauen sahen sich an, dann sagte Mary: »So, so, der Fürst der Finsternis sendet eine alte Vettel wie dich, um uns um einen Gefallen zu bitten?« Sie lachte laut, und Elisabeth fiel darin ein. »Wenn du Asmodis Gesandte bist, dann sind wir die Hexen aus Macbeth!«

Die Schwestern brachen wieder in Gekicher aus.

»Schluss jetzt!«, befahl Lucinda. Zu gern hätte sie sich den beiden als Asmodi präsentiert, aber dazu war sie im Moment nicht in der Lage. Dennoch dürften ihre Kräfte reichen, um sich den nötigen Respekt zu verschaffen.

Mary war die Erste, die plötzlich aufschrie. Aus dem Nichts war eine glühende Eisenstange vor ihr aufgetaucht. Sie schwebte in der Luft, verharrte einen Augenblick, und schnellte dann wie ein Pfeil auf die Hexe zu. Mary sprang blitzschnell zur Seite, sodass die Stange sie nur streifte. Dennoch roch es nach verbranntem Fleisch.

»So geht man mit euresgleichen um!«, höhnte Lucinda. Abermals raste die Eisenstange auf Mary zu. Diesmal war sie nicht schnell genug. Er bohrte sich in ihre linke Hüfte.

»Das wirst du büßen!« Es war Elisabeth, die diesen Fluch ausstieß. Sie stürzte sich geifernd auf ihre Besucherin, doch diese reagierte augenblicklich. Ein eiserner Käfig senkte sich über die Angreiferin und brachte sie zu Fall. Mary war gefangen. Sie fauchte und spuckte, als Lucinda näherkam und die Hexe seelenruhig betrachtete. »Wollt ihr mir jetzt endlich zuhören?«, fragte sie mit eisiger Stimme.

»Erst wenn du meine Schwester von ihren Schmerzen befreist!«, verlangte Mary.

Elisabeth schrie buchstäblich wie am Spieß. Die glühende Stange hatte sich mittlerweile noch tiefer in ihre Eingeweide gebohrt.

Lucinda schnippte mit den Fingern, und die Eisenstange war verschwunden. Aufseufzend fiel Elisabeth zu Boden. »Sie wird sich rasch erholen! Sofern ihr mir einen kleinen Gefallen erweist, habt ihr verstanden, ihr nichtsnutzigen Krähen?«

Mary hatte sich innerhalb des Käfigs wieder erhoben: »Mir ist es egal, ob du Asmodis Abgesandte bist oder nicht – auf jeden Fall verfügst du über mächtigere Kräfte als wir. Wir werden tun, was du von uns verlangst – allerdings sollte auch für uns dabei etwas herausspringen.«

Im Innern kochte Lucinda. An dieser Hexenbrut waren schlimmere Krämer verloren gegangen, als ihr je untergekommen waren.

»Immerhin gehört dann er da euch.« Sie ließ eine Version Dorian Hunters in der Luft entstehen.

»Hm, nicht gerade ein Adonis. Obwohl, er scheint recht kräftig gebaut …«

Lucinda schnaubte. »Ihr müsst schon mit dem vorlieb nehmen, was ich euch biete! Ansonsten lasse ich dich im Käfig schmoren – und deine Schwester in der Hölle!«

»Nein, nein!«, ließ sich nun auch Elisabeth mit butterweicher Stimme vernehmen. »Wir werden tun, was du willst!«

»Es ist nicht viel, was ich wünsche. Im Gegenteil, es entspricht ganz eurer Natur. Ihr müsst einfach eine schöne Sturmflut entfachen und sie an eine bestimmte Stelle leiten. Als Wetterhexen wird euch das keine großen Schwierigkeiten bereiten. Und wenn das nicht hilft, wird euch sicher noch mehr einfallen. Am besten schaut ihr euch vor Ort einmal um.«

»In der Tat, das Heraufbeschwören von Unwettern und Stürmen ist unsere Profession. Sturmfluten und Orkane zu entfachen, gehört zu unseren einfachsten Übungen.«

»Dann beweist es mir!«, verlangte Lucinda.

 

Gegenwart

Automatisch griff ich nach der Zigarettenschachtel. Sie war völlig durchnässt. Fluchend zerknüllte ich sie und warf sie zu Boden, während meine Lungen weiterhin nach einer Players lechzten.

»Verlieren Sie immer so leicht die Nerven, Mr. Hunter?«, erkundigte sich Darja Andrejewna Kusnezow mit einem süffisanten Lächeln und holte ihrerseits eine schmale Blechschachtel aus ihrem Arbeitsanzug hervor. »Eine Jin Ling

Ich nickte, während ich wie ein Verdurstender nach der russischen Zigarette griff. Kapitän Kusnezow hatte natürlich auch Feuer. Sie entzündete ein Streichholz und hielt es mir hin.

»Wasserresistent«, betonte sie. Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, sich eine Zigarette zwischen die vollen, sinnlich geschwungenen Lippen zu stecken und dabei gleichzeitig das Streichholz so zu halten, dass es nicht ausging und sie sich ebenfalls noch Feuer geben konnte.

Sie nahm einen tiefen Lungenzug und lächelte mich an.

»Ich hoffe, Ihr Freund ist wirklich sehr reich – oder sehr gut versichert«, sagte sie dann, während sie einen Rauchkringel in die Luft stieß. Ihre glutvollen dunklen Augen blickten kalt wie Eisseen. Sie meinte es ernst.

So ernst, dass ich mir sogar einen Augenblick lang Zeit nahm, die Verluste zu bilanzieren:

Wir hatten ein U-Boot buchstäblich in den Sand gesetzt, die gesamte Mannschaft verloren und mit Chloe Davies, der wahnsinnig gewordenen Ärztin, eines unserer wirkungsvollsten Schutzschilde gegen Dämonen jeder Art eingebüßt.

Denn Dämonen hassen Irrsinnige wie die Pest.

»Nun?« Die Kusnezow riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm einen weiteren tiefen Zug, während ich die Kommandantin betrachtete und mir Zeit für die Antwort nahm. Darja Andrejewna Kusnezow sah verteufelt gut aus. Ihr Anzug war durchnässt und modellierte die Kurven ihres atemberaubenden Körpers. Ihr rassiges Gesicht glühte noch immer. Die Kämpfe, die hinter uns lagen, hatten sie kein bisschen entmutigt. Im Gegenteil, mir kam es so vor, als würde sie nicht das erste Mal so tief in der Scheiße sitzen – und trotzdem wissen, dass sie aus eigener Kraft wieder daraus hervorkommen konnte.

Und dass, obwohl sie wahrscheinlich zum ersten Mal mit Dämonen konfrontiert worden war.

Ihre Selbstsicherheit war größer als meine. Aber auch nur, weil ich wusste, wie stark unsere Gegner waren.

Groß und schlank, wie die Kommandantin war, hätte diese Frau ebenso gut an die Côte d'Azur oder auf einen Laufsteg gepasst. Im Augenblick aber trug sie das schwarze Haar zu einem einfachen Zopf gebunden. Ein dunkelblauer Arbeitsanzug mit vielen Taschen verdeckte ihre Kurven und ließ die Schönheit, die sich darunter verbarg, nur erahnen. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein, hatte aber das Doppelte an Erfahrung hinter sich.

»Sie denken nur ans Geld, oder?«, fragte ich. »Machen Sie sich keine Gedanken, was uns da angegriffen hat?«

»Wenn Sie auf gewisse anatomische Besonderheiten unserer Gegner anspielen – letztlich waren sie nicht erfolgreicher als einige gut gesetzte Torpedos«, erwiderte die Russin. »Also?«

»Also was?«

»Wird Ihr Freund dafür aufkommen können oder nicht?«

Ich atmete einmal tief durch. Entweder floss Wodka oder Eiswasser in ihren Adern. Zumindest, was ihre Frage betraf, so konnte ich sie beruhigen: »Jeff Parker ist Milliardär. Und im Gegensatz zu den Milliardären in Ihrer Heimat sitzt er nicht hinter Gittern. Und ja, er wird für alle Schäden geradestehen und gewiss auch für die Witwen und Hinterbliebenen sorgen …«

Sie nickte. »Dann ist es gut. Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Unsere Wege trennen sich ab hier. Es hat mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Hunter.« Sie wandte sich um und war im Begriff, zu ihrem gestrandeten U-Boot zurückzugehen.

Ich war zu verblüfft, um sofort zu antworten.

Streng genommen hatte sie sogar recht. Aber nur, wenn man sich auf ihre Logik einließ. Ich hatte nämlich keine Ahnung, ob Jeff Parker wirklich die Rückreise für uns gebucht hatte. Vielleicht war diese gar nicht im Preis inbegriffen.

Es schien nichts zu geben, was Darja Andrejewna Kusnezow aus der Fassung bringen konnte. Es sei denn, man konfrontierte sie mit der Tatsache, dass sie auf eine Menge Geld verzichten musste. »Wenn Sie uns jetzt im Stich lassen, ist unser Vertrag hinfällig«, warnte ich sie.

Sie drehte sich abrupt um. »Was wollen Sie damit andeuten, Mr. Hunter?«, fragte sie mit eiskalter Stimme. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Mr. Parker hat mir versichert, dass sein Kontrakt mit Ihnen den Hin- und Rückweg mit einschließt«, bluffte ich.

»Davon weiß ich nichts!«

»Seien Sie nicht albern«, redete ich auf sie ein. »Ihr U-Boot ist Schrott, wir befinden uns in einer Höhle tief unter dem Meeresspiegel, und irgendwo dort draußen warten auf uns weitere dieser Fischdämonen, die bereits Ihre gesamte Mannschaft auf dem Gewissen haben. Wenn überhaupt, dann haben wir nur gemeinsam eine Chance, uns aus dieser Lage zu befreien.«

Sie überlegte ein, zwei Sekunden, dann nickte sie. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie schließlich. »Möglicherweise kann ich Ihre Hilfe doch noch gebrauchen. Aber zunächst muss ich mich um mein Schiff kümmern und feststellen, welche Schäden es genau davongetragen hat.«

Und damit drehte sie sich abermals um und begab sich zu dem U-Boot.

Sie humpelte leicht, und in diesem Moment wusste ich, dass ihre Härte nur gespielt war. Zumindest, seitdem wir hier gestrandet waren. Selbst für sie musste es eine Extremsituation bedeuten. Sie hatte erstmals mit dämonischen Kreaturen zu tun gehabt, hatte ihre Mannschaft verloren, und ihr U-Boot war demoliert … und sie war unter Wasser aufgetaucht …

Und wieder begann ich mich zu erinnern.

Es war, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer eine Mauer zum Einstürzen bringen. Mehr und mehr Bilder, Fetzen von Erinnerungen, Sequenzen von Gefühlen, Gerüchen und Gedanken strömten schubweise auf mich ein, seitdem wir die magische Sperre durchbrochen und in dieser unterirdischen Höhle gestrandet waren.

»Meister, was ist mit Euch?«, vernahm ich Harrisons besorgte Stimme.

Der Freak kam herangehüpft. Im normalen Leben war er Professor und Leiter der Irrenanstalt auf St. Martins. Die meisten Menschen bekamen ihn nur hinter seinem Schreibtisch sitzend zu sehen. Dort gab er eine imposante Figur ab. Mit seinem kantigen, ausdrucksvollen Gesicht, dem Schatten eines Barts auf den grauen Wangen, dem dunklen Haar und den durchdringenden braunen Augen konnte er durchaus beeindrucken. Ebenso mit den breiten Schultern und dem kräftigen Oberkörper.

Dies alles verschleierte, dass Harrison ein Freak war. Seine verkrüppelten Beine passten besser zu einem Zweijährigen, als zu einem erwachsenen Mann. Seine Arme reichten bis zum Boden, und um schneller voranzukommen und seine Trippelschritte auszugleichen, nahm er die Hände beim Laufen dazu. Fast sah es so aus, als zöge er sich über den Fußboden.

Aus irgendeinem Grunde, den ich noch nicht durchschaute, glaubte Harrison in mir seinen verschollenen Meister zu erkennen – und er tat alles, um mich zu beschützen.

»Ich glaube, ich beginne mich zu erinnern«, erklärte ich ihm.

Die Besorgnis verschwand aus seinem Gesicht und machte einem strahlenden Lächeln Platz. »Aber das ist ja großartig, Meister! Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass wir uns hinter der magischen Barriere befinden. Wir haben es geschafft!«

Ich konnte seine Euphorie nicht teilen. Ich wankte leicht, und sofort war er an meiner Seite und stützte mich. »Setzt Euch!«, riet er. »Lasst die Gedanken in Euch zur Entfaltung kommen …«

Der harte Felsboden brachte mich wieder zur Besinnung. Ich versuchte, gegen die Erinnerungen anzukämpfen. Sie waren nicht gut. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Jeden Augenblick konnten weitere Angriffe erfolgen.

In diesem Moment hätte ich mir Allessandro an meiner Seite gewünscht. Aber der Secret-Service-Agent hatte ebenso wie Chloe unsere Fahrt hierher mit dem Leben bezahlen müssen.

Zu dem Vorschlaghammer gesellte sich ein Pressluftbohrer. So als ob nun von zwei verschiedenen Seiten jemand dabei war, die Mauer zum Einsturz zu bringen. Mein Kopf drohte zu platzen.

Und wieder die Erinnerungen …

Sie ergaben keinen Sinn. Wie Puzzlestücke, die einfach nicht zusammenpassten.

Ein Schrei durchstieß meine Gedanken. Ich sah hoch und erkannte, dass Darja Kusnezow ihn ausgestoßen hatte. Ihr hatte sich eine riesige Gestalt in den Weg gestellt. Es handelte sich um einen Werwolf. Wahrscheinlich hatte er sich bis jetzt hinter einem der Felsen versteckt. Irgendetwas stimmte mit dem Burschen nicht …

Er sprang auf die Kommandantin zu, aber es wirkte eher wie ein Tapsen. Die Russin überwand ihren Schreck. Sie zog die Pistole und leerte das ganze Magazin in den Leib ihres Angreifers.

Der Werwolf taumelte. Mit den Pranken versuchte er die Kugeln abzuhalten. Er sah aus wie King Kong, der auf der Spitze des Empire State Buildings nach den heranjagenden Flugzeugen fischt.

Mühsam erhob ich mich, um der Kusnezow beizustehen. Die Bestie erholte sich schnell. Nur Silberkugeln konnten ihr ernsthaft etwas anhaben.

Ich zog die Beretta, kam aber nicht zum Schuss, weil ich Angst hatte, ich würde die Russin treffen. Diese fluchte und warf dem Angreifer die nutzlose Pistole entgegen.

»Ducken Sie sich!«, schrie ich und lief vorwärts.

Im gleichen Moment hetzte der Werwolf los. Die Kommandantin ging blitzschnell in die Knie und rollte sich zur Seite. Die Bestie sprang ins Leere. Jetzt war ich ihr nächster Gegner.

Ein Fauchen drang aus dem Rachen des Monsters. Ich hob den Arm, um zu schießen, doch ich hatte das Gefühl, als würden Bleigewichte an ihm hängen.

Es kam mir wie in Zeitlupe vor. Ich sah, wie der Werwolf erneut zum Sprung ansetzte. Auch er war langsam. Er schien bereits jetzt mit seinen Kräften ziemlich am Ende. Aber ich war noch langsamer …

»Meister. Vorsicht!«, schrie Harrison.

Seine Warnung war nutzlos. Ich sah den riesigen Körper des Werwolfs auf mich zukommen. Im letzten Moment drehte ich mich zur Seite. Ein Prankenhieb streifte meinen Arm und ritzte die Haut auf. Zum Glück keine ernsthafte Verletzung!

Das Monster gab ein enttäuschtes Seufzen von sich.

Ich wandte mich um. Erneut war ich viel zu langsam und träge. Das Untier setzte schon wieder zum Sprung an.

Abermals fiel mir auf, in welch schlechtem Zustand und miserabler Verfassung sich mein Gegner befand. Zum Glück – denn sonst hätte er die Russin und mich längst erwischt. Selten hatte ich einen derart heruntergekommenen Werwolf gesehen. Sein räudiges Fell zeigte schwärende Wunden, sein Körper schien nur aus Fell und Knochen zu bestehen.

Er war gierig vor Hunger!

Und das war sein Verhängnis!

Er sah nur mich – seine nächste Beute. Er achtete nicht darauf, was in seinem Rücken geschah. Ich sah, wie Harrison herangewatschelt kam. Seine riesigen, kräftigen Hände umfassten einen kopfgroßen Felsbrocken.

Der Werwolf schien etwas zu ahnen. In letzter Sekunde wandte den Schädel, aber da war es bereits zu spät. Harrison hämmerte ihm mit voller Wucht den Stein auf den Hinterkopf. Ich hörte, wie der Schädelknochen des Monsters splitterte, Blut spritzte heraus. Das Fauchen der Bestie ging in ein hohes Kreischen über.

Der Freak schlug ein zweites Mal zu. Graue Gehirnmasse quoll aus der Wunde. Winselnd vor Schmerz wälzte sich der Angreifer auf dem Boden.

»Schießen Sie endlich!«, schrie die Russin. »Machen Sie das Biest kalt!« Plötzlich war sie an meiner Seite aufgetaucht.

Ich reagierte nicht. Ich war noch immer zu apathisch, während die Erinnerungen an meine Vergangenheit die Gegenwart mehr und mehr ausblendeten.

Ich konnte noch nicht einmal verhindern, dass die Kommandantin mir die Beretta aus der Hand nahm. Undeutlich bekam ich mit, dass sie mehrere Schüsse in Richtung des Lykanthropen abgab.

»Na also, funktioniert doch!«, hörte ich sie zufrieden feststellen.

Dann war plötzlich wieder Harrison an meiner Seite. »Wir müssen uns einen sicheren Unterschlupf suchen. Ihr seid zu geschwächt …«

Ich nickte. »Der Werwolf …«

»Kein Thema mehr«, erklärte die Russin. »Allerdings müssen Sie mir mal irgendwann erklären, was für Wunderkugeln Sie verwenden. Die Bestie ist zu Staub zerfallen.«

Ich ließ zu, dass Darja Kusnezow mich hochhievte und mir unter die Schultern packte.

»Halten Sie sich an mir fest!«, befahl sie. »Nun helfen Sie schon ein bisschen mit!«

Ich umfasste ihre Taille und versuchte mich auf die Schritte zu konzentrieren. »Das Beste ist, wenn wir zunächst mal alle wieder ins Schiff gehen und dort beraten …«

In diesem Moment erfolgte ein weiterer Angriff. Aus einem der Gänge, die von dem Felsendom abgingen, war plötzlich ein Rauschen und Heulen zu vernehmen.

»Schnell! Zum Schiff!«, schrie Harrison. Im nächsten Augenblick erfasste uns ein Sturm. Er war so heftig, dass er uns zu Boden warf. Verzweifelt klammerte ich mich an der Kommandantin fest. Auf allen vieren versuchte diese, sich gegen den Sturm zu stemmen. Es war vergeblich. Wir kamen einfach nicht von der Stelle. Ein Heulen und Brausen erfüllte die Höhle.

Ich spürte, wie ein Arm sich um mich legte. Es war Harrison.

»Wir schaffen das, Meister!«, beschwor er mich. »Wir schaffen das! Ihr müsst nur bei Bewusstsein bleiben.«

Mein Geist verdunkelte sich mehr und mehr. Die Gegenwart mutierte zu einem lächerlichen Spielball, der mir aus der Hand geschleudert wurde.

Wie aus weiter Ferne hörte ich Harrison aufschreien. »Die Flut! Die Flut kommt wieder!«

Ich hob nur einmal kurz den Kopf. Ich sah, wie aus einem der Gänge eine gewaltige Flutwelle herangerast kam …

Dann, bevor mich diese erreichte, zog mich eine andere Flutwelle mit sich.

Die der Erinnerungen …

Noch einmal bäumte ich mich dagegen auf. Das Wasser schoss in die Höhle. Innerhalb von wenigen Augenblicken umspielte es bereits meine Knöchel.

Endlich hatten wir das U-Boot erreicht. Die Kommandantin sprang als Erste, sie half mir hinein, während Harrison mich von hinten schob. Dann kletterte er hinterher. Kaum war er drinnen, verriegelte Darja Andrejewna Kusnezow wieder die Tür. Sie fluchte.

»Scheiße! Wir sitzen in der Falle!« Dann stürzte sie weiter, vermutlich in den Steuer- oder Maschinenraum, und ließ uns allein zurück.

Harrison blickte aus einer der Luken. »Meister, schaut! Ihr müsst es selbst sehen, sonst glaubt ihr mir nicht!«

Ich vernahm seine Stimme wie durch eine Wand aus Watte. Dennoch wandte ich den Kopf.

Die Fluten hatten das Schiff bereits erreicht. Aber das Merkwürdige waren die zwei nackten Frauen, die grinsend auf einem der Felsen hockten und das Wasser in unsere Richtung zu lenken schienen.

Eine war rothaarig, die andere blond.

Sie sahen verteufelt gut aus, aber bevor ich mich noch fragen konnte, was sie eigentlich hier unten zu suchen hatten, trübte sich die Wirklichkeit ein.

Nur eins hörte ich noch: »Lucinda Kranich will deinen Kopf!«

Lucinda Kranich? Was – was hatte dieser Name hier unten zu bedeuten? Was – wie …

Es wurde vollends dunkel um mich …

 

 

2. Kapitel

 

Vergangenheit 1757

»Sir William, Ihr Vater wünscht Sie zu sprechen!«

Unwillig schaute ich auf. Ich war gerade damit beschäftigt, Otto Runkels »Medizinischen Operationsrathgeber« von 1737 zu verschlingen. Den Schinken hatte ich in einem Antiquariat in der Charing Cross Street ergattert. Weniger der Inhalt hatte es mir angetan – exakte Beschreibungen, wie man Knochenbrüche aller Art »repariert«, wie Runkel sich oftmals ausdrückte, und sich notfalls auch von dem einen oder anderen Körperteil infolge Wundbrands oder anderer fortgeschrittener Übel trennen musste. Auch die äußerst detailreichen Illustrationen von Amputationen und sonstigen üblen Vorgehensweisen erregten mein Interesse weniger als das Buch an sich.

Das Buch erzählte seine eigene Geschichte. Viele der Seiten waren mit Blutflecken nicht nur besprenkelt. Einige sahen so aus, als hätte der Operateur inmitten eines höchst schwierigen und blutigen Eingriffes noch einmal schnell fachkundigen Rat in dem Buch gesucht. Dazwischen klebten getrocknete Schmeißfliegen, Teeflecken und Tabakkrümel. Offensichtlich war der Vorbesitzer begeisterter Pfeifenraucher gewesen. In meiner Fantasie stellte ich ihn mir als weißhaarigen, bärtigen alten Mann der Wissenschaft vor, der selbst während der Operation nicht auf Tee und Pfeife verzichtete – und wenn auch nur, um den Gestank des Todes und des Blutes zu übertünchen.

Seit einigen Tagen war ich dabei, die zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen zu entziffern, die oftmals den eigentlichen Text konterkarierten. Offensichtlich also war der Benutzer des Buches ein Praktiker gewesen, ein Mann der Tat, weniger der Theorie.

So war auch seine Handschrift alles andere als Schönschrift. Die Notizen hatte er nicht für den Leser angefertigt, sondern allein für sich. Dementsprechend unleserlich erschienen sie mir, waren voller Abkürzungen und rätselhafter Hinweise.

Ich hatte es mir auf einem Teakstuhl neben einem blühenden Rosenbusch bequem gemacht, um während meines spannenden Studiums die Abendsonne zu genießen. Rechts von mir befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ich die Leselupe, ein Notizbuch, Pfeife und Tabak sowie ein Glas Whisky deponiert hatte.

Umso unwilliger war ich nun über die Störung. Blake, der Leibdiener meines Vaters, sah mit einer gewissen Schadenfreude auf mich herab. Er konnte mich nicht leiden, wahrscheinlich rügte er insgeheim ebenso wie mein alter Herr etliche meiner Eigenarten. Bücher zu lesen, gehörte für sie zum Müßiggang.

»Sie sollten Ihren Vater nicht länger warten lassen«, meinte Blake. »Ich fürchte, in der Stimmung, in der er sich bereits befindet, wird er Ihnen einiges zu sagen haben.« Er verzog die dünnen Lippen zu einem spöttischen Grinsen.

Natürlich wusste er, dass ihm dieser Ton nicht anstand, aber genauso wusste er, dass Vater nichts auf ihn kommen lassen würde, so oft ich mich auch beschwerte.

»Also schön, Blacky«, antwortete ich. Er hasste es, wenn ich ihn so nannte. Irgendeiner seiner Vorfahren musste Negerblut in den Adern gehabt haben, davon zeugte noch immer der schwache Bronzeton seiner Haut, vor allem aber das schwarze Kraushaar. Ich ließ mir bewusst Zeit, während ich mich erhob, das Glas fasste und fortfuhr: »Um den schönen Whisky wäre es allerdings schade. Sie gestatten doch, Blacky, dass ich ihn nicht Ihnen überlasse?«

Diesmal war ich es, der sich das Grinsen nicht verkneifen konnte. Natürlich wusste ich, dass Blake keinen Tropfen Alkohol zu sich nahm. Jedoch war es gerade in letzter Zeit zu unerfreulichen Diebstählen von Alkohol innerhalb unseres Hauses gekommen. Dahinter musste die Dienerschaft stecken, und Blake hatte von oberster Stelle – von meinem Vater – den Auftrag erhalten, den Dieb zu überführen. Dass ich nun ihn bezichtigte, mit den Tätern zusammenzuarbeiten, machte ihn sprachlos. Er setzte mehrfach an, um etwas zu erwidern, aber ich ließ ihn einfach stehen und ging voran.

»Das werden Sie bereuen!«, hörte ich ihn hinter mir her fluchen. Er hatte seine Sprache wiedergefunden.

Den Weg zu meinem Vater fand ich auch ohne Blakes Hilfe. Trotzdem folgte mir der Diener. Natürlich wollte er es sich nicht nehmen lassen, danebenzustehen und sich genüsslich mit anzuhören, wenn mein alter Herr mir eine seiner Standpauken hielt.

Er lief bereits ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab, als ich anklopfte und durch ein harsches »Herein!« gebeten wurde, einzutreten.

Sir Hector, mein Vater, war eine Furcht einflößende Gestalt: Er war über zwei Meter groß, und die Jahre hatten seine Figur auch in der Breite wachsen lassen. Sein Bauchumfang war gewaltig. Ebenso sein Schnauzbart, der an diesem Tage jedoch traurig nach unten hing und mich mehr denn je an ein Walross erinnerte.

Sir Hector hatte seine Paradeuniform angelegt; er glaubte daran, sich noch im Krieg zu befinden.

Und ich meinte nicht die gegenwärtige unnütze Auseinandersetzung mit Frankreich, bei der es um einige lächerliche Kolonien ging. Mein Vater wähnte sich im Jahr 1740, als England gegen Spanien und Frankreich kämpfte, um den englischen Schmuggelhandel nach Amerika zu sichern.

Er war nicht verrückt, das nicht. Auch dauerten seine »Zustände«, wie Mutter sie nannte, manchmal nur ein paar Stunden, dann war er wieder ganz der Alte. Die Ärzte, die er konsultierte, wussten keinen Namen für seine Krankheit, schrieben sie aber seinem Alter zu.

»Sohn! Endlich! Hat dir Blake nicht gesagt, dass du dich sputen sollst?«, begrüßte er mich und funkelte mich wütend an.

»Jawohl, Vater«, seufzte ich. In seinem »Zustand« hatte es eh keinen Zweck, sich vernünftig mit ihm unterhalten zu wollen.

»Mir ist soeben eine fantastische Idee gekommen, wie ich deinen Müßiggang beenden kann. Du wirst eine Zeit lang unsere Teeplantagen in Indien leiten.«

»Eine Zeit lang?«

»Ja, sagen wir so zwei oder drei Jahre. Die Inspektoren dort werden dir alles Wichtige über den Teeanbau beibringen. Bedenke, dass wir dem Tee unseren Reichtum verdanken.«

»Ich dachte, dem Krieg«, wagte ich ihn zu provozieren, aber Sir Hector ging nicht darauf ein. »Bereite dich gut auf die Reise vor, verabschiede dich von deinen flegelhaften Freundinnen und vor allem von deiner Mutter – du wirst sie für lange Zeit nicht mehr sehen …«

»Jawohl, Vater«, sagte ich. Dass er mich nach Indien schicken wollte, war ein ständig wiederkehrender Spleen von ihm. Unsere letzten Teeplantagen hatten wir bereits vor zwei Jahrzehnten veräußert. Dennoch spielte ich gerne mit. Lief es doch jedes Mal auf das Gleiche hinaus: Ich kenne dich, Sohn, und weiß, wie das junge Blut in dir brodelt. Nimm Abschied von deinen Flausen. Verabschiede dich von deinen Freunden – und vor allen Dingen von den Frauenzimmern …

Er drückte mir ein paar Münzen in die Hand. »Heute Abend sollst du noch feiern dürfen. Ab morgen beginnst du mit dem Kofferpacken!«

Ich nickte und bedankte mich für das Geld, wobei ich versprach, in seinem Sinne zu handeln.

Die Münzen konnte ich gut gebrauchen, denn der Alte hielt mich so knapp wie nur möglich. Dabei dachte ich nicht daran, das Geld im Wirtshaus zu verprassen, sondern eher an ein paar Bücher …

»Blake wird dich begleiten«, fuhr mein Vater fort.

Der Diener wurde blass. »In die Kolonien?«