Cover

Über dieses Buch:

Liebe deine Nächste! Ein fast schon bibelreifer Spruch. Das dachte sich auch Pastor Johannes Heilwig. Blöd nur, wenn man sich von der Schlange aus dem Paradies vertreiben lässt: Denn bei dieser speziellen Nächsten handelt es sich nicht um Ehefrau Christa, sondern die verführerische Veruscha. Und die begehrt jetzt den sündigen Gottesmann – koste es, was es wolle …

Hamburg sehen und sterben – „mit ihren Krimis schlägt Regula Venske immer gnadenlos zu“ (Emma)!

Über die Autorin:

„Intelligent, humorvoll und immer mit einem ungewöhnlichen Plot, sind ihre Bücher ein Vergnügen.“ Gabriela Wenke

Regula Venske wurde 1955 in Minden geboren und wuchs in Münster auf. 1987 promovierte sie mit einer Studie über „Mannsbilder – Männerbilder. Konstruktion und Kritik des Männlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen“ zum Doktor der Philosophie.

Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u. a. mit dem Oldenburger Jugendbuchpreis, dem Deutschen Krimipreis und dem Lessing-Stipendium des Hamburger Senats ausgezeichnet, ihr Kurzgeschichtenband "Herzschlag auf Maiglöckchensauce" wurde für den Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden nominiert.

Regula Venske lebt als freie Autorin in Hamburg und ist Mitglied im Autorenverband deutschsprachiger Kriminalschriftsteller SYNDIKAT (www.das-syndikat.com) und im PEN (www.pen-deutschland.de), dessen Generalsekretärin sie seit Mai 2013 ist.

Bei dotbooks erscheinen außerdem Regula Venskes Romane Schief gewickelt – Das perfekte Verbrechen, Double für eine Leiche, Die garstigen Greise und Kommt ein Mann die Treppe rauf.

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

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Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 2004 Hamburger Abendblatt Axel Springer AG, Hamburg

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: Thinkstockphoto/Hemera/istock

ISBN 978-3-95824-274-6

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Regula Venske

Hamburger Kanzelsturz

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

Johannes Heilwig schwankte. Unwillkürlich schloss er die Augen, aber da er auf diese Weise das Schwindelgefühl noch stärker spürte, riss er sie wieder auf. Mit beiden Händen stützte er sich auf die Brüstung und rang nach Luft. Wo war er? Wie war er hier hinaufgekommen? Er erinnerte sich, vorhin eine Weile auf der Trostbrücke gestanden und aufs Nikolaifleet gestarrt zu haben. Es war kaum Wasser im Becken gewesen, nur mehr brackiger Schlamm, an dessen Rand sich drei, vier Krähen um ihre Beute stritten. Die leicht faulig riechende Matsche hatte ihn davon abgehalten, sich von der Brücke zu stürzen. Johannes Heilwig war ein Ästhet. Es war allerdings wahr, er wollte diese Welt hinter sich lassen. Aber in einem solchen Modder sollte sein Leben nun doch nicht enden.

Krampfhaft kämpfte er dagegen an, nicht in die Tiefe hinabzuschauen, die ihn wie magisch anzog. Da unten lauerte das Nichts. Dunkel und verführerisch tat es sich vor ihm auf, lockte ihn, wollte ihn endlich umfangen. Wollte ihm vielleicht sogar Vergebung gewähren, zumindest Vergessen. Angestrengt starrte Heilwig geradeaus, hinüber zur nächsten Säule. Er versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren, den er zurückgelegt hatte. Dies könnte die Katharinenkirche sein. Natürlich, St. Katharinen. Was für eine hohe Kanzel diese Kirche hatte. Wie auf einer Schiffsbrücke kam man sich hier oben vor. Von hier aus nahm der Pfarrer die Leute unten überhaupt nicht wahr. Dafür berührte er fast schon den Himmel.

Heilwig hatte nie in St. Katharinen gepredigt, und auch als Besucher war er kaum je zu einem Gottesdienst hier gewesen. Das war einer der Nachteile seines Berufs. Wer selbst Pfarrer war, kam nur noch selten in den Genuss anderer Gottesdienste. Wann hatte er je ohne Zweck und Hintersinn den Segen eines Kollegen empfangen? Im Urlaub in Bayern – da hatte er es sich sogar angewöhnt, in die katholische Messe zu gehen. Und gelegentlich im Frühjahr oder Herbst, bei Kurzurlauben auf einer Nordseeinsel. Vielleicht war er deshalb bei Veruscha gelandet, irgendwo musste der Mensch, musste auch seinesgleichen einmal Trost und Labsal empfangen. Unwillkürlich duckte er sich, zog die Schultern zusammen. Veruscha. Wieso musste er immerzu an sie denken? Wie ein Geist verfolgte sie ihn, hielt ihn in ihrem Bann, umgab ihn mit Todesatem. Dabei wusste er ja nun, dass sie lebte. Hätte er die tote Vera eines Tages vergessen können? Vielleicht wäre es ihm eher gelungen. Das Bild der Lebenden aber erschien wieder und wieder vor seinen Augen, quälte und verzauberte ihn. Er wusste ja, dass der Raum leer war, außer ihm war niemand da. Trotzdem sah er sie hinten in der vorletzten Bank sitzen und zu ihm hinüberblicken. Ganz am Rand hockte sie, hatte wohl eben erst dort Platz genommen, jederzeit bereit, aufzustehen und langsam näher zu kommen. Da er so hoch über ihr stand – wirklich, wie auf der Kommandobrücke eines großen Überseedampfers –, schaute sie aus der Ferne zu ihm empor. Vera, Veruscha mit ihren langen schwarzen Haaren, diese Hexenfrau. Wäre er ihr nur nie begegnet. Er hatte doch eine glückliche Ehe mit Christa geführt und hätte weiter glücklich mit ihr leben, glücklich mit ihr alt werden können. Wäre nur diese Fremde nicht in sein Leben getreten, die ihm der Teufel geschickt haben musste. Sie hatte ihm eingeflüstert, dass seine Ehe vielleicht gar nicht so glücklich war. Dabei hatte sie gar nichts gesagt, hatte gar nichts sagen müssen. Nur an andere Wünsche erinnert hatte sie ihn, an ein längst vergessen geglaubtes Begehren. Sie hatten eben so vor sich hin gelebt, Christa und er. Natürlich hatte es auch das eine oder andere Problem, die eine oder andere Missstimmung gegeben. Aber nie einen richtigen Zwist. Nicht zuletzt war es genau diese etwas langweilige Lebensweise, dieses etwas langweilige Eheleben gewesen, was ihren drei Söhnen ermöglichte, zu ausgeglichenen, verantwortungsbewussten jungen Männern heranzuwachsen. Und war das alles nicht im Grunde schon mehr, als man vom Leben verlangen konnte? Jedenfalls hatte es keinen Anlass gegeben, sich über Begriffe wie Glück oder Begehren überhaupt Gedanken zu machen, außer im Rahmen der Sonntagspredigt natürlich.

Bis zu jenem fatalen Oktobermorgen vor zweieinhalb Jahren. Er hatte sie auf Sylt bei einer Strandwanderung kennengelernt. Beide waren sie von einem Unwetter überrascht worden und hatten gemeinsam Zuflucht in einem Strandkorb gesucht. Heilwig war hinzugekommen, als Vera sich vergeblich abgemüht hatte, die Öffnung des Strandkorbs vom Wind wegzudrehen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er mit angefasst und den Korb in einem kühnen Schwung um seine eigene Achse gestemmt. Oder nein, so stimmte es nicht, er hatte doch etwas gesagt, »Teufel noch eins«, hatte er sich plötzlich fluchen hören. Und so war es wohl, der Teufel musste ihm in jenem Moment diese Kraft verliehen haben. Kurz darauf hatte er sich, klitschnass, aber übermütig lachend wie schon lange nicht mehr, neben der fremden Frau im Strandkorb wiedergefunden. Der Regen tropfte ihr aus den vollen schwarzen Haaren, um sie beide herum tobte und peitschte der Sturm und kündigte vom nahen Herbst, hier aber, an diesem halbwegs windgeschützten, halbwegs trockenen Fleckchen, an dem sie saßen, war ein Freiraum entstanden, eine kleine Oase der Ruhe und der Mitmenschlichkeit, so hatte er damals gedacht. Plötzlich hatte ihm die Fremde eine kalte Hand an die Wange gelegt und ihm in die Augen gesehen, und dann war sie ihm gefährlich nahe gekommen, so dass seine Brillengläser beschlugen. Sein Herz hatte für ein paar Schläge ausgesetzt, und sein Verstand hatte aufgehört für ihn zu denken und christliche Entscheidungen zu treffen. Und dann hatte sie ihm die Brille abgenommen, und von da an erinnerte sich Johannes Heilwig an gar nichts mehr. Er hatte nicht sogleich begriffen, dass er es mit einer Professionellen zu tun hatte. Bevor sie sich an jenem Mittag getrennt hatten, hatte sie ihm eine Adresse in Westerland genannt, und gleich am nächsten Tag hatte er die Russin in ihrer Wohnung getroffen. Zwar hatte das Apartment recht kalt und ungemütlich auf ihn gewirkt, aber er hatte es zunächst für eine Ferienwohnung gehalten und sich weiter keine Gedanken darüber gemacht. Schließlich war er Christa an jenem frühen Oktoberabend zum ersten Mal untreu geworden, es war daher kein Wunder, dass er sich bei diesem Rendezvous aufgeregt und unerfahren wie ein Oberprimaner fühlte. »Wie ein Obersekundaner«, musste man wohl heutzutage sagen, es unterlag ja alles der Akzeleration, und wenn es stimmte, was man so hörte, waren die Sekundaner von heute vermutlich nicht halb so nervös und unbeholfen wie damals er. Ob Benjamin, sein Jüngster, wohl schon Erfahrungen mit Frauen hatte? Oder auch nur eine einzige Erfahrung mit einer Frau? Er wusste es nicht, solche Gespräche zwischen Vater und Sohn hatte er immer vermieden.

Was für ein Schock, als Vera sich damals nach dem Liebesakt abrupt aufgerichtet hatte. »Heute ging das Vergnügen aufs Haus«, hatte sie gelacht und dabei wieder seine Wange getätschelt. »Aber in Zukunft musst du zahlen, wie alle anderen auch.«

Heilwig hatte es erst für einen Witz gehalten. Später bewunderte er fast, wie geschickt sie es eingefädelt hatte. Hätte sie ihm gleich damals im Strandkorb ihre Preise genannt – er wäre doch niemals auf ihr Angebot eingegangen. Empört abgewandt hätte er sich, allenfalls hätte er vielleicht noch versucht, sie zu bekehren. Aber sie hatte ihn raffiniert eingelullt und geködert, nach allen Regeln der Kunst angefixt hatte sie ihn und dann süchtig gemacht, und alsbald war er ihr hoffnungslos verfallen gewesen.