Das
Durchdrehen
der Schraube
Eine Geistergeschichte
Aus dem Englischen übersetzt
und mit einem Nachwort von
Karl Ludwig Nicole
Die Geschichte hatte unserer Runde am Kaminfeuer wohl hinreichend den Atem verschlagen, doch außer der naheliegenden Bemerkung, daß sie schaurig gewesen wäre, wie das am Weihnachtsabend in einem altertümlichen Haus für eine außergewöhnliche Geschichte unerläßlich sei, erinnere ich mich nichtsdestoweniger keiner Äußerung dazu, bis schließlich jemand beiläufig feststellte, dies sei der einzige ihm bekannte Fall, in dem ein Kind von einer derartigen Heimsuchung betroffen wurde. Bei dem Fall, den ich erwähnen möchte, ging es um eine Geistererscheinung in genau einem solchen alten Haus wie dem, das uns durch den gegebenen Anlaß zusammengeführt hatte – eine grauenhafte Geistererscheinung, die ein kleiner Knabe hatte, der im selben Zimmer wie seine Mutter schlief und sie vor Entsetzen weckte; er weckte sie nicht auf, damit sie ihm sein Grauen vertreibe und ihn beruhige, so daß er wieder einschlafen könne, sondern damit auch sie, noch bevor ihr das geglückt war, mit demselben gräßlichen Anblick konfrontiert würde, der ihm solchen Schrecken eingejagt hatte. Diese Bemerkung entlockte Douglas – nicht unverzüglich, erst später am Abend – eine Erwiderung, für deren bedeutsame Auswirkung ich um Aufmerksamkeit bitte. Jemand anders erzählte noch eine nicht sonderlich beeindruckende Geschichte, auf die Douglas, wie ich sah, nicht achtete. Ich faßte dies als ein Anzeichen dafür auf, daß er selbst etwas zum besten geben wollte und wir lediglich zu warten hätten. Freilich erstreckte sich unser Warten bis zum übernächsten Abend; aber noch am selben Abend, ehe wir auseinandergingen, brachte er vor, was ihm durch den Kopf ging.
»Hinsichtlich Griffins Gespenst oder was es gewesen sein mag, bin ich völlig Ihrer Meinung, daß seine Erscheinung der Sache eine besondere Note verleiht, insofern hier zum ersten Mal ein kleiner Knabe in so zartem Alter davon betroffen wurde. Doch es ist nicht der erste Vorfall von solch faszinierender Art, von dem ich weiß, daß er einem Kind begegnete. Wenn durch das Kind die Wirkung höhergeschraubt wird, was sagen Sie dazu, falls zwei Kinder –?«
»Dann sagen wir natürlich«, rief jemand, »daß zwei Kinder die Wirkung doppelt so hoch schrauben! Und auch, daß wir gern von ihnen hören möchten.«
Ich sehe noch Douglas, der aufgestanden war, dort am Kaminfeuer, dem er den Rücken zuwandte und nun, die Hände in den Taschen, zu seinem Gesprächspartner hinabblickte. »Niemand außer mir hat bis jetzt jemals davon erfahren. Und es ist wahrhaftig allzu grauenhaft.« Natürlich wurde daraufhin mehrfach die Meinung vertreten, dies werte die Sache im höchsten Grade auf, und unser Freund steuerte mit unauffälliger Gewandtheit auf seinen Trumpf zu, indem er seine Augen über uns andere hinwandern ließ und fortfuhr: »Es übersteigt einfach alles. Nichts, was mir bekannt ist, reicht an es heran.«
»An äußerstem Schrecken?« erinnere ich mich, gefragt zu haben.
Allem Anschein nach wollte er sagen, ganz so einfach sei das nicht; tatsächlich hatte er Schwierigkeiten, es genau zu bezeichnen. Er fuhr mit der Hand über die Augen und verzog ein wenig das Gesicht. »An schaurigem – Grauen!«
»Oh, wie apart!« rief eine der Damen.
Er achtete nicht auf sie; er blickte mich an, aber so, als sähe er an meiner Stelle das, wovon er sprach. »An unheimlicher Gräßlichkeit, an Grauen und Qual.«
»Also dann«, sagte ich, »setzen Sie sich doch gleich und beginnen Sie.«
Er kehrte sich zum Kaminfeuer um, stieß mit dem Fuß gegen ein Holzscheit und blickte ihm einen Moment nach. Dann wandte er sich wieder uns zu: »Ich kann nicht beginnen. Ich müßte erst nach der Stadt schicken.« Das erregte einmütiges Murren und eine Menge Vorhaltungen; daraufhin erklärte er, immer noch in Gedanken versunken: »Die Geschichte ist aufgezeichnet. Sie befindet sich in einer verschlossenen Schublade – seit Jahren ist sie nicht herausgekommen. Ich könnte meinem Bedienten schreiben und den Schlüssel beilegen; er könnte das Paket so, wie er es vorfindet, herschicken.« Es schien, als ob er diesen Vorschlag ganz besonders mir gegenüber machte – sich fast um Hilfe gegen sein Zögern an mich wandte. Er hatte eine ganze Eisschicht, gebildet in so manchem Winter, durchbrochen, hatte für ein langes Schweigen seine Gründe gehabt. Die andern waren über die Vertagung verärgert, aber ich fand gerade seine Bedenken reizvoll. Ich bat ihn inständig, bis zum nächsten Postabgang zu schreiben und uns die Geschichte möglichst bald hören zu lassen; dann erkundigte ich mich bei ihm, ob das fragliche Erlebnis sein eigenes gewesen sei. Auf diese Frage erfolgte seine Antwort unverzüglich. »Oh, Gott sei Dank, nein!«
»Und stammt der Bericht von Ihnen? Haben Sie selbst die Sache aufgezeichnet?«
»Lediglich den Eindruck davon. Hier habe ich ihn festgehalten« – und er schlug an sein Herz. »Unvergeßlich.«
»Dann ist Ihr Manuskript –?«
»Mit alter verblaßter Tinte und in der wundervollsten Handschrift geschrieben.« Er stockte aufs neue ein wenig. »Der Schrift einer Frau. Sie ist schon zwanzig Jahre tot. Sie schickte mir diese Blätter zu, ehe sie starb.« Jetzt horchten alle auf, und natürlich mußte jemand witzeln oder eine Schlußfolgerung ziehen. Doch wenn Douglas das ohne ein Lächeln aufnahm, so auch ohne Verärgerung. »Sie war eine äußerst reizvolle Erscheinung, aber zehn Jahre älter als ich. Sie war die Gouvernante meiner Schwester«, sagte er gelassen, »die liebenswürdigste Frau, die ich jemals in dieser Position gekannt habe; jeder andern Stellung wäre sie würdig gewesen. Das war schon vor langer Zeit, und jene Episode lag noch weit davor. Ich war damals im Trinity-College und traf sie bei uns zu Hause an, als ich zum zweiten Mal in den Sommerferien heimkam. Ich war in diesem Jahr häufig dort – es war ein wunderschöner Sommer; und in ihrer Freizeit schlenderten wir so manches Mal durch den Garten, wobei wir in Gespräche kamen – Gespräche, in denen mir auffiel, wie ungemein klug und liebenswert sie war. O ja, lächeln Sie nicht: Ich hatte sie ungeheuer gern, und bis heute bin ich glücklich bei dem Gedanken, daß auch sie mich gern hatte. Andernfalls hätte sie mir diese Geschichte nicht erzählt. Sie hatte sie nie jemandem erzählt. Nicht, daß sie das einfach so sagte, ich wußte vielmehr, daß es zutraf. Da war ich mir ganz sicher; ich konnte es ihr ansehen. Sie werden bestimmt dahinterkommen weshalb, wenn Sie die Geschichte hören.«
»Weil die Sache derart schrecklich war?«
Er hatte immer noch den Blick auf mich gerichtet. »Sie werden bestimmt dahinterkommen«, wiederholte er, »Sie bestimmt.«
Ich heftete meinerseits nun meinen Blick auf ihn. »Ich verstehe. Sie liebte.«
Nun lachte er zum ersten Mal. »Sie sind in der Tat scharfsinnig. Ja, sie liebte. Das heißt, sie hatte geliebt. Es kam heraus – sie konnte ihre Geschichte nicht erzählen, ohne daß es herauskam. Ich merkte es, und sie bemerkte, daß ich es merkte; aber keiner von uns sprach darüber. Zeit und Ort sind mir noch genau in Erinnerung – die Rasenplatzecke, der Schatten der hohen Buchen und der lange, heiße Sommernachmittag. Es war kein Schauplatz zum Erschaudern; aber ach –!« Er verließ seinen Platz am Kaminfeuer und ließ sich wieder in seinen Sessel nieder.
»Sie erhalten das Paket am Donnerstag vormittag?« sagte ich mit Nachdruck.
»Voraussichtlich mit der zweiten Post.«
»Also dann nach dem Dinner – «
»Sie werden alle zur Stelle sein?« Sein Blick wanderte aufs neue über die Runde. »Reist niemand ab?« Er sagte das fast in einem Ton, als hoffe er es.
»Alle bleiben da!«
»Ich bleibe – und ich bleibe auch!« riefen die Damen, deren Abreise schon ausgemachte Sache gewesen war. Mrs. Griffin hingegen äußerte den Wunsch, Näheres zu erfahren. »Wer war es denn, in den sie verliebt war?«
Ich übernahm die Antwort: »Die Geschichte wird es an den Tag bringen.«
»Oh, auf die Geschichte kann ich nicht warten!«
»Die Geschichte wird es nicht an den Tag bringen«, sagte Douglas, »wenigstens nicht in der eigentlichen, üblichen Art.«
»Wie schade! Denn nur in dieser Art kann ich überhaupt etwas verstehen.«
»Wollen Sie es denn nicht enthüllen?« forderte ihn jemand anders auf.
Er sprang erneut auf. »Ja – morgen. Jetzt muß ich zu Bett gehen. Gute Nacht.« Und indem er geschwind einen Leuchter ergriff, ließ er uns etwas verblüfft zurück. Von unserm Ende der ausgedehnten, düsteren Halle vernahmen wir seinen Schritt auf der Treppe; daraufhin ergriff Mrs. Griffin das Wort. »Nun, auch wenn ich nicht weiß, in wen sie verliebt war, so weiß ich doch, in wen er es war.«
»Sie war zehn Jahre älter«, stellte ihr Gemahl fest.
»Raison de plus1 – in diesem Alter! Aber seine lange Zurückhaltung ist doch recht rücksichtsvoll.«
»Vierzig Jahre!« warf Griffin ein.
»Und dann schließlich dieser Ausbruch.«
»Der Ausbruch«, erwiderte ich, »macht den Donnerstagabend zu einem aufregenden Ereignis.« Und alle waren hierin so völlig meiner Meinung, daß wir im Hinblick darauf für nichts anderes mehr Interesse hatten. Die letzte Geschichte des Abends war erzählt worden, wenngleich unvollständig und lediglich wie der Anfang eines Fortsetzungsromans; wir schüttelten uns die Hände und »bestückten uns mit Kerzen«, wie sich jemand ausdrückte, und gingen zu Bett.
Am nächsten Tag brachte ich in Erfahrung, daß ein Brief, der den Schlüssel enthielt, mit der ersten Post nach der Londoner Wohnung von Douglas abgegangen war. Doch trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Möglichkeit, daß sich diese Kunde schließlich verbreitet hatte, ließen wir Douglas bis nach dem Dinner völlig in Ruhe, bis zu einer geeigneten Stunde des Abends, die wohl am besten zu jener Art von Gefühlserregung paßte, auf die unsere Erwartungen gerichtet waren. Jetzt wurde er so mitteilsam, wie wir es nur wünschen konnten, und in der Tat hatte er allen Grund dazu. Wie er am vorigen Abend einigermaßen unsere Verwunderung erregt hatte, so geschah es nun wieder hier in der Halle am Kaminfeuer. Es erwies sich, daß die Geschichte, die er uns vorzulesen versprochen hatte, zum richtigen Verständnis tatsächlich ein paar einführende Worte erforderte. Ich möchte hier grundsätzlich ganz entschieden feststellen, daß ich die folgende Geschichte nach einer weit später von mir angefertigten genauen Abschrift wiedergebe. Als der arme Douglas den Tod nahen fühlte, vertraute er mir das Manuskript an, das ihn am dritten Tag unseres hiesigen Aufenthalts erreichte und das er am Abend des vierten Tages, an derselben Stelle, unserm wie gebannt lauschenden kleinen Kreis mit ungeheuerer Wirkung vorzulesen begann. Die schon zur Abreise bereiten Damen, die erklärt hatten, sie würden noch dableiben, hielten sich natürlich, Gott sei Dank, nicht daran: Sie reisten wegen bereits getroffener Vereinbarungen ab, allerdings, wie sie zugaben, wahnsinnig neugierig gemacht durch die Andeutungen, mit denen er uns schon so erregt hatte. Aber das machte seinen verbliebenen kleinen Zuhörerkreis nur noch geschlossener und exklusiver, gedrängt um den Kamin, gefesselt von einem Schauer, der alle überkam.
Die erste dieser Andeutungen gab uns Aufschluß darüber, daß der aufgezeichnete Bericht die Geschichte zu einem Zeitpunkt einsetzen ließ, an dem sie im Grund schon begonnen hatte. Man mußte demnach wissen, daß Douglas' frühere Freundin, die jüngste von mehreren Töchtern eines Landpfarrers in bescheidenen Verhältnissen, zum erstenmal eine Stelle als Erzieherin annehmen wollte und nun voll Bangen nach London gekommen war, um sich persönlich vorzustellen, auf eine Zeitungsanzeige hin, durch die sie bereits zu einem kurzen Briefwechsel mit dem Inserenten gekommen war. Dieser Herr erwies sich, als sie sich zur Beurteilung in einem Haus in Harley Street2vorstellte, das auf sie den Eindruck eines imposanten Gebäudes von gewaltiger Größe machte – dieser mutmaßliche Brotherr nun erwies sich als vollendeter Gentleman und Junggeselle im besten Alter, eine Persönlichkeit also, wie sie einem vor Spannung erregten Mädchen aus einem Pfarrhaus in Hampshire3 noch niemals vorgekommen war, es sei denn im Traum oder in einem alten Roman. Dieser Typ läßt sich unschwer bestimmen; glücklicherweise stirbt er niemals aus. Er war gutaussehend und selbstbewußt und liebenswürdig, spontan und lebhaft und großzügig. Es konnte nicht ausbleiben, daß er, galant und blendend wie er wirkte, Eindruck auf sie machte, doch was sie am meisten für ihn einnahm und ihr den Mut gab, den sie später an den Tag legte, war der Umstand, daß er ihr gegenüber das Ganze als einen Gefallen ihrerseits hinstellte, ein Entgegenkommen, das er dankbar annahm. Sie malte sich aus, er sei reich, aber schrecklich extravagant – sah ihn ganz im strahlenden Licht vornehmer Lebensart, vorteilhaften Aussehens, aufwendiger Lebensweise, charmanten Verhaltens gegenüber Frauen. Als Stadtwohnung hatte er ein großes Haus, angefüllt mit auf Reisen erbeuteten Dingen und Jagdtrophäen; er bat sie jedoch, unverzüglich ihre Tätigkeit auf seinem Landsitz, einem alten Familienanwesen in Essex4, aufzunehmen.
Durch den Tod der Eltern eines kleinen Neffen und einer kleinen Nichte in Indien war er zum Vormund dieser Kinder eines jüngeren Bruders geworden, eines Angehörigen der Armee, den er vor zwei Jahren verloren hatte. Die Kinder waren, wegen der ungewohntesten aller nur denkbaren Möglichkeiten für einen Mann mit den Voraussetzungen, die er mitbrachte, einen alleinstehenden Mann ohne die richtige Erfahrung dafür oder auch nur eine Spur von Geduld – eine drückende Last für ihn. Das hatte alles beträchtliche Unruhe gegeben und eine Reihe von Mißgriffen seinerseits, aber die armen Küken taten ihm grenzenlos leid und er hatte alles, was in seiner Macht stand, getan; vor allem hatte er sie in seinem andern Haus untergebracht, da auf dem Land natürlich der geeignetste Aufenthalt für sie war, und sie dort von Anfang an durch die besten Leute betreuen lassen, wofür er sogar eigene Hausangestellte abtrat und so oft wie möglich selbst hinfuhr, um nachzusehen, wie es den Kindern ging. Am unangenehmsten war, daß sie so gut wie keine Verwandten hatten und daß seine eigenen Angelegenheiten seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Er hatte den Kindern Bly, das für sie ein gesunder und gefahrloser Wohnsitz war, ganz zur Verfügung gestellt und an die Spitze ihres kleinen Hausstandes – doch nur innerhalb des Gesindes – eine vorzügliche Frau gesetzt, Mrs. Grose, die seiner Besucherin gewiß zusagen würde und die bereits früher bei seiner Mutter Hausmädchen gewesen war. Nun nahm sie die Stelle der Haushälterin ein und versah vorübergehend auch noch die Oberaufsicht über das kleine Mädchen, das sie, die selbst kinderlos war, glücklicherweise heiß und innig liebte. Es stand eine ganze Menge Personal zur Verfügung, doch die junge Dame, die als Erzieherin kommen sollte, würde selbstverständlich mit der höchsten Befugnis ausgestattet sein. Während der Ferien hätte sie auch noch den kleinen Neffen zu betreuen, der seit einem Semester eine auswärtige Schule besuchte – obgleich er hierfür noch sehr jung war, doch was könnte man denn sonst tun? – und der, da die Ferien demnächst begannen, jeden Tag zurückkommen konnte. Zunächst war für die beiden Kinder eine junge Dame dagewesen, die unglücklicherweise verstorben war. Sie hatte sich ganz vorzüglich um sie angenommen – überhaupt war sie eine äußerst beachtliche Dame –, bis ihr Tod höchst unangenehmerweise gar keine andere Wahl mehr ließ, als den kleinen Miles in einer Schule unterrichten zu lassen. Seither hatte sich Mrs. Grose, so gut sie konnte, um Flora gekümmert soweit es ihr Benehmen und ihre Kleidung betraf. Und schließlich gab es außer der Haushälterin noch einen Koch, ein Hausmädchen, eine Milchfrau, ein altes Pony, einen alten Stallknecht und einen alten Gärtner, alle gleichfalls durchaus achtbar.
So weit war Douglas mit seiner Darstellung gelangt, als jemand eine Frage einwarf. »Und woran war die frühere Erzieherin gestorben? An gar so viel Achtbarkeit?«
Unser Freund antwortete unverzüglich. »Das wird sich zeigen. Ich greife nicht vor.«
»Verzeihen Sie – ich habe den Eindruck, genau das tun Sie gerade.«
»An der Stelle ihrer Nachfolgerin«, warf ich ein, »hätte ich erfahren wollen, ob mit dieser Tätigkeit – «
»Unumgänglich Lebensgefahr verbunden sei?« vollendete Douglas meine Ansicht. »Sie wollte es erfahren, und sie hat es erfahren. Morgen sollen Sie hören, was sie erfuhr. Vorderhand erschienen ihr die Aussichten natürlich ein wenig abschreckend. Sie war jung, unerfahren, beunruhigt: die Vorstellung von schwerwiegenden Pflichten und nur wenig Gesellschaft, von wahrhaft beträchtlicher Einsamkeit hatte sich ihr aufgedrängt. Sie war unschlüssig – erbat sich ein paar Tage Zeit zum Beratschlagen und Bedenken. Doch das angebotene Gehalt überstieg bei weitem ihre bescheidenen Vorstellungen, und bei einer zweiten Unterredung nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sagte zu.«
Douglas machte hierauf eine Pause, die mich, zum Gewinn für die Gesellschaft, veranlaßte einzuwerfen: »Ihr Beweggrund war natürlich der Reiz, den der blendende junge Mann ausübte. Sie erlag ihm.«
Er erhob sich und ging wie am Abend vorher zum Feuer, stieß mit dem Fuß gegen ein Holzscheit und blieb dann einen Moment, mit dem Rücken zu uns, stehen. »Sie sah ihn nur zweimal.«
»Ja, aber das ist ja gerade das Schöne an ihrer Leidenschaft.«
Ein wenig überraschend für mich wandte sich Douglas daraufhin mir zu. »Es war das Schöne daran. Andere hingegen«, fuhr er fort, »waren ihm nicht erlegen. Er ließ sie ganz offen seine Notlage wissen: daß für mehrere Bewerberinnen die Bedingungen abschreckend waren. Sie hatten es einfach mit der Angst zu tun bekommen. Es hörte sich so wenig verlockend an – es klang so eigentümlich; und das um so mehr wegen seiner Hauptbedingung.«
»Die lautete –?«
»Daß sie ihn nie behellige – niemals, auf keinen Fall: weder dringende Bitten an ihn richte noch sich beklage, noch wegen irgend etwas schreibe; daß sie mit sämtlichen Problemen ausschließlich selbst fertig werde, alle Geldangelegenheiten mit seinem Anwalt abmache, die ganze Sache selbständig in die Hand nehme und ihn in Ruhe lasse. Sie versprach all das, und mir gegenüber erwähnte sie noch dazu, als er, erleichtert und hocherfreut, einen Moment ihre Hand hielt und ihr für das Opfer dankte, habe sie sich bereits belohnt gefühlt.«
»War das denn ihr ganzer Lohn?« fragte eine der Damen.
»Sie sah ihn nie wieder.«
»Oh!« sagte die Dame; und das war das einzige Wort von Bedeutung, das noch zu diesem Thema beigesteuert wurde, da unser Freund wieder unvermittelt unsere Runde verließ, bis er am folgenden Abend in der Kaminecke im besten Sessel den verblaßten roten Einbanddeckel eines dünnen altmodischen Albums mit Goldschnitt öffnete. Allerdings nahm der ganze Bericht mehr als einen einzigen Abend in Anspruch, doch bei der ersten Gelegenheit stellte die gleiche Dame eine weitere Frage: »Wie ist der Titel Ihrer Geschichte?«
»Ich habe keinen.«
»Oh, aber ich!« sagte ich. Doch ohne auf mich zu achten, hatte Douglas vorzulesen begonnen mit einer so lauteren Klarheit, daß damit die Schönheit der Handschrift seiner Autorin gleichsam ins Akustische übertragen wurde.
Ich erinnere mich des ganzen Anfangsstadiums als einer Folge von Aufschwüngen und Abstürzen, eines raschen Wechsels zwischen normalem und abweichendem Pulsschlag. Nachdem ich mich in der Stadt dazu aufgeschwungen hatte, seiner dringenden Bitte nachzukommen, durchlebte ich jedenfalls ein paar sehr schlimme Tage – ich sah mich wieder von all meinen Zweifeln bedrängt und bekam tatsächlich das sichere Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. In dieser Verfassung verbrachte ich die langen Stunden in der rumpelnden, schwankenden Postkutsche, die mich zu der Station brachte, an der mich ein Wagen des Hauses abholen sollte. Diese Annehmlichkeit war, wie man mir mitteilte, verfügt worden, und spät an diesem Juninachmittag fand ich einen bequemen Einspänner vor, der mich erwartete. Als ich um diese Zeit an einem so freundlichen Tag durch eine Landschaft fuhr, deren sommerliche Anmut wie ein liebenswürdiger Willkommensgruß war, lebte meine seelische Kraft wieder auf und nahm, als wir in die Allee einbogen, geradezu einen Aufschwung, der wohl nur erweisen sollte, zu welchem Tiefpunkt sie gesunken war. Vermutlich hatte ich etwas derart Düsteres erwartet oder befürchtet, daß das, was sich mir darbot, eine erfreuliche Überraschung war. Ich erinnere mich, welch ganz und gar gefälligen Eindruck die breite, helle Fassade des Gebäudes machte mit ihren offenen Fenstern samt den blütenweißen Gardinen und den beiden Hausangestellten, die herausschauten; ich erinnere mich an den Rasen und die leuchtenden Blumen und das Knirschen der Wagenräder auf dem Kies und die buschigen Baumkronen, über denen die Krähen im goldenen Himmel ihre Kreise zogen und krächzten. Die ganze Anlage hatte etwas Großartiges, das einen wesentlichen Unterschied zu meinem sehr bescheidenen Elternhaus bildete; und dann erschien auch schon in der Tür eine freundliche Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand, die einen so respektvollen Knicks vor mir machte, als wäre ich die Hausherrin oder ein vornehmer Gast. Bei meinem Gespräch in Harley Street hatte ich den Eindruck gewonnen, das Anwesen sei bescheidener, und als ich mir das in Erinnerung rief, ließ es mich den Eigentümer noch mehr für einen Gentleman halten, erweckte es doch die Vorstellung, daß das, was mir an Angenehmem bevorstehen mochte, womöglich über seine Versicherung hinausging.
Bis zum nächsten Tag kam es nicht wieder zu einem Absturz; denn durch die folgenden Stunden, in denen ich von meinem Schülerpaar die jüngere Schwester kennenlernte, wurde ich wie in einem Siegeszug geführt. Das kleine Mädchen, das Mrs. Grose bei sich hatte, beeindruckte mich auf der Stelle ungemein als ein derart bezauberndes Geschöpf, daß es ein großes Glück bedeutete, mit ihr zu tun zu haben. Es war das wundervollste Kind, das ich jemals gesehen hatte, und später fragte ich mich, warum mein Brotherr mir gegenüber dem nicht mehr Bedeutung beigemessen hatte. Ich schlief nur wenig in dieser Nacht – ich war viel zu erregt; auch das, so ist mir in Erinnerung, setzte mich in Erstaunen und beschäftigte mich, indem es zu meinem Eindruck der Großzügigkeit, die man mir erwies, noch hinzu kam. Das weiträumige, imponierende Zimmer, eines der besten im ganzen Haus, das große, mich fast wie ein Prunkstück anmutende Bett, die gemusterten, fülligen Vorhänge, die hohen Spiegel, in denen ich mich zum erstenmal vom Kopf bis zu den Füßen sehen konnte, all das beeindruckte mich – gleich der wunderbaren Anziehungskraft meiner kleinen Schutzbefohlenen – wie so vieles, was noch hinzu kam. Dazu gehörte auch, daß ich mich vom ersten Moment an so gut mit Mrs. Grose verstand, hatte mich doch unterwegs in der Kutsche der Gedanke an das Verhältnis zu ihr, wie ich fürchte, ziemlich belastet. Das einzige Anzeichen allerdings, das mich bei diesem ersten Eindruck womöglich wieder hätte zurückschrecken lassen, war ihre übermäßige Freude über mein Eintreffen. Binnen einer halben Stunde spürte ich, sie – diese beherzte, unkomplizierte, offene, untadelige, kraftvolle Frau – war dermaßen froh, daß sie entschieden auf der Hut sein mußte, es allzusehr zu zeigen. Ich wunderte mich damals auch ein wenig, warum sie es denn nicht zeigen wollte, und bei entsprechendem Nachdenken, bei etwas Argwohn hätte mich das beunruhigt.
Ein Trost aber war, daß es keinerlei Beunruhigung geben konnte in Verbindung mit etwas so Beglückendem wie dem strahlenden Gesicht eines kleinen Mädchens, wenn auch die Vorstellung seiner engelhaften Schönheit wohl mehr als sonst etwas mit der Ruhelosigkeit zu tun hatte, die mich noch vor Tagesanbruch mehrmals aufstehen und in meinem Zimmer umhergehen ließ, um das gesamte Panorama und die Aussicht in mich aufzunehmen, um von meinem offenen Fenster aus die blasse sommerliche Morgendämmerung zu verfolgen, die übrigen Gebäudeteile zu betrachten, soweit sie mein Blick erreichen konnte, und, während im schwindenden nächtlichen Dämmer die ersten Vögel zu zwitschern begannen, auf die mögliche Wiederkehr von ein oder zwei Lauten zu lauschen, weniger naturhaften und nicht draußen, sondern drinnen, die ich zu hören vermeint hatte. Es war da ein Moment gewesen, in dem ich, schwach und fern, den Schrei eines Kindes vernommen zu haben glaubte, und dann hatte es noch einen andern Moment gegeben, in dem ich gewahr wurde, daß ich aufschreckend erwachte wie von sachten Schritten im Gang vor meiner Tür. Doch diese vagen Phantasievorstellungen waren nicht klar genug zu erkennen gewesen, um sie nicht zu verwerfen, und nur im Licht, oder in der Düsternis, wie ich besser sagen sollte, anderer und späterer Angelegenheiten kommen sie mir jetzt wieder in den Sinn. Die kleine Flora zu behüten, zu unterrichten, zu »formen« würde ganz offensichtlich das Leben glücklich und sinnvoll machen. Ich hatte zwischen uns Hausangestellten vereinbart, daß ich Flora nach dieser ersten Nacht selbstverständlich nachtsüber bei mir haben sollte, wozu ihr kleines weißes Bett bereits in meinem Zimmer aufgestellt worden war. Schließlich hatte ich mich verpflichtet, sie völlig in meine Obhut zu übernehmen, und nur aufgrund unserer Erwägung, daß ich ihr ja fremd war und sie naturgemäß Scheu hatte, war sie dieses letzte Mal noch bei Mrs. Grose geblieben. Trotz dieser Scheu – die das Kind, auf die verwunderlichste Art von der Welt, ganz freimütig und beherzt zugegeben hatte, indem es ohne ein Anzeichen dafür, daß es ihm unangenehm bewußt sei, wahrhaft mit der tiefsinnigen, anmutigen Gelassenheit eines heiligen Kindes von Raffael hingenommen hatte, daß wir darüber sprachen, ihr diese Eigenschaft zuschrieben und unsere Beschlüsse faßten – hatte ich das ganz sichere Gefühl, sie würde mich bald liebhaben. Daß ich Mrs. Grose bereits so gern mochte, kam zum Teil daher, daß sie sichtlich Gefallen fand an meiner Bewunderung und meinem Staunen, als ich zum Abendessen beim Schein von vier stattlichen Kerzen Platz genommen hatte zusammen mit meiner Schülerin, die, ein Lätzchen umgebunden, auf einem hohen Stuhl saß und mich zwischen den Kerzen über Brot und Milch hinweg ansah. Natürlich gab es Dinge, über die wir uns in Gegenwart Floras nur in Form von erstaunten und erfreuten Blicken, von unklaren und mißverständlichen Andeutungen austauschen konnten.
»Und der kleine Bruder – sieht er ihr ähnlich? Ist er auch so außergewöhnlich?«
Wir waren uns bereits darüber einig geworden, daß man einem Kind nicht allzusehr schmeicheln sollte. »O Miss, höchst außergewöhnlich. Wenn Sie von dem hier schon eine so ausgezeichnete Meinung haben!« – und sie stand da mit einem Teller in der Hand und strahlte unsere Gefährtin an, die uns ansah, indem sie von einer zur andern blickte mit sanften Himmelsaugen, in denen nichts lag, was uns Einhalt gebot.
»Ja; wenn ich –?«
»Sie werden hingerissen sein von dem kleinen Herrn!«
»Nun, mir scheint, deswegen bin ich hierher gekommen – um hingerissen zu werden. Ich fürchte allerdings« – und ich weiß noch, daß ich mich dazu gedrängt fühlte, das hinzuzufügen –, »ich werde ziemlich leicht dazu gebracht. In London war ich ganz weg!«
Ich sehe noch Mrs. Groses unmißverständliches Gesicht, als ihr diese Äußerung klar wurde. »In Harley Street?«
»In Harley Street.«
»Nun, Miss, Sie sind nicht die erste – und werden auch nicht die letzte sein.«
»Oh, ich maße mir nicht an, die einzige zu sein«, konnte ich lachend sagen. »Mein anderer Schüler kommt also, wie ich annehme, morgen zurück?«
»Nicht morgen – am Freitag, Miss. Er kommt, wie Sie, mit der Postkutsche, unter der Obhut des Postaufsehers, und wird dann mit demselben Wagen abgeholt.«
Ich fragte sogleich, ob es infolgedessen nicht ebenso angebracht wie vergnüglich und nett wäre, wenn ich ihn, gemeinsam mit seiner kleinen Schwester, bei der Ankunft an der Station erwarten würde. Mrs. Grose stimmte diesem Vorschlag so herzlich zu, daß ich ihr Verhalten als eine Art tröstliches – und Gott sei Dank nie enttäuschtes! – Unterpfand dafür ansah, daß wir in allen Fragen vollkommen einer Meinung sein würden. Oh, sie war so froh, daß ich da war!
Was ich am nächsten Tag empfand, war, glaube ich, nicht etwas, das man geradezu einen Rückschlag nach der gehobenen Stimmung bei meiner Ankunft nennen könnte; es war wohl höchstens eine leichte Niedergeschlagenheit, die dadurch hervorgerufen wurde, daß mir das genauere Ausmaß meines neuen Aufgabenbereichs erst klar wurde, als ich ihn gründlich durchging, ihn mir vor Augen hielt und begriff. Er hatte in Wirklichkeit einen Umfang und eine Anhäufung von Verpflichtungen, auf die ich nicht vorbereitet war und denen gegenüber ich mir, unerfahren und ein wenig verängstigt wie ich war, doch etwas anmaßend vorkam. Unter dieser Beunruhigung hatten die regelmäßigen Unterrichtsstunden sicher ein wenig zu leiden. Ich hielt es für meine vordringlichste Aufgabe, mit den behutsamsten Verfahren, die ich ausklügeln konnte, das Kind für mich zu gewinnen, es gewissermaßen mit mir vertraut zu machen. Den Tag verbrachte ich mit Flora zusammen im Freien; zu ihrer großen Freude vereinbarte ich mit ihr, daß sie, sie allein mir das Anwesen zeigen sollte. Sie führte es mir Stufe um Stufe vor, Raum um Raum, verborgene Winkel um verborgene Winkel, unter drolligem, reizend kindlichem Geplauder und mit dem Ergebnis, daß wir im Verlauf einer halben Stunde dicke Freunde wurden. Den ganzen kleinen Rundgang über beeindruckte sie mich, so jung wie sie war, durch ihre Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit, ihr Verhalten in leerstehenden Kammern und düsteren Gängen, auf gekrümmten Treppenfluchten, die mich zum Verschnaufen nötigten, und selbst auf der Spitze eines alten zinnenbewehrten viereckigen Turmes, der mich schwindlig machte; ihr morgenfrischer Wohllaut, ihre Neigung, mir weit mehr zu erzählen als mich zu fragen, ließen sich klangvoll vernehmen und zogen mich mit fort. Ich habe Bly nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem ich es verließ, und ich kann wohl mit Bestimmtheit sagen, daß es meinen nunmehr erfahreneren und kundigeren Augen jetzt weit unbedeutender erscheinen würde. Aber als meine kleine Führerin mit ihren goldenen Haaren und ihrem blauen Kleidchen vor mir um Ecken hüpfte und Wege hinuntertrippelte, da war mir, als sähe ich ein Schloß aus einem romantischen Roman, mit einer rosigen Elfe als Bewohnerin, einen Ort, so beschaffen, als würde auf irgendeine Weise, zur Täuschung der jugendlichen Vorstellung, all dieser Schein Geschichtenbüchern und Märchen entnommen. War es denn etwa nicht ein Geschichtenbuch, über dem ich in Schlaf und Traum versunken war? Nein, das hier war ein großräumiges, unschönes, altehrwürdiges, aber annehmliches Haus, in das einige Bestandteile eines noch älteren Gebäudes eingegliedert waren, halb leerstehend und halb in Gebrauch, wo mich die Vorstellung überkam, wir seien hier fast so verloren wie eine Handvoll Passagiere auf einem großen dahintreibenden Schiff. Und ich stand, zu meinem Leidwesen, unerfahren am Steuer!