Die Entwicklung der EU wird oft als Verfallsgeschichte erzählt: Aus einem visionären Projekt wurde ein technokratisches Monstrum; angesichts der Eurokrise scheint die Stunde des kollektiven Bonapartismus gekommen zu sein, der den Kontinent mit einem Austeritätsregime überzieht. Hauke Brunkhorst präsentiert eine andere Lesart: Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde sind Vision und Technokratie aufeinander bezogen, die utopischen Anfänge sind in Gesetzen konserviert, der Europäische Gerichtshof stärkt die Rechte der Unionsbürger. Das europäische Projekt bleibt ein offener Prozeß, der erneut in eine emanzipatorische Richtung gelenkt werden kann – etwa durch eine Mobilisierung der hochqualifizierten, aber prekär beschäftigten jungen Menschen in Spanien, Griechenland und anderen Mitgliedsstaaten der EU.
Hauke Brunkhorst, geboren 1945, lehrt Soziologie an der Universität Flensburg. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft (stw 1560).
Das doppelte Gesicht Europas
Zwischen Kapitalismus und Demokratie
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Erste Auflage 2014
edition suhrkamp 2676
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Originalausgabe
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73602-9
www.suhrkamp.de
Vorbemerkung
I. Verdrängter Ursprung
II. Dr. Jekyll und Mr. Hyde
III. Verfassungsevolution
IV. You can make it more complicated
V. Ökonomischer Belagerungszustand
VI. Wiederkehr des Verdrängten
Anmerkungen
Je länger man Europa vernünftig anschaut, desto unvernünftiger schaut es zurück. Aber auch die vernünftige Anschauung ist Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das legt eine dialektische Betrachtung nahe.
Im ersten Kapitel dieses Buches geht es um die Geschichte der Europäischen Union, deren Dialektik sich als Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten darstellt. Verdrängt wurde der emanzipatorische Anfang ebenso wie die koloniale Vergangenheit und Gegenwart des Kontinents. An ihre Stelle trat eine Friedens-, Verständigungs- und Weltbeglückungsrhetorik, die der Rekonstruktion nationaler Einheit ebenso entgegenkam wie der Hegemonie einer entpolitisierten Wirtschaftsverfassung.
Das Verdrängte lebt allerdings untergründig fort und bleibt dem bewußten Leben als Widerspruch und Widerlager erhalten. Begrifflich stellt es sich als dialektische Spannung zwischen der Logik der Emanzipation und der Logik technokratischer Verwaltung dar. In der sozialen Evolution verschränken sich normative Lernprozesse und kognitive Anpassungsprozesse. Sie verstellen einander den Weg, irritieren sich wechselseitig, springen wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde von einem Extrem ins andere. Dr. Jekyll, das ist der gute Wille, der den Kantian constitutional mindset zur Gründung einer kosmopolitischen Republik gleicher und freier Bürger antreibt, aber statt des Guten, das er will, bisweilen, wenn auch beileibe nicht immer, das Böse schafft. Mr. Hyde ist der normativ neutralisierte managerial mindset evolutionärer Anpassung, der stets das Böse will, für Kant sogar das radikal Böse verkörpert, aber trotz doppelter Negation und anderer dialektischer Tricks nicht immer das Gute schafft. Es ist bei Goethe ja auch der Mephistopheles, der sich mit dieser Behauptung selbst verklärt.
Dieses Szenario dient mir dazu, in Kapitel II den evolutionstheoretischen Rahmen zu illustrieren, in den ich dann im längsten, dritten Kapitel die dialektischen Verschlingungen einer mehrstufigen Verfassungsevolution einzeichne. Auch wenn das von Mr. Hyde so perfekt wie von Frau Merkel kontrollierte Europa die Logik der Emanzipation, die in seinen Verfassungsbegriffen objektiver Geist geworden ist, nicht mehr los wird, so verdüstert sich doch das Bild mit jedem weiteren Fortschritt der Integration, der auch einer der Emanzipation ist. Mit der Einführung einer Währung ohne Gesetzgeber und Regierung ist eine Situation entstanden, in der Europa dem ökonomischen Belagerungszustand wehrlos ausgeliefert zu sein scheint (Kapitel V).
Doch auch dieser Schein könnte trügen. Die Krise löst eine Wiederkehr des bloß verdrängten Emanzipationsinteresses aus. Sie läßt erkennen, daß der Rückzug in die Staatssouveränität wenig aussichtsreich und normativ nicht wünschenswert ist. Die Demokratie, die nur als daseiender Widerspruch des bestehenden Institutionensystems existiert, widerspricht nicht nur der Gewaltherrschaft des modernen Kapitalismus, sondern auch der Gewaltherrschaft des modernen Staats.
»Die Lage« (Angela Merkel) ist unübersichtlich, vielfach verdüstert. Obendrein ist die Evolution, wie immer, unbeherrschbar. Sie ist aber auch von normativen Lernprozessen abhängig, die ihr die Weichen stellen und die Gewaltschranke im Recht, mit ungewissem Ausgang, zurückdrängen. Angesichts der Lage hilflos, aber nicht ohne Hoffnung, faßt das letzte Kapitel Chancen und Perspektiven der vielleicht doch noch möglichen europäischen Demokratie ins Auge.
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Wenn ich im Folgenden von Europäischer Union spreche, meine ich das als Oberbegriff für die früheren Gemeinschaften und die spätere Union. Manchmal sage ich auch nur »Europa«. Außerdem werde ich, wo ich mir Martti Koskenniemis Unterscheidung zwischen einem Kantian constitutional und einem managerial mindset zu eigen mache, die englischen Begriffe beibehalten, weil das Wort mindset sich schwer ins Deutsche übersetzen läßt. Mindset ist ein Habitus, eine Mentalität, eine Denkweise, eine praktisch gerichtete, generalisierte Einstellung sozialer Gruppen zu sich und andern sozialen Gruppen und zur Gesellschaft im ganzen. Im mindset durchdringen sich Begriff und Sache, vernetzen sich Theorie und Praxis. International mindset wird im Deutschen oft mit Internationalität, growth mindset mit Wachstumsorientierung, global mindset ebensoschlecht mit globalem Denken wie business mindset mit geschäftlichem Denken übersetzt, so daß man es genauso gut beim englischen Ausdruck belassen kann.
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Ich danke allen, mit denen ich während vieler Tagungen und Seminare über das Thema diskutiert habe. Frühere Fassungen oder Teile des Manuskripts haben hilfreichen Widerspruch ausgelöst oder weiterführende Kommentare veranlaßt. Dafür danke ich Micha Brumlik, Sonja Buckel, Eric O. Eriksen, Michelle Everson, Robert Fine, John Eric Fossum, René Gabriels, Charlotte Gaitanides, Heinrich Geiselberger, Gerd Grözinger, Jürgen Habermas, Helge Hoibraten, Pablo Holmes, Turkuler Isiksel, Christian Joerges, Paul F. Kjaer, Gertrud Koch, Kjartan Mikalsen, Regina Kreide, Phillip Liste, Mikael Rask Madsen, Augustin Menendez, Kolja Möller, Christoph Möllers, Axel Mueller, Marcelo Neves, Peter Niesen, Markus Patberg, Jiri Priban, Thore Prien, Gerard Raulet, Anne Reichhold, Florian Rödl, Rainer Schmalz-Bruns, Alexander Somek, Chris Thornhill, Kaarlo Tuori und Antje Wiener. Jean Cohen und Andrew Arato danke ich für ein äußerst produktives gemeinsames Seminar an der New School for Social Research zu diesem Thema. David Rasmussen danke ich für die Gelegenheit, in den Clough Center Lectures Spring 2013 meine Thesen vortragen und diskutieren zu können. Besonders dankbar bin ich Maryna Shchaveleva und Oksana Dekhtiarova für die Entdeckung und Beschaffung immer wieder neuer Literatur.
Dem Andenken meines Freundes Heinz Paetzold, mit dem ich auf gemeinsamen Seminaren in Dubrovnik viel über dieses und viele andere Themen diskutiert habe, widme ich diesen Essay.
Wie viele Geschichten ist auch die der Europäischen Union eine der Verdrängung ihres Ursprungs.1 Nicht mit dem technokratischen Konsens der Eliten und ihrem managerial mindset, sondern mit der Befreiung unterdrückter Massen zu politischer Selbstgesetzgebung begann die Vereinigung Europas im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs (Juli 1944 bis Mai 1945). Durch den technokratischen Konsens der Eliten, der sich dann in den Römischen Verträgen von 1957 durchsetzte, wurde der in den Völkerschlachten, Bürgerkriegen und Klassenkämpfen des Zweiten Weltkriegs erwachte Kantian constitutional mindset der Gründung Europas nachhaltig verdrängt.2 Verdrängt wurde das Ziel der Emanzipation Europas von faschistischer Herrschaft, das im Namen umfassender, demokratischer und sozialer Selbstbestimmung angestrebt worden war.3 Verdrängt und durch nachgeschobene Friedensrhetorik verdeckt wurde die von faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft befreiende Gewalt der Waffen, die der verfassunggebenden Gewalt der Neugründung Europas die Richtung gewiesen hatte. Verdrängt wurde die verfassunggebende Gewalt der Völker, die den regierenden Herren der Verträge die Vereinigung vorgeschrieben hatte.4 Was blieb, war die Herrschaft der Verträge.
Verdrängt wurde, daß die Einigung Europas und die Einbeziehung Südeuropas in die Union nur unter striktem, auch militärisch erzwungenem Ausschluß aller demokratischen Alternativen durchgesetzt wurde, die links vom (moderat sozialdemokratischen) Modell des demokratischen Kapitalismus lagen.5 Ein aussichtsreicher kommunistischer Aufstand in Griechenland wurde lange vor Gründung der EU gleich nach dem Krieg von britischen Truppen niedergekämpft. Danach hat der Westen die Errichtung einer schwach konstitutionalisierten Monarchie mit einer orthodoxen Staatskirche ebenso massiv unterstützt wie die jahrzehntelange Alleinherrschaft der Christdemokraten in Italien. Als der Dauerkonflikt zwischen Monarchie und Parlament in Griechenland sich in den sechziger Jahren zur Legitimationskrise des politischen Systems ausweitete, haben die EU und der Westen die diktatorische Lösung des Problems mindestens geduldet, wenn nicht stillschweigend begrüßt und unterstützt. Die Obristen hatten die Mitgliedschaft im Europarat sofort nach der ersten Anklage mit der offiziellen Begründung aufkündigt, der Europarat und dessen Kommission für Menschenrechte sei eine Verschwörung von Kommunisten und Homosexuellen gegen die hellenischen Werte.6
Verdrängt wurde, daß die EU und ihre Gliedstaaten zusammen mit der Nato und einer militärischen Drohkulisse seitens der USA in den siebziger Jahren die damals durchaus realistische eurokommunistische Option in Italien, Portugal und Spanien blockierten. Die marktkonforme Begrenzung des demokratischen Alternativspielraums und die Unterwerfung Südeuropas unter die Herrschaft des europäischen Wettbewerbskommissars hat Europa viel Geld gekostet. Der segensreiche Strom des Konsum- und Investitionskapitals nach Süden verebbte erst, als das Geld für die Osterweiterung benötigt wurde, um dort den Hoffnungsschimmer des demokratischen Sozialismus im Keim zu ersticken, obwohl viele Bürger Osteuropas diese Option (eine Option, welche die Tschechen in den späten sechziger Jahren riskiert und teuer bezahlt hatten) befürworteten.
Die Verdrängung der kantischen Emanzipationsgeschichte Europas war von Anfang an von einer weiteren Verdrängungsleistung begleitet worden, der Verdrängung der Kolonialgeschichte und des kolonialen Befreiungskampfes.7 Die kolonialen Befreiungskämpfe begannen auf breiter Front nach dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution und der Proklamation des universellen Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den US-Präsidenten Wilson. Sie gewannen durch die nicht mehr allein europäisch und westlich dominierte Neugründung der Vereinten Nationen und den Sieg der chinesischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg an Schubkraft und erreichten ihr Ziel in den sechziger Jahren, auch wenn es bis zur endgültigen Befreiung der letzten Kolonie (Simbabwe 1980) und dem Ende des südafrikanischen Apartheidregimes (1989) noch etwas länger dauern sollte. Während die Staaten des europäischen Kontinents ihre Neugründung einer globalen Assoziation britischer, amerikanischer, sowjetischer, chinesischer, kolonialer und vieler andere Armeen, kontinentaleuropäischer Partisanenverbände und verzweifelter Aufstände verdankten, haben die vom soeben befreiten Europa immer noch beherrschten und kolonisierten Völker sich selbst wenige Jahre bzw. Jahrzehnte später von der Weltherrschaft des europäischen, westlichen und japanischen Imperialismus, der weit über den Kreis der autoritären und faschistischen Staatenwelt der dreißiger und vierziger Jahre hinausreichte, befreit und jeweils neue Staatsgewalten in Asien, Afrika und dem Nahen Osten begründet.
Immer noch gibt es winzige Reste europäischer Kolonialherrschaft, in Nordafrika die spanischen Städte Ceuta und Melilla, im Pazifik Französisch-Polynesien, -Neukaledonien, -Wallis et Futuna, im Indischen Ozean die französischen Übersee-Départements La Réunion und Mayotte, in der Karibik die französischen Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique, die niederländischen autonomen Gebiete Curaçao, Sint Maarten, Aruba, Bonaire, Sint Eustatius und Sabai. In Lateinamerika teilt das französische Übersee-Département Guayana sogar eine Landgrenze mit Brasilien. Insgesamt leben in Afrika und Übersee ca. drei bis vier Millionen EU-Bürger indigener Herkunft, die sich in der Mehrzahl in Referenden für den Verbleib in den vormaligen Kolonialländern und der EU entschieden haben. Trotzdem fehlen sie auf den offiziellen Landkarten der EU ebenso wie die nachts im hellen Licht der Feindaufklärung erstrahlende Grenze der EU auf dem afrikanischen Kontinent (Ceuta, Melilla). Obwohl Marokko an Ceuta und Melilla grenzt und damit, nicht anders als die Ukraine, eine Landgrenze mit der Europäischen Union teilt, überdies Europa kulturell und sprachlich mindestens so eng verbunden ist wie die Ukraine, wurde der Antrag Marokkos auf Mitgliedschaft 1986 mit der schlichten Begründung zurückgewiesen, Marokko sei kein europäisches Land. Dessen Nachbarland Algerien, das in der Gründungszeit der Europäischen Union achtzig Prozent des französischen Staatsterritoriums umfaßte, war sogar von 1951 bis 1962 als Teil Frankreichs Mitglied der Montanunion und von 1957 bis 1962 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Nie ließ die französische Regierung auch nur den geringsten Zweifel aufkommen, daß Algerien und Frankreich einen Staat bildeten und daß Frankreich das Herz der Europäischen Union sei. Dasselbe gilt für den Vertragstext von 1957 (Art. 227 Abs. 2 EEC). Aber der zwingende logische Schluß, daß dann auch Algerien europäisch sei, sollte nicht gelten. Es galt statt dessen der dekonstruktive Syllogismus: (1) Algerien ist französisch. (2) Frankreich ist europäisch. Also ist (3) Algerien nicht europäisch. Der algerische Befreiungskrieg, den Frankreich von 1954 bis 1962 als Krieg gegen seine eigene afrikanische Bevölkerung führte, ließ sich mit solcher Logik, die den Weißbüchern der Europäischen Kommission eigen ist, ebenso leicht verdrängen wie die eine Million Toten,8 die er einer Bevölkerung abverlangte, die nach einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs von 1963 spätestens seit 1957, eigentlich schon seit 1951 europäische Bürgerrechte hatte.9 Innerhalb der EU wurde die nichteuropäische Emanzipations- und Unterdrückungsgeschichte Europas vollständig verdrängt. Kein offizielles Dokument der EU erwähnt sie.
Verdrängt wurde auch, daß, mit Ausnahme des winzigen Luxemburg, alle Gründernationen der späteren EU, die Niederlande, Belgien, Italien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, frühere Kolonialmächte waren und es (mit Ausnahme der Bundesrepublik) bis weit in die Zeit der Europäischen Gemeinschaften blieben. Verdrängt wurden die vielen kolonialen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die, was die bloße Zahl der in kurzen Zeiträumen Ermordeten und das Ausmaß der Grausamkeiten angeht, den japanischen und deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, der im pazifischen Raum schon Mitte der dreißiger Jahre begann, kaum nachstehen.10 Verdrängt wurde die Einübung der rassistischen Vernichtungspraxis im Herzen der Finsternis,11 lange bevor die Taten in Europas Bloodlands wiederholt wurden. Von alldem findet sich in den offiziellen Dokumenten der Union, die immer wieder Europas Geschichte im kosmopolitischen Friedensprojekt der EU enden lassen, nicht eine einzige Spur. Die einzigen Akte physischer Gewalt, von denen dort die Rede ist, sind die sowjetische Intervention in Ungarn 1956 (damals noch kein Mitglied der EU) und die weitgehend gewaltlosen Studentenunruhen der langen sechziger Jahre.12
Silencing, zu deutsch: kommunikatives Beschweigen, ist eine der paradigmatischen Leistungen des managerial mindset.13
Trotz dieser von vornherein zutiefst zwiespältigen Befreiungs-, Unterdrückungs- und Verdrängungsgeschichte bleiben Befreiung und Neugründung Kontinentaleuropas ein eindrucksvoller Umbruch, der ganz dem Muster einer großen Revolution entsprach. Noch der scheidende Kommissionspräsident José Manuel Barroso, man glaubt es kaum, verdankt seinen Posten einem nachholenden Effekt jener gewaltigen Emanzipationsbewegung gegen den europäischen Faschismus, die Portugal, Spanien und Griechenland Mitte der siebziger Jahre erfaßte. Barroso wurde 1956 im damals noch faschistischen Lissabon geboren, dem Zentrum eines fragil gewordenen, aber noch bestehenden, mit Panzern, Geheimpolizei und Folterknechten zusammengehaltenen Kolonialreichs.14
Die Neugründung trat nicht nur in Deutschland, sondern in allen faschistisch beherrschten Ländern Europas an die Stelle des nach Auschwitz und dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr möglichen Friedensvertrags. Die bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte, das Ende ganzer Staaten und die Aburteilung der faschistischen Kriegs- und Menschheitsverbrechen vor den Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio war die historische Bedingung eines auch nach »diesem Ende« noch möglichen »neuen Anfangs«.15 Die zwischen 1944 und 1949 entstandenen Verfassungen der Gründerstaaten Europas sind dessen erster Ausdruck. Der revolutionäre Charakter dieses Umbruchs ist an einer Reihe von Merkmalen gut erkennbar:
(1) Alle Erstunterzeichnerstaaten der Verträge von Paris 1951, der die Montanunion (mit unabhängiger Hoher Behörde, dem Vorläufer der späteren Kommission, und dem von Anfang an politsch aktiven Gerichtshof) schuf, und Rom 1957, der die EWG ins Leben rief, sind zwischen 1944 und 1948 durch ihre verfassunggebende Legislativgewalt neu begründet worden.16
(2) Das politische Führungspersonal der Gründerstaaten wurde nahezu vollständig ausgetauscht und durch vormalige Emigranten, Widerstandskämpfer und Feinde der Faschisten und ihrer Quisling-Regimes ersetzt – im besiegten Westdeutschland etwas zögerlicher, mit eher sanfter Nachhilfe der Alliierten und unter kommunikativem Beschweigen brauner Biographieanteile. Viele der neuen politischen Akteure Europas kamen direkt aus dem Gefängnis oder dem Konzentrationslager oder hatten im Krieg auf seiten der Alliierten gegen das eigene Land und seine autoritäre Regierung und für ein anderes Land und eine andere Welt gekämpft.17 In Deutschland wurde die Kommunistische Partei vom damals noch ziemlich reaktionären Verfassungsgericht verboten, und Sozialdemokraten wie der Nationalist Schumacher und der Internationalist Brandt sahen sich dem perfiden öffentlichen Ansinnen ausgesetzt, für KZ-Gefangenschaft, Emigration und den Kampf auf der richtigen Seite Abbitte zu leisten. Auch der westlich orientierte Kanzler Adenauer, weiß Gott kein Nazi, bediente sich im Kalten Krieg gegen den Kommunismus, den er und seine Propagandastäbe mit der Sozialdemokratie identifizierten, hämisch des unsäglichen Klischees vom unehelichen Vaterlandsverräter (»Brandt, alias Frahm«). Aber nach dem Intermezzo des ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger wurde mit Willy Brandt schließlich auch in der Bundesrepublik ein Emigrant, der im Exil gegen das Großdeutsche Reich gekämpft hatte, Bundeskanzler.
(3) Die Alliierten beendeten 1945 die staatliche Existenz Deutschlands und begründeten eine Rechts- und Staatsordnung, aus der am Ende zwei neue Staaten hervorgingen. Das vollständige Verschwinden Deutschlands als souveräner Staat strafte fortan jede Behauptung staatlicher Identität Lügen, das konservative deutsche Staatsrecht, das noch immer Schmitt hochhielt und Kelsen totschwieg, mochte sich noch so sehr an die Behauptung staatlicher Kontinuität klammern, die es frei nach dem aufs deutsche Volk gemünzten Motto Stalins in den souveränitätsfreien Raum projizierte: »Die Hitlers kommen und gehen, der deutsche Staat bleibt bestehen.«18 Das wurde zur Lebenslüge der Bundesrepublik. Aber es half nichts, der Staat war weg. Deshalb konnte das Grundgesetz auch nicht dem immer schon bestehenden, substantiellen Staat eine neue Verfassung verpassen, als wäre es ein neuer, bürgerlicher Anzug, den man, wenn es ernst wird, gegen eine schneidige Uniform eintauscht, sondern die verfassunggebende Gewalt des Volkes hatte (anders als die Verfassung des 1871 gegründeten Bismarckreichs) durch die neue Verfassung einen neuen Staat hervorgebracht – und kein Stück mehr an Staat, als die Verfassung erlaubt.19 Schon deshalb ist es ein großer Fehler, die demokratische Verfassung (und das Volk, das sie sich gibt) mit dem Staat zu identifizieren. Das Grundgesetz hat sich vom rechtshegelianischen Sonderweg und dem deutsch-englischen Konstitutionalismus verabschiedet und ist, wie schon im ersten, gescheiterten Versuch die Weimarer Reichsverfassung, dem evolutionären Pfad der atlantischen, französisch-amerikanischen Verfassungsrevolution gefolgt.20
(4) Die neuen Verfassungen waren demokratischer als je zuvor und haben überall die vor-egalitäre, verfassungsrechtliche Verschränkung des Staats mit mächtigen Korporationen und Verbänden aufgelöst und die ungeteilte Herrschaft des nun erst überall ans allgemeine und gleiche Erwachsenenwahlrecht gebundenen Parlaments zum Ausdruck gebracht.21 Der im Weimarer Reichstag noch kontrafaktische Satz Herman Hellers, Gesetz sei, was immer das Parlament, und nur, was das Parlament beschließt, wurde verfassungsrechtliche Wirklichkeit.22 Damit wurde der Rechtshegelianismus deutscher Staatsrechtslehre zur verfassungsrechtlich nicht mehr gegenwärtigen Vergangenheit, auch wenn er als herrschende Meinung des Faches noch lange ein gespenstisches Schattendasein führte und im Neokonservatismus der frühen neoliberalen Ära sogar ein beachtliches intellektuelles und ideologisches Comeback feiern konnte.
(5) Die neuen Verfassungen waren direkt oder indirekt auf den egalitären Sozialstaat eingeschworen. Schon 1941 hatten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni (alle drei kommunistische Settembrinis, die 1941 auf der italienischen Gefangeneninsel Ventotene interniert waren23) im »Manifest von Ventotene« die Idee eines europäischen Föderalismus mit politischer und gesellschaftlicher Demokratisierung, sozialen Rechten, gemischten Eigentumsformen und sozial interventionistischer Wirtschafts- und Finanzpolitik verbunden – und damit das sozialstaatliche Modell der nationalstaatlichen Massendemokratien der Nachkriegszeit, lange bevor es in die nationale Wirklichkeit trat, europäisiert. Das Manifest bringt »den Kern einer Zeitdiagnose zum Ausdruck, die damals die meisten politischen Kräfte des antifaschistischen Widerstands teilten«.24 Es dominierten bis in die Programme konservativer Parteien hinein Ideen des demokratischen Sozialismus.25 Das Ahlener Programm (1947) der nordrhein-westfälischen CDU ist nur eines von vielen Beispielen.
Die in den fünfziger Jahren von einer Minderheit durchgesetzte Fixierung der deutschen Konservativen auf den radikal antisozialistischen Ordoliberalismus der sogenannten sozialen Marktwirtschaft war eine weitere deutsche Besonderheit, die erst in den späten Sechzigern korrigiert wurde, als die Sozialdemokraten und mit ihnen der wirtschaftspolitische Keynesianismus zu nationaler Macht gelangten. Charakteristisch war in den fünfziger Jahren die berühmte Kontroverse zwischen dem neomarxistischen Theoretiker des parlamentarischen Wegs zum Sozialismus, Wolfgang Abendroth, den die Nazis ins Zuchthaus geworfen hatten, und dem ehemaligen Nazi-Verwaltungsjuristen und neokonservativen Schüler Carl Schmitts, Ernst Forsthoff. Forsthoff vertrat eine heute wieder hochaktuelle Position, die sich weitgehend mit der Hayeks und jener der deutsch-österreichischen Ordoliberalen deckte.26 (Hayek war zwar kein Schüler Carl Schmitts wie Forsthoff, aber ein großer Fan von ihm.27) Die Ironie der Kontroverse aus den Jahren 1953 und 1954 besteht darin, daß Abendroths Auslegung der Sozialstaatsverfassung in den fünfziger Jahren für marxistisches Teufelswerk gehalten und ihrem Autor sogar der Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung verweigert wurde, obwohl er zu deren Vorstand gehörte. Selbst der weit progressivere Verband deutscher Politikwissenschaftler konnte sich am Ende des Jahrhunderts nicht zur Auslobung eines Abendroth-Preises durchringen und hat sich statt dessen für den wissenschaftlich eher bedeutungslosen Konservativen Theodor Eschenburg entschieden, der sich dann freilich als weiterer »Nazi in der deutschen Suppe« (Thomas Bernhard) erweisen sollte. Der managerial mindset hat’s verdrängt, aber die Suppe hat’s dann doch ans Tageslicht gespült. Zu der Zeit aber hatte sich Abendroths Auslegung des Grundgesetzes bei der Mehrzahl der Verfassungsjuristen, zumindest beim Verfassungsgericht selbst, »durchgesetzt«.28 Anders als Abendroths Auslegung des Grundgesetzes war Forsthoffs ordoliberale Ausweitung des Grundrechtsschutzes auf das Privateigentum an Produktionsmitteln, die auf der rechtshegelianischen Trennung von Staat und Gesellschaft fußte, soziologisch veraltet und juristisch mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 GG) unvereinbar geworden, stellt dieses doch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) dem »Ausgang« und der »Ausübung« »aller« »Staatsgewalt« durch das »Volk« (Art. 20 Abs. 2 GG) unmittelbar voran. Im Unterschied zur Hegelschen Rechtsphilosophie und zur deutschen Staatsrechtslehre des Kaiserreichs kennt das Grundgesetz normativ keinen Gegensatz von Staat und Gesellschaft, sondern verlangt umgekehrt, »den auf Demokratie verpflichteten Staat als bestimmbaren Teil der Gesellschaft« zu »behandeln«.29 Erst in den sechziger Jahren begann auch dieses deutsche Sonderbewußtsein langsam abzusterben.30
Dem nationalen Tod war freilich, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die geräuschlose, von Hayeks brillanter Synthese aus Carl Schmitt, Karl Popper und Friedrich Hayek auf den ordoliberalen Begriff gebrachte Wiederauferstehung des demokratiefreien Not- und Verstandesstaats (Hegel) im europäischen Institutionensystem vorangegangen. Der Not- und Verstandesstaat der Hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Rechtsstaat ohne Gesetzgeber und Regierung, ganz nach dem Geschmack des Ordo- und Neoliberalismus, und schon Hegel war so weit Liberaler, daß er nicht nur dem (nur mitbestimmenden) Gesetzgeber, sondern auch der (monarchisch bestimmten) Regierung die Lösung der sozialen Klassenprobleme, die der moderne Kapitalismus zwangsläufig erzeugt, entzogen hat, um sie der staatsfernen bürgerlichen Gesellschaft selbst zu überlassen – wohl wissend, daß sie in der bürgerlichen Gesellschaft keine Lösung finden können.31 Das haben die heutigen Theorien der »civil society« zwar vergessen, sie scheitern aber am selben Problem.
(6) Die Verpflichtung auf eine sozial egalitäre Massendemokratie in den Verfassungen der Gründerstaaten wurde durch deren kosmopolitische Völkerrechtsoffenheit ergänzt – mit der einen Ausnahme Belgiens, das durch solche Offenheit sein noch bestehendes Kolonialreich gefährdet sah. Eine berechtigte Befürchtung, war die UN-Charta doch nicht nur unter aktiver Beteiligung lateinamerikanischer und nichtwestlicher Länder zustande gekommen, sondern diese waren auch in überwältigender Mehrzahl deren Erstunterzeichner (33 von 48 Staaten).32 Damit war Europa endgültig zu einer Provinz der Weltgesellschaft geworden.33
(7) Verfassungsrechtlich entscheidend für die Gründung und Entwicklung der Europäischen Union ist jedoch gewesen, daß sich die verfassunggebenden Gewalten aller Gründungsmitglieder explizit zum Staatsziel der politischen Vereinigung Europas bekannt haben. Nur Luxemburgs Verfassung fehlte eine explizite Formulierung, aber dessen Verfassungsgericht entschied, daß sie der Verfassung implizit sei. Zusammengenommen, sind die Gliedstaaten deshalb nicht nur vertragsschließende Akteure internationalen Rechts, sondern konstituieren durch den von ihnen geteilten verfassunggebenden Willen schon 1951 (bei Gründung der Montanunion) eine autonome Rechtsgenossenschaft. Jan Eric Fossum und Augustin Menendez sprechen treffend von einem »synthetic constitutional moment«.34 Dadurch wuchs den Gemeinschaftsverträgen von Paris und Rom von Anfang an eine weit über das Völkervertragsrecht hinausschießende verfassungsrechtliche Verbindlichkeit zu.
Dem kam das öffentliche Bewußtsein des geschundenen Kontinents entgegen. Churchill mag bei seiner berühmten Züricher Europarede von 1946 – »We must build a kind of United States of Europe [...] which could give a sense of enlarged patriotism and common citizenship to the distracted peoples of this turbulent and mighty continent«35 – nicht nur heimlich gehofft haben, das durch den Krieg geschwächte britische Kolonialreich an der Seite eines geeinten Europa retten zu können. Indem Churchill ein starkes British Commonwealth of Nations neben einem starken europäischen Bundesstaat, den USA und der Sowjetunion, vereinigt unter dem Dach der UNO, imaginiert, macht er einen letzten, längst hoffnungslos gewordenen Versuch, die koloniale Vergangenheit in die postkoloniale Gegenwart Europas hinüberzuretten.
Aber Churchill mag damit auch ein sehr viel realistischeres Projekt vor Augen gehabt und genau daran seine reaktionären Hoffnungen geknüpft haben. Vielleicht hat er sich an die große Wirkung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs erinnert. Wilson hatte 1918 für einen geschichtlichen Augenblick erst die Hoffnungen der Welt auf Völkerbund, Kosmopolitismus und demokratische Selbstbestimmung gelenkt – und dann enttäuscht. Das hatte seinerzeit den jungen Ho Chi Minh motiviert, aus dem Paris der Versailler Friedenskonferenz abzureisen und in Moskau neue Bündnispartner zu suchen. Aber Wilson konnte mit seiner Initiative einen bis dahin beispiellosen Prozeß globaler politischer Institutionalisierung anstoßen, der trotz aller Rückschläge nicht mehr gänzlich rückgängig zu machen war. Dieser Prozeß, der ohne die Amerikaner kaum zustande gekommen wäre, scheiterte zwar in den dreißiger Jahren am Widerstand einer zunehmend autoritären Staatenwelt und unter dem Hohngelächter der Faschisten, ist aber, wie Churchill in seiner Rede zu Recht betont, seit dem Sieg über den Nationalsozialismus 1945 ins Stadium seiner Verwirklichung getreten.
Im Jahr 1946 jedenfalls waren die kosmopolitischen Hoffnungen sehr viel realistischer geworden als 1918, wie die erfolgreiche Reorganisation der gesamten internationalen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Ordnung seit der von Roosevelt entworfenen und von ihm zusammen mit Churchill unterzeichneten Atlantik-Charta damals bereits erkennen ließ. Die Atlantik-Charta, die ebenso wie Spinellis Europa-Manifest aus dem Wendejahr 1941 stammt, hatte neben dem unvermeidlichen amerikanischen Interesse am Freihandel eine starke sozialpolitische Komponente, die auf den Einfluß des sozialdemokratischen New Deal, in dessen Namen Amerika in den Krieg gezogen war, zurückging. Indem Churchill sich nicht nur auf die »Atlantic-Charter«, sondern ausdrücklich auch auf die universellen, demokratischen und sozialen – im »freedom from want« sogar sozialistischen – »four freedoms« (freedom of speech & worship, freedom from want & fear) des »great President Roosevelt« beruft, zeigt seine gewiß nicht sozialistisch gemeinte Rede eine heute ebenso verblüffende wie weitgehende Übereinstimmung mit dem sozialistischen Europa-Manifest Spinellis und seiner Genossen.36
Zwischen 1940 und 1950 gab es eine starke proeuropäische Strömung, nicht nur unter den Politikern, sondern auch unter progressiven und konservativen Intellektuellen. Sie alle traten für ein mehr oder minder demokratisches und sozialistisches Europa ein, oft, aber nicht immer, verbunden mit katholischen oder kommunistischen Ideologien des Dritten Wegs zwischen dem vermeintlich amerikanischen Kapitalismus und dem sowjetischen bürokratischen Sozialismus. Die europäische Einheitsfront reichte von Arendt bis Maritain, von Trotzki bis Keynes, von Aron bis Sartre, von Kojève bis Camus. Was Arendt 1945 schrieb, dürfte für die Mehrheit ihrer Intellektuellengeneration, aber auch für eine breite Stimmungslage der europäischen Bevölkerung repräsentativ gewesen sein:
»Einen wirklichen Frieden wird es erst geben, wenn die Nationalstaaten einen Teil ihrer ökonomischen und politischen Souveränität einer höheren, gesamteuropäischen Autorität übertragen. Was für eine Union das ist, ein europäischer Rat, eine Föderation oder Vereinigte Staaten von Europa, ist dann eine zweite Frage.«37
Dem aber folgte, wie es nach großen, revolutionären Umwälzungen nicht unüblich ist, der lange Katzenjammer inkrementeller Politik, expertokratischer Fallstricke, klassenpolitischer Winkelzüge und des hegemonialen Drucks und Gegendrucks, durch den die Gesellschaft lernt, sich die Resultate einer massiven und plötzlichen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen nüchtern anzueignen und sich mit der Anpassung unangepaßter, aber schon existierender Ideen an den stummen Zwang der Verhältnisse zu arrangieren.38 Den großen Augenblicken, in denen der Kantian constitutional mindset zum Geschichtszeichen wird – und der 2. Februar 1943 (Sieg der Roten Armee in Stalingrad), der 6. Juni 1944 (Landung der Amerikaner in der Normandie), der 8./9. Mai 1945 (Bedingungslose Kapitulation des Großdeutschen Reiches) und der 26. Juni 1945 (Unterzeichnung der UN-Charta durch fünfzig Nationen in San Francisco) waren solche Zeichen –, folgt die lange, leere und homogene Zeit des managerial mindset, in der das kollektive Bewußtsein der keineswegs interessenlosen Verhandlungsdelegationen, Vertragsarchitekten, Diplomaten, Berufspolitiker, Lobbyisten, Kommissionen und Gerichte den Kontakt mit dem emanzipatorischen Interesse der verfassunggebenden Gewalt verliert.39 »Der Furor demokratischer Neugründung, der im antifaschistischen Europa angelegt war, wurde domestiziert.« (Kolja Möller)40 Spätestens mit dem Vertrag von Rom wurde Europa, so Jacques Delors, zum sorgsam »von der öffentlichen Meinung« »abgeschotteten« Elitenprojekt.41
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