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»Weh, es nahen schreckliche Tage«: In ihrem Gedicht Juli 1914 beschwört die russische Dichterin Anna Achmatowa die unheilverkündende Stimmung im Sommer 1914. Andere feiern den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als reinigende und erneuernde Kraft und Weg zur Veränderung. Englische war poets und deutsche Expressionisten, französische Dadaisten und russische Futuristen, flämische, ungarische, baltische Akteure kämpften nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Wort. Innerhalb der europäischen Nationen und ethnischen Gruppen entwickelten sich Einstellungen gegenüber dem Krieg teilweise parallel, teils zeitversetzt und gegenläufig, wobei nationales oder befreiungsbewegtes Pathos, Internationalismus und weltrevolutionäre Emphase, Desillusion, Hass und Verzweiflung unrhythmisch auf und nieder wogten.

Geert Buelens liefert mit seinem mehrfach ausgezeichneten Buch ein wahrhaft europäisches Panorama, nicht nur der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch der Menschen, die sie schrieben. Er bezieht dabei neben bekannten Protagonisten wie Pessoa, Achmatowa, Majakowski, Ungaretti, Apollinaire, Trakl, Sassoon auch viele andere, weniger bekannte Dichter mit ein.

 

»Dieses Buch liest sich wie ein Roman.« Spiegel der Letteren

 

Geert Buelens (Duffel, Belgien, 1971) ist Professor für Neuere Niederländische Literatur an der Universität von Utrecht, Dichter und Essayist. Er ist Gastprofessor für Niederländische Literatur an der Universität von Stellenbosch (RSA) sowie Kluge Fellow an der Library of Congress (2008), seit 2012 Mitglied der Königlichen Akademie für Niederländische Sprach- und Literaturwissenschaften.

Geert Buelens

Europas Dichter und

der Erste Weltkrieg

 

Aus dem Niederländischen

von Waltraud Hüsmert

 

Suhrkamp Verlag

Titel der Originalausgabe: Europa Europa! Over de dichters van de Grote Oorlog

Erschienen 2008 bei Ambo/Anthos Amsterdam 2008

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Flämischen Literaturfonds (Vlaams Fonds voor de Letteren – www.flemishliterature.be)

 

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Die Arbeit der Übersetzerin förderte der Deutsche Übersetzerfonds e.V.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Erste Auflage 2014

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Nationaal Archief/Spaarnestad Photo/Het Leven

 

eISBN 978-3-518-73707-1

www.suhrkamp.de

»Der Chauvinismus ist die ständige Lebensgefahr

der Menschheit.«

– Franz Pfemfert, »Die Besessenen«,

Die Aktion, 1. August 1914

 

In memoriam Alfons Buelens (1894-1975)

1. Karabinier-Regiment

Soldat im Ersten Weltkrieg

Inhalt

1

Etwas liegt in der Luft

Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts

 

9

2

Ein heißer Sommer

Juli – September 1914

 

50

3

Jetzt spricht der Stahl

Herbst und Winter 1914

 

103

4

Der Geruch von Giftgas am Morgen

Der Krieg im Jahr 1915

 

144

5

Ein Europa des Wortes, ein Europa der Tat

Nationalismus und Revolution, 1915-1916

 

186

6

Gedichte schreiben nach Verdun und Somme

Die Schlachtfelder von 1916

 

213

7

Café Dada

Antisemitismus, Pazifismus und Avantgarde

 

230

8

Totaler Krieg

Friedensvorschläge, Revolution und Meuterei 1917

 

252

9

Wer den längsten Atem hat

Endspiel 1918

 

285

10

11/11 und danach

Europa 1918-1925

 

314

Nachwort

357

Anmerkungen

365

Bibliographie

403

Personenregister

441

Ortsregister

449

Danksagung

457

91
Etwas liegt in der Luft
Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts

 

 

 

 

Ich habe jetzt vier Eisberge gesehen.

– Bertrand Russell, auf dem Atlantik, Juni 19141

 

 

Preisen wir das Leben ohne Scheu vor großen Worten – so wie im Juni 1914 der junge Schiffsbauingenieur in London, in einem Ton, der zu seinen Ambitionen passt, zu seiner Seelenlage und zu seiner Zeit. Eine »Triumph-Ode« schreibt er, ein Lobgedicht auf das moderne Leben. Eine überschwängliche, fast sexuelle Feier der Sinneseindrücke, die die neuen Fahrzeuge, Maschinen, Fabriken und Kommunikationsmittel dem Geist eines feinnervigen und zugleich äußerst scharfsichtigen modernen Dichters bescheren. Nicht mehr das Zirpen der Grillen besingt er oder die zugige Grotte des menschlichen Herzens, sondern die vollständige Autonomie der modernen Maschinerie, die kurz zuvor noch unvorstellbaren Zerstreuungen des Stadtlebens und die sich ständig erneuernde Gegenwart des neumodischen Daseins. »Ach«, seufzt er, »wie gern wär ich souteneur [Zuhälter] von alledem!«2 Dieser urbanistische Sinnenrausch verleiht selbst dem politischen Leben, dem Verbrechen und den Medien Charme. Vertreter sind nicht einfach Handlungsreisende, sondern fahrende Ritter der Industrie. Die Geburt des Konsumismus entgeht dem Dichter nicht (»Ihr überflüssigen Waren, nach denen 10alle Welt lechzt!« S. 51), aber in diesem von blinkender Lichtreklame gerahmten Paradies – im »unmittelbaren Weltensystem« (S. 51) – enthüllt sich ihm das Wesentliche. Dieser Mann ist ein urbanisiertes Pendant des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892). Der Pantheismus des technisierten, mobilen Lebens – das ist sein Thema, die »Neue Offenbarung, metallene und dynamische Offenbarung Gottes« (S. 51). Kein wohlwollender Gott jedoch, sondern ein vollkommen amoralischer. Dieses Leben ist ja keineswegs ohne Gefahr und Gewalt. Für den buchstäblich gewissenlosen Dichter ist das kein Nachteil. Er preist nicht nur die neuen Konstruktionsverfahren, sondern auch den Fortschritt in der Rüstungsindustrie. »Panzern, Kanonen, Maschinengewehren, U-Booten und Aeroplanen« erklärt er ausdrücklich seine Liebe. Auch Zugunglücke, Bergwerkskatastrophen, Schiffbrüche gehören dazu. Einem Motor, der ihn zermalmt, gäbe er sich mit Wonne hin, wie eine Frau sich hingibt. Denn auch die Sexualität erfährt eine Transformation: »Masochismus durch Mechanismus!«, ruft er erregt (S. 53). Vernunft und Maß haben jede Bedeutung verloren, er will extreme Erfahrungen ohne Grenzen und Skrupel. Anders als die italienischen Futuristen, seine gleichgesinnten Zeitgenossen, fordert er jedoch nicht den Abriss alter Gebäude. Ausgiebig rühmt er die europäischen Kathedralen und gibt seiner Sehnsucht Ausdruck, sich den Schädel an ihnen einzurennen, um dann blutüberströmt von der Straße getragen zu werden, ohne dass jemand weiß, wer er ist.

Ist das der moderne Mensch? Ein Mensch, dessen Nerven so angespannt sind, dass er sich wünscht, er könne sie auf Kommando zerspringen lassen, wenn ihm alles zu viel wird? Schon gleich am Anfang macht diese Ode deutlich, dass ihr Verfasser auch die Schattenseite des Triumphs der Technik sieht: »Im schmerzenden Licht der großen elektrischen Fabriklampen / Fiebere ich und schreibe.« (S. 45). Das Schreiben ist offenbar 11eine Möglichkeit, sich selbst zu beruhigen, ein Ersatz für die gewalttätigen Varianten, die der Dichter in seinem Text erforscht und reflektiert. »He da ho, ihr Revolutionen hier, da und dort. / Verfassungsänderungen, Kriege, Verträge und Invasionen, / Unruhen, Unrecht, Gewalt, und vielleicht bald schon das Ende, / Der große Einfall der gelben Barbaren in Europa, / Und eine andere Sonne am neuen Horizont!« (S. 57) Ein gewisser Hang zur Apokalypse ist dem Dichter nicht fremd, zugleich aber relativiert er die Umwälzungen. Was bedeuten sie schon im Licht des sich ewig neu entfaltenden »Augenblicks« (S. 57), der die Erfahrung des modernen Lebens stützt? Der Einzelne hat kein inneres Leben mehr, kennt nur noch die Außenseite, wo er an alle Züge gekoppelt, auf alle Kais gehisst wird und in den Schrauben aller Schiffe kreist. »Heida! Ich bin die Reibungshitze und die Elektrizität! / Heida! Und die rails und die Maschinenhäuser und Europa!« (S. 59) Mitgerissen und aufgenommen in das Stampfen und Dröhnen, stößt er zum Schluss nur noch Schreie aus. Der Mensch ist Maschine geworden.

Dann aber gerät die Dynamik offenbar doch ins Stocken:

 

Zzzzzzzzzzzzzzzzzz!

Ach, daß ich nicht alle Menschen bin und von allem Teil! (S. 59)

 

Das eine »Triumph-Ode«? Was für eine Farce! Es war nichts als ein gedanklicher Trip, ein mentales futuristisches Experiment, das mit dumpfem Aufprall wieder in der Realität landete. Dieser Mann war weder Maschine noch Zuhälter des modernen Lebens. Er war nicht Europa, nicht alle Menschen und nicht Teil von allem. Vollkommen individuell waren seine ekstatischen und katastrophentrunkenen Visionen indes auch nicht. Der Autor dieser Ode, Álvaro de Campos, entwickelte hier eigenwillige Variationen auf Themen, die auch andernorts in der europäischen Avantgarde erklangen. Eindeutig war sein Text nicht, trotz der provokanten Extreme. Wie hätte er das auch sein können? 12De Campos’ Leben, Werk, Ansichten und Visionen entsprangen ja dem vielseitigen Geist von Fernando Pessoa (1888-1935). Die Ode entstand gar nicht in London, sondern in Lissabon, am Schreibtisch eines Autors, der diese Stadt fast nie verließ, in seinem Kopf aber Welten schuf. Pessoa nahm das »I contain multitudes« (»ich enthalte Vielheiten«) von Walt Whitman wörtlich und veröffentlichte nicht nur unter eigenem Namen, sondern auch unter den Namen einer ganzen Reihe von »Heteronymen«. Für diese Parallelexistenzen ersann er neben dem Namen, der Biographie und dem Œuvre auch eine Literaturauffassung, der er zuneigte, die er sich jedoch nicht eindeutig zu eigen machen konnte oder zu eigen machen wagte. Im Frühjahr 1914 entstanden so der unerschütterliche heidnische Meister Alberto Caeiro und seine beiden Schüler, der von Disziplin besessene Neoklassizist Ricardo Reis und der mitunter leicht hysterische Futurist Álvaro de Campos. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein zusammengewürfeltes Potpourri von Stimmen erscheint, erweist sich in der Summe der verschiedenen Strategien und Methoden als nahezu repräsentativer Chor des intellektuellen Europa.

 

Pessoas Lösung mag radikal anmuten, doch die ihr zugrundeliegende prinzipielle Doppeldeutigkeit war in jenem Zeitabschnitt keineswegs eine Ausnahmeerscheinung – Hoffnung und Verzweiflung kämpften um die Vorherrschaft, so wie die europäischen Großmächte um Hegemonie stritten. Die einem Kalten Krieg ähnlichen Konflikte und Krisen unter anderem in Marokko (1905, 1907, 1911), Bosnien-Herzegowina (1908, 1909, 1912-1913) und der Türkei (1911) konnten nur mit knapper Not auf regionale Dimensionen beschränkt oder mit diplomatischen Kunstgriffen eingedämmt werden.3 Die Russen und vor allem die koloniale Supermacht Großbritannien fürchteten sich vor dem ökonomischen und territorialen Expansionsdrang der 13jungen deutschen Nation. Die Franzosen teilten diese Angst, waren jedoch zugleich auf Revanche aus und wollten die in der schmachvollen Niederlage von 1870/71 verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen zurückgewinnen. Das auffallend militaristische Deutschland hatte infolgedessen viele Feinde und klammerte sich an sein gutes Verhältnis zu Österreich-Ungarn. Doch die in ihrem Dünkel versinkende Doppelmonarchie war ihrerseits so verhasst und bedroht – sowohl die ethnischen Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen als auch die Nachbarn in Italien, auf dem Balkan und in Russland wollten sie ganz oder teilweise auflösen –, dass Deutschland unweigerlich Gefahr lief, in die Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Machtzentren und Waffenarsenale wurden erweitert, Allianzen geschlossen und auf die Probe gestellt. Nicht wenige Menschen spürten, dass sie an einem Wendepunkt der Geschichte standen.

 

Auch wenn Pessoa in Wirklichkeit nicht in London war, ganz mangelte es der zumeist allerdings eher phlegmatischen Literaturszene dort im Juni 1914 nicht an großen Worten. Am Zwanzigsten jenes Monats erschien die erste Nummer von Blast. Review of the Great English Vortex, der ausgeprägteste angelsächsische Beitrag zur Avantgarde. Mit zahlreichen Großbuchstaben und Ausrufezeichen machte Herausgeber Wyndham Lewis (1882-1957) auf den ersten Seiten klar, dass sein Blatt ein Forum sei für alle »vivid and violent ideas«, die ohne Blast niemals ein Publikum finden würden.4 Dieses Lebendige und Gewalttätige sprach natürlich schon aus dem Namen des Blattes, der so viel bedeutet wie »explodier« (als Aufforderung und als Verwünschung), nach britischer Gewohnheit aber auch einfach als Euphemismus für »verflucht« gelesen werden konnte.

Was verflucht war oder auch getrost in die Luft gesprengt werden konnte, verdeutlichten Lewis und seine Mitstreiter in mehreren Manifesten, in denen sie schon mal selbst einige »vivid and 14violent ideas« vorstellten. Aus »Höflichkeit« nahmen sie sich als Erstes das eigene Land vor, wobei auffällt, dass sie das Problem als Folge äußerer Umstände schilderten. Schuld sei das Klima: Was wir brauchen, so Lewis und Co., sind heftige Schneestürme, denn das schlappe englische Wetter macht uns mild und sanft (S. 10-12). Die Sanftmut hielt sich freilich in Grenzen, denn als Nächstes nahm man sich eine Reihe französischer Eigenschaften vor (Sentimentalität, Sensualismus, Pariser Borniertheit … S. 13-14) und dann wieder britische (Ästhetizismus und Snobismus, Humor als Flucht vor dem wirklichen Leben, die Mittelmäßigkeit des viktorianischen Zeitalters, S. 15-20). Unverblümt wurden dann rund fünfzig Institutionen und Persönlichkeiten mit einem aufrichtigen »BLAST« bedacht, darunter Sozialisten und Fürsorgebeamte neben den damals populären ausländischen Philosophen Benedetto Croce und Henri Bergson (bei dem Lewis in Paris studiert hatte und von dem er sich anfangs stark beeinflussen ließ). Ebenfalls auf der Liste: der 1913 mit einem Nobelpreis ausgezeichnete bengalische Dichter Rabindranath Tagore und der britische Pazifist Norman Angell, der in seinem Megabestseller The Great Illusion (1910) nachzuweisen versucht hatte, dass ein Krieg in der modernen Zeit für alle Beteiligten auf eine finanzielle Katastrophe hinausliefe und der Verlust niemals durch das eventuell eroberte Territorium würde ausgeglichen werden können.5 Und selbstverständlich richteten sich die Verwünschungen auch an einige Künstler, die als akademisch gebrandmarkt wurden, wie Edward Elgar. Die neue Kunst begann auch hier damit, die alte wegzusprengen.

Alles schien ein Riesenjux, aber hinter dem Draufgängertum und der Großsprecherei verbarg sich Unzufriedenheit über die internationale Stellung Großbritanniens und den Stand der Dinge im britischen Empire.6 Lewis behauptete zwar, seine Aussagen hätten keinesfalls etwas Chauvinistisches oder Patriotisches (S. 34), doch innerhalb des dreiunddreißig Seiten langen Mani15fests betonte er immer wieder den einzigartigen Beitrag Englands zur Entwicklung der westlichen Kultur (»Die moderne Welt verdankt sich fast vollständig dem angelsächsischen Geist«, S. 39) und er versäumte es nicht, seine gewaltige (wieder: »violent«) Langeweile zu artikulieren angesichts des »kraftlosen Europeanismus« und »kosmopolitischen Sentimentalismus«, den er allerorts wahrnahm. (S. 34) Gesunde Nationen sollten einander nicht imitieren und schon gar nicht nach einer undefinierbaren Art Europudding streben. Sie sollten ihre ureigenen Stärken zutage fördern und kultivieren. Oder etwa nicht?

Die Rhetorik von Blast war gewalttätiger als auf den britischen Inseln üblich, doch Unmut und Unsicherheit über mighty Albions Position in der Welt schwelten schon länger. Das ließ sich auch aus den Essays und Gedichten eines in diesem Umfeld vielleicht eher nicht vermuteten Mitarbeiters von Blast ablesen, Ford Madox Hueffer (1873-1939).7 Der damals tonangebende, eigentlich als »Impressionist« geltende Autor formulierte es natürlich besonnener als Lewis; er bevorzugte nicht das Ausrufezeichen, sondern lange, mäandernde Sätze und Understatement. Aber auch seine gewinnende Eloquenz konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich große Sorgen machte. Auch wenn er es nicht unbedingt zugegeben hätte – das frühe zwanzigste Jahrhundert war von mehr Widersprüchen gekennzeichnet, als selbst er noch verbal ins Lot bringen konnte. Und so wollte er natürlich kein vulgärer Patriot sein, war sich aber durch und durch seiner Englishness bewusst. Und er versuchte mit der Zeit zu gehen, ohne seine britischen Upperclass-Privilegien in Gefahr zu bringen. Obwohl er sich als Konservativer sah, befürwortete er Frauenwahlrecht und Home Rule (Autonomie) für Irland. In der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift The English Review vom Dezember 1908 druckte dieser paternalistische Sozialist8 sogar ein Plädoyer für die Einführung einer staatlichen Rente und anderer sozialer Absicherungen für Witwen ab. Doch 16er war alles andere als ein Revolutionär; vor allem wollte er Kultur verbreiten, und sei es nur, damit er in Ruhe gelassen wurde und Zeit hatte, feinsinnige Betrachtungen über die Entwicklung von Gedichtstrukturen anzustellen.

Aus den Aufsätzen in der English Review, in denen er sich mit dem aktuellen politischen Geschehen beschäftigte, sprach jedoch große Besorgnis. Hier versuchte jemand, wider besseres Wissen Ruhe zu bewahren, in der absurden Hoffnung, mit dieser Haltung die Entwicklungen beeinflussen zu können. Nicht, dass er blind gewesen wäre für die Realität: »Großbritannien treibt unweigerlich einem Krieg mit Deutschland entgegen« (April 1909), »hundert Faktoren weisen in diese Richtung, kein einziger deutet in Richtung Frieden.«9 Die Panikmache und Sensationsgier von Medien und Parlamentariern, völlig im Bann des Wettrüstens mit Deutschland, machten es seiner Ansicht nach nur schlimmer. Das Reich mit der stärksten Marine der Welt verhalte sich so, als sei es alles andere als kriegsbereit, es zeige sich schwächer, dekadenter und kränker, als es im Grunde sei, sodass Deutschland auf die Idee kommen könne, es anzugreifen. »Wir ermutigen einen Angriff auf eine Art, die sich für den Frieden in Europa als verhängnisvoll erweisen wird«, stellte Hueffer bestürzt fest. (S. 359)

Gelassenheit und Stärke solle England ausstrahlen, und um dem von Natur aus militaristischen Preußen etwas entgegenzusetzen, müsse es eine nationale Armee aufstellen. Das schulde das Land seiner Stellung als »Imperial race«, so Hueffer: »Wir stehen auf einer anderen Kulturebene als fast alle unsere Nachbarn, und da wir friedfertiger und zivilisierter sind, müssen wir, um der Menschlichkeit willen, bereit sein, nicht nur uns selbst zu behaupten, sondern auch die Integrität unserer engsten Bündnispartner zu erhalten, die wie wir Frieden und Kultur lieben.« (S. 144) Einen Vorwurf an Preußen dürfe man nicht herauslesen, betonte der Autor: »Das ist das, wofür Preußen steht und 17warum Preußen besteht. Und wer wagt es, im Lichte der Ewigkeit, zu behaupten, dass nicht sie, sondern wir das eigentliche Wohl der Menschheit verkörpern?« (S. 137) Der Begriff fiel nicht, aber eigentlich prognostizierte Hueffer hier einen fast darwinschen Kampf ums Überleben zwischen zwei legitimen, aber leider völlig unvereinbaren Weltanschauungen. Mit anderen Worten, einen clash of civilizations. Hueffer bemühte sich dennoch um Großmut. Streng genommen habe jeder das Recht auf sein eigenes Reich. Aber die Briten seien nun mal beim Ausbau des ihren die Ersten gewesen, also bliebe ihnen nichts anderes übrig, als es zu verteidigen. Würden sie das nicht tun, stünde ihnen das traurige, ja jämmerliche Los der einst so stolzen Polen und der ehedem die Kultur des Abendlandes begründenden Griechen bevor. (S. 357) England würde Weltmacht sein oder untergehen. Das sei das Schicksal der zur Errichtung eines Imperiums geborenen Nation.

Solche Gedanken zogen sich, mit etwas weniger Nachdruck vorgebracht, auch durch Hueffers oft lange, virtuos dahinströmenden Gedichte aus jener Zeit. 1911 veröffentlichte er den Lyrikband High Germany; er enthält neben der »freien Bearbeitung« eines Poems, das angeblich von einem Freiherrn von Süssmund stammt, Gedanken über das Land, das dem Buch den Titel gab und in dem Hueffers Vater geboren wurde. »To all the Dead« war das zentrale Gedicht: dreizehn Seiten, teils Reisebericht, teils Träumerei, teils Klagelied, teils Vision erzählte es unter anderem von einer gothic anmutenden Begegnung mit einem Liebespaar, das aus seinem deutschen Hünengrab aufersteht. Die lokale Bevölkerung schien die bange Faszination für Tod und Verfall des Erzählers nicht zu teilen. »Das ist das Wahre Deutschland« [High Germany]. / Erhebt die Gläser. ›Prosit!‹ auf die Vergangenheit, / auf die Toten!«10 Das Gefühl absoluter Sinnlosigkeit und die Angst vor Verfall und Vergänglichkeit herrschten auch in der »Canzone a la Sonata« vor, in der Hueffer seinem jungen 18und dynamischen amerikanischen Schüler Ezra Pound eine Reihe rhetorischer Fragen stellt, die von tiefem Kulturpessimismus und nicht länger getarnter Furcht vor totaler Vernichtung zeugen. Was, außer »unbestimmter Angst«, habe die moderne Zeit eigentlich hervorgebracht? (S. 59) Heiterer scheint es in »Rhyming« zuzugehen; hier hängt der Dichter Tagträumen nach und malt sich Was-wäre-wenn-Situationen aus. Die am detailliertesten geschilderte Phantasie verriet in ihrer ganzen ostentativen Unschuld vielleicht etwas von Hueffers eigenen ambivalenten Gefühlen: Was wäre, wenn wir London nach Deutschland verpflanzten, es dort wiederaufbauten als eine Stadt »like old Cokayne« – wie das Schlaraffenland –, »wo alte tote Leidenschaften wieder aufleben« (S. 52-53)? Lag die Zukunft vielleicht doch auf dem Kontinent?

Zu dieser fast blasphemischen Schlussfolgerung kam auch der junge Schotte Charles Hamilton Sorley (1885-1915).11 Zunächst führte er das Leben – britischer als britisch –, das zu den Kindern eines Philosophieprofessors in Cambridge gehörte: Eliteinternat Marlborough, Geländelauf und Lyrik. Aus seinen Briefen geht hervor, dass er sich schon in frühem Alter für die Gedichte in The English Review interessierte.12 Ob er auch die politischen Aufsätze las, ist nicht überliefert, aber seine Gedanken gingen fast in die gleiche Richtung. Mit siebzehn, im Oktober 1912, verfasste Sorley ein dreiteiliges Gedicht, dreizehn Vierzeiler lang, das von dem schmerzlichen Kontrast zwischen dem stolzen England von einst und der durch hohle Worte und Apathie gekennzeichneten Dekadenz seiner eigenen Zeit handelte. Sein »Call to Action« endet mit den Worten:

 

Soldat der Feder, kümmerlich und blass

Vertieft in tintenblaues Streben

Sei so wie einst: Ein Mann war noch ein Mann

England es selbst und Leben war noch Leben.13

 

19Mit seinem schriftstellerischen Talent schien er selbst auch eine eher verkopfte Richtung einzuschlagen, aber Ende Januar 1913 eröffnete er seinen Eltern in einem Brief, dass er zwar nach Oxford gehen wolle, jedoch nicht, um – wie sie gehofft hatten – klassische Sprachen zu studieren und in Indien Karriere zu machen. Er wolle Lehrer werden oder in einer Wohlfahrtseinrichtung arbeiten.14 Ein Stipendium für Oxford wurde ihm auch zuerkannt, allerdings erst ab Herbst 1914. Sorleys Vater hatte seine eigenen Studentensommer in Berlin und Tübingen in bester Erinnerung, deshalb schien es ihm eine gute Idee, seinen Sohn in der Zwischenzeit nach Deutschland zu schicken. Schwerin gefiel dem Sohn ausgezeichnet; in langen, begeisterten Briefen berichtete er seinen Eltern, ehemaligen Klassenkameraden und Lehrern ausführlich von seinen Erlebnissen und Gedanken. Oft ging es darum, wie anders die Deutschen doch seien. Und fast immer meinte Sorley das als großes Kompliment: Sie seien spontaner und unbefangener, ihre Sprache lasse die banalsten Gedanken geistvoll klingen, und wenn sie sängen, vor allem die Soldaten … »War das Gesang? Eine Art Gebrüll war es – etwas Glorioses und Sinnloses über das Vaterland (in England wäre das verwerflicher Jingoismus gewesen, in Deutschland also nicht).« Sorley war nicht nur tief beeindruckt, fast schien es wie eine Bekehrung: »Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich als Deutscher und war stolz, ein Deutscher zu sein: Als der stürmische Gesang am lautesten erschallte, hatte ich das Gefühl, ich könnte vielleicht sogar für Deutschland sterben – nicht im Entferntesten hatte ich dieses Gefühl jemals für England und werde es auch nie haben.«15 Dort, im fremden Land unter fremden Menschen, entdeckte Charles Hamilton Sorley die Bedeutung des Patriotismus.

 

Für Guillaume Apollinaire (1880-1918) war das immer ein eher nebulöser Begriff gewesen. Der Dichter war im ersten Jahrzehnt 20des zwanzigsten Jahrhunderts zum Anführer und Sprachrohr der französischen Avantgarde geworden, ohne selbst Franzose zu sein. Als Sohn einer russisch-polnischen Mutter und eines unbekannten italienischen Offiziers galt er den Behörden als Russe, der Presse und seinen Freunden als Pole.16 Im grenzenlosen Europa der Belle Époque schien das keine Rolle zu spielen, solange man nicht in Schwierigkeiten geriet. 1911 wurde Apollinaire jedoch fast des Landes verwiesen, nachdem er zu Unrecht des Diebstahls der Mona Lisa aus dem Louvre beschuldigt worden war und eine Woche im Gefängnis verbringen musste. Als ultranationalistische Blätter sich zu antisemitischen Äußerungen gegen ihn hinreißen ließen (für die Presse sei jeder Pole automatisch Jude, bemerkte Apollinaire später dazu17), überlegte der schockierte Dichter, ob er versuchen solle, französischer Staatsbürger zu werden. Im Geiste und mit dem Herzen war er das schon immer gewesen. Wie international orientiert er auch wirken mochte, wie kosmopolitisch auch sein Freundeskreis war, sein Bezugssystem war unverkennbar französisch, und er pochte auf sein »Franzosentum« mit dem Fanatismus, der assimilierten Migranten manchmal eigen ist.18 Assimilation und Nationalitätenprobleme zogen sich wie ein roter Faden auch durch seine journalistische Arbeit. So verurteilte er die Russifizierung Finnlands als »einen machiavellistischen Plan, der nicht nur eine Kultur, sondern auch das Leben eines ganzen Volkes vernichten will«.19 Oder er zeigte Interesse am verfassungsrechtlichen Status von Bosnien-Herzegowina (S. 449), erläuterte dem französischen Publikum detailliert die sich verschiebenden Allianzen zwischen Panslawisten, dem Zarenreich und der Doppelmonarchie (S. 456-458) und zitierte ausführlich aus einem Artikel über die Assimilation von Juden in Polen, dessen Verfasser alle Hoffnungen auf den Liberalismus setzte als Bastion gegen »die preußische Gewalt und die russische Barbarei«. (S. 454)

Neben den geopolitischen Strukturen existierte für Apolli21naire jedoch auch deutlich ein europäischer Kulturraum, in dem sich gleichgestimmte Seelen von ihrem unterschiedlichen Hintergrund aus begegnen, herausfordern und inspirieren konnten. Von überall her in Europa trafen suchende Künstler in Städten wie Paris, Berlin und München zusammen, um mit neuen Formen und Werten zu experimentieren. Zum Pariser Kreis von Apollinaire gehörten unter anderem die spanischen Maler Pablo Picasso und Juan Gris, der französische Maler und Dichter Max Jacob, der Schweizer Schriftsteller Blaise Cendrars und der italienische Maler und Autor Ardengo Soffici. Sein Gedicht »A travers l’Europe« (Quer durch Europa) widmete Apollinaire dem weißrussisch-jüdischen Maler Marc Chagall, der ebenfalls in Paris eine zweite Heimat gefunden hatte. Über Apollinaire kam Chagall in Kontakt mit dem Berliner Galeristen und Sturm-Gründer Herwarth Walden. Apollinaire hatte ihm im Januar 1913 einen Besuch abgestattet und dabei u.a. den Lyriker und Romancier Peter Baum (1869-1916) kennengelernt.20 So breiteten sich die europäischen Avantgarde-Netzwerke immer weiter aus. »Quer durch Europa« wurde im Mai 1914 in Der Sturm veröffentlicht, auf Französisch.

Europa war für Apollinaire Wirklichkeit und Traum zugleich. Es war der Ort, über den er in dem Eröffnungsgedicht »Zone« in Alcools (1913) ironisch behauptete, der konservative Papst Pius X. sei dessen modernster Repräsentant.21 Aber noch viel mehr war es der Ort, den er in »Vendémiaire« (Weinmond), dem Schlussgedicht des Bandes, in der Hoffnung anrief, dessen Städte könnten seinen beispiellosen Durst stillen.22 Europa schien zwar eine gigantische Kelterei, doch der Durst war mindestens ebenso groß – »schrecklich« nannte der Dichter ihn sogar (S. 159), was natürlich die Frage aufwirft, wonach eigentlich so verzweifelt gedürstet wurde. »Du wirst alles Blut Europas trinken« (S. 159), prophezeite der Dichter der Stadt Paris, ein hedonistisches, aber auch apokalyptisches Bild. Bedeutete es, dass der Konti22nent, wenn es wirklich darauf ankäme, den Bedürfnissen der französischen Hauptstadt untergeordnet wäre und dass Europa dann selbstverständlich geopfert würde?23

 

Es waren verwirrende Zeiten für Europäer. Begriffe wie Nation, Rasse und »Stamm« waren in aller Munde, aber längst nicht jeder verstand darunter das Gleiche. Junge Staaten wie Deutschland und Italien befanden sich noch auf der Suche nach dem, was sie eigentlich wollten und waren. Andere Länder wie etwa Großbritannien, Frankreich oder Portugal, die schon viel länger existierten, zeigten – wie etliche ihrer tonangebenden Bewohner meinten – Spuren von Verschleiß und Verfall. Und dann gab es noch die viel zahlreicheren Völker, die einen eigenen Staat anstrebten und auch bereit waren, ihn durch Revolution und Kampf zu erringen. Und während jeder auf der Suche nach sich selbst war und nie versäumte, die Nachbarn lautstark zu informieren, sobald man glaubte, etwas gefunden zu haben (»Wir sind rational!«, »Ja, aber wir respektieren das Individuum!«), entwickelte sich im fernen Amerika ein neuer Superstaat, und von Osten her fühlten sich die Europäer noch immer von den Tataren (Mongolen) bedroht, die vor allem im dreizehnten Jahrhundert bis tief in den Kontinent vorgedrungen waren. War das die Definition eines Europäers – jemand, der kein Nachfahre von Dschingis Khan war? Aber wo lag dann die Grenze Europas? Irgendwo am Schwarzen Meer? Brachte der Aufstand der französisch sprechenden und intellektuellen Jungtürken 1908 das Gebiet des Osmanischen Reichs erneut ins westliche Lager? Und was war mit den Russen, dieser Verschmelzung von slawischem und tatarischem Blut, die sie immun machte gegen alles, was deutsch war, wie der russische Dichter Chlebnikow 1913 behauptete, der in der Steppe am Kaspischen Meer geboren war?24 Und die Juden in Galizien und die Muslime auf dem Balkan – gehörten die auch dazu? Und die Ungarn – diese seltsam unbe23greifliche Melange aus Magyaren, Hunnen, Slawen, Juden, Sumerern, Skythen und Tataren – wie europäisch waren sie eigentlich?25

 

Das waren Fragen, die auch der ungarische Dichter und Journalist Endre Ady (1877-1919) mit einer Mischung aus Belustigung und Selbstkritik in den Artikeln aufwarf, die er als Korrespondent aus Paris an seine Zeitung Budapesti Napló sandte. Japan habe von Europa in fünfzig Jahren mehr gelernt als die Ungarn in tausend, so Ady im Mai 1906, und während moderne Staaten wie Amerika und Japan zukunftsorientiert bauten und dächten, kultivierten die Ungarn nur die Vergangenheit.26 Sich selbst nahm er dabei nicht aus, denn in Gedichten wie »A Tisza-parton« (An der Theiß, 1906) fragt sich eine Ich-Figur, was sie, vom erhabenen Ganges stammend, eigentlich an diesem osteuropäischen Fluss verloren habe.27 Ungarns Rückständigkeit fiel Ady in Paris besonders auf, und nicht ohne Sarkasmus erwähnte er, die bedeutendste Leistung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sei eine Aktennotiz zu der Frage, ob man Adelstitel groß oder klein schreiben müsse. (S. 68)

Dieser Seitenhieb findet sich in einem bemerkenswerten satirischen Artikel vom April 1905, dessen Inhalt im Jahr 2085 spielt. Nach jahrhundertelangem Kampf bilden die europäischen Mächte endlich die Vereinigten Staaten von Europa. Diese Entwicklung wird misstrauisch beäugt von den Vereinigten Staaten von Südamerika, den Vereinigten Staaten von Südafrika, von Indien, China, Japan und dem asiatischen Russland. Adys Klassifizierung war aufschlussreich: Stockholm, Paris, Berlin, Genf und Sankt Petersburg waren selbstverständliche Kulturstädte in diesen neuen Vereinigten Staaten von Europa; Russland war in einen europäischen und einen asiatischen Teil gespalten (S. 66-68). War die Kluft zwischen Ost und West der letztendliche clash of civilizations?

24Als westlich orientierter Intellektueller und späterer Mitredakteur der wegbereitenden Zeitschrift, die schon im Titel Nyugat (»Westen«, »Abendland«) angab, in welche Richtung Ungarn gehen sollte, war sich Ady sehr bewusst, dass verschiedene reaktionäre Kräfte sein Land in die andere Richtung steuern wollten. Ungarn könne sich 2085 auf der richtigen Seite der Grenzlinie wiederfinden, aber das setze harte und zukunftsorientierte Arbeit voraus. In seinem langen und verletzenden Artikel »Randbemerkungen zu einem unbekannten Corvinus-Kodex« (1905) benutzte Ady das später bekannte Bild des Fähren-Landes: unschlüssig, ob es zum Westen oder zum Osten gehöre, bewege sich Ungarn wie ein Fährboot hin und her.28 Auf diese Weise würde es nie etwas mit Ungarn, so der Dichter. Aber wenn man schon weiterhin in der Vergangenheit schwelgen wolle, solle man sich besser ein Beispiel am ruhmreichen Transsilvanien nehmen – jener multikulturelle Staat habe die europäische Kultur angenommen, Kunst und Wissenschaft erblühen lassen und religiöse Toleranz zu einem Zeitpunkt entwickelt, als »am Rhein das große Kulturvolk« noch Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannte.29 (S. 90-91) Drei Jahrhunderte nach jener Zeit der Aufklärung drohe erneut die Finsternis eines unproduktiven Fundamentalismus. Zustimmend zitierte Ady in einem anderen Aufsatz die Worte eines französischen Wissenschaftlers: »Wir glauben, dass Europa den Europäern gehört und dass der Pfad des Fortschritts endgültig gesichert ist. Wenn man jedoch nach Osten schaut, nach Ungarn, Russland und dem Balkan, wird man feststellen, dass in unserer gegenwärtigen Kultur überhaupt nichts garantiert und sicher ist und dass auch heute Europa sich in Richtung Asien zu neigen droht.« (S. 118-119)

 

Geopolitisch stand das Barometer auf »Veränderlich«, und auch in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen konnte die Welt nicht bleiben, wie sie war. Belle Époque, das hörte sich zwar schön an, 25aber vor allem die Arbeiter und die linken Intellektuellen hatten alles gründlich satt. Die soziale Ungleichheit und das Demokratiedefizit waren zu groß. Der flämische Lehrer und Dichter René De Clercq (1877-1932), der zuvor mit Versen in der Nachfolge Guido Gezelles über die Schönheit der Natur und des Landlebens von sich reden gemacht hatte, überraschte 1909 in seinem Lyrikband Toortsen (Fackeln) Freund und Feind mit einigen radikalen Gedichten:

 

Ich lehre dich den Schrei

Des hungrigen, durstigen, rasenden Leu,

Der den Schrecken verbreitet und die Wildnis

An dem Ort, wo der Reichtum der Welt ist.30

 

In einer zündenden Rede zum 1. Mai 1912 attackierte Hendrik de Man, das damals sechsundzwanzigjährige Wunderkind des flämischen Sozialismus, die Versuche der »Bourgeoisie«, dieses Arbeiterfest zu neutralisieren. Er stellte einen »unversöhnlichen Klassenkampf« in Aussicht, plädierte auch in dieser Rede »für den Achtstundentag und gegen den Militarismus« und warnte vor »einer allgemeinen Kriegskatastrophe«, die durch das Pokern der europäischen Großmächte immer näher rücke. Nein, der 1. Mai sei für ihn kein Fest »bukolischer Dichter, die schneeweiße Lämmchen über smaragdgrüne Wiesen tollen lassen«. Der Tag falle in einen »nordischen Frühling, wo zwischen den dunklen, ungestümen Mächten des Winters und der aufkommenden, wärmenden Zukunftskraft der Frühlingssonne noch ein stürmischer Kampf ausgefochten wird«.31

Auch wenn Begriffe wie »Kampf« und »Sturm« zur rhetorischen Grundausstattung in der politischen Auseinandersetzung gehörten, nun waren es mehr als nur Worte. Als im Februar und März 1907 in Rumänien ein großer Bauernaufstand ausbrach, forderte dessen Niederschlagung durch die Armee rund elftausend Menschenleben. Im Herzen Europas schien ein derartiger 26Gewaltausbruch inzwischen undenkbar,32 doch den Großmächten war Wachsamkeit angeraten, wenn es um die vielen Randgebiete des gigantischen Kontinents ging. Unruhen oder Machtverlagerungen in fernen Gegenden konnten das oftmals prekäre Kräftegleichgewicht ins Wanken bringen.

Nicht jede politische Änderung ging notwendigerweise mit Gewalt einher. 1905 löste sich Norwegen aus der Union mit Schweden, und dieser Prozess verlief – nach anfänglicher Angst vor einem Krieg – ohne große Widerstände. Auch hier spielten geopolitische Beziehungen eine entscheidende Rolle: Norwegen sympathisierte eher mit Großbritannien, Schweden mit Deutschland. Die Großmächte – im Sommer 1905 mit der Marokko-Krise (siehe weiter unten) und dem Krieg zwischen Russland und Japan vollauf beschäftigt – wollten vor allem, dass die Ablösung in Ruhe vonstatten ging, aber hätten wahrscheinlich interveniert, wenn eine Lösung durch Verhandlungen nicht möglich gewesen wäre.33

Mehr Turbulenzen waren dort zu erwarten, wo sich der Nationalismus von einer romantischen, auf kulturelle Identität und Geschichte gerichteten Strömung zu einer politischen Bewegung entwickelte, die auf der Grundlage ethnischer oder sprachlicher Eigenart Autonomie oder sogar einen eigenen Staat erzwingen wollte. Solche Entwicklungen wurden in ganz Europa mit großer Aufmerksamkeit und zuweilen nicht ohne Nervosität verfolgt. Eine beliebig ausgewählte Ausgabe von The English Review vom März 1909 widmet sich nicht nur dem Schicksal kleiner Staaten (»Hiermit ist bewiesen, dass kleine Länder kein Mitleid erwarten können«, S. 357), auch die Revolution der Jungtürken und der Zerfall des Osmanischen Reichs (und die Massaker an den Armeniern) kommen ausführlich zur Sprache, ebenso wie die Gründung einer allpolnischen Partei und die Lage in Griechenland. Fast der ganze Kontinent war in Aufruhr, und auch die Großmächte blieben nicht verschont. Die Iren und, zunächst in viel geringerem Maße, Schotten und Waliser stellten ihren 27Status innerhalb Großbritanniens zur Diskussion. Die Russen waren mit entsprechenden Bestrebungen der Armenier, Georgier, Ukrainer, Polen, Letten, Esten, Litauer und Finnen innerhalb ihres Reichs konfrontiert. In Deutschland herrschte Unmut unter den Polen, Dänen und Franzosen (in Elsass-Lothringen). Und auch die polnischen, rumänischen, kroatischen, serbischen, slowenischen, bosnischen, tschechischen, slowakischen, ukrainischen, ruthenischen, italienischen und deutschen Minderheiten in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn strebten nach mehr Rechten und in einigen Fällen nach Unabhängigkeit oder Anschluss an ihr Mutterland.

Da es bei diesen Kampagnen oft um Sprachrechte ging und man glaubte, das Wesen der Sprache werde in Literatur ausgedrückt, fand der politische Kampf meist literarische Unterstützung. Die Lyriker standen dabei in der ersten Reihe. Ihre Aufgabe war es, in Worte zu fassen, was im tiefsten Innern der nationalen Seele verborgen lag, und sie trugen auf diese Weise dazu bei, diese Seele zu formen. Auch wenn eine nationalistische Bewegung den Schritt von der kulturellen zur politischen (und manchmal militärischen) Aktion machte, spielten Dichter eine herausragende Rolle. Wer den Ehrgeiz hatte, ein Nationaldichter zu werden, musste nicht nur das Reimwörterbuch beherrschen, sondern durfte vor allem keine Angst vor der Rednerbühne und der Barrikade haben.

Das turbulente Leben des revolutionären lettischen Dichterpaars Aspazija (1865-1943) und Rainis (1865-1929) kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten.34 Obwohl sie einer lettischen Adelsfamilie entstammte, schärfte eine unglückliche und auch finanziell desaströse arrangierte Ehe Aspazijas soziales Bewusstsein. In ihren Gedichten und Theaterstücken brachte sie ihren Freiheitsdrang als junge Frau und als Lettin zum Ausdruck. Ihr offizielles Debüt im Herbst 1887 war nicht länger als sechs Vierzeiler, doch von der ersten Strophe an (»Ein neues Jahr 28bringt neue Arbeit / uns ruft der Geist der Zeit«35) las es sich als ein Plädoyer für Unabhängigkeit.

Bestärkt wurde sie in diesem Kampf durch die Begegnung mit dem jungen Journalisten Jānis Rainis, damals führendes Mitglied der marxistisch orientierten Bewegung Jaunā Strāva (Neue Strömung). Aspazija erkannte in ihrem neuen Geliebten nicht weniger als den lettischen Goethe und ermutigte ihn, sein Talent einzusetzen, um die Welt durch Literatur zu verändern: »Ich bin nur die Dämmerung dieses ausklingenden Jahrhunderts / du aber bist die helle Morgenröte.«36 Rainis ging auf ihre Bitte ein, wurde aber 1897 wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Im Gefängnis arbeitete er an der Übersetzung des Faust weiter, mit der Aspazija begonnen hatte. Ihre fast mystische Beziehung wurde auch vor dem Gesetz besiegelt – sie heirateten in einer kleinen Gefängniskapelle, die Braut in einem schwarzen Kleid. Aspazija durfte Rainis in die Verbannung nach Russland begleiten, kehrte aber nach einer Weile aufgrund ihrer verweifelten finanziellen Situation nach Riga zurück, wo sie wie besessen Gedichte, Theaterstücke, Erzählungen und Artikel schrieb. Ständig geriet sie in Konflikt mit der Zensur, was sie nur in ihrer Überzeugung bestärkte, Poesie und Freiheit seien im Grunde das Gleiche. »Wenn sich eine Nation in einer Zeit des Wandels zu einem Ziel hin bewegt, weist das Gedicht den Weg der Erlösung, so wie der Stern im Morgenland.«37

1903 durfte Rainis aus der Verbannung zurückkehren, und schon bald bildete das Paar den Kern eines umfassenden Netzwerks nationalistischer Schriftsteller, Komponisten, Schauspieler, Lehrer und Arbeiter. Rainis wurde zum geistigen Führer der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die von Zar Nikolaus II. nationale Autonomie, den Gebrauch der lettischen Sprache in den Schulen, Frauenrechte und bessere Bedingungen für die Arbeiter forderte. 1905, auch im übrigen russischen Reich ein Jahr der Revolution, kam es zu Aufständen, die sich nicht 29nur gegen das autokratische Regime des Zaren richteten, sondern auch gegen die deutschen Aristokraten, die im Baltikum über die Landbevölkerung herrschten. Beide schlugen erbarmungslos zurück, und etwa neuntausend Revolutionäre wurden exekutiert, eingekerkert, deportiert oder aus den baltischen Provinzen verbannt. Ungefähr fünftausend von ihnen konnten entkommen, unter ihnen auch Rainis und Aspazija. Von der Schweiz aus setzten sie ihre literarische und revolutionäre Arbeit fort, und vor allem Rainis’ in Riga häufig aufgeführtes Theaterstück Uguns un Nakts (Feuer und Nacht) fachte den Geist der Revolte weiter an: »Der Kampf geht weiter und wird nicht enden.«38

 

Kampf, Sturm, Gefecht – starke Bilder, die aber Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts oft sehr wörtlich gemeint waren. Soziale und kulturelle Unzufriedenheit war auf dem Kontinent relativ verbreitet, und nicht selten ging damit eine Metaphorik von Kraft und Agression einher. Umstürzler unterschiedlichster Couleur fühlten sich davon angesprochen. In einem Klima, in dem Friedrich Nietzsches Zarathustra (»darum muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg: – tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut!«39) und Henri Bergsons Vitalismus (»Man muss die Dinge überstürzen und durch einen Willensakt die Intelligenz aus ihrem Heim hinausdrängen«40) zu intellektuellen Parolen geworden waren, schienen die Impulse, diese gefährlichsten Tiefen auszuloten, die Ratio hinter sich zu lassen und revolutionären Tatendrang zu kultivieren, einander noch zu verstärken.

Am spektakulärsten manifestiert sich diese Mentalität vielleicht bei Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944). Der Sohn eines wohlhabenden italienischen Rechtsanwalts und einer Musikerin, deren Vater Literaturprofessor war, hatte bereits in jugendlichem Alter beschlossen, sein rhetorisches Talent dazu einzusetzen, eine Revolution in der seiner Ansicht nach völlig 30verschlafenen Kunstwelt Italiens zu bewirken.41 Und wie konnte er besser verkünden, dass die Zukunft begonnen habe, als mit einem Manifest, das er im Ausland mit großem Tamtam in einer Zeitung, dem modernen Medium par excellence, drucken ließ. Dank eines ägyptischen Geschäftsfreundes seines Vaters, der Teilhaber des Figaro war, gelang es Marinetti Ende Februar 1909, sein futuristisches Manifest auf die Titelseite der Pariser Zeitung zu bekommen. Nicht ohne Pathos sang er das Lob der Geschwindigkeit, Tollkühnheit und Revolution. Selbst geboren in der legendären Bibliotheksstadt Alexandria, äußert er in diesem Manifest sein Verlangen, durch die Zerstörung von Museen und Bibliotheken die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und er postuliert einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen Krieg und Hygiene: »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.«42 Marinetti wollte mit dieser Veröffentlichung Aufsehen erregen, und das gelang ihm. Aber man verlangte auch Erklärungen. Das alles war doch wohl nicht ernst gemeint? Diese Verherrlichung des Krieges, gab ein französischer Reporter zu bedenken, impliziere doch eine Form von barbarischer Regression, die man schwerlich als futuristisch bezeichnen könne. Geduldig erläuterte der Dichter seine Auffassung: So wie sich ein Mensch bedrohlicher Infektionen und überschüssigen Bluts nur durch Bäder und Aderlässe entledigen könne, so müsse sich auch jedes Volk mindestens einmal pro Jahrhundert einer »gloriosen Blutdusche«43 hingeben. So Marinetti kaum drei Monate nach dem 28. Dezember 1908, als in Süditalien mehr als hunderttausend Menschen bei einer der größten Katastrophen in der europäischen Geschichte umgekommen waren, dem Erdbeben von Messina und dem darauf folgenden Tsunami.44 Marinetti hatte deshalb den Start seiner neuen Bewegung so lange verschoben, bis auf den Titelseiten 31wieder Platz frei war für künstlerische Themen, doch auf seine von Todessehnsucht durchdrungene Rhetorik hatte die Tragödie keinen Einfluss.

Die Ruinen, Flutwellen und Flammenmeere von Sizilien und Kalabrien spukten inzwischen andernorts in Europa dem prominenten russischen Dichter Alexander Blok (1880-1921) durch den Kopf. In seinem Vortrag »Die Elementarkräfte und die Kultur« artikulierte er im Januar 1909 in Sankt Petersburg die eigenen Ängste in apokalyptischen Bildern, die seiner symbolistischen Literaturauffassung entsprachen: »Entbrannt ist die Rache der Kultur, die sich aufbäumt mit einem ›Wald von Bajonetten‹ und Maschinen. Es ist lediglich ein Zeichen dafür, daß auch die andere Rache entbrannt ist – die Rache der Elemente und die Erdenrache. Zwischen diesen beiden Feuern entbrannter Rache, zwischen diesen beiden Lagern leben wir. Das ist das Furchtbare: Was für ein Feuer ist es, das aus der ›spiegelglatt gewordenen Lava‹ hervorbricht? Solches, das Kalabrien verwüstet hat, oder ist es – ein reinigendes Feuer? Wie dem auch sei, wir durchleben eine furchtbare Krise. Noch wissen wir nicht genau, was für Ereignisse wir zu gewärtigen haben, doch in unserem Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen45 Diesen Ausschlag des Zeigers habe die Menschheit über sich herabgerufen, so Blok. Das ganze Geschwätz über Fortschritt, Technik und Wohlstand diene lediglich dazu, die geistige Leere des modernen Menschen zu kaschieren. Dieser Mensch erobere den Luftraum und steige in den Schoß der Erde hinab, aber auch hier komme Hochmut vor dem Fall. Gegen die Elementarkräfte der Natur helfe kein Akt der Kultur. Blok befürchtete das Schlimmste für die Menschheit. Dem Schlussgedicht im Zyklus »Auf dem Kulikowo-Feld«, den er im Dezember 1908 vollendete, stellte er als Motto ein entschieden Unheil verkündendes Zitat von Wladimir Solowjow voran: »Und der Nebel des unabwendbaren Bösen / breitet Schleier über den kommenden Tag«. Sein Gedicht sollte denn auch 32eine Warnung und Ermahnung sein. Als Dichter konnte er in die Zukunft schauen, und die Botschaft war deutlich: ohne jeden Zweifel stand ein Krieg bevor. »Jetzt bete. Es ist deine Stunde gekommen.«46