Cover

Carl Djerassi

Verurteilt zu leben

Roman

Unter Mitarbeit von Laura Roberts

Aus dem Amerikanischen von Steffen Beilich

Einmal ausgesprochen, fliegt ein  Wort unwiderruflich davon.

Horaz

Die Macht wird nur dem zuteil, der es wagt, sich zu ­bücken und sie aufzuheben … wagen muß man!

Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne

Carl Djerassi

Autor Foto

© Foto: Karen Ostertag

Zum Autor

Carl Djerassi, geboren 1923 in Wien, lebte bis zu seinem Tod im Januar 2015 in San Francisco, London und Wien. Der brillante Chemiker und scharfsichtige Literat machte sich als Naturwissenschaftler, v. a. als Miterfinder der Pille, wie auch als Schriftsteller, Kunstsammler und -mäzen einen Namen. Als Autor prägte er das Genre „Science-infiction“: Romane, in denen er die Welt der Naturwissenschaften mit literarischen Mitteln erfasste. Der mit über 30 Ehrendoktoraten ausgezeichnete Wissenschaftler wurde vom „London Times Magazine“ zu einem der 30 wichtigsten Menschen des Millenniums gekürt. Bei Haymon erschienen zuletzt: „Vorspiel“. Theaterstück (2011), „Tagebuch des Grolls. A Diary of Pique 1983–1984“ (2012), „Chemie im Theater. Killerblumen“. Ein Lesedrama (2012) sowie „Der Schattensammler“. Die allerletzte Autobiografie (2013).

Impressum

© 2015

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-3677-1

Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlag: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlagbild: Hintergrundmuster: © By Hermann Cuntz (CC BY 2.5 [https:// creativecommons. org/ licenses/ by/ 2. 5/], via Wikimedia Commons)

Autorenfoto: Karen Ostertag

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Cover: Inserat 1

Die eindrucksvolle Lebensgeschichte eines der größten Chemiker und bedeutendsten Kunstsammler und -mäzene unserer Zeit. Carl Djerassi, „die Mutter der Pille“, erzählt in seiner Autobiografie von seinem ereignisreichen Leben. Schonungslos und mit viel Humor blickt er auf prägende Stationen zurück, schreibt über seine Wiener Herkunft und die Entwicklung seiner jüdischen Identität, über die wichtigsten Begegnungen seines Lebens und gibt einen tiefen Einblick in eine der interessantesten Biografien unserer Zeit.

„Vor allem aber ist diese monumentale Autobiografie lesenswert, weil sie zeigt, wie die Ereignisse der zwei Jahrhunderte, die Djerassi erlebt hat bzw. erlebt, autobiografisch narrativiert werden, wie ein Mensch sein Leben erzählerisch bewältigt.“

Der Standard, Walter Grünzweig

„... spannende Einblicke in ein bewegtes Leben eines Wissenschafters, Universitätsprofessors, Kunstliebhabers und -sammlers, Schriftstellers, dessen Erfolge, aber auch dessen persönliche Katastrophen.“

ORF.at

Carl Djerassi

Der Schattensammler

Die allerletzte Autobiografie

978-3-7099-7680-7

Diese Biografie erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

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Cover: Inserat 2

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, der Religionshistoriker Gershom Scholem, der Komponist Arnold Schönberg: vier große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, vier Wege jüdischen Selbstverständnisses und vier Lebensgeschichten durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in denen sich als fünfter Weg auch die Biografie von Carl Djerassi selbst spiegelt.

Djerassi lässt diese vier Männer in Dialogen unmittelbar zu Wort kommen. So führt er die Leser ein in ihre Gedankengebäude und lotet aus, welche Bandbreite die Bedeutung des Wortes „Jude“, in Hinblick auf Herkunft wie auf Religion oder Politik, abdecken kann. Zugleich erlaubt Djerassi auf der Basis fundierter Recherche aber auch völlig neue Einblicke in die privaten Lebensbereiche von Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg und lässt sie über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie erzählen. Ein wichtiges Thema ihrer Gespräche ist auch Paul Klee, der als Prototypus des „nicht-jüdischen Juden“ und insbesondere über sein 1920 geschaffenes Werk „Angelus Novus“, mit dem Adorno und Benjamin sich intensiv beschäftigten, präsent ist.

Die Auseinandersetzung mit Paul Klee durchzieht auch die Fotokunstwerke, die Gabriele Seethaler für diesen Band geschaffen hat und die Djerassis in gedanklicher Schärfe funkelnden Text begleiten und ergänzen.

„Längst hat Carl Djerassi bewiesen, dass er nicht nur in der Wissenschaft verdichten, konzentrieren und destillieren kann.“

Kurier, Peter Pisa

Carl Djerassi

Vier Juden auf dem Parnass

Mit Fotokunst von Gabriele Seethaler

978-3-7099-7502-2

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

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Cover: Inserat 3

Am 8. Mai 1983 wird Carl Djerassi von der großen Liebe seines Lebens, Diane Middlebrook, verlassen. Der Naturwissenschaftler und „Vater der Pille“ macht sich an ein für ihn neuartiges Experiment: Gekränkt und unglücklich nimmt er Rache in Form einer „poetischen Vulkaneruption“. Er beginnt, Gedichte zu schreiben, die in jeder Hinsicht offen sind – zum einen, weil sie einen höchst persönlichen und intimen Einblick in die Gefühlswelt Djerassis erlauben, zum anderen, weil sie formal frei gestaltet sind.

Dieser Gedichtband ist das lyrische Tagebuch eines Mannes, der voll Zorn und Selbstmitleid, aber auch mit schonungsloser Ehrlichkeit das Ende seiner Beziehung betrauert, bis Diane 1984 zu ihm zurückkehrt und ihn wenig später heiratet. Erst mehrere Jahre nach ihrem Tod 2007 hat sich Djerassi abermals mit diesen Gedichten beschäftigt und sie überarbeitet. Das Zusammenspiel seiner beiden Lebenssprachen eröffnet neue Blickwinkel auf den Wissenschaftler, den Kunstkenner und vor allem auf den Menschen Carl Djerassi.

„berührend … in diesen sehr persönlichen Gedichten entdeckt man mehr als bloß Verletzlichkeit.“

Kurier, Peter Pisa

„Längst hat Carl Djerassi bewiesen, dass er nicht nur in der Wissenschaft verdichten, konzentrieren und destillieren kann.“

Kurier, Peter Pisa

„This edition of poems is a chance to know Djerassi that much more, to know something of the vexing nature of loss, and know something of the curative restitution that comes with the passing of time.“

Martin Jay, Professor of History, University of California, Berkeley

Carl Djerassi

Tagebuch des Grolls. A Diary of Pique 1983–1984

ISBN 978-3-7099-7415-5

Diesen Gedichtband erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Kapitel 0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Carl Djerassi
Zum Autor
Impressum
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Kapitel 1

(1996)

Wenn er seinen Kopf ganz vorsichtig drehte, konnte Ezekiel Reed, eingeklemmt hinter dem verzogenen Lenkrad, erkennen, dass das Baby noch atmete. Die Schnallen der Sitzgurte hoben und senkten sich auf der winzigen Brust. Ezekiel dachte, er hätte ein Miauen wie von einem Kätzchen vernommen, aber das Zischen der Dämpfe, die aus dem Autowrack entwichen, schwächte alle anderen Geräusche ab. Erste Anzeichen eines Blutergusses breiteten sich auf dem Gesicht des Kleinen aus, weitere Verletzungen konnte Ezekiel aus seinem Blickwinkel nicht sehen; was den schlimmsten Schaden angerichtet hatte, war nicht so leicht zu entdecken. Er blieb vorerst verborgen, tief im Inneren des kindlichen Körpers.

»Gelobt sei der Herr, der barmherzig ist gegen sein kleines Lamm«, murmelte Ezekiel und richtete seine Aufmerksamkeit auf den reglosen Haufen neben ihm. Lydia. Er hielt ihr Handgelenk fest umklammert, und seine Finger wurden allmählich taub. Es schien undenkbar, dass sie nur einige Augenblicke zuvor noch zusammen gelacht hatten, weil das Baby seine ersten Gesangsversuche unternommen hatte.

»Ruff rifted me«, hatte ihr Sohn verkündet.

Dass der Kleine auf dem Rücksitz so plötzlich und spontan versucht hatte, ein Lied nachzusingen, hatte Lydia veranlasst, ihre entspannte Haltung neben Ezekiel aufzugeben und sich dem Jungen zuzuwenden. Als das Auto von der Straße abkam, hatte sie vor ihrem Kind gekniet und war zu seinen ersten Versuchen, ein Kirchenlied aus dem Radio mitzusingen, auf und ab gehopst.

Es war ein wunderschöner Tag, der Himmel blau. Lydia war jung und gesund. Eine glückliche Ehefrau und liebevolle Mutter. Sie war völlig bezaubert von ihrem Sohn, der ständig neue Wörter dazulernte und nun die Musik für sich entdeckte. Er machte gerade seinen ersten Versuch, laut zu singen, als der Tod sie holte.

»Ruff rifted me. Ruff. Ruff. Rifted me!«, trällerte der Junge.

Das Kind erlebte gerade das Wunder, selbst musikalische Töne zu produzieren. Inspiriert vom Himmel und gesendet von evangelikalen Radiowellen.

»Hör doch! Hör doch mal, Zeke. Luke singt! Mach lauter. Mach das Radio lauter! Hör doch nur. Es ist Love Lifted Me. Luke singt das!«

Der Kleine strahlte seine Mutter an, während seine kindliche Stimme und die Musik das Auto erfüllten. »Ruff rifted me«, verkündete er abermals voller Stolz. Die Stimme im Radio hatte zwar mehr Schliff, aber dass ihr Kind mitsang, war für Lydia als Mutter weit mehr als bemerkenswert: Es war nichts weniger als ein Wunder Gottes, der Erfindung des Rades ebenbürtig.

Lydia brach in ein ansteckendes Lachen aus und klatschte in die Hände.

»Hör dir doch nur unser Baby an, Zeke. Er singt! Er singt Love Lifted Me! Ist er nicht unglaublich? Er singt mit. Ohne Fehler! Ja, mein Schatz, die Liebe hat dich erhöht.«

Lydia kramte eilig ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche hervor, in dem sie regelmäßig Lucas’ neueste geniale Taten und Sprechversuche festhielt. Sie nahm einen kurzen, mit einem Stiftmesser angespitzten Bleistift zur Hand und leckte die Spitze an, bevor sie zu schreiben begann.

»Wenn ich ‚Liebe‘ und ‚erhöht‘ dazuschreibe, ist er schon bei 57 Wörtern, Zeke. Weit über dem Durchschnitt für zwei Jahre, weißt du? Weit darüber«, versicherte sie Ezekiel ehrfürchtig flüsternd. »Und er singt! Ich hatte ja keine Ahnung, dass er singen kann. Ich sollte vielleicht ein zweites Notizbuch anfangen, nur für seine musikalischen Talente. Hast du das gehört, Zeke? Love lifted me!«, wiederholte sie. Anscheinend hatte Gott Lydia gehört. Und so hob Er sie ohne Umschweife genau in diesem Augenblick direkt aus ihrem Leben heraus in die Höhe.

Obwohl Ezekiel als Kind eines Pfarrers mit seinem Vater oft an Totenbetten gestanden hatte, war dies seine erste Erfahrung mit einem leblosen Körper. Hatte Lydia gehört, dass er ihr in dieser kurzen Sekunde, als ihm klar wurde, wie schwer das Auto ins Schlingern geraten war und wie schlimm es sich überschlagen würde, noch etwas zurief? Sicher hatten weder Mann noch Frau begriffen, dass selbst für das kürzeste Lebewohl keine Zeit mehr blieb.

Noch immer quetschte Ezekiel Lydias Handgelenk, fest entschlossen, das Blut durch pure Willenskraft wieder in ihren Körper fließen zu lassen und einen Puls zu erzeugen – doch sie war bereits leblos. Ezekiel sehnte sich danach, Lydia an seine Brust zu drücken. Sie zum Atmen zu zwingen. Sie zu trösten. Sich selbst zu trösten. Doch sie blieb unerreichbar – begraben unter den rauchenden Trümmerteilen des Motors. Ein Teil ihrer linken Schulter drückte gegen sein Knie und durchtränkte seine Sommer-Khakihose bis zum Knöchel mit ekelerregend klebrigem Blut, das bereits zu stocken begann. Lydias Blut bedeckte beide Seiten der Bodenplatten und sickerte auf den weichen heißen Teer des Highways; es war eine Offenbarung für Ezekiel, dass aus einem menschlichen Körper so viel Blut fließen konnte.

Entschlossen, an das Baby heranzukommen, kämpfte Ezekiel gegen die drohende Ohnmacht an und unterdrückte seine Übelkeit. Die Luft im Auto roch nach metallischem Rauch und brennendem Gummi. Er stemmte seinen knochigen Körper mit ganzer Kraft gegen die Türschwelle, und es gelang ihm, die zerquetschte Tür aufzustoßen und sich vom Vordersitz zu hieven. Dann griff er durch ein zerborstenes Fenster und zog den Kleinen an seine Brust. Er blickte auf Lydia herab und überlegte, wie er auch sie aus dem Wrack herausbekäme. Ihre schlanken Beine wirkten blass und unversehrt – im Gegensatz zu ihrem restlichen bis zur Unkenntlichkeit entstellten Körper. Ihr geblümter Rock bauschte sich unzüchtig oberhalb der Taille, die Sommersandalen waren verschwunden. Ihre Füße sahen noch immer gepflegt aus. Verzweifelt wollte Ezekiel ihren Rock wieder herunter­ziehen. Er sah sich um, in der Hoffnung, ihre Schuhe wiederzufinden. Benommen wie er war, überkam ihn das rasende Verlangen, die Ordnung wiederherzustellen und systematisch alles aufzuräumen, was der Tod verwüstet hatte. Weinend und wutschnaubend verfluchte er Gott und entfernte sich eilig vom Auto, um zu retten, was noch zu retten war.

Er taumelte zum staubigen Straßenrand und legte seinen Sohn im Schatten einer kleinen Sichelblättrigen Eiche ab; ganz in der Nähe kauten Kühe unbekümmert auf trockenen Gräsern herum. An diesem geschützten Ort untersuchte er das reglose Kind, drehte es sanft von einer Seite auf die andere. Ezekiel spuckte in seine Handflächen und strich das Haar des Jungen glatt; er spuckte noch einmal und versuchte, den rostigen Staub um Lucas’ Mund herum zu entfernen. Er legte die Gliedmaßen des Kindes, das ruhig dalag, ordentlich zurecht und rieb die warme Grübchenhand des Babys an seiner Wange; Lucas, klein und erschlafft, reagierte nicht auf seine Berührung. Obwohl er sich nicht rührte und nach wie vor ohne Bewusstsein war, tröstete sich Ezekiel damit, dass der Kleine warm war und bis auf den Bluterguss keine sichtbaren Verletzungen zeigte.

Es fiel Ezekiel schwer, das ganze Ausmaß des Unfalls zu begreifen. Er dachte über sein Kind nach und betete für den Jungen. Lucas atmete noch. ‚Mein Sohn ist noch am Leben, er sieht kaum verändert aus‘, tröstete sich Ezekiel. ‚Er ist einfach nur bewusstlos oder schläft vielleicht. Gott in seiner unendlichen Weisheit will mein Kind wohl vor dem Grauen des Unfalls beschützen und hat es deshalb für eine Weile bewusstlos gemacht.‘ Als er seine Panik überwunden hatte, zog Ezekiel ein großes Stofftaschentuch aus seiner hinteren Hosentasche, um sich das klebrige Blut von Händen und Gesicht abzuwischen, doch Übelkeit übermannte ihn. Instinktiv hielt er nach einem mit grünen Sommergräsern bewachsenen Streifen Ausschau und entfernte sich ein paar Meter von dem Kind, um sich zwischen den Metallkappenspitzen seiner Cowboystiefel zu übergeben. ‚Verrückt. Verrückt ist das‘, dachte er zwischen zwei Würgeattacken. ‚Ich bin doch nicht ganz bei Trost! Mein Vater, der Scheißkerl, ist seit 20 Jahren tot und sagt mir immer noch, wie ich kotzen soll!‘

»Wenn dir übel ist, Sohn, dann mach’s wie ein richtiger Mann! Geh raus und such dir eine Stelle mit Gras, damit du dir die Stiefel nicht bespritzt.«

Im Schatten der Eiche legte Ezekiel dem Baby seine Hand auf die Brust und ging den Unfall noch einmal in Zeitlupe durch. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war Lydias Lachen und dann der Schlenker, um etwas auf der Straße auszuweichen – etwas, das groß war und sich nur langsam bewegte. Er stand auf, um den Unfall noch einmal durchzuspielen. Ihn schwindelte noch, als er zu dem dampfenden, hochkant stehenden Auto kam; von dort ging er den Weg zurück. Er folgte den Reifenspuren auf der Fahrbahn, bis er auf eine sich windende Klapperschlange stieß.

Einige der verloren gegangenen Augenblicke kehrten wieder zurück: Eine Schlange war der Grund für seinen tödlichen Schlenker gewesen. Ezekiel rannte zum Auto zurück und verbrannte sich die Hand, als er das schwelende Handschuhfach aufbrach. Seine Brille, eine geladene Pistole und die Bibel seines Vaters flogen ihm entgegen. Als er sich die Pistole und die Bibel in den Hosenbund gestopft hatte und sich bemühte, sich die Brille wieder ordentlich aufzusetzen, blieb sein Ärmel an einem abstehenden Stück heißen Metalls hängen. Mehrere Sekunden lang hing er so unfreiwillig fest und musste abermals die zerschmetterte Lydia betrachten. Dann aber rannte er voller Zorn zurück zu der Schlange und fixierte sie mit dem Schuh. Er wusste, dass er in diesem Augenblick imstande war zu töten, imstande, einem lebendigen Wesen Schmerz zuzufügen, und das verlieh ihm vorübergehend ein tröstliches Gefühl von Macht. Er versuchte, Blickkontakt herzustellen; verzweifelt bemühte er sich zu erkennen, ob die sterbende Schlange begriff, dass er an ihr Rache nahm, doch er sah bloß die ausdruckslose Leere eines Reptils.

Wie eine herabhängende elektrische Leitung schnellte die Schlange im Todeskampf in ihrer ganzen Länge durch die Luft und peitschte gegen Ezekiels Oberschenkel. Er hielt die Mündung zwischen die Augen des Tiers und drückte ab. Der Schlangenkopf explodierte in feinste, rötliche Teilchen. Während er mit seinem Taschenmesser die Klappern der Schlange abtrennte, sie in die Luft hob und einem launischen Himmel entgegenreckte, verfluchte Ezekiel einen schrecklich irrationalen Gott. Geifernd trampelte er mit den Absätzen seiner Stiefel auf der toten Schlange herum. Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. Die Wunde an seinem Kopf blutete, seine verbrannte Hand nässte, und er hatte die Pistole so nah an seinem Ohr ausgelöst, dass er inzwischen überhaupt nichts mehr hörte.

Benommen entfernte er sich von der toten Schlange und kehrte zu seinem Sohn zurück, der immer noch stumm und reglos war. Er hob Lucas hoch und drückte ihn, der schlaff wie eine Stoffpuppe war, an seine Brust. Außerstande, das gesamte Ausmaß des Entsetzens zu erfassen, das er angesichts des Verlustes spürte, war er froh, dass sein Sohn warm war und atmete. Während er Lucas immer wieder verzweifelt und innig an sich drückte, drang eine entsetzliche Botschaft in Ezekiels Bewusstsein.

Plötzlich erschütterte ihn ein übernatürlicher, unbestimmter Verdacht, dass dem Kind, das er hier so liebevoll hielt, jetzt etwas Großes fehlte. Etwas Wesentliches, das vorher noch dagewesen war und jetzt fehlte. Etwas Elementares war seinem Sohn genommen worden, und das war so einfach gewesen wie es für Ezekiel war, seine schwere Taschenuhr aus der Hosentasche zu ziehen, um nach der Zeit zu sehen.

Als der Notarztwagen kam, fand man Ezekiel taub und taumelnd vor: Seinen Sohn fest umklammernd, fuchtelte er wild mit seiner geladenen Pistole herum und feuerte Schüsse gegen Gottes Ungerechtigkeit in den Himmel. Einer der Sanitäter, der wenig Lust verspürte, gemeinsam mit einem trauernden, eine Knarre schwenkenden Eiferer im Notarztwagen ins Krankenhaus zu rasen, überredete Ezekiel, ihm die Waffe zu überlassen. Nach der Untersuchung des Unfallorts und der sachlichen Feststellung, dass Lydia medizinisch nicht mehr zu helfen war, wandten sich die Helfer Ezekiel und dem kleinen Lucas zu.

Die Rettungssanitäter warfen einander düstere Blicke zu – der Verdacht, dass der Zustand des bewusstlosen Kindes sehr ernst war, schien sich zu erhärten. Sie prüften rasch, ob es noch Lebenszeichen gab, und bald wurde der Kleine im dahinrasenden Krankenwagen an einen wild schaukelnden Tropf gehängt. Ezekiel hatte sich eine Schulter ausgerenkt, mehrere Rippen angebrochen, sich an der Hand verbrannt und am Kopf verletzt und hörte auf dem linken Ohr nichts mehr. Mit systematischer, distanzierter Präzision mühten sich die Sanitäter ab, das Kind wiederzubeleben, führten ihm einen Atemschlauch ein und ließen das winzige Gesicht unter einer Sauerstoffmaske verschwinden. Doch für den kleinen Lucas, inzwischen ebenso schlaff und schwer wie die kopflose Schlange, kam wohl jede Wiederbelebung zu spät.

***

Als die Krankenschwester in der Notaufnahme in ihrem gebügelten und gestärkten Kittel um die Ecke gebogen und mit Ezekiels Blutproben verschwunden war, begutachtete Ezekiel seine Verletzungen. Sein linkes Ohr schmerzte, und bis auf einen Dauerton, der an die Brandung des Meeres erinnerte, konnte er damit nichts hören. Sein Sehvermögen war gestört, und einen Moment lang dachte er, er würde den flackernden Abdruck eines Pistolengriffs in seiner Handfläche sehen. Unter der schweren Eispackung war die verbrannte Innenseite seiner Hand, inzwischen so groß wie ein Baseballhandschuh für Kinder, über und über mit Blasen bedeckt. In seiner ausgerenkten Schulter pochte ein heftiger Schmerz. Mehrere Knochen hatten sich verschoben und waren in Bereiche eingedrungen, wo sie nicht hingehörten. Er spielte an seinem Patientenarmband herum, das Datum und eine Zeitangabe gleich neben dem verschwommen Namenszug auf dem Plastikstreifen zermürbten ihn völlig. Er taste den Hosenbund nach der Bibel ab. Fragmente von Psalmen schossen ihm durch den Kopf, als seine Fingerspitzen die Form des Buches erkannten: »Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs.«

Ezekiel hatte in seiner Kindheit gemeinsam mit seinem Vater, der als Wanderprediger unterwegs war, eine kurze Zeit lang einen einträglichen Ruhm genossen. Man hatte festgestellt, dass Ezekiel als junger Mann mühelos mehrere Teile seines Körpers ausrenken konnte, besonders Schultern und Daumen. Mit andächtigen Worten rief ihn sein Vater dann immer in den vorderen Bereich des Erweckungszeltes und »heilte« vor aller Augen seine »gebrochenen« Knochen. Eilig und hingebungsvoll wurden Gesangs- und Scheckbücher geöffnet. Und so biss Ezekiel nun mit geübter Leichtigkeit die Zähne zusammen, schaute sich um, damit es keine ungebeten Zeugen gäbe, nahm all seine Konzentration zusammen und ließ die fehlplatzierten Gelenke wieder in Stellung krachen. Das deutlich vernehmbare Knallen rief die Stationsschwester auf den Plan, die wie aus dem Nichts heraus auftauchte.

»Schwester, wer hat mein Baby?«, verlangte Ezekiel zu wissen. »Wo haben sie ihn hingebracht? Was tun sie ihm an? Ich muss ihn jetzt sehen. Ich glaube, ich kann ihn weinen hören; mein Junge braucht mich. Er braucht meine Gebete. Ich muss Gott zu ihm rufen.«

Die forsche Schwester war entschlossen, Ezekiel zu besänftigen. Bald nach den Berichten des Rettungsfahrers und seiner Beschreibung des »verrückten Höllenpredigers, der mit einer Klapperschlange, einem Baby, einer Pistole und einer Bibel herumgefuchtelt« habe, hatten Gerüchte im Krankenhaus die Runde gemacht. Ihr professionelles Mitgefühl war durch ihre Neugier, aber auch durch ihre Angst vor dem Mann gedämpft. Doch die Geschichte von der wohl aussichtslosen Lage des Kindes und dem Tod der Frau hatte ihre Station längst erreicht. So sehr sie es auch versuchten, konnten die Mitarbeiter des Krankenhauses angesichts des hirntoten Kindes und Ezekiels immenser und fassungsloser Trauer doch nicht teilnahmslos bleiben.

»Mr. Reed, versuchen Sie, Ihre Eispackung nicht zu verschieben; lassen Sie mich bitte mal Ihre Hand sehen. Mr. Reed! Hören Sie mich? Verstehen Sie, was ich sage?«

»Ich bin ein Diener Gottes. Sie werden mich mit ‚Reverend‘ ansprechen oder schweigen«, fuhr Ezekiel sie an.

»Ja, gut, Sir. Das machen wir schon, Reverend. Wir wollten Ihre Hand lieber nicht röntgen, bis die Schwellung etwas zurückgegangen ist – das verstehen Sie doch, nicht wahr? Natürlich verstehen Sie das … und der Seelsorger möchte Sie gern einen Moment sprechen. Fühlen Sie sich stark genug, um ihn zu treffen? Sehen Sie mich bitte an. Nicht nach unten, nach oben schauen. Versuchen Sie, mich direkt anzusehen. Ihr Gesicht sieht schon viel besser aus … wollen Sie jetzt versuchen, Ihre Brille wieder aufzusetzen? Sie liegt bei mir am Schalter. Ich habe sie Ihnen geputzt, ist wieder wie neu. Und Ihre Medikamente habe ich auch gleich hier. Sie müssen sie jetzt einnehmen, mit Wasser, viel Wasser; und versuchen Sie, Ihre Hand hochzuhalten, oberhalb Ihres Herzens, wenn Sie können. Ja, schön anheben, so ist es richtig. Das ist gut. Sobald Sie vom Röntgen zurück sind, legen wir Ihnen einen schönen sauberen Verband an. Wie ich sehe, ist die Schwellung schon etwas besser … Ihre Medizin wird Sie entspannen und gegen die Schmerzen helfen. Verstehen Sie mich, Mr. Reed? Entschuldigung, Reverend Reed. Der Krankenhausseelsorger wartet draußen im Korridor, um Sie mit in die Kapelle zu nehmen. Denken Sie, dass Sie schon mitgehen können? Können Sie allein aufstehen?«

Ezekiel hatte rasende Kopfschmerzen von dem Staccato-Feuerwerk, das die Schwester mit ihren Fragen und Anweisungen produzierte, freute sich aber wie ein Kind, seine Brille wiederzuhaben. Nachdem er das Gestell zurechtgebogen hatte, konnte er wieder klar sehen. Seine Schulter und seine Knie schmerzten, und er zitterte im Licht der Leuchtstofflampen. Eine der langen staubigen Röhren war defekt, sie stotterte und zischte und warf ihn zurück an den Unfallort; er erinnerte sich, wie er beim Öffnen des versengten Handschuhfachs einen kurzen Blick auf den zertrümmerten Seitenspiegel geworfen hatte, der ihn warnte: »Dinge im Spiegel sind näher, als sie erscheinen.« Machte Gott sich über ihn lustig? Er schloss fest die Augen, legte die Stirn in die Hände und betete. Er schlotterte, schaukelte hin und her und weinte leise.

Obwohl er deutlich sah, wie sich der Mund des Seelsorgers über seinem Kollar bewegte, während er Ezekiel vom Gang aus zuwinkte, konnte Ezekiel nicht verstehen, was er sagte. Sein linkes Ohr war noch immer taub.

»Mr. Reed? Mr. Reed? Darf ich Sie mal kurz sprechen?«

Mehrere wartende Patienten standen ganz in der Nähe gelangweilt beisammen und plauderten mit den Schwestern. Ezekiel sträubte sich dagegen, Objekt ihres Mitleids zu werden, und plötzlich glaubte er, dringend fliehen zu müssen. Er ging auf die von hinten beleuchtete Figur des Seelsorgers in der Tür zu. Ezekiel berührte sein Ohr, zog am Ohrläppchen und schüttelte den Kopf, um dem Seelsorger zu bedeuten, dass er nichts hörte. Dieser nickte bestätigend und sprach sofort langsamer und übertrieben deutlich. Ezekiel konnte ihm nun mühelos von den Lippen ablesen.

»Sollen wir das ganz locker angehen, Mr. Reed? Ich bin Reverend Lamm. Ich bin der Krankenhausseelsorger.« Der Seelsorger gestikulierte, als spräche er zu einem Schwachsinnigen und presste den Zeigefinger auf seine Nase. »Es tut mir so leid. Ihr Verlust tut mir sehr leid, Mr. Reed, sehr, sehr leid.« Der Seelsorger blickte finster, schüttelte den Kopf und legte die Stirn auf eine Weise in Falten, die, wie er glaubte, tiefe Trauer ausdrückte. Mehrmals berührte er einen Bereich oberhalb seines Herzens – eine Geste, mit der er den Punkt auf seiner Brust markierte, an dem wohl die meiste Anteilnahme in seinem Körper zu finden sein musste. »Würden Sie gern mit mir in der Krankenhauskapelle vorbeischauen? Es kann Trost spenden, in solchen Zeiten zu Gott zu sprechen.« Er nahm das Kreuz, das um seinen Hals hing, schüttelte es und hob es dann ein wenig hoch, wie Lernkarten im Kindergarten. Ezekiel nickte. »Ich habe den Schwestern Bescheid gesagt, sie wissen, wo Sie zu finden sind, falls Sie gebraucht werden«, versicherte Reverend Lamm.

Die kleine Kapelle war nur spärlich beleuchtet und roch nach Fußbodenreiniger mit Kieferduft. Die Schwester in der Aufnahme hatte Ezekiel zuvor seine Stiefel ausgezogen, stattdessen trug er nun schlecht sitzende blaue Papierlatschen. Da die Sohlen inzwischen klebrig waren, fiel Ezekiel das Laufen schwer. Die Orgel spielte einen Choral, und die Musik schwebte in der harzigen Luft, doch Ezekiel hörte schlecht. Die Musik klang nach unbestimmter Meeresbrandung, ohne spezifische Form. Alles um Ezekiel herum verschwand – bis auf die verschwommenen Töne des Chorals. Langsam, als wäre er eine schwere Kette, an der jemand zog, bewegte er sich auf den Nebel der Musik zu.

Plötzlich vernahm er den Choral deutlich; er lag im Bett seiner Kindheit. Er erkannte die Stimme seiner Mutter. Sie spielte ihm etwas auf der Mundharmonika vor. Sang ein Kirchenlied. Schüttelte sein Kopfkissen auf, streichelte sein Gesicht und besänftigte sein Schluchzen. Er bebte und rang nach Luft, wie es nur Kinder tun, die sehr lange geweint haben.

Ezekiel hatte seinen ersten Zahn verloren; in schüchternem kindlichem Vertrauen hatte er ihn unter sein Kopfkissen gelegt und auf eine Belohnung von der Zahnfee gewartet. Als Ezekiels Vater mitbekam, was sein Sohn da getan hatte, zog er seinen speckigen Ledergürtel aus der Hose und verpasste dem Kind eine Tracht Prügel, wie sie nicht einmal ein Verbrecher verdient hätte, ganz zu schweigen von seinem eigenen arglosen Kind. Ezekiels Vater war ein Angst- und Höllenprediger aus Westtexas, in dessen Welt kein Platz für die Zahnfee und ihresgleichen war, die wie der Osterhase und tanzende Hexen ins Reich der Jünger des Teufels gehörten. Als charismatischer Geistheiler mit direktem Draht zu Gott war er im gesamten Bundesstaat dafür bekannt, verlorene Seelen wieder aufzurichten.

»Ich hebe sie so hoch, dass sie von oben herabblicken müssen, um den Himmel zu sehen …«

Leider hatte Reverend Reed der Ältere, in dem nicht nur das dunkle Herz eines Hochstaplers steckte, sich ein reichhaltiges Sortiment an ausgesprochen unschönen Angewohnheiten zugelegt: Jenseits seiner finsteren Praktiken väterlicher Unterdrückung wurde ihm oft Betrug oder unverhohlener Diebstahl vorgeworfen. Über sexuellen Missbrauch und häusliche Gewalt wurde geredet, Pädophiliegerüchte hielten sich hartnäckig. Obwohl niemals offiziell Anklage erhoben wurde, herrschte die gängige Meinung, der Pfarrer finde Vergnügen am Schmerz anderer. Immer wieder verprügelte der Reverend Ezekiel wie einen Ackergaul. Wenn er müde davon war, seinen Sohn auf dem unbefestigten Scheunenboden zu schlagen, zwang er ihn in einen Kartoffelsack hinein; dann hängte er den Sack an einem Ast auf und prügelte nun geruhsamer weiter, von einem Stuhl aus mit einem langem Stock.

Er schleppte Ezekiel von einer geschmacklosen Erweckungsshow, die in riesigen Zelten stattfanden, zur nächsten, wobei er sich die Anwesenheit des Kindes und dessen Begabung, sich die Gelenke auszurenken, zunutze machte, um Spenden einzutreiben und die Bankkonten all der naiven Seelen zu räumen, die daran glaubten, dass Jesus direkt zu ihm sprach. In der leidenschaftlichen Verzückung seiner Zeltpredigten rollte Reed mit Schaum vor dem Mund seine Augen zurück, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Er bebte majestätisch und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Schweißtropfen flogen durch das Zelt, während er seine Hände hoch über den Kopf erhob und auf den Absätzen vor- und zurückschwankte. Er schrie den Teufel an und ließ sich in tiefer, scheinheiliger Ohnmacht zu Boden fallen, als hätte die Gnade Gottes plötzlich seinen Herzschlag unterbrochen.

Anstelle einer glücklichen Kindheit hatte Ezekiel Gott.

Ezekiels Mutter beschützte ihren Sohn so gut sie konnte, indem sie ihm mit Liebe und Zärtlichkeit nicht nur einen Ort der Zuflucht schuf, sondern auch ehrgeizige Versuche unternahm, seine mangelhafte Bildung zu verbessern. Ihre anhaltende Zuneigung begleitete ihn noch, als er bereits erwachsen war – was vielleicht auch der eigentliche Grund dafür war, warum Ezekiel sich niemals von Gott abwandte. Im Gegenteil: Als sein Vater starb, schlug Ezekiel überraschend dessen Pfad der Rechtschaffenheit ein. Und anschließend den eines entspannteren, unbeabsichtigten Fundamentalismus – doch Fundamentalismus war es allemal. Ezekiel Reed wurde zum unverhofften Schutzpatron der Tradition, ganz und gar Spross aus verdorbenem Stamm. Zur Überraschung aller Beteiligten wurde er, was den Heiligen Geist betraf, zum Papagei seines Vaters. Kein Wunder also, dass einer der Sanitäter Ezekiel gegenüber dem Rettungsfahrer so beschrieben hatte: »So’n verrückter Prediger, ballert mit seiner Pistole herum, brüllt irgendwas von Sündern und wackelt allen mit seinem Schwanz vor der Nase rum. Hätt er lieber sein Baby erschießen sollen als die Klapperschlange. Aber wir bringen sie beide rein. Na, dann ma’ die Köpfe hoch, in die Hände gespuckt und alle fertig machen.«

Die Orgelmusik setzte aus, und der Seelsorger klopfte Ezekiel sanft ans Knie.

»Mr. Reed? Geht es Ihnen gut? Wollen Sie gern noch mal zur Krankenschwester rein? Ich komme mit.«

Ezekiels Mutter verschwand zusammen mit der Musik. Er erinnerte sich wieder daran, wo er war. Erinnerte sich an Lydias zerstörten Leib. Wo war sie jetzt? Er wollte zu ihr gehen, wollte sie sehen und neben ihr beten. Und wo war Lucas?

Ezekiel fuhr herum und starrte den Seelsorger wütend an.

»Nennen Sie mich nicht ‚Mister‘. Ich bin ein geweihter Diener Gottes. Gott hat mich berufen. Also nennen Sie mich ‚Reverend Reed‘, Sir. Und jetzt will ich meinen Sohn. Jetzt. Augenblicklich. Bringen Sie mich sofort zu ihm. Er braucht mich. Wo ist er? Es sind Fremde, die bei ihm sind.«

Reverend Lamm verließ die Kapelle und kehrte mit einer Schwester aus der Notaufnahme zurück. Sie brachte Ezekiel und den Seelsorger nach oben auf die Kinderintensivstation. Mit betrübtem Blick platzierte sie die beiden auf Stühlen neben dem Bett des Kindes. Lucas war inzwischen von einem Meer aus Schläuchen und Monitorkabeln bedeckt. Ein Beatmungsgerät keuchte rhythmische Beteuerungen in den Raum, während die blau leuchtenden Bildschirme diverser Gerätschaften mit ihrem Piepen von kostspieliger Wachsamkeit kündeten.

Reverend Ezekiel Reed wurde in seine tiefe Trauer zurückgestoßen, fassungslos angesichts der unheilvollen Menge komplizierter Systeme, die es offenbar brauchte, um sein Kind am Leben zu erhalten. Glücklos und elend stand er von seinem Stuhl auf, außerstande, dem quälenden Verlangen zu widerstehen, seinen Sohn in die Arme zu nehmen. Die Schwester stellte sich dazwischen und nahm sanft Ezekiels geschwollene Hand. Sie tätschelte seinen Handrücken.

»Mr. Reed, es ist besser, wenn Sie Ihren Sohn jetzt nicht berühren. Er ist noch bewusstlos. Aber er hat keine Schmerzen. Keinerlei Schmerzen, das verspreche ich Ihnen. Wir sind ziemlich sicher, dass er keine Schmerzen empfindet.«

Ezekiel hatte sich ganz seiner Erschöpfung überlassen und starrte auf die Schlappen an seinen Füßen. Wohin hatte man seine Stiefel gebracht?

»Möchten Sie noch Eis für Ihre Hand?«, fragte die Krankenschwester. »Denken Sie auch daran, Ihre Schmerzmedikamente einzunehmen? Einer der Ärzte wird morgen mit Ihnen sprechen. Er wird Ihnen alle Ihre Fragen beantworten. Saft? Möchten Sie etwas Apfelsaft, Mr. Reed?«

»Ich bin kein Mister!«, schrie er, an niemand Bestimmtes gerichtet. »Ich bin Reverend. Sprechen Sie mich mit Reverend Reed an, so wie Gott mich genannt hat. Und jetzt wird Gott meinen Sohn retten! Der Heilige Geist teilt nun dieses Bett mit meinem Sohn.«

Ezekiel und der Heilige Geist saßen bis tief in die Nacht hinein wachsam und aufrecht auf einem Metallstuhl mit gerader Rückenlehne, einen Meter von Lucas’ Kissen entfernt. Kurz bevor es dämmerte, wurde er in den dunkelsten Teil des Krankenhauses gebracht. Mit den Schlappen an seinen Füßen rutschte Ezekiel wie die würdelose Karikatur eines albernen Eisläufers mehrere lange Flure gewienerten Linoleums entlang; als jemand ihm einen Ellbogen anbot, um ihn zu stützen, lehnte er jedoch ab. Sein weiß gekleideter Begleiter wandte seine Aufmerksamkeit wieder ein paar Münzen zu, die er in seiner Hosentasche klimpern ließ, und spielte mit seinem Klemmbrett herum. Beide Männer räusperten sich mehrmals. Sie sprachen nicht und vermieden jeden Blickkontakt. Vollkommen wortlos, nur mit ein paar kleinen Bewegungen der Hand oder des Kinns oder einem steifen Nicken wies der Begleiter Ezekiel den Weg zum Ziel.

Mit einem Quietschen schloss sich eine Tür hinter ihnen; der fensterlose Raum, in dem sie nun standen, war eiskalt und lebensfeindlich. Am Ende des Zimmers war Lydias Körper deutlich zu sehen; Ezekiel erkannte die Form eines menschlichen Kopfes, erhellt von der wahren Endgültigkeit des Todes. Hier war es so kalt wie in der Tundra, so eisig, dass Ezekiel erwartete, seinen Atem zu sehen. Er ging einige Schritte und streckte die Hand aus, um nach den eisigen Rohren der Bahre zu greifen. Es war das Ende seiner Frau, die hier auf dem Rücken unter einem weißen Krankenhausbetttuch lag. Ezekiel atmete die eisige Luft ein, so tief, dass er bebte, während er hinter sich das gedämpfte Klimpern der Münzen und von oben das Zischen der Deckenbeleuchtung hörte.

Sein Begleiter nahm die Hände aus den Taschen und hob das Laken von Lydias Gesicht. »Ist das Ihre Frau, Mr. Reed? Ist das Lydia Ellen Reed?«, fragte er. Ezekiel, der sich nun nicht mehr im Blickfeld des Münzenklimperers befand, schloss die Augen. In seinem tiefsten Inneren ergab er sich dem Gedanken an die Endgültigkeit: Lydia war nicht mehr, was eine Folge seines Tuns war; sie gehörte nicht mehr zu ihm. Und nur wenige Stockwerke darüber war auch Lucas, der ebenso reglos dalag, von ihm gegangen, weil Ezekiel nicht achtsam genug gewesen war.

Er wurde erneut gebeten, seine Frau zu identifizieren. »Mr. Reed? Ist das Ihre Frau, Mr. Reed?«, wiederholte sein Begleiter und deutete mit einem Nicken auf Lydia. Lydia war weg, doch ihr Leib, der versagt hatte, war dageblieben: Die weltliche Ausgabe von Lydia Reed beanspruchte auch weiterhin Platz in dieser aquariumartigen Gruft mit ihren zischelnden Leuchtstoffröhren. »Ja«, antwortete Ezekiel. »Ja, das ist Lydia.« Er sprach, und seine Augen weiteten sich, während sich ihm der Hals zuschnürte. »Ja. Das war meine Frau.«

Tagebuch des Dr. Quintus Swann

Die umfangreichen Scans letzte Woche deuten auf eine Contrecoup-Verletzung des Kindes hin. Rückprall nach anfänglichem Frontalhirntrauma mit Schlag auch gegen den hinteren Schädelbereich. Großes Pech. Die Diffusions-Tensor-Bilder zeigen mögliche Schädigungen an den Axonen. Trauma linksseitig stärker als rechts. Wucht des Aufpralls deutlich stärker als erwartet. Eine Pupille zieht sich immer noch nicht zusammen. Insgesamt etliche Faktoren, die offensichtlich einen traurigen Ausgang verheißen. Lässt sich überhaupt eine präzise Prognose für ein Schädel-Hirn-Trauma bei einem Kleinkind stellen? Für ein kleines, unfertiges Gehirn von zwei Jahren, ein Gehirn, das zwei Schläge abbekommen hat und zweimal verletzt wurde? Ein Schlag für jedes Jahr. Schlimme Situation. Aber keine Anzeichen für Rotations- oder Abscherverletzungen. Das sind die guten Nachrichten. Aber es scheint doch für dieses kleine Kind nichts als Pech zu sein. Ich werde schon bald die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahme empfehlen müssen. Der Druck in der Kommission wird immer größer. Ein stiller, aber immenser Druck. Unerfreuliche Lage. Für morgen früh vertiefte Aufnahmen angesetzt, meine Fachberater halten weitere Scans allerdings für ein kostspieliges, überflüssiges Vorgehen. Ich erinnere sie dann: »Aufnahmen können ebenso wie Experten fehlerhaft sein.« Habe noch immer nicht mit der Familie gesprochen. Anscheinend gibt es da einen exzentrischen Vater, der hier herumschleicht. Mit einem ziemlichen Talent für Unheil. Und einer kleinen Gefolgschaft gleichgesinnter Seelen. Ich muss ihm bald die traurigen Alternativen auseinandersetzen. Wenn es denn überhaupt Alternativen gibt, traurige oder sonstige. So ein kleines Leben! Kaum größer als ein Weihnachtsschinken. Gibt es denn nichts, was ich für dieses Kind tun kann? Meinem Gefühl folgen und schauen, wo es hinführt? Doch selbst wenn: Es werden nicht alle Puzzleteile auf einmal zusammenpassen. Die aktuellen Daten könnten sich als unsystematische Artefakte herausstellen oder schlimmer noch: als Fiktion. Es ist verwerflich, Schaden zuzufügen. Noch viel verwerflicher ist es, nichts zu tun. Ich warte ängstlich auf die unweigerlich bevorstehende biochemisch-toxische Kaskade, die seine Überlebenschancen drastisch verringern wird, noch bevor ich handeln kann. Ticktack. Ich glaube, ich kann, ich muss etwas Gutes für dieses Kind tun. Und zwar schnell. Ich habe meinen ersten Pakt mit dem Teufel geschlossen. Ein Lokaljournalist. Ein würdeloser Beruf für Fieslinge und Schnüffler. In einem Krankenhaus voller viktorianisch Bornierter, die einem nicht von der Pelle rücken, werde ich aber jede Hilfe brauchen, die ich bekommen kann. Von allen denkbaren Seiten. Fieslingen. Schnüfflern. Geschäftemachern. Texanischen Altherrenriegen. Allen.

Tagebuch des Rodion Hunt

Heute wieder im Krankenhaus. Ich hatte gehofft, den Freakshow-Vater interviewen zu können. Reverend Ezekiel Reed. Im Krankenhaus erzählen sie, ich müsste lediglich dem Gestank folgen. Er sei ein Fan von billigem Parfum. Ein heiliges Stinktier. Das schreckt offensichtlich den Teufel ab. Habe mehrere Jesus-liebt-dich-Typen auf dem Parkplatz gesehen, die dort Flyer unter Scheibenwischer klemmten. Muss wohl eine Art menschlicher Schutt sein, ein Überbleibsel früheren Geredes, dass bei dem Kind der Stecker gezogen werden soll. Swann gibt zu, dass er wegen der unerwünschten Aufmerksamkeit nervös war. Hält den hirntoten Jungen hinter Schloss und Riegel verborgen. Die Krankenschwestern weigerten sich, selbst meine charmantesten Fragen zu beantworten. Quint hat seine Hausaufgaben gemacht, ich wollte nur die Lage sondieren. Die guten Sachen kommen manchmal von dort, wo das Boot leckt. Es ist klar, dass Quint vorhat, das Kind am Leben zu erhalten, bis der Junge alt genug ist, um wählen zu gehen. Behauptet, er könne einen Teil der geistigen Fähigkeiten des Kindes wiederherstellen. Hat sich fest vorgenommen, die ganze Welt der Neurologie aufzurütteln. Mit nur einem einzigen kleinen Kind. Tausenden verlorenen Kindern eine andere Zukunft zu ermöglichen. Und er ist bereit, mich an seinen spektakulären Ambitionen für das Kind teilhaben zu lassen. An allen schmutzigen Details. Alles für mich, wenn ich zusage, kein Wort über den Jungen zu schreiben, bis er mir grünes Licht gibt. Swann glaubt, beweisen zu können, dass Sexualität und Kognition getrennt voneinander sind. Vollständig getrennt. Selbst jemand, der wie ich mit Wissenschaft nichts am Hut hat, versteht, was das für eine Sprengkraft haben könnte. Wer hätte ahnen können, dass der Arzt viel interessanter ist als der Patient? Dieser Kerl hegt eine übermäßig gesunde Missachtung gegenüber dem Unmöglichen. Ich könnte wetten, dass er nicht durchgeknallt und auch kein Frankenstein ist. Die Geschichte hat es mit denen, die sich um eine Verlängerung der normalen Lebensspanne des Menschen bemühen oder an Gehirnen von Kleinkindern herumdoktern, bisher nicht gerade gut gemeint. Ich habe das Gefühl, der Mann könnte schon bald einen Vorkoster nötig haben, wenn er in der Krankenhaus-Cafeteria essen will. Aber ich habe eine Abmachung. Und eine Abmachung ist eine Abmachung.

Kapitel 2

(1996)

Obwohl Ezekiel aufgrund der Kopfverletzung auf dem linken Ohr nicht mehr so gut hörte, hatte ihn seine Trauer erstaunlich wachsam gemacht. »Ihr Herz ist so kalt, dass man daneben getrost ein Stück Fleisch zum Kühlen aufhängen könnte, Doktor.«

Reverend Ezekiel Reed saß mit der steifen Förmlichkeit eines Diakons in Dr. Quintus Swanns Büro, sprach jedoch immer noch wie ein Prediger. Er hatte sich zuletzt eine unbewusste Geste des Zweifels angewöhnt: Immer wieder berührte er sich seitlich am Hals oder am Handgelenk, um seinen Puls zu finden. Vorerst brauchte Ezekiel diese linkische Art der Rückversicherung noch: seinen Puls zu spüren, um sicher zu sein, dass nicht auch er in dem Moment vernichtet worden war, der seine Frau aus dem Leben gerissen und sein Kind versehrt hatte. Er hatte gerade erfahren, dass sein Sohn irreversibel geschädigt war. Irreversibel. Ebenso, wie Lydia irreversibel tot war. Ezekiel wusste, was das bedeutete, und doch wollte er es nicht wahrhaben. Er war außerstande, sich dem Entsetzen und dem Verlust zu stellen. Er weigerte sich anzuerkennen, dass es einen so schrecklich irrationalen Gott überhaupt geben konnte.

Dem Arzt hatte vor diesem Moment gegraut. Überbringer einer Botschaft zu sein, die eine so intime, so endgültige Trauer auslöste, war ein abscheulicher Aspekt der Arbeit als Mediziner. Dieser Augenblick war immer eine furchtbare, unerträgliche Verletzung der Privatsphäre. Das Ende des Lebens ist eine banale Komponente des Grauens, für einen Arzt so selbstverständlich wie sein Stethoskop.

»Reverend Reed«, begann der Arzt, »jeden Tag muss ich jemandem etwas sagen, das ich gar nicht sagen will. Ich mache das jetzt schon eine ganze Weile, und ich weiß immer noch nicht, wie ich es gut machen soll. Vielleicht stimmt es ja, dass es unter diesen Umständen einfach kein ‚gut‘ gibt. Ihr Verlust tut mir sehr, sehr leid. Der Verlust Ihrer Frau und nun auch der Verlust Ihres Sohnes. Es tut mir schrecklich leid.« Ezekiel erforschte Quints Gesicht, außerstande zu glauben, dass dieses Mitgefühl wirklich ihm galt. Während das starke Parfum des Predigers zu ihm herüberwehte, nahm Quint seine Brille ab und inspizierte sie, als wäre er überzeugt davon, eine Schicht des öligen Duftstoffs darauf zu entdecken. Ezekiel zerrte an der Kette seiner Taschenuhr. Seine Bewegungen wurden unruhiger, schließlich wurde er laut.

»Sie sind da einigen sehr hässlichen Irrtümern erlegen, Sir. Ich habe meinen Sohn noch nicht verloren. Gottes Wunder wird geschehen, um meinen Sohn zu heilen! Wenn die Zeit dafür reif ist. Bald schon, nehme ich an.«

Quintus war in einer ausweglosen Lage: Er wollte Ezekiel Trost spenden, gleichzeitig musste er ihm klarmachen, dass die Situation hoffnungslos war. Er musste jetzt nicht nur versuchen, seinen schnellen Verstand zu bremsen; er war auch bemüht, seinem Herzen etwas Mitleid und Güte für Ezekiel abzutrotzen.

»Es gibt kaum ein anderes Organ, über dessen Funktionsweise wir so wenig wissen wie das menschliche Gehirn«, fuhr Quintus fort. »Obwohl mir klar ist, dass das nur ein sehr schwacher Trost ist: Wir wissen, dass Ihr Sohn zurzeit keine Schmerzen hat.« Das war eine bewusste Verzerrung der Tatsachen: Er hörte sich lügen und dabei die wissenschaftlichen Fakten so weit dehnen, dass daraus Mitleid für Ezekiel wurde. Er versuchte, wieder etwas Vernunft und Ordnung in das Gespräch hineinzubringen. »Aber wir können ebenso sicher und genau vorhersagen, dass er keine glückliche Zukunft haben wird.« Genau? Der nächste Schwindel. In den Neurowissenschaften lässt sich keine Genauigkeit vortäuschen. »Es ist nicht mehr realistisch, an eine Verbesserung seiner Lage zu glauben. Es wird für ihn nicht besser. Es wird niemals besser«, sagte Quintus theatralisch. Doch schon während er diese Worte mit großer Ernsthaftigkeit aussprach, sah er insgeheim eine neue Entschlossenheit in diesem kurzen Moment des Selbsthasses aufleuchten: Könnte er womöglich all seine Fähigkeiten zusammennehmen, um Lucas wiederzuerwecken und ein Leben für ihn zu ersinnen, das auch andere wertschätzen würden?

Auf der anderen Seite des Schreibtisches fuhr Ezekiel mit grotesker biblischer Gewissheit fort: »Schwacher Trost? Nur Narren spotten über die Sünde, Doc. ‚Ihr seid allzumal leidige Tröster!‘ Hiob 16:2.«

Immer wieder räusperte sich Quintus und spielte mit seinen Rezeptblöcken herum, die er wie Schachfiguren auf dem aufgeräumten Schreibtisch hin- und herschob. Er war außerstande, Ezekiel in die Augen zu sehen. Sein Stethoskop fühlte sich wie eine Schlinge um seinen Hals an. Genau das hätte Ezekiel ihm in diesem Moment sicher gewünscht.

Beklommen und bedrohlich saß er da und sprach weiter, als würde er Geschosse durch seine zusammengebissenen Zähne pressen. Sein Verlangen nach Rache stank noch mehr als sein billiges Parfum. »Sie erkennen Gottes Wunder nicht an, Doc? Wenn die Zeit gekommen ist, wird Er seine Hand ausstrecken und meinen Sohn retten! Gott hat zu mir gesprochen. Gottes Wille geschehe. Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie meinen Jungen verloren geben? Sie behandeln ihn ja schon jetzt, als wäre er als Unglückskind auf die Welt gekommen. Als wäre er so tot wie Pökelfleisch in der Büchse. Sie stellen sich einfach hin und geben auf!«

Quint tränten die Augen von Ezekiels Maßlosigkeiten. Er nahm sich vor, nie wieder allein mit diesem kauzigen, abstoßenden Mann in einem geschlossenen Raum zu bleiben. Sein Zorn war echt. Der Arzt wählte seine Worte mit Bedacht und sprach ruhig mit Ezekiel, als zitierte er aus einem Leitfaden für Medizinstudenten über den Umgang mit labilen Trauernden. Quintus hatte genug Tod und Sterben gesehen, um die unterschiedlichen Lebensumstände zu akzeptieren.

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