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Das Science Fiction Jahr 2015

Originalausgabe

Der Text von John Clute und der von Kameron Hurley wurde von Jakob Schmidt übersetzt, der Text von Ken Liu von Hannes Riffel. Erik Simon verfasste die Einführung zu Leben und Werk von Wolfgang Jeschke.

Die einzelnen Rezensionssparten wurden verantwortet von:

Hardy Kettlitz (Bücher)

Andy Hahnemann (Film)

Alexander »molosovsky« Müller (Games)

Hannes Riffel (Comics)

Martin Heindel (Hörspiele)

© 2015 by Golkonda Verlag GmbH

Die Rechte an den einzelnen Texten liegen bei den AutorInnen und ÜbersetzerInnen.

The copyright to the individual texts is held by the authors and translators.

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektur: Heide Franck

Umschlaggestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

Titelfotos: www.nasa.gov

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

golkonda@gmx.de

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-48-7 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-49-4 (E-Book)

Für

Wolfgang Jeschke

(1936–2015)


Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

Editorial

In Erinnerung an Wolfgang Jeschke

John Clute: Ruinen und Zukünftigkeit

Sascha Mamczak: Die Aeronauten

Ken Liu: China träumt

REVIEW | BUCH

Michael K. Iwoleit: Steampunk und Weltuntergänge

Udo Klotz: Deutschsprachige Science-Fiction-Romane 2014

Jakob Schmidt und Simon Weinert: Die Perspektive der Fachbuchhändler

Dietmar Dath: Freie Vorzeichen

Uwe Kramm: Der lange Weg zum Mars

Wolfgang Neuhaus: Das Genre der reflexiven Fiktion

REVIEW | FILM

Christian Endres: Hooked On A Feeling

Simon Spiegel: Nachricht von Papi

REVIEW | GAMES

Kameron Hurley: Wir kämpfen seit jeher

Karlheinz Steinmüller: Andymon und die Langfristperspektiven der Menschheit

REVIEW | COMIC

Hardy Kettlitz: Von den Anfängen der Space Opera bis zur Rückkehr von Captain Future

Bartholomäus Figatowski: Splitter im Auge Gottes – Wie die Science Fiction den Ersten Weltkrieg erinnert

REVIEW | HÖRSPIEL

Uwe Neuhold: Die Zukunft des 3-D-Drucks

FACT | PREISE

FACT | TODESFÄLLE

Erik Simon: Immer wieder staunen

FACT | BIBLIOGRAPHIE

FACT | AUTOREN UND MITARBEITER

Science Fiction bei Golkonda

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

eigentlich wollten wir an dieser Stelle einige Worte über Kontinuität verlieren. Und über unsere Freude und unseren Stolz, das SCIENCE FICTION JAHR weiterführen zu dürfen – dieses im deutschsprachigen Raum einzigartige Projekt eines sekundärliterarischen Jahreskompendiums, das Wolfgang Jeschke vor dreißig Jahren ins Leben gerufen hat. Die Freude und der Stolz sind unvermindert, aber ...

Aber Wolfgang Jeschke können wir dafür nicht mehr unseren Dank aussprechen. Der ehemalige Herausgeber der Heyne Science-Fiction-Reihe und mehrfach preisgekrönte SF-Autor, der über Jahrzehnte hinweg das Genre hierzulande wie kein anderer geprägt und – was letztlich noch mehr zählt – als Mensch das Leben zahlreicher Freunde und Kollegen bereichert hat, ist am 10. Juni 2015 in München gestorben.

Wie groß die Lücke ist, die Wolfgang Jeschke hinterlässt, zeigen die zahlreichen Nachrufe, die wir gesammelt haben und gleich im Anschluss an das Editorial abdrucken. Wir danken all jenen ganz herzlich, die ihre Erinnerungen zu Papier gebracht haben. Und wenn wir diesen Erinnerungen noch etwas hinzufügen dürfen, dann die Empfehlung, die Romane und Erzählungen dieses hellsichtigen Schriftstellers zu lesen. Sie sind – ebenso wie der Mensch, der sie geschrieben hat – einzigartig.

Zum Inhalt der dreißigsten Ausgabe des SCIENCE FICTION JAHRES, die nun erstmals im Golkonda Verlag erscheint, ist vor allem zu sagen, dass sich das Herausgeber- und Redaktionsteam nicht bemüßigt gefühlt hat, das Rad völlig neu zu erfinden. So finden Sie weiterhin ausführliche Featurebeiträge zur Science Fiction in all ihren medialen Ausprägungen, zum größten Teil verfasst von jenen Autorinnen und Autoren, die im Laufe der Jahre ihre Kompetenz auf diesem Feld mehrfach unter Beweis gestellt haben. Ebenso werden wie bisher die einzelnen Bereiche des Genres – Buch, Film, Game, Comic und Hörspiel – in umfangreichen Rezensionsteilen abgedeckt, die, eine kleine Neuerung, von Spartenredakteuren betreut werden. Unser Dank gilt Andy Hahnemann, Martin Heidel, Hardy Kettlitz und Alexander »molosovsky« Müller, die hier hervorragende Arbeit geleistet haben.

Lediglich den »Fact«-Teil haben wir generalüberholt. Hermann Urbanek, der viele Jahre lang den nationalen und internationalen Science-Fiction-Markt gesichtet hat, hat sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Diese Aufgabe wurde nun auf mehrere Schultern verteilt. Zugleich haben wir den bibliographischen Jahresrückblick auf nahezu alle deutschsprachigen Verlage ausgeweitet. Wir sind sehr froh, dass uns Christian Pree dafür seine Daten zur Verfügung stellt. Auch wenn eine absolute Vollständigkeit natürlich nicht zu erreichen (und wohl auch nicht sinnvoll) ist, liegt damit ein Überblick vor, der seinesgleichen sucht.

Darüber hinaus hat auch die generelle Struktur des SCIENCE FICTION JAHRES eine leichte Veränderung erfahren: Die Featurebeiträge und die Rezensionen sind fortan nicht mehr in zwei durchgängigen Blöcken gesammelt, sondern durchmischt. Ziel ist es, damit für etwas mehr Abwechslung bei der Lektüre zu sorgen, ohne dass dies auf Kosten der Übersichtlichkeit geht.

Zu guter Letzt ist es uns Pflicht und Vergnügen, all jenen zu danken, die, in gewohnt professioneller Manier oder zum ersten Mal, zum Fortbestand dieses Projektes beigetragen haben – in erster Linie natürlich den Autorinnen und Autoren, die sich auf den neuen Verlag eingelassen haben; wir hoffen, dass die positiven Erfahrungen beim »Erstkontakt« überwogen haben, und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit. Ausdrücklich hervorheben möchten wir: Erik Simon, der die Einführung zum Leben und Werk von Wolfgang Jeschke verfasst hat; Anja Schleicher, die in München organisatorisch das Heft in der Hand gehalten und die Nachrufe zusammengetragen hat; Jakob Schmidt, der schon seit Jahren als Übersetzer unverzichtbar für das Jahrbuch ist; Hardy Kettlitz, der mit grenzenloser Geduld und vielen kreativen Ideen die Texte gesetzt hat; und last but not least (dieser Dank stammt von der einen Hälfte des Herausgeberduos) Sascha Mamczak für das Vertrauen und die tatkräftige Unterstützung, die er und sein Team dem SCIENCE FICTION JAHR haben angedeihen lassen und hoffentlich noch lange werden angedeihen lassen.

Wir würden uns freuen, wenn Inhalt, Format und Preis dieses alten/neuen Jahrbuchs Ihren Zuspruch finden. Und wir sammeln bereits Ideen für die nächste Ausgabe ...

Nun aber erst einmal viel Vergnügen mit dem SCIENCE FICTION JAHR 2015 – wünschen Ihnen

Hannes Riffel & Sascha Mamczak

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In Erinnerung an Wolfgang Jeschke

Am 10. Juni 2015 ist Wolfgang Jeschke, preisgekrönter Lektor und Schriftsteller, Begründer des SCIENCE FICTION JAHRES und viele Jahrzehnte lang prägende Figur in der deutschsprachigen Science Fiction, im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben. Freunde und Weggefährten erinnern sich an ihn.

Wolfgang Jeschke: Leben und Werk

Wolfgang Jeschke wurde am 19. November 1936 in Děčín (Tetschen) in der Tschechoslowakei geboren und wuchs, nachdem das Sudetenland 1945 wieder tschechoslowakisch geworden war, in Asperg bei Ludwigsburg (Württemberg) auf. Nach der mittleren Reife und einer Lehre als Werkzeugmacher arbeitete er im Maschinenbau. Später holte er das Abitur nach, studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Anglistik und Philosophie und absolvierte ein Buchhändlerpraktikum bei der C. H. Beck’schen Verlagsbuchhandlung.

1969 wurde er Redaktionsassistent, später Redakteur bzw. verantwortlicher Redakteur im Kindler Verlag in München, wo er bis 1978 Lexika und Enzyklopädien – hauptsächlich Kindlers Literatur Lexikon – betreute. Im selben Verlag, der als »Lichtenberg Verlag« auch Belletristik publizierte, gab er von 1970 bis 1971 die Reihe SCIENCE FICTION FÜR KENNER heraus.

1973 übernahm er – zunächst als freier Mitarbeiter und gemeinsam mit Herbert W. Franke – die Herausgabe der Science-Fiction-Reihe des Wilhelm Heyne Verlages. 1978 verließ er Kindler und wurde fest angestellter SF-Herausgeber bei Heyne, seit 1979 ohne die Mitarbeit Herbert W. Frankes. Er leitete Heynes Lektorat für Science Fiction und Fantasy, bis er 2002 in Rente ging. Sowohl neben seiner Anstellung als Lektor wie auch danach war er als SF-Autor, Essayist und Herausgeber tätig. Den weitaus größten Teil seines Lebens wohnte er mit seiner Frau Rosemarie in München, wo er am 10. Juni 2015 verstarb.

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Der Autor

Wolfgang Jeschkes literarisches Werk gehört praktisch durchweg ins Gebiet der Science Fiction. In der öffentlichen Wahrnehmung hat der Autor Jeschke meistens im Schatten des Herausgebers Jeschke gestanden, und das, obwohl sein Œuvre zum Kernbestand der Science Fiction in der Bundesrepublik – der alten wie der gegenwärtigen – gehört. Unter den Autoren auf dem deutsch-österreichischen SF-Buchmarkt vor 1990 kommen ihm an bleibender Bedeutung wohl nur Carl Amery und Herbert W. Franke gleich, beide etwas älter als er und damals vermutlich mit mehr Zeit zum Schreiben gesegnet (und beide – zumindest über große Zeiträume hinweg – wie er in München angesiedelt). Anders als bei den beiden liegen Wolfgang Jeschkes literarische Anfänge aber im Fandom: Er war eines der ersten Mitglieder im 1955 gegründeten Science Fiction Club Deutschland, und viele seiner frühen Erzählungen wurden in Fanzines veröffentlicht, auch noch, nachdem er 1957 mit »Der Türmer« und »Welt ohne Horizont« erste professionelle Publikationen vorweisen konnte.

Sein erster Erzählungsband war Der Zeiter, erstmals 1970 und später 1978 und 2006 in jeweils erweiterten Fassungen erschienen. Unter den frühen Erzählungen haben sich nicht die zeittypisch ambitionierten und engagierten als die dauerhaftesten erwiesen, sondern die Zeitreisegeschichte »Der König und der Puppenmacher«, die der Autor für seine verspielteste hielt – so ist der darin vorkommende Automat ein scheinbar nutzloses, aber ingeniöses, anmutiges und wohlfunktionierendes Gebilde.

Die Erzählungen des folgenden Bandes, Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan (1993), zeigen den Autor im sicheren Besitz seiner Stilmittel, ohne dass diese noch als gewählte Mittel ins Auge fielen. Kernstück des Bandes war zweifellos die erstmals 1985 gedruckte Erzählung »Nekromanteion«, einer unaufgeregten und ebendarum bedrückenden Vision von Verstorbenen, die als elektronische Kopien fortexistieren – hauptsächlich zur Erbauung ihrer Nachfahren. Diese Erzählung vertritt verdientermaßen die deutsche Science Fiction im letzten, internationalen Band von James Gunns Chrestomathie Wege zur Science Fiction. Wo die Erzählungen auf politische, ökologische oder soziale Zeitprobleme Bezug nehmen, tun sie es fokussierter als in Jeschkes Anfangszeit; Beispiele sind »Sibyllen im Herkules oder Instant Biester« (worin eine Warnung aus der Zukunft nicht verhindern kann, dass die Welt in einen Atomkrieg schlittert), »Es lebe der Wald« oder die Titelgeschichte des Bandes.

Unter den jüngeren Erzählungen ragt in dieser Hinsicht »Allah akbar And So Smart Our NLWs« heraus; als sie 2001 erschien, war das darin behandelte Thema der Abschottung Europas gegen Flüchtlinge aus dem Süden schon zu erahnen, hatte aber längst noch nicht seine heutige Aktualität. (Dass Jeschke statt politischer Konflikte eher ökologische Katastrophen als Triebfeder der Wanderbewegung annahm, tut wenig zur Sache – immer stärker erweist sich und wird sich noch erweisen, dass beide Ursachen einander bedingen.) Sämtliche Erzählungen Wolfgang Jeschkes liegen mit kurzen Kommentaren des Verfassers in einer sorgfältig edierten dreibändigen Ausgabe unter den Titeln Der Zeiter (2006), Partner fürs Leben (2008) und Orte der Erinnerung (2011) vor. Die Bände enthalten neben Erzählungen sensu stricto auch Hörspiele – die schon erwähnten Sibyllen im Herkules sind ein solches. Wolfgang Jeschke war ein prominenter Vertreter des SF-Hörspiels deutscher Zunge, und zwar in der klassischen, text- und handlungsorientierten Machart, die sich ohne Weiteres wie eine Erzählung lesen lässt. Er gehörte auch – insbesondere in frühen Jahren – zu den nicht eben zahlreichen Verfassern deutschsprachiger SF-Gedichte, diese allerdings in der metrisch ungebundenen, reimlosen, von pointierter Prosa abgeleiteten Varietät. Alle Ausgaben von Der Zeiter enthalten Beispiele dafür.

Im Zentrum von Wolfgang Jeschkes Œuvre stehen die Romane Der letzte Tag der Schöpfung, Midas oder Die Auferstehung des Fleisches und Das Cusanus-Spiel; sie sind zuletzt 2013 bei Heyne in einer Omnibus-Ausgabe als Paperback erschienen (dort findet sich auch eine konzise Liste aller belletristischen Werke des Autors). In ihnen zeigt sich besonders deutlich eine Eigenheit von Wolfgang Jeschkes Science Fiction: die souveräne Beherrschung des Erzähler-Handwerks, die mitunter die einzige Stärke der erfolgreichen Anglo-Amerikaner ist, dazu reichlich von jener Art Ideen und Gedankenspiele, die seit H. G. Wells die spezifische Würze der Science Fiction ausmacht.

Der letzte Tag der Schöpfung (1981) handelt von einem Zeitreiseprojekt, bei dem verschiedene Staaten Truppen und Söldner fünf Millionen Jahre zurück in das damals wasserlose Mittelmeerbecken entsenden – die einen, um den Arabern das Öl abzupumpen und es unter der Nordsee zu deponieren, die anderen, um sie daran zu hindern. Manche bekämpfen einander, manche finden zur Kooperation, nachdem sie erfahren haben, dass eine Rückkehr in die Zukunft technisch unmöglich ist. Um diese Grundidee rankt sich eine Vielzahl daraus abgeleiteter Einzelideen; sie ergeben ein komplexes Ganzes aus spannender Handlung, interessanten logischen Spekulationen (vor allem im Zusammenhang mit der Zersplitterung der Zeit in verschiedene Stränge) und besonders gegen Ende des Buches einige Situationen von beeindruckender Dimension und Symbolträchtigkeit.

Ähnliches lässt sich von Midas oder Die Auferstehung des Fleisches (1989) sagen; dieser Roman ist freilich weniger ein Planspiel mit einigen archetypischen Komponenten als vielmehr ein glaubhaftes und beklemmendes Bild unserer Zeit bzw. einer nahen und keineswegs besseren Zukunft, in der die außergewöhnlichen Schicksale der Helden mit dem Schicksal der einen Welt eng verknüpft sind. Das zentrale SF-Motiv – die Herstellung elektronischer Persönlichkeitskopien, die mit biotechnisch erzeugten, gebrechenhaften Körpern ausgestattet werden – knüpft an »Nekromanteion« an, bietet aber noch viel mehr Facetten.

Das Cusanus-Spiel (2005) ist wieder ein Zeitreiseroman, in dem künftige Forscher katastrophale politische und ökologische Entwicklungen der Menschheit in ihrer Vergangenheit (aber unserer Gegenwart und Zukunft) durch gezielte Eingriffe im Mittelalter zu verhindern suchen. Sie agieren dabei in verschiedenen Zeitebenen und -linien, was einen (auch in puncto Umfang) breit angelegten Roman ergibt, in dem schon einzelne Stränge mit ihrem Detailreichtum beinahe als Romane in sich gelten können.

Wolfgang Jeschkes letzter Roman Dschiheads (2013) ordnet sich, sieht man vom Umfang ab, seiner Machart nach nahtlos bei zwei langen Erzählungen (oder, wenn man will, Kurzromanen) ein: Osiris Land (1982 in einer Anthologie, 1986 separat) und Meamones Auge (1994). Alle drei Werke handeln von Begegnungen mit fremden Lebensformen und ungewöhnlichen Ökologien (obwohl nur die beiden jüngeren auf anderen Planeten spielen). Osiris Land schildert eine exotische Abenteuerfahrt auf dem Nil einer künftigen Erde, wo Außerirdische die vergiftete Umwelt zu kurieren versuchen; in Meamones Auge haben Erdenmenschen einen fernen Großplaneten mit Terraforming und Genetic Engineering als Nahrungslieferanten optimiert, wobei sie sich auch einheimische Wesen von fast menschlicher Intelligenz zu Nutze machen. Beide Texte leben vor allem von der Atmosphäre und den Bildern; in Meamones Auge faszinieren Szenen von gleichsam selbstverständlicher Fremdheit, wie man sie in der internationalen SF selten (etwa bei James Tiptree jr.) derart dicht findet. In Dschiheads hat sich auf einem fremden Planeten eine von der Erde emigrierte Sekte festgesetzt, die nicht nur die eigenen Mitglieder unterdrückt, sondern auch einheimische Wesen mit einer komplexen Gruppenintelligenz abschlachtet. Der Roman ist ein Pamphlet gegen religiösen Fanatismus, mit dem sich Abgesandte der aufgeklärten irdischen Menschheit konfrontiert sehen; die ästhetisch eindrucksvollste Passage darin ist wiederum eine Flussfahrt.

Alle vier Romane Jeschkes, die Erzählungen/Kurzgeschichten »Dokumente über den Zustand des Landes vor der Verheerung« (1981), »Osiris Land«, »Nekromanteion«, »Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan« (1993), »Partner fürs Leben« (1996), »Die Cusanische Acceleratio« (1999), »Allah akbar And So Smart Our NLWs« und »Das Geschmeide« (2004) sowie das Hörspiel Jona im Feuerofen (1988) wurden mit dem Kurd Laßwitz Preis als bestes Werk in der jeweiligen Kategorie ausgezeichnet; einen Sonderpreis erhielt er als Mitautor des Lexikons der Science Fiction Literatur (1980; auch an der erweiterten Ausgabe 1987 war er beteiligt). Der vom Science Fiction Club Deutschland vergebene Deutsche Science Fiction Preis wurde ihm für die Romane Das Cusanus-Spiel und Dschiheads sowie für die Erzählungen »Nekromanteion«, »Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan« und »Orte der Erinnerung« (2010) verliehen.

Für Zeitschriften, Anthologien und Jahrbücher hat Wolfgang Jeschke Artikel über Science Fiction geschrieben. Obwohl sich darin etliche hellsichtige Urteile über SF-Werke finden, spricht doch weniger der Literaturkritiker, sondern der Praktiker – viele von den Artikeln behandeln den Zustand der Science Fiction (oder spezifisch der SF-Szene und des -Marktes im deutschen Sprachraum) und ziehen daraus Schlussfolgerungen, die der Verfasser in aller Regel selbst umgesetzt hat. Diese Arbeiten sind daher eher dem Herausgeber Jeschke zuzuordnen.

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Wolfgang Jeschke in jungen Jahren auf dem Wüstenplaneten ...

Der Herausgeber

War Wolfgang Jeschke einer der wichtigsten deutschsprachigen SF-Autoren des letzten halben Jahrhunderts, so wird man in ganz Europa – zumindest auf dem Kontinent – wohl keinen anderen Verleger, Herausgeber oder Lektor finden, der ihm an Bedeutung auch nur gleichkommt. Es ist müßig, auf die schiere Menge der Titel zu verweisen – jahrzehntelang erschien sein Name auf Seite 1 jedes Buches, das im SF-Lektorat des Heyne-Verlags vorbereitet worden war, auch wenn es sich um Fantasy handelte. Nach einiger Zeit firmierte dort allerdings Friedel Wahren als Reihenherausgeberin, womit zweierlei dokumentiert wurde: Erstens, dass sie dieses Segment des Programms als Lektorin betreute, und zweitens, dass Wolfgang Jeschkes Hauptinteresse sehr dezidiert der Science Fiction galt. Diese beiden, flankiert von der Assistentin Gisela Frerichs, waren lange Zeit bei Heyne allein für die gesamte Produktion an SF, Fantasy oder sonstiger Phantastik verantwortlich, um 1990 für reichlich hundert Bände pro Jahr. Natürlich war das nur unter Mitarbeit von vielen Außengutachtern und -redakteuren möglich, trotzdem bleibt es ein unglaubliches Arbeitspensum. Wolfgang Jeschke hat zudem zahlreiche SF-Titel auch selbst redigiert. Die Herausgabe der Paperback-Reihe SCIENCE FICTION FÜR KENNER bei Lichtenberg Anfang der Siebzigerjahre wirkt dagegen nur wie ein kurzes Vorspiel und ist vor allem deshalb von Bedeutung, da dadurch (und mit einer etwa zeitgleich erscheinenden Reihe im Marion von Schroeder Verlag) editorisch wie inhaltlich die Vorstellung aufgebrochen wurde, Science Fiction sei eine reine Taschenbuch-Unterhaltungsliteratur.

Zu Jeschkes Zeit war Heyne der unumstrittene SF-Marktführer im deutschsprachigen Raum. Neben ihm gab es zu Beginn rund ein Dutzend andere kenntnis- und einflussreiche Herausgeber und Verlagslektoren, und die SF wäre damals wohl zur Not auch ohne ihn ausgekommen (obwohl schon da die Vorbildwirkung des Heyne-Programms nicht zu unterschätzen war). Der Unterschied zeigte sich jedoch, als – beginnend in den Achtziger- und endend in den Neunzigerjahren – ein deutscher Verlag nach dem anderen seine SF- oder Phantastik-Reihe einstellte, bis schließlich eine Zeit lang neben Heyne nur noch ein großer Verlag, Bastei Lübbe, ein breiter aufgestelltes SF-Programm unterhielt. Nun bewährte sich Jeschkes Strategie, erfolgreiche anglo-amerikanische SF – also nicht zuletzt auch kommerziell erfolgreiche Bücher, darunter Lesefutter wie STAR TREK – in so breiter Front anzubieten, dass dazwischen Platz blieb für Texte englischsprachiger, deutscher und anderer europäischer Autoren, die speziellere Lesebedürfnisse befriedigten. Wolfgang Jeschke hat auf diese Weise nicht zuletzt die deutsche Science Fiction gefördert – und zwar in der Regel die gut geschriebene und nicht die bloß gut gemeinte, die der eine oder andere Kritiker von ihm verlangte.

Untrennbar verbunden mit der Präsentation anspruchsvoller – das heißt auch: international, thematisch und stilistisch breit gefächerter – SF sind die von Wolfgang Jeschke im engeren Sinne herausgegebenen, also zusammengestellten Bände, in der Regel Anthologien. Selbst wenn man nur sie betrachtet (und dabei noch etliche aus dem Englischen übernommene, bei denen er als Co-Herausgeber firmierte, außer Acht lässt), kommt man auf eine so große Zahl, dass sich in diesem Überblick jede Würdigung en détail verbietet. Der SF STORY READER, anfangs im Wechsel mit Herbert W. Franke herausgegeben, brachte es 1974 bis 1984 auf einundzwanzig Ausgaben und fand seine Fortsetzung in einer langen Folge einzelner internationaler Anthologien mit individuellen Titeln, von denen meistens zwei pro Jahr erschienen. Die Auswahl für diese Bände folgte denselben Prinzipien wie die Heyne-SF in toto: bekannte Anglo-Amerikaner im Mix mit weniger bekannten und mit Autoren aus anderen europäischen – seltener auch aus außereuropäischen – Ländern; aber natürlich ließ sich mit Erzählungen ein breiteres, bunteres und aktuelleres Spektrum erzielen.

Bei den traditionell romanlastigen Lesegewohnheiten des deutschen Publikums (vom Buchhandel noch stärker in Richtung Roman gedrängt) waren diese Anthologien das hierzulande wichtigste und schließlich nahezu das einzige Medium für Science Fiction in kürzeren Formen. Seitdem 2001/2002 – praktisch zeitgleich und wohl auch im Zusammenhang mit Wolfgang Jeschkes Abschied von Heyne – die letzte dieser Anthologien erschien, hat so gut wie kein großer Verlag mehr neue Erzählungen deutscher SF-Autoren in nennenswerter Menge gedruckt.

Es ist in Deutschland nie gelungen, eine wirklich professionelle SF-Zeitschrift auf Dauer zu etablieren. Die Funktion der Zeitschriften, einer Literaturgemeinde als Medium mit Rückkopplungen zu dienen, haben im deutschen Sprachgebiet almanachähnliche Anthologien mehrfach wenigstens annähernd zu erfüllen versucht, und einer Zeitschrift am nächsten kam dabei das von Wolfgang Jeschke herausgegebene HEYNE SCIENCE FICTION MAGAZIN, das in Form eines Taschenbuchs erschien. Es brachte Erzählungen, Essays, Rezensionen, Szenenachrichten, Grafiken und Fotos (beides farbig und schwarz-weiß), Cartoons, SF-affine Populärwissenschaft, alternativhistorische Spekulationen ... Das 1981 begonnene Projekt musste nach zwölf Ausgaben 1985 wieder eingestellt werden, doch der sekundärliterarische Teil fand seine Fortsetzung im SCIENCE FICTION JAHR, das Wolfgang Jeschke von 1986 bis 2014 bei Heyne herausgab (seit 2003 gemeinsam mit Sascha Mamczak, dem sich 2011 Sebastian Pirling zugesellte).

Neben den Anthologien mit breit gefächertem, größtenteils aktuellem Material hat Wolfgang Jeschke auch Auswahlbände mit deutsch schon vorliegenden Texten herausgegeben. Seine letzte Arbeit auf diesem Gebiet war die Anthologie Die Stille nach dem Ton (2012 zusammen mit Ralf Boldt), die die mit dem SFCD-Literaturpreis 1985–1998 und dem daran anschließenden Deutschen Science Fiction Preis bis 2012 ausgezeichneten Kurzgeschichten versammelt. Unter seinen thematischen Anthologien ist die zweibändige Sammlung von Zeitreise-Geschichten Die Fußangeln der Zeit und Zielzeit (1984 bzw. 1985, beide mit Karl Michael Armer) hervorzuheben.

Wolfgang Jeschkes Verdienste als Herausgeber und Förderer der SF wurden fünfmal mit dem Kurd Laßwitz Preis gewürdigt. 1987 erhielt er den Harrison Award für Errungenschaften in der internationalen SF. Im April 2015 wurde er auf dem Eurocon in Sankt Petersburg für seine Leistungen als Autor und Herausgeber in absentia in die Ruhmeshalle (alias »Hall of Fame«) der europäischen Science Fiction aufgenommen.

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... und später an Bord der Zeitmaschine