Schneekristalle
Schneekristalle
Martin Keller
und die Schatten der Silvretta
Bergkrimi
Bergverlag Rother
Umschlagfoto: Edwin Schmitt (2)
Umschlaggestaltung: Edwin Schmitt
Lektorat: Carlos Westerkamp, Berlin; Barbara Wickenburg,
Murnau
Originalausgabe
1. Auflage 2016
© Bergverlag Rother GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7633-0113-3
„Man kann sich wohl den Weg wählen,
aber nicht die Menschen, denen man begegnet.“
Arthur Schnitzler
Fast hätten sie es verschoben, als noch der helle Mond seine kalten Strahlen ins Tal geworfen hatte. Um ihr Vorhaben durchzuführen, mussten sie unsichtbar sein. Nun war die Dunkelheit annähernd vollkommen. Wo zuvor nicht nur grobe Umrisse, sondern sogar einzelne Grashalme zu erkennen waren, verhinderte jetzt eine tief hängende, geschlossene Wolkendecke beinahe jede Orientierung. Aus der Ferne klang die Eisenbahnlinie. Erst war es nur ein leises Sirren, das anschwoll und nach und nach in das rhythmische Rattern der Räder beim Rollen über die Stoßlücken der Schienen überging und dann langsam verklang. Um diese Uhrzeit konnte es nur ein Güterzug sein, der eintönig und endlos die nächtliche Stille übertönte.
Es waren knapp hundert Meter zu der Baustelle am Waldrand, doch diese ließ sich nun vom Feldweg aus nur noch erahnen. Die Insassen des Ford Transit Transporters waren zufrieden mit den Bedingungen.
Sie sahen sich an: „Jetzt!“
Der Motor startete und der unbeleuchtete Transporter rollte im Schritttempo zu der Baustelle, die in bleierner Dunkelheit vor ihnen lag. Die vier Männer stiegen aus und öffneten den Bauzaun.
„Wo steht denn des Häusel?“
„Da hinterm Bauwagen. Kimmt’s!“, flüsterte einer der Männer und ging voran.
Die anderen folgten ihm, bahnten sich gemeinsam den Weg durch das Material, das größtenteils in der vergangenen Woche angeliefert worden war. Nebenan ahnte man die bereits stattliche Baugrube. Hinter dem Bauwagen stand etwas Helleres, in etwa von der Größe und den Abmessungen einer Telefonzelle.
„Wie viel wiegt denn des Ding, Toni?“
„Leer so achtzig Kilo, aber mir müssen erst den Tank ablassen. Da war hoffentlich noch nit so viel los, also müsst sich die Sauerei in Grenzen halten.“
Ein anderer setzte einen Bolzenschneider am Vorhängeschloss der Tür an, und gleich darauf knackte es einmal kurz. Dann ging er mit einem Schlauch hinein und beleuchtete das Innere vorsichtig mit einer Stirnlampe.
„So, ihr könnt’s loslegen!“
Schon mühten sich zwei der Männer an einer Pumpe, deren Schlauch in die Baugrube hing. Sie wechselten sich mit den anderen beiden ab, bis nach gut fünf Minuten die Flüssigkeit verebbte. Dafür breitete sich zunehmend ein unangenehmer Geruch aus.
„Guat, jetzt trag mer’s zum Auto. Die Tür muss oben sein! Zwoa hinten, zwoa vorn.“
Die Männer kippten die Kabine, trugen sie dann zu ihrem Transporter und schoben sie in den Fond.
„Fertig auswaschen können mir’s dahoam. Jetzt schau mer, dass mir Land gewinnen“, meinte der größte der Männer, setzte sich ans Steuer und fuhr los, nachdem alle eingestiegen waren. Mit komplett heruntergelassenen Fenstern rollte das Auto langsam davon. Erst nach ein paar hundert Metern ging die Beleuchtung an.
Seine schmalen Finger verrichteten routiniert und fast zärtlich ihre Arbeit. Nur noch eine Gravur war an diesem Freitag zu erledigen, der zweite Trauring eines jungen Pärchens aus Hall in Tirol, den ersten hatte er bereits fertig. Zwei seiner günstigsten Ringe hatten sie bestellt, die ihm nicht viel mehr einbrachten als die Gravur auf ihrer Innenseite. Trotzdem, er machte das gern. So konnte er als Goldschmied an einem bedeutenden Ereignis im Leben dieser Menschen teilhaben und seine Arbeit wurde wertgeschätzt, was nicht immer selbstverständlich war. Die meisten Besucher seines Geschäfts kamen herein, schauten sich um, erkundigten sich nach dem einen oder anderen Stück und führten ein bisschen Smalltalk, während ihm schon klar wurde, dass sie eh nichts kaufen würden. Die wirklich betuchten Männer öffneten das Portemonnaie für ihre Frauen bei den großen Juwelieren im Zentrum von Innsbruck, bei einem Abstecher nach Salzburg oder Wien oder zu einem der Nobelskiorte wie Lech oder Kitzbühel. Fast niemand aus dieser Klientel ging zu einem kleinen Juwelier am Rande der Stadt.
Als Florian Wolf seine Lehre bei einem der besten Juweliere Wiens gemacht hatte, träumte er noch von einem eigenen edlen Geschäft in der Fußgängerzone, sah sich wohlhabenden Kunden funkelnde Kostbarkeiten präsentieren, wertvolle Einzelstücke aus Handarbeit, bewundert und anerkannt als Meister seines Fachs, als Teil der gehobenen Gesellschaft seiner Heimatstadt.
Stattdessen betrieb er immer noch sein kleines Ladengeschäft „Juwelier & Goldschmied Wolf“ im elterlichen Haus. Über mangelnde Unterstützung seiner Eltern hatte er sich wirklich nicht beklagen müssen. Sie hatten ihm, dem einzigen Sohn, die Fläche ihres ehemaligen Gemischtwarenhandels kostenlos zur Verfügung gestellt und nach dem Tod seiner Mutter vor zwei Jahren war das Haus ganz in seinen Besitz übergegangen. Sein Opa hatte es einst erstanden, Ende der dreißiger Jahre, es war eine Gelegenheit gewesen, wie sein Vater einmal erzählte, als er noch lebte.
Erst viel später, nach dem Tod seiner Mutter, erfuhr Florian Wolf, wie sein Opa zu diesem Haus gekommen war. Seine Mieter, die nun die einstige Wohnung seiner Eltern im ersten Stock bewohnten – er selbst lebte darüber im Dachgeschoss –, hatten es durch Zufall in Erfahrung gebracht. Seitdem fühlte er sich zu Hause nicht mehr wohl, auch wenn er selbst nichts dafür konnte.
Seine Eltern hatten die teure Ausbildung bezahlt und ihm ihre Ersparnisse als Startkapital zur Verfügung gestellt. Er hatte ihnen versprochen, dass es funktionieren würde, hatte fleißig gearbeitet und penibel seine Kunstwerke geschaffen. Und das Beste war: Es funktionierte tatsächlich! Er hatte viele Ideen gehabt und umgesetzt, und während dieser Anfangsjahre gab es einen schnell wachsenden Kundenstamm, der seine Kreationen schätzte, was manchmal Arbeit bis spät nach Mitternacht bedeutete. Seine Mutter stand dann vormittags im Geschäft. Sie verdienten gut in dieser Zeit, machten Urlaube in Übersee, er kaufte sich seinen Allradbus, man musste nicht so sehr aufs Geld schauen beim Einkaufen, und am Ende des Jahres war sogar noch genug da für eine großzügige Spende an die UNICEF, ein Brauch, den seine Eltern seit Jahren pflegten. „Für die armen Kinder, die es nicht so gut haben wie wir“, sagte seine Mutter immer.
Nach dem 11. September 2001 änderte sich alles, erst langsam, dann rasant. Er hatte nicht gleich realisiert, dass die unwirklich in die weit entfernten Türme des World-Trade-Centers einschlagenden Flugzeuge für ihn direkte Auswirkungen haben könnten. Der Börsencrash, der ja eigentlich schon im Jahr davor begonnen hatte, beschleunigte sich nochmals und erwischte ihn kalt. Zwar hatten sich die Kurse dann langsam erholt, und auch seine Geschäfte liefen wieder besser, aber 2007 stürzte die Börse abermals ab und die Leute gaben nicht mehr so unbeschwert ihr Geld aus. Und seitdem war es nur noch abwärts gegangen.
Anfangs dachte er noch, auch diesmal wäre die Flaute bald vorüber und er könnte sich bis zum nächsten Aufschwung wieder etwas mehr dem Bergsteigen widmen. Mit seinen Freunden Max Unterberger, Hans Kröll und Toni Schmid, mit denen er schon seit einer gefühlten Ewigkeit sein Hobby teilte, schwärmte er aus in die Berge rund um Innsbruck, in die Westalpen, die Dolomiten, die Sportklettergebiete jenseits des Brenners oder nach Südfrankreich.
Aber es wurde nicht besser, und so begann Florian irgendwann, Schmuckstücke umzuarbeiten, auch wenn deren Herkunft nicht ganz zweifelsfrei war. Ein Kunde namens Peter Vogel hatte ihm immer öfter solche Stücke gebracht, bis er ihn fragte, ob er auch vertraulich solche Ware umarbeiten würde. Vogel würde alles an einen Abnehmer im Ausland weiterleiten und Florian gut dafür bezahlen. Er solle sich keine Gedanken machen, nur seine Arbeit.
Was sollte er tun? Das Letzte, was er wollte, war das Elternhaus verkaufen zu müssen, seinen Eltern den verdienten Lebensabend mit etwas Komfort zu verwehren, also zu scheitern und ihr Vertrauen nicht zu rechtfertigen. Zweimal schon waren Beamte der Kriminalpolizei bei ihm gewesen mit Bildern von Stücken, die er umgearbeitet hatte. Er hatte geschwitzt, aber natürlich beteuert, die Teile nie gesehen zu haben.
Seine Lage begann ihn mehr und mehr zu deprimieren, sodass er eigentlich therapeutische Hilfe hätte gebrauchen können. Kati hatte das auch gesagt, ohne zu wissen, woran es lag, aber er hatte es damals abgelehnt.
Dazu kam, dass er jetzt alleine war im Geschäft, seine Mutter fehlte an allen Ecken und Enden. Im Grunde hätte er eine fesche Verkäuferin einstellen müssen, aber die konnte er nicht bezahlen. Wenn die Kati ihn geheiratet hätte, hätte sie ihm vielleicht helfen können, aber sie wollte auch ihr Leben als Physiotherapeutin weiterführen. An seinem Ringfinger trug er immer noch den Verlobungsring aus Weißgold, den er damals angefertigt hatte. „Kati & Flori“ war innen eingraviert, daneben das Datum. Ihren hatte sie ihm auf den Tisch gelegt und war gegangen, er lag hinten im Tresor. Vor zwei Monaten hatte Kati ihn verlassen, weil sie seine depressiven Phasen nicht mehr ertragen hatte, weil er nichts dagegen tat, weil sie nicht mehr dieselbe Sprache sprachen, weil sie ihn nicht mehr lieb hatte. Er konnte es nicht glauben. Sie wollten doch mal Kinder haben, er hatte immer von Kindern geträumt, sie war acht Jahre jünger, es hätte doch noch klappen können mit einer kleinen Familie. Aber seine Kati war fort und langsam spürte er, sie würde nicht mehr wiederkommen. Die Kati gab es nicht mehr.
Trotz all dem liebte er noch seinen Beruf. Er liebte seine Selbstständigkeit. Und er liebte vor allem die Berge. Morgen stand die Saisoneröffnung mit seinen alten Freunden an. Die erste Skitour ins Sellrain, wie jedes Jahr. Er würde gleich seine Ausrüstung in seinen alten VW-Bus packen, wenn er diese Gravur fertig hatte.
In der Dämmerung ging es von Kematen im Inntal links hinauf in das Sellrain, vorbei an der Abzweigung nach Lüsens im südlich gelegenen Lisenstal, wo es auch eine Reihe klassischer Skitouren gab, die sie fast alle kannten: Zischgeles, Längentaler Weißer Kogel, Lisenser Fernerkogel oder andere Touren mit klangvollen Namen. Neben dem Zirmbach führte die Straße teils steil empor Richtung Kühtai, die farbigen Stecken am Rande der Straße verschwanden immer tiefer im Schnee.
In einer lang gezogenen Linkskurve oberhalb des Talgrunds parkte bereits ein schwarzer Ford Galaxy zwischen zwei Lawinengalerien. Hans und Max waren schon dabei, ihre Ski fertig zu machen. Die beiden waren ein ungleiches Paar. Während Max gut eins neunzig groß und hager war, wirkte Hans eher stämmig und untersetzt, zudem war er fast einen Kopf kleiner. Dafür hatte Hans, der KFZ-Meister mit den kräftigen Händen, trotz seiner fünfzig Jahre noch volles rotbraunes Haar, während der zwei Jahre jüngere Max seine ausgehenden dunkelbraunen Haare stets auf wenige Millimeter Länge stutzte.
Hans, der einen Autohandel mit Werkstatt in Hall in Tirol betrieb und bis vor kurzem sogar noch Vertragshändler gewesen war, hatte Max heute Morgen mit seiner Familienkutsche abgeholt. Leider brauchte er das Auto nur noch selten für die Familie, seit seine Ehe in die Brüche gegangen war und die beiden Buben bei der Mutter wohnten. Florian wusste, dass ihn das sehr getroffen hatte, auch wenn der manchmal etwas aufbrausende Hans ungern darüber sprach.
Max hingegen war eher ein ruhiger Typ, der alles plante und durchdachte, aber auch er hatte seine Sorgen, nachdem er vor ein paar Monaten seinen Job im Bewachungsgewerbe verloren hatte. Heute aber waren solche Dinge erst einmal nebensächlich.
Die beiden Freunde standen jetzt am Beginn des Aufstiegs auf den Rietzer Grieskogel. Rund tausend Höhenmeter ging es hinauf, bevor man auf 2884 Metern die prächtige Aussicht auf das weit unten gelegene mächtige Inntal genießen durfte, vorausgesetzt, das Wetter ließ es zu. Heute würde das wahrscheinlich schwierig werden, es hatte angefangen ganz leicht zu schneien. Aber es ging ihnen vor allem um das gemeinsame Ritual der immer gleichen ersten Skitour. Florian und Toni stiegen aus.
„Na servus, griaß eich! Seid’s fit? Heut hat’s minus zehn Grad aufm Autothermometer, schau mer gleich amal, dass mer warm wearn“, rief Hans ihnen von oben zu.
„Morgen, Max, Morgen Hans! Von uns aus kann’s sofort losgehen, oder, Toni?“, erwiderte Florian, und Toni, der ihnen zuzwinkerte, bejahte.
Wenig später brachen sie auf, nachdem sie ihre Verschüttetensuchgeräte kontrolliert hatten, und liefen Kehre um Kehre den steilen, von Bäumen durchsetzten Hang empor. Nach einer guten halben Stunde legte sich der Hang zurück, das Gelände verflachte und sie schauten in das lang gezogene Klammtal hinein, durch das der Weg am Bach entlang verlief. In gemächlicherem Tempo ging es dahin, alle schnauften durch.
„Und, Max, wie war’s gestern?“, fragte Florian.
„Alles beim Alten. Dasselbe Auto, die gleiche Zeit. I denk, des könnt tatsächlich funktionieren.“
„Guat! Da können mir ja heut Abend drüber reden“, meinte Toni kurzatmig. „I hab euch auch noch was zu erzählen. Aber jetzt gehn mer erst amal auf den Rietzer auffi, und heute Abend trinken mir dann an Roten bei mir. I hab sechs Flaschen Magdalener ausm Keller auffagestellt.“
„Des dürft für den ersten Durst reichen“, meinte Florian lachend.
Anton Schmid, den sie alle nur Toni nannten, war sechsundvierzig Jahre alt, mittelgroß, hatte dickes schwarzes Haar, blaue Augen, ein eher bleiches, rundes Gesicht mit auffällig roten Wangen. Er war Elektriker und lebte in Arzl, einem Stadtteil Innsbrucks, der im Nordosten jenseits des Inns lag. Dort hatte er bis zum letzten Jahr noch einen kleinen Installationsbetrieb geführt, musste sich schließlich aber der Übermacht der Konkurrenz beugen, sodass er nun bei Alois Eberl arbeitete, einem der Platzhirsche der Branche in Innsbruck, der ihn mit seinen stets günstigeren Angeboten bei den meisten Ausschreibungen in die Knie gezwungen hatte.
Florian kannte Toni genauso wie die anderen schon seit der gemeinsamen Zeit in der Jugend des Alpenvereins. Die Ausdauer Tonis, vor allem auf Ski, war schon damals legendär gewesen, auch wenn er nicht der eleganteste Skifahrer war.
Am Ende des Tals steilte es wieder etwas auf, die Spur führte zu den Narrenböden hinauf, wo sie eine Trinkpause einlegten. Es war inzwischen heller geworden, aber die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, die feine Schneekristalle über die Südhänge des Rietzer Grieskogels rieseln ließen. Der Gipfel, der normalerweise von hier aus schon zu sehen war, war verhüllt. Ein leichter Wind kam auf. Unterhalb von ihnen sahen sie eine größere Gruppe aufsteigen, ansonsten war nichts los auf der Tour, die bei guten Verhältnissen recht überlaufen war.
„Na, dann gehn mer mal zua, besser wird’s Wetter heut sicher nit mehr“, meinte Toni, der vorausging.
Der kleine Skitourenexpress legte nun einen Zahn zu, und alle waren nur noch damit beschäftigt, ein gleichmäßiges Tempo zu halten, das vom rhythmischen Pfeifen der Felle und dem regelmäßigen Atmen der Freunde bestimmt war. Über eine Stufe ging es nordöstlich hinauf, unter einem Felsabbruch entlang in einen Sattel. Der steile, südexponierte Gipfelhang lag nun vor ihnen. Sie erstiegen ihn mit einigen Spitzkehren, bis sie am Skidepot ankamen. Von dort aus folgten sie dem Westgrat zum Gipfel, der, wie erwartet, keinerlei Aussicht, sondern schneidenden Wind bot und ausgesprochen ungemütlich war.
„A guate Saison wünsch i uns allen!“, meinte Toni, und sie schüttelten sich die Hände, wohl wissend, dass diese Saison möglicherweise noch ganz neue Herausforderungen bereithielt.
Nach kurzem Aufenthalt kehrten sie zum Skidepot zurück, stiegen in die Bindungen und fuhren der Tourengeher-Gruppe entgegen, die deutlich langsamer als sie den Aufstieg bewältigte. Der frische, feine Schnee auf der harten Grundlage stob unter den Schwüngen auf, die sie, allesamt gute Skifahrer, in den Hang zauberten. Es war eine Freude, johlend zu Tale zu rauschen.
An den Autos angekommen, verstauten sie ihre Ausrüstung und fuhren durch dichter werdenden Schneefall wieder hinab. Nach einem kurzen Zwischenstopp an einer Bäckerei, es war erst früher Nachmittag, erreichten sie mit reichlich Kuchen ausgestattet das Haus von Toni Schmid, der erst einmal die Kaffeemaschine anwarf.
„I muss euch was zeigen“, eröffnete er ihnen, als vom Backwerk nichts mehr übrig war. „Kommt’s mal mit rüber in die Werkstatt.“
Die Freunde waren sichtlich beeindruckt von dem, was sie dort sahen.
Später kochten sie. Es sollte ein ausgelassener, richtungsweisender Abend werden. Der Wein war schließlich leer, die letzten Zweifel beseitigt und es gab kein Zurück mehr.
„Magst noch an Kaffee?“, fragte Walter seinen Kollegen Hubert, während er auf dem Beifahrersitz die Thermoskanne hochhielt.
„Ja, gern. Den kann i gut brauchen.“
Walter Brandstätter und Hubert Draxl von der TransSekuritas Austria waren schon den halben Tag unterwegs. Morgens um 4.30 Uhr waren sie mit ihrem gepanzerten anthrazitfarbenen 5er BMW von ihrem Stützpunkt in Imst gestartet und durch den Arlbergtunnel an Bludenz und Feldkirch vorbei über die Grenze nach Vaduz in Liechtenstein gefahren. Dort hatten sie die Fracht eingeladen, zwei Kassetten für Lech am Arlberg, einen kleinen Stahlkoffer für Innsbruck. Abfahrt Richtung Lech war um 8.00 Uhr, nachdem der ganze Papierkram erledigt war. Zurück ging es wieder über Bludenz, danach aber nicht durch den Tunnel, sondern auf die Arlberg-Passstraße. Ankunft in Lech war um 9.30 Uhr bei der Filiale des Edel-Juweliers Gruber, für den die beiden Kassetten aus der Zentrale in Vaduz bestimmt waren. Von ihm übernahmen sie eine andere Kassette für einen Geschäftspartner in Wien, die noch heute Nachmittag von Kollegen dorthin weitertransportiert würde, sobald sie den Stahlkoffer in Innsbruck abgeliefert hatten. Der war am wichtigsten und kam folglich zuerst dran.
Um 9.50 Uhr waren sie beim Gruber in Lech aufgebrochen in Richtung Flexenstraße und Arlbergpass, den sie in vielleicht fünf Minuten erreichen würden. Gleich kam die Abzweigung, an der es entweder links hinauf Richtung Arlberg oder rechts runter nach Bludenz ging. Mühelos bogen die beiden nach links ab, noch vor dem Pritschenwagen einer Baufirma mit einem Plastikklosett auf der Ladefläche, hinter dem ein paar andere Autos herfuhren. Leider war die flotte Fahrt bald schon vorüber, weil ab St. Christoph, dem Skizentrum nach der Arlberg-Passhöhe, ein Lieferwagen vor ihnen herkroch. So war es inzwischen schon bald halb elf.
„Na, des wird wieder a Schleicherei“, meinte Hubert Draxl.
„Des macht doch nix, mir san guat in der Zeit, und woaßt ja eh, Sicherheit geht vor Schnelligkeit“, erwiderte Walter Brandstätter.
In der Kolonne rollten sie die Straße nach St. Anton hinab, die nach zwei großen Kehren in den Ort führte.
„Da rechts unten an der alten Rendlbahn geht’s zur Darmstädter und zur Konstanzer Hütten auffi, kennst des?“, fragte Walter.
„Ja klar, da war i scho mit der Barbara droben. Is nett, die Darmstädter. Mir sind dann über’s Kuchenjoch und den Scheibler hinüber zur Konstanzer und abends wieder heim.“
„Alles an einem Tag?“
„Naa, auf der Darmstädter ham mir übernachtet, super Knödel ham’s da, a richtig urige alte Hüttn. Auf der Konstanzer sind mir noch amal eingekehrt und dann zurück zum Auto.“
Sie fuhren unter der neuen Rendlbahn durch, durch den Kreisel, am futuristischen Bahnhof und der Kletterhalle vorbei, immer entlang der Rosanna, die aus dem Verwalltal kommend durch St. Anton floss.
Walter Brandstätter erblickte vor sich eine Schlange, im Rückspiegel sah er immer noch den Pritschenwagen mit dem Baustellenklosett auf der Ladefläche. Dahinter waren noch mindestens zehn weitere Autos.
„Bah, is des heut zäh“, stöhnte Hubert Draxl.
„Entspann di“, meinte Walter Brandstätter. „Wo viele Leut fahrn, sind mir am besten aufgehoben.“
„Möchtest du ein Ei?“
„Ja, gerne, wenn du auch eins nimmst.“
„Das ist doch egal, ich mach auch nur eins für dich. Sag mir einfach, was du willst!“, erwiderte Nadine Mercier-Keller. Den zweiten Teil ihres Nachnamens trug sie erst seit knapp drei Wochen, seitdem sie ihn geheiratet hatte, diesen für seine vierundvierzig Lebensjahre recht schlanken Mann mit den kurzen blonden Haaren und den Geheimratsecken, der da am Frühstückstisch saß und sich gerade nicht entscheiden konnte, ob er ein Ei nehmen sollte oder nicht.
Martin Keller, dem man so sitzend seine eins vierundachtzig nicht ansah, blickte seine Frau immer noch verliebt an, er hatte sie eben einfach nur bewundert. Wie schön sie war, ihre flinken Bewegungen, ihre zarten, schlanken Arme und Hände, ihre langen braunen Haare, die sanft über ihre Schultern fielen, wie sehr er einfach alles an ihr mochte! Es war eine ungeheure Wärme in ihm und eine tiefe Zufriedenheit. So konnte es ihm dann schon mal passieren, dass er, wie gerade eben, instinktiv und nicht ganz optimal antwortete.
Nadine, die einen halben Kopf kleiner war als er, wendete sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Ihr leicht genervter und resoluter Gesichtsausdruck verlor seine Kanten und wich einem Lächeln.
„Hallo? Jemand zu Hause?“, fragte sie. Sie kannte und mochte diesen träumerischen Blick und konnte ihn einordnen.
„Ich liebe dich, Nadine!“
„Ja, ich weiß, ich dich ja auch, aber damit kann ich immer noch nicht die Eier aufsetzen“, war ihre Antwort, bevor sie sich zu ihm hinabbeugte, ihn auf den Mund küsste und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. So saßen sie eine Weile da, eng umschlungen, genossen die Nähe, das Zusammensein, diesen gemeinsamen Morgen nach einer zärtlichen Nacht, die Harmonie zwischen ihnen und die Geborgenheit, die sie in sich fühlten.
„In einer Stunde kommt der Kurt. Vielleicht willst du ja doch noch was essen, bevor du zum Bahnhof fährst?“, meinte Nadine, nachdem sie zur Küchenuhr hinübergeschaut hatte.
„Ja, will ich! Und ich nehme ein Ei!“
„Na also“, erwiderte sie grinsend. „Dann sind’s also zwei!“
Lachend stand sie auf und ging zum Herd.
„Wo wollt ihr eigentlich genau hinfahren, der Hias, der Kurt und du?“
„Ich weiß es noch nicht so genau. Der Hias meinte, wir könnten in die Silvretta fahren, er wüsste da eine gemütliche Hütte bei der Bielerhöhe. Wir wollen ja keine große Tour machen, sondern einfach eine nette Hütte, das Gebirge und den Schnee genießen.“
„Da muss man dann mit der Seilbahn hoch, oder?“
„Ja, die Hochalpenstraße ist im Winter zu. Von Partenen im Montafon fährt die Bahn rauf und dann geht’s mit dem Bus weiter durch zwei lange Tunnel und über ein paar Kehren die normale Straße zur Bielerhöhe am Silvretta-Stausee hinauf. Ich kenn’s nur vom Vorbeifahren im Sommer und hab da noch nie eine Skitour gemacht, obwohl die Silvretta ja fast ein Mekka ist für die Tourengeher. Komm doch mit, dann kannst du dir einen gemütlichen Tag in der Wintersonne machen. Es ist wirklich sehr schön dort. Am nächsten Tag sind wir wieder zurück und gehen vielleicht noch ein bisschen zusammen Lifteln, da gibt es einen Schlepper. Was meinst du?“
„Hm, ich weiß nicht.“
„Jetzt bist du ja genauso unentschlossen wie ich gerade.“ Martin Keller lachte, stand auf, legte ihr die Arme von hinten um die Hüften und küsste sie auf den Hals.
„Na ja, das ist ja schon etwas komplizierter als zu entscheiden, ob man ein Ei will oder nicht.“
„Mag sein, aber eigentlich gibt es doch nur eine Frage zu beantworten: Habe ich Lust darauf oder nicht?“
„Hm, ich glaube, mir ist das für eine Nacht zu viel Stress, und dann auch noch ohne dich … Ob es jetzt noch gut ist, Ski zu fahren, weiß ich auch nicht. Macht ihr nur eure Skitour, und ich fange an, unser zukünftiges Kinderzimmer aufzuräumen. Vielleicht schau ich auch schon mal nach Möbeln.“
„Okay“, flüsterte Martin und schmiegte sich an sie. Mit einer Hand streichelte er über ihr Bäuchlein und merkte, dass er feuchte Augen bekam. In diesem Augenblick wollte Martin Keller viel lieber bei ihr bleiben, als in der Kälte der Berge herumzustapfen. Er fürchtete, die Skitour gar nicht genießen zu können, wenn er die ganze Zeit Sehnsucht nach ihr hatte. Und was, wenn ihm etwas zustieß? Nadine war schließlich im sechsten Monat schwanger.
Passiert war es im Oktober in Südtirol, in jenem Urlaub, in dem er sich ihr ganz geöffnet hatte. Nichts Wichtiges war unerwähnt geblieben. Eigentlich hatte ihre Beziehung da erst richtig begonnen, obwohl sie da schon fast ein halbes Jahr zusammen waren, Martin, der als Onkologe für eine Pharmafirma arbeitete, und Nadine, die Oberärztin, die er bei der Zulassungsstudie eines Krebsmedikaments kennengelernt hatte. Erst seitdem alles ausgesprochen war, was sich vorher jahrelang in seine Seele hineingefressen hatte, fühlte er sich ihr wirklich nah, und erst seit diesen Tagen war er bereit gewesen für eine gemeinsame Familie. Sie wussten beide, was sie taten, als sie immer wieder ohne zu verhüten miteinander geschlafen hatten, sie hatten sich das Kind gewünscht.
Zuvor waren sie bei seinen Rettern in Oberkaltern zu Besuch gewesen. Das waren Hilde und Josef Brugger, der Hüttenwirt, der ihm seinerzeit so selbstverständlich geholfen hatte. Auch dessen Schwester Sieglinde und ihr Mann Markus Schuster waren gekommen. Markus hatte ihn damals dazu gebracht, aus einem fahrenden Sessellift abzuseilen. Und zu guter Letzt natürlich Hias Steger, der Bergführer, der während des Horrortrips rund um den Kreuzkogel anfangs ein Feind zu sein schien und schließlich zu seinem Lebensretter wurde. Und nun gingen sie gemeinsam mit seinem alten Kumpel und Trauzeugen Kurt Schubert auf Skitour, wie sie es auf der Hochzeit vor drei Wochen ausgemacht hatten, nach stattlichen Mengen Alkohols. Es sollte vor allem eine nette, ungefährliche Aktion werden, mit einer gemütlichen Hütte möglichst, auf der man nur das Knacken der Holzscheite im Ofen hören würde. Sie würden ein Glas Wein zusammen trinken und die Stimmung gepaart mit der unvergleichlichen Stille des winterlichen Hochgebirges genießen – sofern nicht schon jemand im Lager schnarchte oder eine temperamentvolle Jugendgruppe sich dummerweise dasselbe Ziel ausgesucht hatte.
Nach dem Frühstück verabschiedete Martin sich liebevoll von Nadine und fuhr zum Bahnhof. Um 9.16 Uhr rollte der Zug ein, der Kurt nach einem frühen Aufbruch und zweimaligem Umsteigen von Freiburg nach Konstanz brachte. In Freiburg waren sie sich damals bei einer WG-Party begegnet, Kurt Schubert, der bergverrückte Geologie-Student, und er, Martin Keller, Medizinstudent und ein ebenso leidenschaftlicher Bergsteiger. Daraus wurde eine enge Freundschaft fürs Leben, auch wenn der nur wenige Monate jüngere Kurt inzwischen in Kanada seine Brötchen verdiente. Als Geologe war es in Deutschland nicht einfach, von seinem Beruf zu leben, sofern man sich nicht auf die angewandten Themen wie Altlasten, Geothermie, Ingenieur- oder Hydro-Geologie spezialisiert hatte.
Kurt aber befasste sich mit Lagerstätten aller Art und bezeichnete sich selbst scherzhaft als „geologisches Trüffelschwein“. Nun suchte er in ganz Kanada nach den begehrten Rohstoffen, und nach einigen bedeutenden Funden hatte er keine finanziellen Nöte mehr. Durch seine Tätigkeit war er gut zu Fuß, zumindest hatte er sich auf der Hochzeit schon mal keine Blöße gegeben. Als Letzter auf der Tanzfläche musste er schließlich aufgeben, als fast alle gegangen waren.
Das Quietschen der Räder auf den Geleisen wurde immer lauter, bis der dröhnende Triebwagen an Martin Keller vorbeifuhr und der Zug kurz darauf zum Stehen kam. Martin musterte die vielen Menschen, die sich auf den Bahnsteig ergossen und die, winterlich verpackt, mit ihren Gepäckstücken dem Ausgang entgegenstrebten. Normalerweise hätte er Kurt schon bald an seiner inzwischen recht übersichtlichen Frisur erkannt: Sein ehemals volles, wildes braunes Haupthaar hatte sich dramatisch gelichtet, sodass er inzwischen nur noch einen Kranz mit einem Kurzhaarschneider zu bearbeiten hatte. Doch da er eine rote Strickmütze trug, sah Martin den etwas kleineren Freund erst, als er breit grinsend unmittelbar vor ihm stand und rief: „Grüß dich, Herr Doktor, alles schon gepackt?“
„Hallo Kurt, ja klar! Schön, dass du da bist!“
Sie umarmten sich kurz, Martin nahm ihm seinen Rollkoffer ab und sie gingen zum Auto.
Am Mittag wollten sie in Partenen sein, wo Hias auf dem Parkplatz vor der Vermuntbahn auf sie warten würde. Aber vorher wollte Martin noch einmal schnell nach Hause und Nadine umarmen, denn obwohl es sicher schön werden würde mit den beiden Freunden, hatte er gerade überhaupt keine Lust mehr auf die Silvretta.
Walter Brandstätter und Hubert Draxl passierten den zweiten Kreisel in St. Anton und folgten weiter der Bundesstraße Richtung Landeck. Vor ihnen war immer noch eine Kolonne von vielleicht fünf Autos, hinter ihnen der Wagen des Bauunternehmens. Draxl trippelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, voller Ungeduld, dieser quälend langsamen Schlange zu entkommen und endlich die Autobahn zu erreichen. Links der Straße reihten sich ein paar Hotels, die teilweise in den Hang gebaut waren, um vor allem die vielen Skitouristen während der Saison zu beherbergen.
„Magst a Manner-Schnitte?“, fragte Walter Brandstätter.
„Ja gern“, entgegnete Hubert Draxl und griff nach rechts. „Was machst du heut Abend?“
„Mir sind beim Klaus eingeladen, der Klaus und i spielen schon ewig Fußball zusammen. Der kocht gern und da gibt’s dann immer an guaten Wein dazu, der kennt sich da aus, des is a echter Enthusiast. I hab mi no nit mit der Frau geeinigt, wer fahrn muss“, antwortete Brandstätter und Draxl lachte.
In weiten Kurven verlief die Straße in Richtung St. Jakob, gleich danach kam man am östlichen Ende des Arlbergtunnels wieder auf die Autobahn. Sie passierten einen neuen Supermarkt, eine moderne Stahlkonstruktion mit großen Glasflächen, und eine Tankstelle. Hundert Meter weiter stockte es, weil offenbar eine Baustelle die Bundesstraße blockierte und der Verkehr durch eine Unterführung rechts unter der Eisenbahn hindurchgeleitet wurde. Ein Bauarbeiter, der vor der Absperrung stand, winkte die Autos mit einer Fahne in die Umfahrung.
„Na, dann müsst’s ihr wohl losen, oder du machst deiner Frau a gutes Angebot, also quasi als Gegenleistung“, schlug Draxl vor, während sie nach der Unterführung eine Linkskurve nahmen, die sie an einem Sägewerk vorbeiführte.
„Was meinst du damit?“
„Na zum Beispiel a Wellness-Wochenende in am netten Hotel. Herrgottsack!“, schrie Draxl und stieg in die Eisen. Der Lieferwagen vor ihm hatte abrupt angehalten. Hier war die Straße so schmal, dass man nicht überholen konnte, und zu beiden Seiten stapelten sich die langen, dicken Baumstämme des Sägewerks.
„Was soll das denn? Der hat doch niemand mehr vor sich, scheiße noch mal!“, rief Brandstätter.
Draxl blickte in den Rückspiegel. Da war immer noch der Pritschenwagen mit der grünen Baustellentoilette. Ein Mann saß darin und schaute nach vorne. Als Draxl ebenfalls wieder nach vorne sah, stieg ein Vermummter in blauer Arbeitsmontur aus der Fahrertür des Transporters und kam auf sie zugelaufen. Gleichzeitig öffneten sich die Hecktüren. Draxl riss die Augen auf und musste zweimal hinschauen, ehe er begriff. Da kniete jemand und hielt ein rundes, längliches Gerät über der Schulter, dessen Spitze auf sie zeigte. Eine Panzerfaust.
„Des is a Falle!“, rief Draxl und drückte die Alarmfunktion ihres GPS-Überwachungssystems, auch wenn ihm klar war, dass es für sie beide erst mal nichts ändern würde.
Der Mann mit der Panzerfaust hatte eine Strumpfmaske über seinem Gesicht, genauso wie der Mann, der aus dem Transporter gestiegen war, und wie der Fahrer des Pritschenwagens hinter ihnen, der inzwischen auf ihrer Beifahrerseite stand.
„Los raus, aufmachen, dalli!“, rief der Mann vor Draxls Tür und fuchtelte mit einer Walther P1 Automatik vor dem Fenster herum. Ein altes Modell, aber mit einer berüchtigten Durchschlagskraft.
Der auf der anderen Seite hielt eine Uzi in den Händen, den uralten Maschinenpistolen-Klassiker mit dem langen 32-Schuss-Magazin. Ein zweites war mit Tape daran befestigt, mit einer Patrone als Abstandshalter. Draxl begriff glasklar, dass sie keine Wahl hatten. Ein kurzer Blick zu Brandstätter, der nur die Augen rollte und mit den Schultern zuckte, zeigte ihm, dass dieser genauso dachte. Also öffneten sie die Türen und stiegen aus.
„Waffen her, Waffen her!“, brüllte der Vermummte auf Draxls Seite und zielte mit der Walther P1 auf ihn.
„Los! Kofferraum auf!“, kommandierte er weiter, während er Draxl entwaffnete. Auch Brandstätter wurde seine Pistole abgenommen. Als sie beide nach hinten gingen, sahen sie, dass hinter dem Pritschenwagen kein Auto mehr war. Sie waren allein. Draxl öffnete den Kofferraum, und gleich darauf wurden ihm seine Hände mit einem Kabelbinder auf dem Rücken fixiert. Dann mussten Brandstätter und er in den Transporter einsteigen, wurden dort auf zwei Isomatten dirigiert und mit Handschellen an einen eingeschweißten Ständer gebunden. Der Mann, der die Panzerfaust gehalten hatte, half dabei, während der andere sie weiter mit der Pistole bedrohte. Danach steckten die vermummten Täter sie in Schlafsäcke, verließen den Laderaum, der nur ein kleines Fenster nach vorne zur Fahrerkabine hatte, und schlugen die Türen zu.
Die verdammten Hunde! Dass i das nach fast zwanzig Jahren in der Firma noch erleben muss, Herrgott nomal, des derf nit wahr sein!, dachte Draxl. Sprechen konnte er nicht, da sein Mund, ebenso wie der seines Kollegen, mit Paketband verklebt war.
Der Transporter fuhr los, hielt aber gleich darauf wieder an. Die Fahrertür wurde zugeschlagen. Schritte entfernten sich eilig, dann vernahmen sie das Brummen eines Autos, das rasch leiser wurde. Plötzlich war es unheimlich ruhig. Draxl blickte Brandstätter an, der im Halbdunkel tief durch die Nase atmete und, wieder mit den Schultern zuckend, vor sich hinschaute.
Es sah so aus, als würde er nicht mehr mit seiner Frau losen müssen, wer heute Abend nach Hause fuhr.