Willkommen im Barfuß-Land
– Juli –
Ich ging seit vielen Jahren barfuß, aber immer an den üblichen Plätzen. Zu Hause. Auf einer Wiese. Am Strand. In meiner Yogastunde. Noch nie hingegen waren meine Füße auf den Gehwegen einer Stadt, in einem Restaurant, in einem Museum oder in einem Geschäft unbeschuht. Ich machte etwas, was »man« nicht macht. Und so fühlte es sich auch ein wenig an, als würde ich etwas falsch machen. Ich trat vom Flugzeug auf den dunklen Bodenbelag des Landefingers und war überrascht, wie viel kühler der doch war. Ich spürte Temperaturschwankungen, die mir bisher völlig entgangen waren.
Dann betrat ich den Flughafen und damit den Flughafenboden. Ich war begeistert! Ich hatte keine Ahnung, wie angenehm der Münchner Flughafenboden war. Da muss eine Fußbodenheizung drunterliegen. Ich ging langsam und bemüht im Ballengang. Streckte den Fuß wie eine Ballerina nach vorn, setzte zuerst den Ballen auf und sank erst dann ganz zum Boden. Ich musste mich konzentrieren, damit ich nicht automatisch mit der Ferse aufkam. Wenn meine Füße Augen gehabt hätten, hätten sie mich erstaunt angeschaut. Doch meine Augen waren beschäftigt. Wir suchten eine Apotheke.
Nach meinem gestrigen Spaziergang im Wald war mir klar, dass ich in Zukunft etwas zum Abwischen brauchte, was besser funktioniert als meine trockenen Taschentücher. Ich bin praktisch veranlagt. Ich würde ja nicht nur in meiner Wohnung barfuß gehen, sondern auch in den Wohnungen von Freunden oder Freunden von Freunden. Da wollte ich nicht mit schmutzigen Füßen herumlaufen. Ich brauchte ein Waschbecken. Zu Hause kein Problem, aber in einem Restaurant zum Beispiel schwierig umzusetzen. Ich musste also etwas mit mir herumtragen, was mich unabhängig von diversen Waschgelegenheiten sein ließ.
An der Schwelle zur Apotheke blieb ich kurz stehen. Darf man da überhaupt barfuß rein?
Frau Obrigkeitshörig meldete sich vehement: »Also nein, du wirst doch jetzt nicht in einen Laden einfach so …«
»Guten Abend. Haben Sie feuchte Abwischtücher?«
Vielleicht wären ja auch Abschminktücher ganz praktisch?
Die Apothekerin zeigte mir verschiedene Packungen. Ich entschied mich für die dickste. Wer weiß, wie oft ich die benutzen muss und wie viele Tücher ich jedes Mal brauche? Reicht da ein Tuch? Oder eines pro Fuß? Eine andere Apothekerin kam an die Theke, um eine neue Kundin zu bedienen. Ich stellte meinen Rollkoffer so, dass er meine Füße verdeckte.
Frau Obrigkeitshörig meldete sich: »Wundere dich nicht, wenn du eine schwere Hand auf deiner Schulter spürst und dich jemand anschnauzt, dass du gefälligst anständig bekleidet hier rumlaufen musst. Ich habe dich gewarnt.«
Auch die Herbergsmutter in mir war unglücklich. Sie mag keine Abenteuer. Nichts, bei dem man etwas tut, was andere eben nicht machen. Sie will keine Blicke auf sich ziehen und keine abschätzenden Kommentare hören. Da ist sie sich mit Frau Obrigkeitshörig ganz einig. Ihr Beweggrund ist allerdings ein anderer: Sie will es harmonisch.
Ich ging durch den Bereich der Zollkontrolle, und zwei Beamte starrten auf meinen Rollkoffer, um zu sehen, woher ich komme. Daneben gingen meine nackten Füße. Die Herbergsmutter bestand auf ein harmloses Lächeln, und Frau Obrigkeitshörig fühlte sich verängstigt und schickte mir kalten Schweiß. Ich konnte es nicht fassen: »Wie alt sind wir noch mal?«
Beide zogen sich beleidigt zurück.
Wir sind nicht verhaftet worden.
Ich schlängelte mich durch die Gruppe von wartenden Abholern und konzentrierte mich auf meinen Vorderfußgang. Das war gut so. Da fiel mir gar nicht auf, ob mich jemand beobachtete. Ich sah die verglaste Drehtür, durch die ich nach draußen kommen würde. Meine Augen sagten: »Brrr. Es ist zehn Uhr abends, und dieser Sommer war ja wirklich kein Sommer. Wir müssen uns Schuhe anziehen. Siehst du nicht, dass es kalt ist?«
Ich sah es schon, aber ich ging trotzdem einfach weiter. Meine Füße machten den ersten Schritt nach draußen. Schlagartig wurde mein Körper wacher. Ein kühler Wind ließ mich meine Jacke zumachen, aber meine Füße fanden das spannend. Wenn man den Gedanken »Kalt ist gleich unangenehm« weglässt, dann erlebt man das recht entspannt. Natürlich gab es einen Unterschied vom warmen Flughafenboden zum nasskalten Gehweg, aber unangenehm ist das nicht. Im Gegenteil. Es war ein anderes Gefühl. Ein waches Gefühl. Jeder Schritt war eine neue Offenbarung.
Meine Füße schickten Informationen des Wohlbefindens nach oben: »Was wisst ihr als Augen schon von Kälte? Ihr sitzt schön verpackt mitten im Kopf! Wir mögen das.«
Die Augen schauten erstaunt. »Das ist ja interessant, dass ihr das mögt. Und wir wollten euch schützen.«
Es war dunkel, und ich sah nicht genau, wo ich hintrat. Das wird schon irgendwie gehen.
Meine Füße bahnten sich neugierig den Weg von den Gehwegplatten zum Fliesenboden im Aufzugsbereich des Parkhauses. Immer im Ballengang. Nichts war mehr übrig von einem automatischen Gehen. Hier wurde Aufmerksamkeit verlangt. Wie wenn ich meditieren würde. Ich zahlte für mein Parkticket, ging in den Aufzug und dann zum Auto. Ich begegnete niemandem. Ich wischte mir meine Füße ab, die gar nicht so schmutzig waren, wie ich angenommen hatte, und startete mein Auto. Eiskalte Luft blies auf meine nackten Füße. Ich schaltete die Heizung an – mitten im Juli – und fuhr los.
Barfuß.
Darf man das überhaupt?
Frau Obrigkeitshörig zwang mich anzuhalten. Ich zog brav mein Smartphone heraus und googelte mit folgenden Suchwörtern: barfuß, Auto, fahren.
Man darf. Es ist nicht verboten. Würde ja auch keinen Sinn machen, denn schließlich habe ich mit nackten Füßen ein sehr viel besseres Gespür. High Heels, Flipflops oder dickes klobiges Schuhwerk wären da deutlich gefährlicher. Außerdem rutscht man nicht ab, und Kraft wie früher braucht man bei den heutigen Autos auch nicht mehr.
Frau Obrigkeitshörig biss sich prompt an einer nebensächlichen Stelle fest: »Bei einem Unfall kann es mit der Versicherung kritisch werden.« Den Satz danach aber übersah sie: Es muss bewiesen werden, dass der Autounfall durch das Fehlen von Schuhen entstanden ist.
Es kann bei einem Unfall kritisch werden, stand da. Und das konnte nun wirklich alles bedeuten. Und wie man den ursächlichen Zusammenhang beweisen will, war mir auch völlig unklar.
Ich gab Gas und erfreute mich an der warmen Luft, die jetzt auch langsam meine Füße wärmte.
Regel Nummer eins: Bewahre im Auto warme Schuhe zum Reinschlüpfen auf.
In meiner Abendmeditation fiel mir auf, wie sehr meine Fußsohlen kribbelten. Ich hatte sie noch nie in einer Meditation so intensiv gespürt.
Am nächsten Morgen stehe ich vor meinem offenen Schuhschrank beziehungsweise vor meinen drei offenen Schuhschränken. Tja, das sieht nicht gut aus. Eigentlich sieht es gut aus – meine Schuhe sind ordentlich aufgereiht und in einem guten Zustand –, es sei denn, man ist von der schieren Masse schockiert. Jetzt stehen die Sommerschuhe unten und die Winterschuhe oben. Im Herbst wird getauscht. Dazwischen stehen die Schuhe, die jahreszeitenunabhängig sind.
Meine Schuhe waren bisher nach Farben geordnet. Jetzt ordne ich sie nach einem anderen Kriterium: Was kann ich noch tragen und was nicht? Alles mit dicker und inflexibler Sohle ist nicht barfußgerecht. Tja, damit fallen schon mal achtzig Prozent raus. Sohlen waren mir immer egal. Außer ich brauche Profil im Winter. Aber da ich jetzt in einem Schuh möglichst viel von einem Barfußgefühl haben möchte, brauche ich eine sehr dünne und bewegliche Sohle.
Barfußgerecht heißt auch ohne Absatz. Tschüs zu Pumps, High Heels, Sandalen und sogar Turnschuhen – die haben bei mir auch einen kleinen Absatz. Meine geliebten Birkenstock-Hausschuhe gehen auch nicht mehr. Birkenstock, der Inbegriff des gesunden Schuhs, hat aber für meine Zwecke eindeutig eine zu dicke und inflexible Sohle.
Es bleiben übrig: Flipflops und …
Flipflops. Gut, dass ich davon elf Paar habe und jetzt Juli ist. Zu meinem Schrecken fällt mir gerade ein, dass Flipflops auch nicht gehen – weil da die Zehen vorn den Schuh festhalten müssen. Der Fuß verkrampft sich.
Tja.
So schnell kann das gehen. Von hundertzwei auf null in zwei Minuten. Und nun?
Halt!
Von hundertzwei auf einen. Ich habe doch ein Paar von diesen Vibram-FiveFingers-Schuhen! Ich ziehe sie triumphierend aus dem Schuhschrank. Sie sehen wie Handschuhe für die Füße aus. Gewöhnungsbedürftig, allein schon visuell. Jeder Zeh hat seinen eigenen Platz.
Wer mehr als einen Fuß gesehen hat, weiß, dass Zehen nicht gleichmäßig sind. Allein die Zehen in meiner Familie sehen so aus, als ob wir verschiedenen Planeten angehörten. Wie diese unterschiedlichen Zehen in diese gleichmäßigen Zehenschuhe gehen sollen, war mir damals schon ein Rätsel. Aber da ich gern Neues ausprobiere und bereit bin, meine vorgefassten Meinungen immer wieder auf die Probe zu stellen, habe ich sie mir damals auch gekauft. Dünne Sohle. Obermaterial Leder.
Bis ich meine Zehen in die vorgesehenen Abteilungen geschoben hatte, war es Abend. Innerhalb der ersten halben Stunde hatte ich die erste Blase da, wo die Außenkante des Schuhs rieb, und seitdem hab ich diese Schuhe nicht mehr getragen. Dass ich sie jetzt plötzlich besser vertragen werde, ist höchst unwahrscheinlich.
Ich war eigentlich immer schon auf der Suche nach dem perfekten Schuh gewesen, einem Schuh, der bequem ist, zu allem passt, schön aussieht, mit dem man gut verreisen kann und der mir keine Schmerzen zufügt. Gelegentlich hatte ich Modelle, die viele dieser Ansprüche erfüllten, aber nie alle auf einmal.
Zum Beispiel meine Uggs, die dicken Fellstiefel zum Reinschlüpfen: Ich habe sechzehn Jahre in Kalifornien gelebt. Uggs gehören in Los Angeles zum Stadtbild, und zwar zu allen (Jahres-)Zeiten und allen Gelegenheiten: Man sieht sie auch im Sommer zu Shorts, in Restaurants mit luftigen Kleidchen, vor und nach dem Sport. Uggs sind nicht schön. Viel zu klobig. Die Füße sehen riesig aus. Aber trotz all meiner europäischen Abwehr habe ich dann doch irgendwann einmal nachgegeben. Ein bisschen nach dem Motto: Was ist denn bloß dran an diesen Fellschuhen, dass sie jeder so gern trägt? So hatte ich dann mein erstes Paar gekauft. Und damit war es um mich geschehen, denn Uggs sind auf jeden Fall bequem, blasenfrei, reiseideal.
Bequemlichkeit war schon immer ein Thema für mich. Einmal fand ich relativ flache Schuhe mit Korksohle, die ein breites, wie gestricktes Band über dem Fußrücken hatten. Nichts rieb. Nichts störte. Ich konnte stundenlang darin gehen, und meine Haut war noch in einem Stück. Die Schuhe waren bequem, blasenfrei und reiseideal – wenn man sich damit abgefunden hat, dass man wie seine eigene Großmutter aussieht.
Ich habe in den USA oft Turnschuhe getragen, denn die sitzen auch wirklich gut; und wenn man nur Hosen trägt, passen sie auch fast zu allem.
Und dann noch die doch relativ unverzichtbaren High Heels. Fehlanzeige in Sachen »bequem, blasenfrei, ideal für die Reise, passen zu allem« – aber sie sind schön! Tja, das sind sie. Hohe Schuhe sehen klasse aus. Ich weigere mich allerdings, Schuhe mit so hohen Absätzen zu tragen, dass ich rechts und links einen Mann zum Einhängen brauche, damit ich aufrecht über die Straße komme. Der sprunghafte Höhenanstieg von Absätzen wurde von Männern kreiert, die sie selbst nicht tragen müssen. Viele High Heels sind Kunstwerke und lassen den Fuß auch wirklich toll aussehen. Wie Stiefel, die aber leider viel zu viel Platz in Koffern brauchen.
Haben wir schon über Loafers gesprochen? Google-Übersetzer nennt sie »Halbschuhe«. Meine ganz persönliche Schuh-Beziehungskrise: Ich mag sie. Sie mögen mich nicht. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, sie im Laufe der Jahre immer wieder voller Hoffnung zu kaufen. Ich war sicher, dass ich einfach nur noch nicht das richtige Paar gefunden hatte. Ich habe sieben Paar Loafers. Alle schön. Alle für mich nur mit Blasenpflastern tragbar. Aber wie das so ist mit einer unerfüllten Liebe. Einer liebt mehr als der andere. Mit Hunderten anderer Frauen schienen diese Loafers prima zurechtzukommen. Aber nicht mit mir.
Das erinnert mich an die Sommerzeit mit einer weiteren persönlichen Herausforderung, den Sandalen: Die Riemchen zu hart. Die Verschlüsse an Plätzen, wo ich Knöchel habe, die Zehen zu eingequetscht. Bei Sandalen kann man keine Socken tragen. Nun ja, man kann, aber das machen in der Regel nur Männer. Bestimmte Männer. Manche würden sagen: kluge Männer. Männer, die keine Blasen von ihren Sandalen haben wollen.
Ja, aber es sieht einfach … nicht gut aus.
Ballerinas und ich, das ist auch noch keine Liebesgeschichte geworden. Die Außenränder reiben sich an meiner Haut. Die kleinen Zehen bekommen Blasen. Die Ferse jammert. Und damit scheiden sie für Reisen aus.
Vielleicht sollte ich die Bewertung »reiseideal« erklären und warum das für mich so wichtig ist. Ich bin viel unterwegs. Viele Leute verreisen drei-, viermal im Jahr. Ich verreise drei-, viermal im Monat. Manchmal nur über Nacht zu Vorträgen, manchmal wochenlang für Workshops, manchmal einen Monat, um meine erwachsene Tochter zu besuchen. Deshalb nimmt das Kofferpacken mehr von meiner Zeit in Anspruch, als mir lieb ist, und meine Schuhe sollten wenig Platz im Koffer wegnehmen und so einsatzfähig wie möglich sein. Obwohl Uggs viel Raum in Anspruch nehmen, erhalten sie von mir das Prädikat »reiseideal«, weil ich sie bei der An- und Abreise trage und sie überall einsetzbar sind. Besonders wenn man wie ich oft kalte Füße hat, dann sind sie ein wahres Gottesgeschenk.
Immer noch vor meinem Schuhschrank, finde ich zwei Paar Ballerinas. Zusammenklappbar. Wenn man zu lange in High Heels unterwegs war, dann kann man sich diese kleinen Ballerinas aus der Handtasche holen. Ich hatte sie mir vor ein paar Jahren gekauft und schnell wieder vergessen, denn ich konnte nicht wirklich gut mit ihnen gehen. Sie sind komplett flach, und irgendwie war mir das unangenehm. Vielleicht jetzt nicht mehr, weil ich mit dem Ballen und nicht mit der Ferse auftrete?
Ich gehe mit ihnen in meiner Wohnung im Ballengang und merke, dass ich mich jetzt in diesen Schuhen wohlfühle. Für den Fersengang sind sie nicht genügend gepolstert. Glücklicherweise haben sie auch noch außen ein weiches Gummiband, das nicht an meiner Haut reibt. Eingepackt in einem Säckchen sind sie nicht größer als ein Paar zusammengefaltete Socken. Ideal zum Mitnehmen. Voilà! Ich habe ein Paar Schuhe!
Beim näheren Betrachten steigen jedoch Zweifel in mir auf. Die aufgeklebte Sohle ist eindeutig zu dick. Also brauche ich doch noch ein Paar Schuhe, die mir ein Barfußgefühl vermitteln, mir den Ballengang erlauben und einfach zu transportieren sind – und die es neuerdings unter dem Label »Barfußschuhe« zu kaufen gibt. Natürlich will ich nicht den gleichen Fehler wie mit meinen »richtigen« Schuhen machen: Plötzlich habe ich einen vierten Schrank für Barfußschuhe. Ich verspreche mir, aufzupassen – und dann wird mir die Absurdität bewusst: Ich habe schon so viele Schuhe, wieso brauche ich jetzt noch mehr Schuhe, damit ich ein Barfußgefühl habe? Ich lache laut auf und beschließe, später darüber nachzudenken. Das mache ich zwar schon seit meiner Teenagerzeit nicht mehr, aber irgendwann einmal sind alte Gewohnheiten wirklich nützlich. In diesem Moment zum Beispiel.
Ich bin kein großer Freund von Internet-Recherchen. Nach ein paar Minuten werde ich unruhig – so auch jetzt. Ich google »Barfußschuhe«. Hier wird bestätigt, was ich schon weiß: Ein Barfußschuh ist nur dann wirklich ein Barfußschuh, wenn er eine sehr dünne (drei, höchstens fünf Millimeter dicke) und flexible (!) Sohle hat, genügend Freiheit für die Zehen bietet und komplett flach, also ohne Absatz ist.
Ich scrolle durch die verschiedenen Anbieter und frage mich mehr als einmal: Gibt es die auch in Schön?
Die Vibram FiveFingers finde ich als Erste. Ein letzter Versuch mit meinen hat mir gezeigt, wie unbequem die sind. Obwohl sie meinem Schönheitsempfinden schon energisch widersprechen, weiß ich aber auch, dass es mir nicht schadet, meine gelegentlichen Eitelkeitsschübe weiter nach unten zu fahren.
Bei mir um die Ecke gibt es einen Laden für Gesundheitsprodukte, und ich erinnere mich, durch das Fenster Schuhregale gesehen zu haben. Soll ich da jetzt barfuß hingehen? Ich würde das gern tun, aber ich probiere schließlich Schuhe an und will sie nicht mit meinen Füßen verschmutzen. Obwohl ich meine Feuchtigkeitstücher dabeihabe, fehlen mir Erfahrungswerte. Wie sauber wird meine Fußsohle, wenn ich sie mit so einem Tuch abwische? Gerade eben wird mir klar, dass dieses gut trainierte Ritual beim Rausgehen (Schuhe anziehen, Handtasche und Schlüssel mitnehmen) jetzt gerade einem längeren Nachdenkprozess Platz macht. Ich entschließe mich, die zusammenklappbaren Ballerinas anzuziehen.
Im Laden haben sie eine Auswahl an FiveFingers. Sogar in dezentem Grau-Weiß. Sogar im Angebot. Sogar in meiner Größe. Das Obermaterial ist elastischer Stoff. Die Schuhe schauen überhaupt sehr blasenfrei aus. Ich stecke meine Zehen in die vorgesehenen Kammern, und mein rechter kleiner Zeh meckert. Aber trotzdem sind sie auszuhalten. Ich gehe für ein paar Minuten im Ballengang auf und ab. Ich bin hoch motiviert, meinen Körper nicht mehr mit meinem harten Auftritt durch die Ferse zu prügeln. Ich wünsche ihm, dass er bei jedem Schritt von mir diese Ruhe bekommt, die ich von meinen Meditationen kenne. Ich schaue mir die FiveFingers an, seufze und bezahle sie.
FiveFingers sind fürs Laufen konzipiert worden. Das Joggen habe ich immer wieder mal probiert, aber bei mir wird da kein Glückshormon ausgeschüttet. Ich mag es, so lange zu sprinten, bis ich lachen muss, aber lange zu laufen macht mir keinen Spaß. Natürlich kann man mit den FiveFingers auch gehen. Allerdings sehen sie doch recht komisch aus.
Ich gehe über die Straße, und mir wird in dem Moment klar, dass ich schon wieder beim Schuhkauf einen kapitalen Fehler begangen habe: Ich habe sie draußen getragen. Es meckern beide meiner kleinen Zehen.
Das ist nicht gut. Das ist wirklich nicht gut.
Ich werde vorsichtiger sein müssen. Wirklich sehr viel vorsichtiger. Knappe achtzig Euro für Schuhe ausgegeben, die meine Zehen nicht mögen. Kein Wunder, dass ich über hundert Paar Schuhe habe! Manchmal frage ich mich, ob ich lernfähig bin.
Ich ziehe die Schuhe aus und gehe den Rest des Wegs barfuß nach Hause, hoch konzentriert im Ballengang. »Natürlich« gehen sieht anders aus. Ich bedanke mich bei der Münchner Straßenreinigung für ihre Arbeit. Auf dem Gehweg liegt wirklich nichts herum. Ich beobachte mich, wie ich aufmerksam den Weg vor mir betrachte. Werde ich jetzt immer nach unten schauen müssen, damit ich nirgendwo reintrete?
Ich bleibe stehen. Das mache ich auf keinen Fall.
Vor vielen Jahren in Los Angeles hatte ich schon mal eine Phase, in der ich viel barfuß ging. Ich hatte mich damals mit dem indianischen Schamanismus beschäftigt, und Mutter Erde zu spüren gehörte zum kleinen Einmaleins. Deswegen ging ich auch oft barfuß wandern. Auch da bat ich mein Energiefeld, sich darum zu kümmern, dass ich nicht irgendwo reinsteige. Ab und zu bin ich ganz automatisch irgendetwas ausgewichen, und beim Nachschauen – wo kommt denn jetzt bitte dieser komische Seitwärtsschritt her? – sah ich oft etwas, in das ich eben nicht hineingetreten war.
Ich schließe meine Augen und fühle mich in meinen Körper ein. Ich erspüre um meinen Körper herum mein energetisches Feld. Es wird sich darum kümmern, dass ich nirgendwo reintrete.
Das energetische Feld erspüren
Für diejenigen, die mit ihrem energetischen Feld, ihrer Aura, nicht so vertraut sind, gibt es eine Übung zum Ausprobieren: Wenn kein geeigneter Partner in der Nähe ist, strecken Sie Ihre Arme mit den nach innen deutenden Handflächen aus, als ob Sie jemanden umarmen möchten. Dann schließen Sie die Augen und führen die Hände vor Ihnen langsam zusammen. Wenn Sie sich dabei auf Ihre Handflächen konzentrieren, werden Sie einen Widerstand vor dem Zusammenführen spüren. So als wenn Sie durch Watte gehen würden. Das ist ein ganz subtiler Prozess, und manchmal muss man das ein paarmal machen, damit man es erspürt. Der Beginn dieses »Widerstands« ist der Beginn des Energiefeldes Ihrer Hände.
Wenn Sie einen Partner haben, können Sie sich in drei Meter Abstand gegenüberstellen. Halten Sie die Hände auf Brusthöhe mit den Handflächen in Richtung Ihres Partners. Dann schließen Sie die Augen, konzentrieren sich wieder auf Ihre Handflächen und gehen sehr langsam aufeinander zu. Auch dabei werden Sie allmählich einen leichten Widerstand spüren. Wenn Sie Spaß daran haben, können Sie das mal beim Abendessen mit Ihrer Familie ausprobieren. Bei jedem gibt es einen anderen Abstand, ab dem Sie den Widerstand spüren.
Dass ich die Schuhe ausgezogen habe, macht meine kleinen Zehen glücklich, obwohl ich mir um die beiden Sorgen mache. Die haben schon einiges erlebt. Ich habe gelegentlich die Angewohnheit, mit ihnen barfuß an Stuhl- oder Tischbeinen hängen zu bleiben. Bei Türen mache ich das auch, und der kleine Zeh wird dann brutal und schmerzhaft nach außen gerissen, als ob ich ihn loswerden möchte. Werden meine kleinen Zehen mein Barfuß-Abenteuer überleben? Oder soll ich mich gleich von ihnen verabschieden?
Frau Obrigkeitshörig mischt sich noch mal ein (sie ist wirklich zurzeit sehr schwer loszuwerden): »Wir sind gesund, wenn ich dich daran erinnern darf. Dieses Barfußgehen mag vielleicht wirklich ganz praktisch sein für Leute, die Fuß-, Knie- oder Hüftprobleme haben, aber wir haben keine. Wir könnten uns verletzen. Und dabei schauen wir auch noch aus, als ob wir dumm wären!«
»Man kann nie gesund genug sein, und gelegentlich dumm auszusehen kann meinem Ego auch nicht schaden.« Frau Herbergsmutter und mein Ego zucken fühlbar zusammen. Dumm aussehen will keiner von beiden.
Thema beendet. Mal schauen, für wie lange.
Zu Hause gehe ich sofort auf Zehenspitzen ins Bad und wasche mir im Waschbecken meine Füße. Dankbar, dass ich durch dreißig Jahre Yoga meine Beine über jede Theke schwingen kann. Wieder sehen die Fußsohlen nicht so schlimm aus wie befürchtet. Ich habe sehr helle Fußsohlen und mag das auch. Ich schrubbe mit dicker Bürste und viel Seife meine Füße sauber. Das dauert nur ein paar Minuten. Dann creme ich sie ein.
Zurück im Home Office, google ich wieder nach Barfußschuhen. Manche laufen unter dem Label »Barfußschuhe« und haben doch Absätze oder dicke Sohlen. Manche sind lediglich hässlicher als normale Schuhe. Verkaufen da nur ein paar Geschäftsleute ihre »normalen« Treter einfach als Barfußschuhe, nur weil sie den Zehen mehr Platz lassen?
Dann finde ich bei Merrell die »Wish Gloves«. Die gibt es in Beige, Schwarz und Dunkelrot. Sie sehen von der Form her wie Ballerinas aus. Allerdings sind sie vorn am Ballen sehr viel breiter und oben mit zwei Gummibändern, die den Schuh sicher am Fuß halten. Optisch sind sie ganz in Ordnung. Sie erfüllen fast alle meine Kriterien. Auf jeden Fall sind sie unauffällig, und damit lande ich bei einem neuen Bewertungskriterium, das ich bisher noch nie für Schuhe angewendet habe: unauffällig. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, sie in allen drei Farben zu bestellen. Ich entschließe mich für das neutrale Beige.
Ich erinnere mich an eine Übung im Buch von Carsten Stark, die ich nicht ausprobieren konnte, da ich sie im Flugzeug las. Beim Stehen überprüfen, wohin man das meiste Gewicht auf die Füße verlagert: nach vorn, nach hinten oder gleichmäßig verteilt.
Ich stelle mich zur Kontrolle seitlich vor meinen großen Garderobenspiegel. Mein Gewicht ist eindeutig vorn am Ballen. Meine Ferse wird kaum belastet. Ich sehe mich im Spiegel nach vorn lehnend. Meine Knie sind durchgedrückt. Wahrscheinlich muss sich mein Körper – ohne dass ich dies bewusst wahrnehme – beständig anstrengen, damit ich nicht nach vorn falle. Kann ich deswegen nicht lange stehen?
Als ich die Ferse mitbelaste, spüre ich, wie es meinen ganzen Oberkörper nach hinten zieht und ich jetzt gerade stehe. Das war's? Gleichmäßig Ballen und Ferse belasten? Warum musste ich fünfundfünfzig Jahre alt werden, bis ich das irgendwo lese, bis mir das irgendjemand erklärt?
Ich habe immer schon bemerkt, dass an meiner Haltung etwas nicht stimmt, und von Yoga über Pilates bis zur Alexander-Technik hat mich noch nie jemand darauf aufmerksam gemacht, dass ich nur das Gewicht gleichmäßig auf Ballen und Ferse verteilen soll. Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die das nicht weiß?
Ich bin neugierig, ob es zu dem Vorderfußgang auch wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Ich entdecke bei meiner Internet-Recherche Professor Daniel Lieberman, der an der Harvard-Universität »evolutionäre menschliche Biologie« lehrt und unter anderem dort das »Skeletal Biology Lab« leitet. Er und seine Kollegen untersuchten Läufer mit und ohne Schuhe, mit Fersen-, Ballen- und Mittelfußlauf (die eher ganz flach auftreten), um herauszufinden, welchen Impact das auf das Skelettsystem des Menschen hat. Ich schaue mir diverse Videos an, die alle einen klaren Unterschied zeigen. Ballenlauf beziehungsweise Mittelfußlauf ist eleganter. Unser Fuß ist so gestaltet, dass er beim Aufkommen mit dem Ballen mehr abfedern kann. Ich sehe Tests, die den Aufprall als Grafik zeigen. Der Unterschied ist also nicht nur hörbar, wenn man die Finger in die Ohren steckt, sondern auch messbar.
Beim Ballengang zeigt die Grafik eine Welle ohne Störungen, von unten nach oben. Beim Fersengang zeigt die Welle bei jedem Schritt harte Stufen und Einrisse. Mir fällt auf, dass der Fuß bei den Schuhträgern mit dicken Sohlen beim ersten Schritt nach vorn auch ziemlich nach oben gezogen wird. Das ist anstrengend für die Muskeln und Sehnen, die bei jedem Schritt den Fuß nach oben halten müssen. Beim Vorderfuß- oder Ganzfußlaufen passiert das nicht. Der Fuß ist entspannt.
Lieberman leitete ebenfalls Untersuchungen in Kenia. Er ging dorthin, wo noch nie jemand Schuhe getragen hat. Er und seine Mitarbeiter filmten diese Menschen beim Laufen und verglichen die Untersuchungsergebnisse mit den Schuhläufern aus den USA. Dabei stellten sie fest, dass die Läufer, die Schuhe mit dicken Polstern trugen (um den Aufprall abzuschwächen), mehr Aufprall aushalten mussten als die Kenianer, die barfuß mit dem Ballen aufkamen!
Professor Lieberman erklärte das in einem Fernsehinterview so: »Wenn wir mit der Ferse aufkommen, dann kommt ein großer Teil unseres Körpers auf einmal zu einem kompletten Stillstand. Man schlägt mit einer bestimmten Kraft auf dem Boden auf, und der Boden schlägt zurück! Leute, die barfuß laufen, landen auf dem Ballen, also genau vor dem Fußgewölbe. Dann erst kommt die Ferse nach unten. Das ist sehr viel bequemer. Der Grund dafür ist, dass dadurch ein sehr viel kleinerer Teil des Körpers zum abrupten Stillstand kommt. Seit über zwei Millionen Jahren sind die meisten Leute so gelaufen.«
Das ist nicht nur beim Laufen ganz einfach festzustellen. Auch wenn wir hochspringen – jetzt einfach so aus dem Stand –, kommen wir mit dem Ballen wieder auf. Wir kämen niemals auf die Idee, mit der Ferse zuerst zu landen. Das tut einfach zu weh.
Professor Lieberman glaubt – und da ist er nicht der Einzige –, dass wir Menschen zum Laufen geboren sind. Unser ganzer Bewegungsablauf ist darauf eingestellt. Durch unsere Haut ohne Fell können wir uns durch das Schwitzen abkühlen und deswegen lange, lange laufen. Viele Tiere kühlen sich zum Beispiel über die Zunge ab. Bei jedem Hund ist das leicht zu beobachten. Ist ihm heiß, fängt er an zu hecheln. Wenn ein Tier in den Galopp fällt, dann kann es nicht mehr hecheln. Um sich abzukühlen, muss es dann irgendwo stehen bleiben. Lieberman und viele andere mit ihm glauben, dass dies der Grund war, warum wir – noch vor der Erfindung tödlicher Waffen – in der Lage waren, sehr viel größere Tiere zu erlegen: Wir haben sie zu Tode gejagt. Eine Gruppe von Läufern stöberte die Tiere immer wieder im schattigen Gebüsch auf und zwang sie weiterzulaufen, bis deren Körper die Hitze nicht mehr regulieren konnte und sie stehen blieben und umfielen. Durch einen Hitzschlag.
Am Abend kommt mich mein Freund Stanko besuchen, und ich zeige ihm die Übung mit den Fingern in den Ohren. Er geht sowieso oft barfuß und ist beeindruckt. Aber nicht halb so beeindruckt wie ich.
Am nächsten Morgen wache ich mit einem Muskelkater auf. Mein Schienbein und mein Vorderfuß tun mir weh – da, wo die Zehen aufhören und der Rest vom Fuß beginnt. Auch meine Waden blieben von meinem veränderten Gang nicht ganz verschont. Offensichtlich benutze ich Muskelgruppen, die ich bisher weniger gebraucht habe.
Die Wish Gloves kommen zwei Tage später mit der Post und erfüllen meine Erwartungen. Außer dass man sie nicht zusammenfalten kann. Mit meinen neuen Barfußschuhen klappt der Ballengang ganz gut. Sie sind vorn schon ein bisschen zu breit für meinen Geschmack, aber daran werde ich mich gewöhnen müssen. Ich habe also jetzt drei Paar Schuhe: die Wish Gloves und meine beiden zusammenklappbaren Ballerinas. Recht viel mehr Schuhe hatte ich als Kind auch nicht. Ich bin mit Sonderangeboten aufgewachsen. Es hat mir nicht geschadet, aber meine Füße haben diese Zeiten nicht besonders genossen. Mein Vater war der Meinung, dass man erst dann neue Schuhe braucht, wenn die alten kaputt oder wirklich viel zu klein waren. Ich erinnere mich, dass ich oft eingezogene Zehen hatte.
Meine Tochter ist mit großem Garten und Holzböden aufgewachsen, und als Baby trug sie, wenn überhaupt, nur diese Söckchen mit angenähten dünnen Lederstreifen. Obwohl auch ich die süßen Schuhe für Babys und Kleinkinder ganz entzückend fand, war mir klar, dass sie eher für Fotos als fürs Gehen geeignet sind. Mittlerweile hat auch da ein Umdenken stattgefunden. Ärzte haben bestätigt, dass Füße sich nur richtig entwickeln, wenn sie sich frei bewegen können. Ihre Muskeln, Sehnen und Knochen brauchen unterschiedliche Untergründe, um ausreichend trainiert und nicht schon im zarten Wachstumsalter mit Schuhen eingeschränkt und damit verweichlicht zu werden.
Da Julias Vater und ich zu Hause barfuß gingen, war das auch für sie lange eine Selbstverständlichkeit. Bis sie Teenager wurde, und ab da gab es kein Halten mehr: Es sollten Designerschuhe her. Je höher, desto besser. Da sie sich das von ihrem Taschengeld natürlich nicht leisten konnte, wartete sie auf ihre Sonderangebote.
Vor ein paar Jahren – vom Studium mal wieder zu Hause – erzählte sie mir beiläufig beim Abendessen, dass sie ihre Zehenspitzen schon seit einer Weile nicht mehr spüre.