Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Für Jens
immer noch der beste Bauer, den ich kenne
Für Waltraud
die lange vor mir erkannt hat, dass selbst Hühner sehr liebenswert sind
Für meinen Onkel Sepp in memoriam
der viel besser schreiben konnte als ich
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96054-0
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: Eckhard Waasmann
Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell
Die Luft in dem langen Flur war stickig, das Licht schwach, fast schummrig. Ein Fenster wäre schön gewesen.
Mein Gegenüber war nicht viel größer als ich, aber aus der knienden Perspektive kam er mir doch unheimlich groß vor. In Wirklichkeit hatten mich seine schmalen Schultern überrascht, seine Hände wirkten dafür umso gröber. Er blickte auf mich herab. Ich vermied es, ihn anzusehen, aber aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass sich sein schwarzer Schopf nicht bewegte. Sein Blick war starr auf mich gerichtet. Ich spürte den harten Boden unter meinen Knien. Wie lange dauerte das jetzt schon? Mein Zeitgefühl hatte ich verloren, konnte die Dauer nur am zunehmenden Schmerz in meinen Beinen abschätzen. Eine Viertelstunde vielleicht? Mindestens ... Ich hatte vor ihm niederknien müssen, um besser hantieren zu können. Vor einer ganzen Weile schon. Langsam hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Wo war der verdammte Hoden?
Wir waren um zwei Uhr verabredet gewesen. Mein Vormittag war ruhig verlaufen, wenig Arbeit, die Mittagspause wie geplant. Genügend Ruhe, um mich auf den Termin um zwei einzustimmen. Genügend Zeit, um gegen die Nervosität anzukämpfen. Oder mich so richtig reinzusteigern. Ich hatte alle möglichen Eventualitäten durchgespielt, wieder und wieder. Bloß keine bösen Überraschungen riskieren.
Wir beide waren pünktlich erschienen. Er hatte draußen auf mich gewartet. Seine linke Hand ruhte auf dem Kopf eines großen Schäferhunds, der neben ihm saß. Die üblichen Begrüßungsfloskeln, höflich aber distanziert. Zusammen sind wir ohne weitere Worte durch eine kleine Tür ins Innere des Gebäudes gegangen. Sofort umfing mich unangenehm warme, schwül-stickige Luft, die es mir schwer machte, ruhig weiterzuatmen. Er ging mit dem Hund voraus. In einem langen Flur schienen wir angekommen zu sein. Mindestens acht oder zehn Türen gingen von dem schmalen Korridor ab – alle geschlossen. Hie und da drangen gedämpfte Geräusche hinter den Türen hervor. Mehr nicht. Es war unerträglich warm, und obwohl ich mich sorgfältig vorbereitet hatte, schlug mir das Herz plötzlich bis zum Hals. Vor einer der Türen in der Mitte blieb er stehen, bedeutete mir auf dem Flur zu warten und verschwand. Die Tür schloss sich hinter ihm. Der Hund hatte neben mir Position bezogen und lauschte mit gespitzten Ohren und leicht schief gelegtem Kopf dem Treiben hinter der Tür. Kurze Zeit später vernahm ich aufgeregtes, schrilles Quieken, ehe die Tür wieder aufging und er herauskam – mit einem kreischenden Ferkel auf dem Arm.
Das war er also – mein erster Binneneber. Ein männliches Schweinchen mit einem kleinen anatomischen Fehler: Einer, oder vielleicht auch beide Hoden waren lieber im Inneren des Bauches geblieben, anstatt schön luftig zwischen den Beinen zu baumeln. Deshalb konnte er, der Bauer, dieses Schweinchen nicht selbst kastrieren, wie sonst durchaus üblich. Und genau deshalb war jetzt mein Einsatz gefragt. Ich sollte den abtrünnigen Hoden im Bauch aufspüren und entfernen. Meine absolute Schweine-Premiere.
Seit ich in der Praxis arbeitete, hatte ich noch nie ein Schwein behandelt und schon gar nicht in einer derart delikaten Angelegenheit. Deshalb war ich jetzt doch etwas nervös. Aber nachdem ich mir schon Stunden zuvor den Ablauf des Eingriffes gebetsmühlenartig vorgesagt hatte, war ich in meinen Handgriffen einigermaßen sicher. Das Narkosemittel hatte ich schon griffbereit, und stellte damit als Erstes den ohrenbetäubenden Lärm ab, den das Ferkel verbreitete. Nicht lang, dann schwieg das Schweinchen. Welche Wohltat! Für die Operation sollte ich das Ferkel nach Anweisung meines Chefs mit dem Kopf nach unten aufhängen. Meist hatten die Bauern eine Vorrichtung für diesen Zweck in petto. Nachdem das Schweinderl also friedlich schlummerte, erkundigte ich mich, wo wir das Tier jetzt aufhängen könnten.
»Ach, des halt ich immer so fest!«, meinte der Bauer. Aha. Ja, er wird’s wohl wissen. Ich hab auch gar nicht lange widersprochen. Hätt ich aber vielleicht besser tun sollen.
Der Bauer hatte die Hinterbeine des Ferkels ergriffen und ließ es zwischen seinen Beinen mit dem Kopf nach unten hängen, die Bauchunterseite mir zugewandt. Das Schweinchen lag mit dem Rücken an den Oberschenkeln des Bauern. Und wenn man das mal anatomisch durchkalkuliert, kann man sich schnell ausrechnen, dass so ganz automatisch das Becken des Ferkels vor dem Becken des Bauern zu liegen kommt. Eine delikate Sache. Zumindest sollte man da mit dem Skalpell nicht unglücklich abrutschen. Noch dazu ist die Arbeitshöhe für den Operateur nicht sonderlich rückenfreundlich, da man, um sich an den Lenden des Schweinchens zu schaffen zu machen, eine gebückte Haltung einnehmen muss. Oder eben auf die Knie geht ...
Schon nach dem Hautschnitt ging ich also vor dem Schweinchen, respektive dem Bauern, zu Boden. Der Schäferhund setzte sich neben mich und begann mir seinen fad-süßlichen Atem von rechts ins Gesicht zu blasen. Besten Dank auch, ich hab eh schon kaum Luft gekriegt. Wieso muss es in Schweineställen auch immer so grausig warm sein?
Ich hatte mir den Zugang zum Leistenkanal mit dem Skalpell freigelegt und suchte jetzt mit dem Finger im Leistenspalt nach dem Hodenstrang. Ich musste mich ganz schön konzentrieren, schließlich hatte ich die Prozedur live noch nie gemacht. Neben der Operation kreisten meine Gedanken aber unablässig um ein ganz anderes Problem: Ich betete inständig, dass bitte niemand, absolut niemand, unverhofft in den Stall kommen würde. Nicht bevor ich dieser zweideutigen Stellung entronnen war. Am allerwenigsten die Frau des vor mir stehenden Bauern. Also musste ich zusehen, dass ich das hier schnell hinter mich brachte! Zu meinem großen Glück war der vermisste Hoden sehr kooperativ und ließ sich ohne große Umschweife an die Oberfläche holen. Dann band ich ihn ab und schnitt ihn schließlich ab. In dem Moment, als ich den warmen, glitschigen Hoden in den Fingern hielt, stoppte ganz unvermutet auch das feuchte Hecheln neben mir. Stattdessen tropften lange Speichelfäden aus den Lefzen des Hundes.
»Darfst’s ihm schon geben. Er wartet ja schon die ganze Zeit aufs Leckerli!«, ließ mich der Bauer wissen. Na bravo! An Guad’n dann! Mit einer ausholenden Bewegung warf ich den Hoden über den Kopf des Hundes hinweg in den trüben Flur, und sofort schoss der hinterher. Mit umständlichen Bewegungen rappelte ich mich schließlich in eine aufrecht stehende Position hoch.
»Guad is ganga!«, atmete ich in Gedanken auf.
»Dann hol i schon den nächsten«, sagte der Bauer in diesem Moment und wandte sich zum Gehen.
Wie bitte? Noch einer? Von einem Binneneber hatte mein Chef gesprochen. Das glaub ich jetzt nicht!
Also folgte wenige Minuten später der nächste Kniefall, und danach noch drei weitere.
Im Rückblick grenzt es für mich an ein Wunder, dass mich niemand in der übelsten Arbeitshaltung meiner bisherigen Karriere ertappt hatte: dicht vor dem Bauern kniend, auf Höhe seiner Lendengegend herumstochernd.
Und erzählt hab ich’s auch niemandem. Bis heute. Obwohl es mich schon interessiert hätte, ob mein Chef die Binneneber auf diesem Hof in derselben Position operiert hat.
Ich bin also glatt Tierärztin geworden, und das, obwohl es ursprünglich gar nicht mein Plan gewesen war. Ich wollte immer nur Bäuerin sein, genau wie die Mama. Der Kuhstall – das war meine Welt. Der Grundstein für diese Affinität wurde bei mir vermutlich schon pränatal gelegt, weil ich von meiner hochschwangeren Mutter zweimal täglich zum Melken mitgeschleppt wurde. Zwangsläufig. Und als Fetus im Mutterbauch kann man ja nicht ständig weghören, wenn um einen herum die Kühe muhen. Ich war auf Stallarbeit und Kühe geprägt, und das wollte ich auch nach meiner Geburt so haben. Da war ich stur. Morgens melken, abends melken: Ich musste dabei sein. Die Mama wird mich wohl des Öfteren verflucht haben. Wenn sie morgens versuchte, mich meiner Oma unterzuschieben, damit sie in Ruhe in den Stall kann, scheiterte sie regelmäßig an meinem hartnäckigen Gebrüll.
Mein Durchsetzungsvermögen in Sachen Kuh war schon damals voll entwickelt. Ich gab erst Ruhe, wenn ich in mein Sportwagerl gesetzt und in den Stall geschoben wurde. Das Sportwagerl war ein geländegängiger, gummibereifter Kinderwagen mit Kunstlederbezug, also auch noch Kuhscheiße-tauglich. Im Kuhstall »wagerlte« mich die Mama stoisch hinter den Kühen auf und ab in der vagen Hoffnung, dass ich doch wieder einschlafen würde. Diese Freude machte ich ihr aber meistens nicht. Wenn die Mama wieder zum Melken musste, wurde mein Sportwagerl schnell zwischen zwei Kälberboxen in Parkposition gebracht, von denen eine ganze Reihe hinter den Kühen aufgestellt war. So hatte sie freie Hand zum Arbeiten und mich gleichzeitig immer im Blick. Umgekehrt konnte ich aus meiner Parkperspektive die Hinterteile der Kühe in ihrer vollen Breite und Anmut studieren. So was brennt sich ein. Keine Regung des hinteren Endes einer Kuh kann einen da noch überraschen. Seit jeher gehe ich automatisch einen Schritt zurück, wenn neben mir eine Kuh den Schwanz hebt, weil mir völlig klar ist, dass Kuhscheiße mitunter weit spritzt, wenn sie pappig-weich unter dem angehobenen Schwanz der Kuh hervorquillt und mit einem Klatschen auf den Boden schlägt.
Selbst Jahre später fand ich es befremdlich, wenn sich Schulfreunde bei uns im Stall halb totgelacht haben, nur weil eine Kuh sich plötzlich aufbuckelt und mit der Wucht einer überlaufenden Dachrinne Urin absetzt. Da ist doch nichts Lustiges dran. Ganz im Gegenteil, richtig gefreut hat mich das als Kind! Geifernd saß ich in meinem Sportmobil, links und rechts an meinem Gefährt festgekrallt, und schaukelte mit aller Wucht hin und her. Nicht selten so lange, bis mein Wagerl gefährlich kippte. Um mich vor einem Absturz in die Tiefen der Kälberboxen zu bewahren, wurde mir ein Brustgeschirr angelegt, mit dem ich am Kinderwagen festgebunden wurde. Da hatten es die Kälber neben mir in ihren Strohboxen besser – die konnten sich wenigstens frei bewegen!
Als ich dem Kinderwagen entwachsen war und frei über meine Wege entscheiden konnte, wurde Melken noch viel spannender. Nach wie vor musste ich dabei sein, morgens und abends. Ich beobachtete, wie die Mama sich zwischen die Kühe zwängte, die Euter mit einem Lappen abputzte und mit der Hand ein, zwei Milchstrahlen aus jeder Zitze molk, bevor sie das Melkzeug ansetzte. Die Euterlappen lagen in einem Eimer mit warmem Wasser, der hinter den Kühen auf dem Gang stand. Mit fortschreitendem Melken wurde das Wasser im Eimer immer schmutziger und brauner. Einmal muss ich in meinem geschäftigen Treiben wohl den Eimer übersehen haben. Ich stakste ein paar Schritte rückwärts und saß plötzlich mit meinem Hintern im Eimer. Sofort saugte sich die Windel bis oben hin mit dem dreckigen Wasser voll. Eine wahrlich angemessene Taufe für eine Starmelkerin! Die Mama musste mich aus der unappetitlichen Lage befreien, weil ich es aus eigener Kraft nicht konnte. So sehr hatte sich meine Windel im Eimer vollgesaugt. Mein Ego ließ allerdings schon in diesem zarten Alter von zwei Jahren keine offene Blamage zu. Ich hatte während des Vorfalls keinen Laut von mir gegeben.
»Jetzt bist aber nass geworden!«, war Mamas trockener Kommentar.
»Naa, bin ich ned!!«, hielt ich felsenfest dagegen und schritt erhobenen Hauptes und mit tropfendem Hintern von dannen.
Je älter ich wurde, desto mehr Aufgaben im Melkablauf konnte und wollte ich übernehmen. Den Eimer mit den Euterlappen weitertragen und aufpassen, dass keine Kuh blind gemolken wird. Das heißt, dass das Melkzeug noch am Euter saugt, obwohl das Euter schon leer ist und keine Milch mehr kommt. Das ist schlecht für die Euter, und ich musste aufpassen wie ein Luchs.
Ich liebte das Melken, und ich hielt mich recht schnell für unentbehrlich. Eine rechte Gschaftlhuberin bin ich gewesen. Und deshalb war mir mit der Zeit das Delegieren und Überwachen nicht mehr Herausforderung genug. Ich wollte ran an die Kuh! Meine Eltern reagierten in dieser Hinsicht recht verhalten, schließlich kann eine 12 Zentner schwere Kuh eine Vierjährige mit gar nicht viel bösem Willen recht übel zurichten. Aber diese Bedenken scherten mich nicht. Ich beschwatzte die Mama so lange, bis ich zumindest an den zwei allerbravsten Kühen selbst Hand anlegen durfte: die Ursl und die Renke. Die beiden wurden dann natürlich schnell meine Lieblingskühe im Stall. Vor dem Melken durfte ich ihre Zitzen mit dem Euterlappen sauber reiben. Yeah, I’m a Melker!
Ich musste allerdings den Euterlappen mit beiden Händen festhalten. So elegant wie die Mama, mit nur einer Hand, konnte ich es nicht. Aber man braucht ja noch Ziele im Leben!
Wie ich schnell feststellte, war das Abwischen der Euter recht einfach, verglichen mit Schritt zwei: Die Kuh mit der Hand vormelken. Mindestens zwei Milchstrahlen aus jeder Zitze. Puh, das war zäh. So sehr ich die Zitzen auch drückte, es kam und kam keine Milch heraus. Die Mama erklärte mir die Technik des Handmelkens genau, was aber nicht viel weiterhalf. Meine Finger waren einfach zu kurz, ich konnte die Zitzen nicht komplett umfassen. So sehr ich mich damit abmühte, vorerst musste ich es beim Euterabwischen belassen. Aber weitergeübt habe ich das Handmelken doch.
Und eines Tages hat es dann endlich funktioniert, ich war mordsstolz! Zufällig kam genau an diesem meinem Glückstag mein Onkel Sepp auf den Hof. Gleich am Hoftor fing ich ihn ab und zerrte ihn in den Kuhstall. Überschwänglich berichtete ich von meinem Fortschritt. Mit stolzgeschwellter Brust demonstrierte ich ihm das Ganze an einer Kuh. Und an der nächsten auch noch. Nachdem ich vier oder fünf Kühe bearbeitet hatte, kam mein Vater dazu. Ich erwartete anerkennende Worte. Stattdessen wies er mich scharf zurecht. »Du kannst doch nicht mitten am Tag die Kühe melken!«
Ich konnte mit dem Vorwurf zunächst gar nichts anfangen. Wenn man eine Kuh abends melken kann, dann kann man das doch auch am Nachmittag? Und außerdem war von Melken gar nicht die Rede, sondern nur von VORmelken.
Aber genau da lag das Problem. Meine vorgemolkenen Kühe ließen mittlerweile allesamt die Milch in vollem Strahl laufen. Ich hatte die Euter so stimuliert, dass den Kühen die Milch eingeschossen war. Wurden sie jetzt nicht gemolken, würde die Milch erst mal weiter aus dem Euter laufen und unter der Kuh einen schönen Milchsee bilden. Legte sie sich dann später mit dem Euter in diese delikate Mischung aus Milch und Schmutzbakterien, bekam sie vielleicht sogar noch eine Entzündung im Euter. Woher sollte ich das denn wissen?
Ich vielleicht nicht, aber mein Onkel hätte genug Kuhwissen haben müssen, um mich zu bremsen. Also hat er erst mal einen ordentlichen Anpfiff von meinem Vater kassiert, was mich summa summarum schon wieder etwas weniger schlecht hat dastehen lassen. Mein Vater musste die Melkanlage anstellen und meine super-stimulierten Kühe mit der Melkmaschine ausmelken. Hängen geblieben ist mir jedenfalls das eine: Berühre niemals eine Kuh außerhalb der regulären Melkzeiten am Euter! Hab ich dann auch nicht mehr gemacht.
Über meine Gschaftlhuberei stolperte ich immer wieder. Wenn ich ehrlich bin, hat sich daran bis heute nichts geändert. Mitunter bringe ich aber auch andere Leute zum Stolpern, einmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes.
Unsere Kühe wurden im Sommer nach dem morgendlichen Melken aus dem Stall getrieben und durften tagsüber auf einer der Weiden grasen und rasten. Zur zweiten Melkzeit holten wir sie wieder in den Stall. Gar keine Frage, dass ich jedes Mal mit von der Partie sein musste, wenn die Kühe nach Hause getrieben wurden. Bewaffnet mit einem Holzstecken zog ich dann mit dem Opa oder meinem Vater los bis ans Ende der Weide, wo wir kehrtmachten und die Kühe vor uns in Richtung Stall trieben. Gemächlich trotteten die Damen zum Hof zurück, den Weg kannten sie ja. Eigentlich hätte auch einer allein die Kühe holen können, aber in der lauen Sommersonne gemütlich über die grüne Wiese stiefeln und den Duft aus Kuhfladen und Gras einsaugen – das war schon was! Und wenn doch eine Kuh unerwartet eine andere Richtung einschlug und einer von uns ihr den Weg abschneiden musste, war meine Anwesenheit sogar richtig nützlich. Geärgert hat’s mich ein bisschen, dass ich nur selten morgens beim Austreiben dabei sein konnte, denn bevor die Kühe nach draußen durften, musste ich schon im Kindergarten antreten. Aber abends freute ich mich dann umso mehr auf das Heimtreiben der Kühe.
Alle unsere Kuhweiden grenzten direkt an den Hof, bis auf eine. Die lag auf der anderen Seite der Gemeindestraße, direkt hinter unserem Stall. Viel befahren war die Straße nicht, aber auf Höhe unseres Hofes schnurgerade, so dass die Autos hier immer recht flott unterwegs waren. Sollten die Kühe auf eben diese Weide jenseits der Straße getrieben werden, spannten wir einen Draht quer zur Fahrtrichtung, so dass die Tiere auf kürzestem Weg kreuzen mussten und nicht abhauen konnten. Das Ganze musste schnell gehen, denn es gilt ja schließlich freie Fahrt für freie Bürger – zumindest auf dem Land.
Seit mehreren Tagen schon grasten die Kühe auf dieser Weide, und nachmittags war ich natürlich immer dabei, um sie in den Stall zurückzuholen. Ich wusste also genau, wie der Abtrieb vor sich ging. Zuerst zog man den Netzstecker vom Weidezaungerät, damit der Weidedraht nicht noch unter Strom stand, wenn man ihn anfasste. Das bitzelte nämlich ganz schön in der Handfläche! Und es bitzelte auch an den Nasenspitzen der Kühe, die in ihrer kurzsichtigen Neugier mit ihrer feuchten Nase allesamt schon am Draht geschnuppert hatten. Der Lerneffekt trat bei mir wie bei ihnen sofort ein: Berührungen mit dem Draht waren zu vermeiden.
War also der Strom abgeschaltet, öffneten wir die Tür zum Stall, damit die Kühe gleich flugs an ihren Platz konnten. Erst dann wurde der Draht über die Straße gespannt.
Mein Highlight waren die Wochenenden, denn da konnte ich auch morgens beim Austrieb mit dabei sein. Schon früh war ich dann im Stall und drehte ungeduldig mit meinem orangefarbenen Plastik-Tretbulldog meine Runden. Im Slalom peste ich zwischen den Silageblöcken auf dem Futtertisch hindurch, irgendwie musste ich meine Ungeduld bis zum Weideaustrieb bekämpfen. Die Mama melkte gerade die letzten Kühe, es konnte also nicht mehr lange dauern. In meiner kurzbeinigen Selbstüberschätzung beschloss ich am Samstagmorgen, schon mal alles für den Austrieb vorzubereiten. Zugegeben, ich hatte im Austreiben der Kühe nicht dieselbe Routine wie beim abendlichen Weideabtrieb, aber den Ablauf konnte man sich ja leicht denken. Zuerst musste das Weidezaungerät abgesteckt werden, das außer zum Kühetreiben immer an war, weil es auch den Zaun der Jungrinderweide mit Strom versorgte. Schwungvoll parkte ich meinen Bulldog unter dem Gerät, das an der Stallwand montiert war. Wenn ich auf die Motorhaube meines Gefährts kletterte, konnte ich den Netzstecker gerade eben mit den Fingern erreichen. Das wäre schon mal geschafft. Ich linste zu meiner Mutter, sie war noch immer mit Melken beschäftigt. Es konnte ja nicht schaden, wenn ich schon mal den Draht über die Straße spannte. Das hatte ich zwar noch nie allein gemacht, wusste aber genau, wo man die Drahtschlaufe am Straßenpfosten gegenüber einhaken musste. Noch während ich den dünnen Metalldraht quer über die Straße hinter mir herzog, freute ich mich über meine Gewieftheit. Ich war schon eine echte Hilfe für meine Eltern! Jetzt konnten die Kühe kommen. Aber noch war keine Kuh in Sicht. Im Stall trug mein Vater die letzten Melkgeschirre von den Kühen weg in die Milchkammer, und die Mama mühte sich mit zwei vollen Milchkannen ab. Dass das alles so lang dauern musste!? Ich wartete an der offenen Stalltür und trat erwartungsvoll von einem Bein aufs andere. Da endlich kam der Papa!
Er freute sich bestimmt, dass ich schon alles vorbereitet hatte! Als er auf mich zukam, merkte ich, wie er kurz innehielt. Schon im nächsten Moment hechtete er mit Riesensprüngen durch die Stalltür nach draußen. Perplex blieb ich stehen. Mein Vater war auf die Straße gerannt und kniete eben neben einer dunklen Gestalt, die bäuchlings auf dem Asphalt lag. Mit Sturzhelm. Ein paar Meter weiter lag ein Mofa auf der Straße, das Hinterrad drehte sich leise surrend. Daneben ein abgebrochener Spiegel. Was ich aber fast am schlimmsten fand: Mein sorgfältig gespannter Draht war abgerissen! Mittendurch! Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Intuitiv blieb ich im Schatten der Wand stehen, bewegte mich nicht.
Mit Hilfe meines Vaters rappelte sich der Mofafahrer langsam auf, gemeinsam wankten sie an den Straßenrand. Der Unbekannte plumpste wie ein nasser Sack ins Gras und nahm schließlich mit zittrigen Fingern den Helm ab. Ich erkannte ihn sofort: der Günther, ein junger Kerl aus dem Nachbarsdorf. Ich atmete erleichtert auf. Der Günther hält das schon aus. Und Gott sei Dank behielt ich damit recht.
Der Günther fuhr mit seiner Puch oft bei uns vorbei. Er duckte sich immer ganz weit nach unten beim Fahren und holte aus seinem Mofa raus, was ging, Gas auf Anschlag aufgedreht, zumindest rein akustisch. Dabei machte er immer einen richtigen Katzenbuckel.
Meinen Draht hatte er natürlich nicht sehen können, sondern ist mit Vollgas reingefahren und über den Lenker gesegelt. Der Papa hatte draußen vor der Stalltür etwas Langes durch die Luft fliegen sehen. Das war der Günther. Seinen Katzenbuckel hat’s ihm da jedenfalls ausgebogen.
Freilich bin ich als Übeltäter schnell entlarvt gewesen, und geschimpft worden bin ich auch für mein voreiliges Handeln, obwohl ich doch nur hatte helfen wollen! Ein bisschen ungerecht fand ich das schon. Dem Günther ist nichts Schlimmes passiert. Die Puch fuhr sogar noch, nur den Spiegel haben wir ersetzen müssen. Und den Draht haben wir auch weiterhin für die Kühe über die Straße gespannt, allerdings hat die Mama eine rote Plastikfahne hingehängt. Als Warnsignal für Mofafahrer und übermotivierte Kuhhirtinnen.
Bäuerin hätt ich werden wollen, aber am Ende bin ich doch Tierärztin geworden. Komisch eigentlich, denn im Rückblick sind meine ersten Erinnerungen an unseren Hoftierarzt eher beklemmender Art.
Als Bauer hat man immer wieder kranke Tiere im Stall, da kommt man nicht aus. Mal kann eine Kuh nicht kalben, dann hat wieder ein Kalb Durchfall oder eine Kuh Euterentzündung. Der erste Tierarzt, an den ich mich aktiv erinnere, war ein alter Mann in grauem Kittel. Eine dunkle Erscheinung mit Bart. Große, grüne Gummistiefel hatte er an, bis rauf zu den Knien. Und recht wortkarg war er, nicht gerade herzerwärmend. Und doch, oder gerade deshalb: Was er sagte und tat, hatte Gewicht. Kritik war nicht angebracht. Wenn er den Stall betrat, versammelte sich die ganze Familie. Wir Kinder mussten schön leise sein. Bei blutigen Angelegenheiten wurden wir auch gleich wieder weggeschickt.
Bei jedem Besuch lautete seine erste Anweisung: »I brauch Wasser, Haferl, Soaf!« Sofort spurtete einer los, meist der Opa oder die Oma, holte einen Eimer mit warmem Wasser, ein Litermaß und Seife. Wahrscheinlich waren sie froh, einen klaren Auftrag zu bekommen und fürs Erste beschäftigt zu sein.
Irgendwie war mir das Auftreten des Tierarztes seinerzeit unheimlich. Vor allem weil meine Eltern sich ihm so ehrfürchtig unterordneten. Aber gleichzeitig faszinierte mich die scheinbar uneingeschränkte Autorität dieser einen Person.
Mein ehrfürchtiges Bild änderte sich, als der alte Tierarzt in Rente ging und wir einen neuen »Viechdoktor« bekamen. Er war viel jünger, etwa im Alter meiner Eltern, und irgendwie viel netter. Richtig befreiend war es für mich, dass auch meine Eltern sich ungezwungen und locker mit ihm unterhielten. Und er nahm sogar uns Kinder wahr, machte einen Scherz und setzte uns als Helfer ein. Ich bewunderte ihn. Nicht zuletzt, weil ich mit meinen mittlerweile zwölf Jahren in einem Alter war, in dem man von Natur aus anfängt, Männer zu bewundern. Zu dieser Zeit reifte mein Entschluss, Tierärztin zu werden. Zum einen, weil ich damit natürlich unseren tollen Tierarzt beeindrucken wollte. Zum anderen, weil es für die meisten Leute etwas gibt, das sie sich aus ihrem Alltag schwer wegdenken mögen, seien es Computer oder Autos oder Menschen. Bei mir waren es eben die Viecher. Wenn mich jemand nach meinem Berufswunsch fragte, war die Antwort für mich selbstverständlich: »Ich will Tierärztin werden!« Die Resonanz auf diese Aussage war meist positiv, wenn auch nicht immer schmeichelhaft.
»Tierärztin willst werden! Ja da schau her!« Frau Kaltner klang erstaunt. Sie blinkte links und bog schwungvoll ab. Mir war flau im Magen. Das lag aber nur zum Teil an ihrem resoluten Fahrstil. Ich ahnte, dass sie als Gattin eines Tierarztes sich sicher gleich in langen Salven über das schwere Schicksal und die körperlich zermürbende Arbeit ihres Mannes und überhaupt aller Tierärzte ergehen würde. Dabei war ich zuerst ganz froh gewesen, dass sie mir angeboten hatte, mich von der Schule mit nach Hause zu nehmen. Die beiden letzten Stunden waren ausgefallen, und ich hätte die Zeit sonst an der Bushaltestelle absitzen müssen. Blöderweise war ihre Gesprächseröffnung, kaum dass ich im Auto saß, die klassische: »Und, weißt schon, was du mal werden willst?«
Und da musste ich ja gleich raus mit der Sprache. Ich saß verkrampft auf dem Beifahrersitz und harrte der Kommentare, die zweifellos gleich über mich hereinbrechen würden.
»Tierärztin!«, ging es los. »Ja, das könnte ich mir bei dir gut vorstellen. Das ist zwar eine schwere Arbeit, aber die Statur dazu hast du ja!«
Das saß! Seitdem gehe ich den Tierarztgattinnen lieber aus dem Weg. Zu direkt.
Den Todesstoß in Sachen Berufswunsch hat mir aber meine eigene Urgroßmutter versetzt. Es war nicht lange nach dem unerfreulichen Erlebnis mit besagter Tierarztgattin, als wir an einem Sonntag ein Familientreffen bei meiner Oma mütterlicherseits hatten. Nach dem üblichen Tortengelage am Kaffeetisch löste sich die Gesellschaft allmählich in kleinere Grüppchen auf. Ich traf in der Küche auf meine Uroma, damals Ende 80. Sie war eine leise und besonnene Frau, ich mochte sie wirklich gerne. Außerdem faszinierte mich ihr Status einer »Urgroßmutter«, das kam mir ganz besonders vor. Nicht lange, dann kamen auch wir auf die Schule und meine beruflichen Absichten zu sprechen. Mit einem gewissen Stolz teilte ich ihr meinen Berufswunsch mit. Da sie selbst Bäuerin war, dachte ich, sie würde meine Idee richtig vom Hocker hauen. Tierarzt war schließlich ein angesehener Beruf in bäuerlichen Kreisen. Speziell in der Generation 70 plus.
Die Reaktion traf mich wie ein Faustschlag: »Tierärztin? Naa, des darfst ned werden! Den Kühen die toten Kälber raustun, des is ja eine greisliche Arbeit! Des is doch keine Arbeit für eine Frau! Versprich mir, dass du des ned wirst!« Mir klappte die Kinnlade runter.
Wahrscheinlich hatte sie ja recht ... Die Argumente waren schlagkräftig. Ich wollte es nicht recht wahrhaben, aber die unverblümte Meinung meiner Uroma hatte in mir massive Zweifel geweckt. Mein felsenfester Berufswunsch geriet ordentlich ins Wanken und verschwand immer mehr in den Gezeiten meiner pubertären Launen. Irgendwann fand ich es cool, Psychologin zu werden, ein paar Wochen später stand Grundschullehrerin ganz oben auf der Liste. Danach Entwicklungshelferin oder Archäologin. Und wieder später war es superspießig, überhaupt einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Das Hier und Jetzt zählte.
»Opa, zieh mit!!« Ich schaute zu meinem Opa auf, der neben mir stand. Von unten sah seine Hakennase noch größer aus als sonst. Vielleicht trat sie auch nur deshalb so deutlich hervor, weil der Opa ganz blass im Gesicht war.
Er schüttelte den Kopf. »I kann dir ned helfen!«
Ich schluckte. Dann sammelte ich erneut meine Kräfte. Die Füße in den Gitterrost am Boden eingespreizt, zog ich an den Geburtsstricken. Die Stricke schnitten mir in die Hände, aber das merkte ich nicht mehr. Am anderen Ende spannten sie sich um die Vorderbeine des Ungeborenen. »Opa!« Ich erschrak selbst über den schrillen Ton meiner Stimme. Panik kroch in mir hoch.
»I kann dir ned helfen!«, jammerte der Opa wieder.
Ja, klar. Der Opa mit seinem steifen Bein und seinen 73 Jahren wird sich wohl kaum neben mich in die Kuhscheiße werfen und das Kalb aus der Kuh ziehen. Ich muss ja auch immer alles besser wissen – typisch! Ich könnt mir in den Arsch beißen!
Als ich heute Mittag mit dem Bus von der Schule gekommen war, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Da ging es noch nicht um Leben und Tod! Sondern erst mal um ein ordentliches Mittagessen. Der Opa hatte mich und meine beiden jüngeren Geschwister wie jeden Tag vom Schulbus abgeholt. Damit blieb uns zwar der drei Kilometer lange Fußmarsch zum Hof erspart, aber mittlerweile fand ich es recht uncool, unter den Augen der mitpubertierenden Schulbusinsassen in den rostbraunen Opel einzusteigen. Mit Automatikschaltung, weil der Opa eben ein steifes Bein hatte, mit dem er keine Kupplung hätte bedienen können. Dann krochen wir mit gefühlten 30 km/h nach Hause – auch nicht grade besser.
Im Haus flog erst der Schulranzen in die Ecke neben der großen Holztruhe im Flur und dann die Tür zur Küche auf. Was gibt’s zu essen? Anders als sonst war an jenem besagten Mittag die Küche leer. Nur der Duft von Mittagessen verriet, dass hier kürzlich noch Betrieb geherrscht hatte. Mir fiel wieder ein, dass meine Eltern heute bei einer Beerdigung waren. Wenn das kein Vorzeichen war ... Das Mittagessen war im Rohr vom Holzofen warmgestellt und schon ein bisschen eingetrocknet. Ich wollte mich gerade vor meinen Teller setzen, als der Opa von draußen reinkam. »Da kalbt eine Kalbin«, teilte er mir mit. »I glaub, i ruf den Onkel Sepp an ...«
Mein Hirn reihte sogleich einige Tatsachen auf. Eine Kalbin war am Kalben, will heißen: Erstgebärende. Und ich war abgesehen vom Opa allein auf dem Hof. Aber der zählte jetzt nicht. Also war ich jetzt nach meinem Empfinden die Chefin, die sagt, wie’s gemacht wird. Und deshalb schwoll es jetzt an, mein vermaledeites Ego. »Naa, naa, den Sepp rufen wir ned an. Jetzt schau ma erst einmal«, war mein selbstbewusster Gegenvorschlag.
Der Opa zog erstaunt die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Das bestärkte mich in der Annahme, dass er froh war, in dieser Situation die Verantwortung abzugeben. Ich hatte die Zügel in die Hand genommen. Mein sowieso nur lauwarmes Essen ließ ich auf dem Tisch stehen und marschierte mit dem Opa in Richtung Stall.
Die Kühe standen nach alter Schule Seite an Seite in einer Reihe angebunden. Vor den Tieren der Futtertrog, hinter den Kühen ein Gitterrost im Boden, durch den sämtliche Ausscheidungen der Tiere direkt in den Güllekanal fielen. Hinter dem Gitterrost entlang verlief ein Gang, bevor die Stallmauer das Gebäude abschloss.
Als ich jetzt also in den schmalen Gang hinter die Kühe trat, der Opa in meinem Windschatten, sah ich gleich, dass das vorletzte Tier in der Reihe flach auf der Seite lag, alle viere von sich gestreckt. Das musste die Kalbin sein. Den Kopf hatte sie angehoben und den Blick irgendwie ungläubig auf ihr eigenes Hinterteil gerichtet, wohl ahnend, dass das, was da kommt, keine Gaudi wird. Die Klauenspitzen des ungeborenen Kalbes waren deutlich zu sehen. Als ich näher kam, stöhnte die Kalbin gerade unter einer heftigen Wehe auf. Sie krümmte sich. Für einen Moment lugte über den Klauen des Kalbes eine rosa Nasenspitze hervor, verschwand aber mit dem Abebben der Wehe gleich wieder im Scheidenspalt.
Der Anblick der Kalbin in den Wehen beunruhigte mich zunächst gar nicht. Es war ja nicht so, dass ich zum allerersten Mal miterlebte, wie eine Kuh kalbt. Im Gegenteil, ich war schon immer gern und oft dabei, wenn mein Vater bei einer Kuh Geburtshilfe leistete. Sich erst die Hände und Arme wusch, sich dann eine ordentliche Portion Gleitschleim in die Hand drückte, um anschließend die Lage des ungeborenen Kalbes in der Kuh abzutasten. Im Normalfall werden Kälber vorwärts geboren, also Vorderbeine und Kopf zuerst. Meistens bringen die Kühe ihren Nachwuchs eigenständig zur Welt. Muss nachgeholfen werden, so bindet man um die vorderen Fesseln des ungeborenen Kalbes einen Geburtsstrick und zieht daran so lange, bis das Kalb aus der Kuh flutscht. Reichte die pure Muskelkraft nicht aus, nahm mein Vater damals oft einen Flaschenzug zur Hilfe. An der Stallwand hinter den Kühen waren zu diesem Zweck Metallringe eingemauert, die wie Kerkerringe aussahen und mir wahrscheinlich deshalb schon seit ich denken kann ein bisschen Furcht eingeflößt haben. An so einem Ring wurde dann der Flaschenzug eingehakt und das andere Ende mit den Geburtsstricken verbunden. Auf diese Weise bekommt man auf die Beine des Kalbes eine deutlich höhere Zugkraft. Gerade wenn das Kalb sehr groß ist, eine echte Arbeitserleichterung. Schon oft hatte ich das Prozedere mitverfolgt. Vielleicht den Mechanismus des Flaschenzugs nie ganz im Detail verstanden, aber der grobe Ablauf saß.
Und jetzt war hier eine gebärende Kalbin – die natürlichste Sache der Welt. Das sollte ja in Gottes Namen zu schaffen sein. Na gut, eine Erstgebärende ist vielleicht doch ein bisschen speziell. Der Geburtsweg ist eng, und manchmal sind die Kälber sehr groß und wollen nicht so recht durch das Becken der Kuh passen. Am Umfang der Klauen des Kalbes kann man ungefähr die Größe des ganzen ungeborenen Tieres abschätzen. Der Zusammenhang leuchtet ja auch ein: große Füße – großes Kalb. Damals fehlte mir dazu allerdings der nötige Blick und die Erfahrung. Dass das Kalb, das hier auf die Welt wollte, eher ein großes Kaliber war, hatte ich in der Situation ganz einfach nicht registriert.
Als ich die Kalbin vor mir in den Wehen liegen sah, fühlte ich mich der Sache durchaus gewachsen. Einfach nach Schema vorgehen, so wie ich’s kenne. Und der Opa war ja auch ein alter Hase, der wusste auch Bescheid.
Ich lief los und holte aus der Milchkammer einen Eimer mit warmem Wasser und Seife. Darin weichte ich die Geburtsstricke ein. Schon recht professionell, wie ich fand.
Im Stall stand mein Opa neben der Kalbenden und empfing mich mit einem skeptischen Blick. »Soll ich ned doch den Onkel Sepp ...?«
»Naa, jetzt schau ma halt erst mal!« Hier wurde einem aber auch wieder gar nichts zugetraut!
Ich wusch mir Hände und Unterarme, Gleitschleim drauf und kniete mich hinter die Kalbin. Ich hatte zuvor schon ein- oder zweimal in eine kalbende Kuh gefasst, die warme, schleimige Begegnung mit dem inneren Geburtsweg war mir deshalb nicht neu. Ich traute mich allerdings nicht weiter als bis zu den Handgelenken in die Kuh hineinzufühlen. Das Waschen der Unterarme war da wohl doch reichlich übertrieben gewesen. Immerhin konnte ich feststellen, dass das Kalb vorwärts aus der Kuh wollte, ich hatte den Kopf gefühlt. Aber angesichts der Tatsache, dass ich nur wenige Minuten zuvor sowieso schon die Nasenspitze des Kalbes gesehen hatte, ging die Aussagekraft dieser Erkenntnis auch eher gegen null ... Aber ich fühlte mich durch mein beherztes Vorgehen bei der Untersuchung mit einem Mal unglaublich professionell. »Also, das Kalb kommt vorwärts. Alles normal. Des kriegen wir hin!!« setzte ich den Opa in Kenntnis.
Kein Kommentar vom Opa, Widerworte waren sowieso nicht sein Stil. Ich fischte mir einen Geburtsstrick aus dem Wassereimer und fummelte ihn umständlich mit meinen glitschigen Fingern an ein Bein des Kalbes. Ein bisschen zitterten mir die Hände dabei schon. Aber jetzt keine Schwäche zeigen! Geht schon! Nur weiter! Innerlich sprach ich mir Mut zu. Der Opa reichte mir den zweiten Strick. Mit jeder Hand fasste ich einen Strick, ging hinter der Kalbin in die Hocke und fing mit aller Kraft an zu ziehen. Rumms! Mit einem gewaltigen Ruck lag ich rücklings in der Kuhscheiße.
»Pass auf!«, kam von irgendwoher Opas Stimme. Einer der Stricke war vom Bein des Kalbes abgerutscht, ich hatte gar keine Chance den Sturz abzufangen. Fluchend rappelte ich mich wieder auf. »Ja, ja, is scho recht«, murmelte ich, leicht beschämt.
Noch mal von vorn. Diesmal überprüfte ich den Sitz der Stricke genauer, bevor ich mich wieder ins Zeug legte. Ich zog, so fest ich konnte. Die Nasenspitze war wieder zu sehen, allerdings sah sie recht blau angelaufen aus. War das normal? Egal, jetzt einfach schauen, dass das Kalb rauskommt. Ich zog weiter. Voller Enthusiasmus. Ich merkte schon, dass mir der Opa was sagen wollte, aber ich wehrte ihn mit einem »geht scho, geht scho!« ab. Mit den Beinen stemmte ich mich gegen den Gitterrost und zog. Aber es war, als ob das Kalb die Handbremse angezogen hätte. Wieso ging denn jetzt nichts mehr vorwärts? Die Klauenspitzen und die Nasenspitze, weiter ging’s nicht. Verdammt! Ich stemmte mich mit den Füßen jetzt direkt gegen das Hinterteil der Kuh und zog weiter. Noch fester. Langsam wurde ich sauer, das konnte doch nicht sein! Wahnsinnig warm war’s mir auf einmal, ich merkte, wie sich Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten. Puh, jetzt ging wirklich gar nix mehr!
Da meldete sich doch der Opa zu Wort. Ich sollte nur dann ziehen, wenn die Kalbin eine Wehe hat, war sein Vorschlag. Ja gut, klang plausibel. Dann konnte ich zwischendurch immer kurz durchatmen. Hätte ich eigentlich auch selbst draufkommen können ... Vor allem meine Position hinter der liegenden Kuh war extrem unkomfortabel. Meine Beine fingen an zu zittern. Aber jetzt nur nichts anmerken lassen, konnte ja nicht mehr ewig dauern.
Und tatsächlich, mit den Wehen und meiner Zughilfe kam immer mehr vom Kalb zum Vorschein. Jetzt war schon der ganze Kopf komplett an der frischen Luft. Dem Kalb hing die Zunge aus dem Maul, und überhaupt hing der ganze Kopf total schlaff aus der Kuh heraus. Dieser Anblick schüchterte mich ein. Verhalf ich da einem toten Kalb auf die Welt? Oder war es gerade im Begriff zu sterben? Und die blaue Schnauze!
»Opa, is des normal? Dass die Schnauze ganz blau is??!« Die Frage kam ungewollt laut aus mir heraus.
»Ja, ja, des is schon normal«, meinte der Opa. »Aber lang wird er’s nicht mehr machen!«, musste er natürlich noch hinterherschieben. »Das Kalb muss jetzt raus! Du musst jetzt weiterziehen!«
Sehr witzig! Was tat ich denn gerade? Ich zog ja schon mit aller Kraft! Wie eine Irre begann ich jetzt an den Stricken zu reißen. Nix mehr mit Wehenpause beachten. Das Kalb muss raus! Je mehr ich zog, desto weniger hatte ich das Gefühl, dass sich das Kalb noch irgendwie weiter aus der Kuh bewegen wollte. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Opa, zieh mit!!« Aber der Opa konnte mir nicht weiterhelfen. An seinem Blick konnte ich den stummen Vorwurf ablesen: »Ich hab’s dir doch gleich gesagt ...« Da durchzuckte mich ein neuer Gedanke: »Ruf den Onkel Sepp an!«, befahl ich fast hysterisch.
Die Antwort kam prompt und trocken: »Der kann uns jetzt auch nicht mehr helfen!« Ich bemerkte deutlich den scharfen Unterton in Opas Stimme. Super! Ja, ganz toll! Da hatte ich einen zweiten Geistesblitz: »Wir brauchen den Flaschenzug!« Gleichzeitig wusste ich eines aber auch ganz genau: Mir war dieser Flaschenzug schon immer unheimlich. Ich hatte nie verstehen können, wie man aus dem Gewirr von Seilen ein funktionsfähiges Gerät zusammenfummelt. Den Flaschenzug einsatzfähig zu machen, würde mich ewig viel Zeit kosten. Zeit, die ich jetzt aber gerade überhaupt nicht hatte.
Der Opa schien es trotzdem für eine gute Idee zu halten und humpelte los. Ja, lasst mich ruhig allein mit dem Malheur!! Verdammt noch mal! Ich war kurz davor, weinerlich zu werden. Reiß dich zusammen, befahl ich mir. Ich zog und stemmte mich mit den Beinen gegen die Kalbin. Die Töne, die ich dabei von mir gab, hätten auch von dem entbindenden Tier selbst stammen können. Ich zog mit aller Kraft, die ich irgendwie aufbringen konnte. Da endlich rutschte das Kalb auf einmal ein gutes Stück weiter aus der Kuh. Der schlaffe, nasse Körper lag bis zum Nabel frei da. Vorderbeine, Kopf, Brustkorb, Bauch. Das Kalb regte sich nicht. Die Augen waren geschlossen, es wirkte leblos. Tot? Ich hatte es auf dem Gewissen! Eine neue Panikwelle. Mit aller Gewalt warf ich mich erneut in die Seile. Das Becken des Kalbes steckte in der Kuh fest wie einbetoniert. Ich fasste die Stricke kürzer und wickelte sie mir um die Hände. Anders konnte ich sie nicht mehr festhalten. Mich verließen die Kräfte. Da plötzlich bäumte sich die Kalbin unter einer heftigen Wehe auf. Sie presste, ich zog, mit purer Verzweiflung. Und da geschah das Wunder: das Kalb flutschte mit seinem Hinterende aus der Kalbin. Ich konnte den Ruck nicht auffangen und landete wieder mit dem Hinterteil im Kuhmist. Aber das Kalb war raus!
Mein Hirn versuchte, hinterherzukommen. Was jetzt? Da stand der Opa wieder hinter mir, gerade rechtzeitig. Sofort schnappte er sich den Wasserschlauch an der Wand, drehte das kalte Wasser auf und richtete den Wasserstrahl frontal auf den Kopf des Neugeborenen. Der kalte Guss tat seine Wirkung: Das Kalb schüttelte den Kopf und fing an, Schleim aus der Nase zu prusten. Es lebte. Mein Kalb lebte! Ich rappelte mich hoch. Wahnsinn! Ein Erdenbürger dank meiner Hilfe! Das Adrenalin in meinen Adern bugsierte mich in höhere Sphären. Ich war von der Anstrengung noch am Schnaufen, und mir zitterten Hände und Beine. Ungläubig wanderte ich um das Kalb herum, links rum, rechts rum. Ein geburtshelferischer Freudentanz, Hebammen-Sirtaki!
Was jetzt noch zu tun war, lief irgendwie automatisch ab, im Schwebemodus. Mit fiebrigen Händen zog ich das Kalb zunächst hinter der Kalbin weg und hievte das glitschige Paket mit Opas Hilfe in die Schubkarre. Damit musste ich einmal quer über den Hof schieben. Als ich in die Sonne trat und die frische Frühlingsluft tief in meine ausgelaugte Lunge sog, fühlte ich mich gleich selber wie neugeboren. Das Kalb war mittlerweile im Vollbesitz seiner Lebensgeister und versuchte, bei der Fahrt mehr als einmal aus der Karre zu springen. Immer wieder musste ich mich auf den kleinen Halbstarken werfen und ihn in die Schubkarre zurückdrücken. Als ich endlich bei den Kälberboxen ankam, war ich genauso eingeschleimt wie das Neugeborene. Alles kein Thema in meinem Höhenflug. Ich ließ das Kalb in eine frisch eingestreute Kälberbox gleiten und rubbelte es anschließend mit Stroh trocken. Wie geteert und gefedert muss ich hinterher ausgesehen haben. Anschließend holte ich die Sprühflasche mit Jod und desinfizierte noch den Nabel. Fertig!
Mein Opa hatte sich in der Zwischenzeit um die frischgebackene Mutter gekümmert, gab ihr Wasser aus dem Eimer zu saufen und animierte sie zum Aufstehen. Alles bestens! Oberbestens!
Als das Kalb versorgt war, musste ich dem Opa natürlich in meinem Triumph schon unter die Nase reiben, dass es übertrieben gewesen wäre, noch Hilfe von meinem Onkel zu holen.
Der Opa sah das anders: »I glaub, wir haben halt einfach Glück g’habt!« Ich nahm es ihm nicht weiter übel, dass er Glück und Können in diesem Fall nicht zu unterscheiden wusste. Ich war von meinem Erfolg durch und durch euphorisiert. Vergessen war das Mittagessen. Immer wieder wanderte ich zwischen Kalb und Kalbin hin und her und vergewisserte mich, dass es beiden gut ging. So verbrachte ich etliche Stunden, bis endlich meine Eltern wieder nach Hause kamen.
»Die Kalbin hat gekälbert!«, empfing ich sie, kaum dass sie aus dem Auto gestiegen waren.
Mein Vater erschrak: »Doch schon!« Und gespannt setzte er nach: »Und?« darauf hatte ich gewartet – eine Steilvorlage.
In allen Einzelheiten und den schillerndsten Farben erzählte ich von meiner Heldentat, von meiner ersten Geburt. Ich war stolz wie selten. Und mein Vater war wahrscheinlich einfach nur froh, dass die Sache so glimpflich abgegangen ist.
Diesen Tag habe ich bis heute nicht vergessen. Und auch nicht das selige Hochgefühl, mit dem ich danach durch die Gegend geschwebt bin. Denn auf einen Schlag war mir klar, wozu ich berufen bin. Und an dieser Berufung habe ich festgehalten.