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Lolitas Rache

Manfred Rainer Corr

Gesamtherstellung:

ISBN Taschenbuch       978-3-86476-014-3

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Verlag Waldkirch KG
Schützenstraße 18
68259 Mannheim
Telefon 0621-79 70 65
Fax 0621-79 50 25
E-Mail: verlag@waldkirch.de
www.verlag-waldkirch.de

© Verlag Waldkirch Mannheim, 2012

Erotischer Kriminalroman

Lolitas
Rache

Manfred Rainer Corr

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Meinen Söhnen gewidmet.
Jungs, ich bin stolz auf euch.

17

1 BACKSTAGE

2 Treibgut

3 Groupies

4 Am Ziel

5 Post factum

6 Haus am See

7 See/Not

8 Lügenlabyrinth

9 Aus, vorbei?

10 Schuldig

11 Was Recht ist …

12 … muss Recht bleiben

13 Vor Gericht

14 Lügenkind

15 Urteile

16 Lolitas Rache

17 Lolitas Ende

Epilog

Der Autor

1

BACKSTAGE

Olympiahalle München
Freitag, 13. 4. 2012

Die zeitlos schöne und dennoch immer aktuell wirkende Musik drang durch die Wände, das wummernde, prägnante Schlagzeug klang, als gäbe es kein Morgen. Lance Ortiz, der Latino-Shootingstar am Drummer-Himmel, ließ nicht den Hauch eines Zweifels daran, dass er seinen Ruf zu Recht hatte. Dann der drückende Bass und die unverkennbare elektrische Gitarre, die in den höchsten Tönen jaulte und dabei klang, als hätte der Mann, der sie spielte, gerade Sex. Jess, die eigentlich Jessica hieß, diesen Namen aber abgrundtief hasste und mit allen Menschen um sie herum einen Riesenkrach anfing, wenn sie nicht die Kurzform benutzten, wusste, da spielte kein anderer als Charly Stevens, einer der angesagtesten Tour-Gitarristen Europas und seit über einem Jahrzehnt musikalischer Sparringspartner, Freund und Wegbegleiter des Mannes, der da oben gerade die Halle rockte.

Die drei voluminösen schwarzen Backgroundsängerinnen setzten ein, dann er – er selbst: Brian Jones. Er hatte sie alle verzaubert, ganz gleich welchen Geschlechts und zu welcher Genration gehörig. Er war auch an diesem Abend wieder einmal der unangefochtene König des Pop-Zirkus gewesen, hatte mit seinen kostbaren Gaben verschwenderisch um sich geworfen, hatte seinen unvergleichlichen Charme eingesetzt, um sein Publikum zu verzaubern. Wie immer hatte Brian Jones, der „King of Style“, wie ihn die Boulevardblätter gern nannten, Männer und Frauen, Junge und Alte mit seiner unvergleichlichen Show gleichermaßen verführt.

Jess zupfte ein letztes Mal ihr kurzes, schwarzes, trägerloses und äußerst eng anliegendes, knappes schwarzes Kleid zurecht. Die junge, hochgewachsene Blondine mit den künstlichen Strähnchen betrachtete sich im Spiegel der Damentoilette: Selbst in dem grünlichen Neonlicht des weiß gekachelten, nach einer Mischung aus Parfüm und Klosteinen riechenden Raumes, das eigentlich dazu angetan war, Menschen blass und kränklich aussehen zu lassen, wirkte sie sehr attraktiv, wozu das aufreizend knappe Kleid und die schwindelerregend hohen Pumps einen nicht unwesentlichen Beitrag leisteten. Mit zufrieden blitzenden himmelblauen Augen zog sie ihre Lippen und dann den Lidstrich nach. Jess war wie immer etwas übertrieben, aber durchaus gekonnt geschminkt – die Kriegsbemalung einer Männerjägerin auf der Pirsch. Sie verstaute den blutroten Lippenstift in ihrer weißen, mit bunten Logos bedruckten gefälschten Designertasche aus Kunstleder, die ein Kenner solcher Modeaccessoires schon von Weitem als billige Kopie aus Fernost identifiziert hätte. Damit passte sie ausgezeichnet zu ihrer Trägerin, die auch etwas Billiges an sich hatte. Jess verließ die Toilette und schlenderte an den so kurz vor dem Ende des Konzerts nahezu verwaisten Bierständen der bayrischen Großbrauerei, die sich die Ausschankrechte in der Olympiahalle Jahr für Jahr ein mittleres Vermögen kosten ließ, vorbei in Richtung des hermetisch abgeriegelten Backstage-Bereichs. Mit unverhohlenem Amüsement registrierte sie die gierigen, ja geilen Blicke der Männer, die sich nach ihr umdrehten. Die meisten davon gehörten in die Kategorie, die sich selbst gern als „Herren im besten Alter“ bezeichnete. Jess wusste nur allzu genau, dass ihr aufreizender, hüftschwingender Gang, mit dem sie bei „Germanys Next Top Model“ jede Konkurrentin auf dem Laufsteg ausgestochen hätte, durchaus dazu geeignet war, der gesamten männlichen Hälfte der Weltbevölkerung die Genickstarre anzuhexen, und sie hatte keinerlei Skrupel, diese stundenlang vor dem Spiegel trainierte Waffe zu ihrem Vorteil einzusetzen.

Auf der Bühne stimmte die achtköpfige Band derweil mit gefühlvoll gezupften, zarten Mollakkorden, die Charly Stevens seiner schwarzen Ovation Adamas entlockte, den Abschlusssong des eigentlichen Konzerts an. Den eingeschworenen Brian-Jones-Fans war allerdings klar, dass noch mindestens zwei aus jeweils mehreren Stücken bestehende Zugaben folgen würden.

Brian Jones stand mit geschlossenen Augen reglos ganz vorn am Bühnenrand, weit vor der Band und dem Publikum, das an seinen Lippen hing, ganz nah. Einen Fuß lässig auf der Monitorbox zeigte er allen in der riesigen Olympiahalle, wie man auch mit Mitte vierzig und im dunklen Maßsakko mit Krawatte verdammt cool auf den berühmten Brettern, die die Welt bedeuteten, stehen konnte. Erstes Silber blitzte keck an den kurzen, akkurat rasierten Koteletten seines modischen Kurzhaarschnitts, was jedoch seinen berühmten Sex-Appeal nur noch steigerte, fand Jess. Brian Jones war fraglos das unangefochtene Zentrum dieser auf höchstem musikalischen Niveau agierenden Band aus Profis, mit denen er zum Teil schon über ein Jahrzehnt zusammenspielte, und die gesamte Olympiahalle hing an seinen Lippen.

Weit über fünfzehntausend Menschen hatten das sich nun dem unausweichlichen Ende entgegen neigende, fast dreistündige Konzert in der bis auf den letzten Platz ausverkauften Arena erlebt und ihren Star von der ersten Sekunde an, ja schon während Band und Backgroundsängerinnen ohne ihn eine Art Ouvertüre gespielt hatten, enthusiastisch gefeiert. Aus London, munkelte man, war Elton John mit seiner Entourage gekommen, um aus der VIP-Loge heraus Brians Show zu sehen, in einer klassischen Theaterkulisse ohne Bestuhlung, die mit einigen wirksam eingesetzten goldenen Deko-Elementen und viel rotem Samt aus der Olympiahalle einen Musentempel des wilhelminischen Zeitalters zauberte.

In der Halle hatten sich von denen, die zur Zeit von Brians ersten musikalischen Erfolgen hip gewesen waren, bis zu den coolen, lässigen jungen Leuten von heute alle möglichen Menschen versammelt. Die halbe Belegschaft des gerade ultraangesagten Atomic Cafés in der Neuturmstraße war anwesend, und auch sonst so ziemlich jeder aus Münchens Nightlife, der wusste, wo man gesehen werden musste. Der Altersdurchschnitt mochte ungefähr bei fünfunddreißig liegen, schätzte Jess. Auf jeden Fall waren an diesem Abend mindestens zwei, in manchen Fällen gar drei Generationen von Fans erschienen. Alle hatten sich nach Kräften chic gemacht, folgten dem Beispiel ihres zeitlos eleganten Idols im schwarzseidenen taillierten Dior-Longblazer mit kleinem Stehkragen. Die mattsilbernen Knöpfe reflektierten schwach das Scheinwerferlicht. Schwarze Seven-Jeans und ein enges Hemd, das Ton in Ton mit dem doppelten GG-Logo der neuesten Gucci-Kollektion versehen war, komplettierten das Ensemble. Außer ihm standen seine fünfköpfige Begleitband, drei Background-Sängerinnen sowie ein knappes Dutzend leicht bekleideter Tänzer und Tänzerinnen auf der Bühne, die sich zum Sound seiner großen Hits in atemberaubenden Choreografien bewegten.

Jess kam an zwei schönheitschirurgisch blendend restaurierten Frauen vorbei, die am Rand der tobenden Menge standen, die eine sicher sechzig, die andere möglicherweise um die vierzig. Die beiden strahlten um die Wette. Die Ältere der beiden gefiel sich mit einer orangefarbenen, an ein explodiertes Vogelnest erinnernde Frisur und einem Outfit, das stark danach aussah, als habe Vivienne Westwood persönlich es ihr auf den etwas außer Form geratenen Leib geschneidert.

„Ältere Frauen, pah – wenn die wüssten“, dachte Jess im Vorbeigehen geringschätzig bei sich. Als 1992, fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren, Brian Jones’ erstes Album erschienen war, war sie noch gar nicht auf der Welt gewesen. Klar, Brian hätte rein vom Alter her locker ihr Vater sein können. Innerlich musste sie bei dem Gedanken lachen – das wäre was gewesen! Aber seit sie ihn mit dreizehn das erste Mal im Fernsehen gesehen hatte, wusste sie, sie musste ihn haben – und in dieser Nacht würde sie ans Ziel ihrer Träume kommen.

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Jess steuerte zielstrebig auf den Eingang zum Backstage-Bereich zu. Die Männer am Rand der Menge im vorderen Bereich der Halle, die während der letzten Akkorde von „21 st Century Robin Hood“, Brians aktueller Single, mit der er wie immer den letzten Zugabenblock eingeläutet hatte, jubelnd zum Bühnenrand gedrängt hatte, hielten inne, drehten den Kopf und starrten wie gebannt auf ihre schwindelerregend langen Beine in den High-Heels, folgten ihnen mit den Blicken aufwärts, wo sie irgendwann im vielversprechenden Halbdunkel unter dem fast schon kriminell knappen Saum ihres schwarzen Kleides verschwanden. Die junge Frau jedoch gönnte den Gaffern keinen Blick – ihre Augen waren konzentriert auf den Bühneneingang gerichtet, auf das Ziel ihrer Wünsche.

Selbstsicher schritt Jess auf den Bühneneingang zu. Davor stand ein schwarz gekleideter junger Mann, dessen T-Shirt in weißen Blockbuchstaben den Aufdruck „Security“ trug. Er war ein typischer Türsteher, muckibudengestählt, rasierter Schädel mit einem Fleshtunnel im Ohr. Sein Bizeps quoll fast aus den engen kurzen Ärmeln seines schwarzen T-Shirts, aber im Kopf dürfte er nicht allzu viel haben, mutmaßte Jess. Sie legte Mr. Security unter der Kategorie „Körperling – nichts im Hirn, aber alles in der Hose“ ab. Ein Befehlsempfänger, der mit dem Schwanz dachte. Man hatte ihm gesagt, er solle den Bühneneingang bewachen, und das tat er. Ein älterer Typ im schrillen Sakko wurde anstandslos eingelassen. Jess holte tief Luft, stöckelte die drei Stufen hinauf und begab sich in den dunklen höhlenartigen Zugang zum Backstage-Bereich.

Mr. Security sah sie kommen, sortierte sie seinerseits unter „noch mehr williges Fleisch“ ein und wandte sich dann wieder seiner aktuellen Aufgabe zu. Jess war nämlich keineswegs die Einzige, die sich nach entschieden mehr und unmittelbarerer Nähe zu ihrem Idol sehnte. Peter, wie Mr. Security tatsächlich hieß – Jess entnahm es dem Plastikanhänger mit Namens- und Fotoeindruck, den er an den Rundkragen seines T-Shirts geklemmt hatte – wies gerade eine Gruppe junger Mädchen vor dem Eingang zum Backstage-Bereich zurück. Sie schlichen enttäuscht an Jess vorbei, zurück Richtung Konzerthalle. Potenzielle Konkurrentinnen, die aber bereits in der Vorrunde ausgeschieden waren.

Gab es doch fürs Selbstbewusstsein wenig Besseres als ein paar besiegte Rivalinnen! Jess’ Blick, den sie den Mädchenzuwarf, war eine Mischung aus Hohn und Mitleid. Entschlossen trat sie auf Peter zu. Als sie zu dem Türsteher aufblickte, der sie trotz ihrer hohen Absätze um gut einen Kopf überragte, fühlte sie sich kurz an die alte Geschichte von David und Goliath erinnert, die sie vor vielen Jahren im Kindergottesdienst gehört hatte.

„Wo möchten Sie denn hin, junge Frau?“, fragte er sie barsch und im vollen Bewusstsein seiner Autoritätsposition.

Forsch antwortete ihm Jess: „In die Garderobe von Brian Jones, was denken Sie denn?“

„Bitte zeigen Sie mir Ihren Bühnenausweis“, sagte Mr. Security alias Peter gelangweilt, wohl wissend, dass sie dazu nicht in der Lage sein würde.

„Meinen Bühnenausweis?“, konterte Jess so schnippisch wie möglich. „So etwas brauche ich nicht, ich bin mit Brian Jones persönlich verabredet, er erwartet mich.“

Mr. Security grinste schief. „Na klar, und ich treffe mich nach der Show noch mit Beyoncé zum Koksen. Weißt du was, Kleine? Solche lahmen Sprüche höre ich hundertmal, wenn der Abend lang ist. Wenn du mir nicht schleunigst ein triftiges Argument nennst, warum ich dich hier rein lassen sollte, dann machst du am besten zügig einen Abgang, ehe du Ärger mit mir kriegst.“

Jess lächelte gewinnend, trat ganz nah an Mr. Security heran, murmelte: „Aber, aber, Mister Security, wer wird denn gleich so kratzbürstig sein – kommen Sie näher! Ich zeig Ihnen mal meine Eintrittskarte“ und zog mit einem Ruck das trägerlose Oberteil ihres Kleides nach unten. Ihre prallen, üppig knospenden Brüste waren unverhüllt seinem überraschten Blick ausgesetzt. Dem Glatzkopf fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er auf das weiße Fleisch starrte. Sein Mund wurde trocken, und er stammelte gleichermaßen überrascht und geschockt: „Äh … wow! Das sind zugegebenermaßen zwei Riesenargumente – darf ich mal?“ Er grinste Jess lüstern an.

„Nur anschauen, nicht anfassen“, konterte sie siegesgewiss.

Mit einem letzten enttäuschten „Wow!“ gab Mr. Security sich geschlagen. „Los, geh schon durch, ehe ich es mir anders überlege“, brummte er und hielt ihr die Tür auf.

Jess brachte ihr Outfit in Ordnung und marschierte mit einem stolzen Lächeln auf ihren Etappensieg hoch erhobenen Hauptes hinter die Bühne. Im Nacken spürte sie Peters brennenden Blick – und grinste noch breiter.

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Ein kurzer, schummriger Gang, der an einer weiteren Treppe endete, erwartete Jess hinter der Tür, die Mr. Security bewacht hatte. Sie huschte hinauf und fand sich hinter der Bühne der Münchner Olympiahalle wieder, inmitten der Kulissen. Hier war es recht dunkel, und Jess nahm sich einen kurzen Augenblick Zeit, um sich zu orientieren.

Dann ging sie entschlossen etwas weiter nach hinten und beobachtete aus einem verdeckten Winkel der rechten Bühnenseite aufmerksam ihr Idol bei seiner letzten Zugabe. Sie bemerkte erst nach dem ersten Song dieses unwiderruflich letzten Zugaben-Blocks, dass ganz in ihrer Nähe eine gut aussehende, elegant gekleidete Brünette stand, deren Kleidung deutlich die Handschrift teurer Designerlabels trug. Auch sie war ganz im Banne Brians, ihre Blicke ließen ihn nicht los. Nachdem die andere Frau ihr erst einmal aufgefallen war, konnte Jess nicht umhin, genauer hinzusehen. Sie schätzte die schlanke Frau auf Ende dreißig. Aus Home Storys in VOGUE und Instyle wusste sie, dass es sich um Brian Jones’ Ehefrau Frau Regina handelte. Sie trug eine durchsichtige, champagnerfarbene Chloé-Chiffonbluse mit tiefem Dekolleté, durch die ein violetter, sicher sündhaft teurer Spitzen-BH schimmerte. Diesen Farbton nahmen Reginas knielanger Rock und dessen breiter Gürtel ebenso auf wie ihre Strümpfe. Ihre Füße steckten in champagnerfarbenen Zehn-Zentimeter-High-Heels, echten Manolo Blahniks, wie Jess mit neiderfülltem Kennerinnenblick registrierte. Um die Schultern hatte die Frau lässig einen pinkfarbenen YSL-Blazer gelegt, und in der rechten Hand trug sie eine champagnerfarbene Clutch, an deren Verschluss die unverkennbaren vier silbernen Buchstaben des Hauses Dior baumelten.

Doch sie war nicht die einzige, die den Auftritt Brians begeistert verfolgte. Nun, da sich Jess’ Augen immer besser an das Halbdunkel hinter der Bühne gewöhnt hatten, nahm sie hinter der eleganten Brünetten einen Teenie und einen kleinen Jungen wahr. Das waren, wie Jess natürlich wusste, Lesley, Brians vierzehnjährige Tochter und sein Sohn Philipp. Mit dem langen, blonden Haar, den Glitzerjeans und dem bauchfreiem Top sah Lesley aus wie direkt den Modeseiten eines Magazins für Pubertierende aus betuchtem Hause entstiegen. Der Kleine, Brians und Reginas neunjähriger Sohn, war ein kindliches Ebenbild seines berühmten Vaters.

Jess’ Blick löste sich von Brian Jones’ Familie und wanderte zurück zur Bühne. Einem aufmerksamen Zuschauer wäre nicht entgangen, dass ihr Interesse in weit größerem Maße dem Künstler selbst als seiner Musik und der hochprofessionellen Show galt. Die junge Frau im schwarzen Stretch-Minikleid zog den King of Style mit ihren hungrigen Blicken förmlich aus.

Die Fans draußen in der Halle feierten Brian Jones euphorisch. Als der letzte Ton des allerletzten Songs verklungen war, schüttelte er am Bühnenrand ein paar Hände, beugte sich, von Ordnern abgeschirmt, nach vorn, um einige wenige Autogramme zu geben und verließ dann die Bühne. Raschen Schritts strebte er in den Backstage-Bereich, flog geradezu an der in den Kulissen stehenden Jess vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

Seine Familie empfing ihn begeistert. Er hatte noch kaum Zeit gehabt, ein paar Worte mit seiner Frau und den beiden Kindern zu wechseln, als der Mann mit dem schrillen Blazer hinzutrat, der kurz vor Jess den Backstage-Bereich betreten hatte. Als echter Fan kannte sie selbstverständlich auch ihn, gehörte er doch zum Hofstaat ihres Idols – es handelte sich um seinen langjährigen Freund und Manager Chris Schneider. Der Typ war uralt, erinnerte sich Jess, schon über sechzig. Kritisch musterte sie ihn aus ihrem Versteck heraus: mittelgroß, im Gegensatz zu seinem tadellos durchtrainierten Schützling mit kleinem Bauchansatz, hohe, faltige Stirn, zu langes Nackenhaar. Er strahlte Brian an, als er ihm mit einer Umarmung zur gerade zu Ende gegangenen Show gratulierte. In den Brian-Jones-Fanforen im Netz hieß es über Schneider, er sei immer gut gelaunt, ein unkomplizierter Typ eben. Der grelle Blazer in netzhauttötenden Farben war keine Ausnahmeerscheinung, sondern eher so etwas wie sein Markenzeichen – an diesem Abend handelte es sich um einen pinkfarbenen Zweireiher mit Silberknöpfen.

Ein heißer Stich der Eifersucht durchzuckte Jess, als sie mit ansehen musste, wie Regina ihren Mann an sich zog und Brian einen Kuss auf die Lippen drückte.

„Gratuliere, Schatz – du warst wieder mal echt super!“, lobte sie. „So einen tollen Auftritt wie heute Abend habe ich schon lange nicht mehr von dir gesehen. Ich finde, du wirst von Abend zu Abend immer besser.“

Brian entgegnete erschöpft, aber glücklich: „Danke, mein Liebling. Ich war heute auch wirklich gut drauf, die Band hat hammermäßig gespielt, und die Fans waren einfach fantastisch! Das erlebe ich auch nicht bei jedem Auftritt.“

Jetzt drängte sich auch Lesley an ihren Vater heran, küsste ihn auf die Wange und strahlte zu ihm empor. So langsam begann die Knutscherei Jess echt auf die Nerven zu gehen.

„Dad, das war eine voll geile Show“, grinste Lesley frech, „aber wirst du für das Herumhüpfen auf der Bühne nicht allmählich ein bisschen zu alt?“

Brian grinste seine Tochter liebevoll an und entgegnete: „Was heißt hier alt, mein Schatz? Das kannst du vielleicht zu Mick Jagger sagen, diesem Rock-Opa, aber ich bin doch in Topform. So gut wie im Augenblick habe ich mich noch nie gefühlt, und mit dir kleine Maus nehm ich’s noch allemal auf. Ab vierzig scheint das Leben wirklich erst so richtig anzufangen.“

„Na dann zeig mal, was du drauf hast!“

Lesley knuffte ihren Vater in die Seite, sprang hoch und versuchte, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Mit einem Lachen setzte sich Brian spielerisch zur Wehr. Natürlich warf sich Philipp, wie auf ein Stichwort, begeistert in die neckische Rauferei, und die Drei balgten lachend und kichernd durch den Backstage-Bereich. Alle, auch Regina und Schneider, die das Geschehen nur beobachteten, machten auf Jess einen ausgesprochen fröhlichen Eindruck. Familienidylle … wie sie es hasste!

Als er sich kurz darauf atemlos und unterlegen, aber glücklich auf eine der herumstehenden Couches lümmelte, grinste Philipp seine Schwester an: „Siehst du, Paps ist doch viel besser als die doofen Typen aus deinen Boy groups!“

Lesley ließ sich neben ihren Bruder auf die Couch fallen, versetzte ihm einen kameradschaftlichen Rippenstoß und antwortete: „Blödmann – du weißt doch genau, dass ich nur Spaß gemacht habe! Paps ist für mich sowieso der coolste Typ auf der ganzen Welt und wird es auch immer bleiben!“

Die beiden lachten, und die Erwachsenen ließen sich anstecken. Dann ergriff Chris Schneider das Wort: „Aber mal im Ernst, Brian – Regina hat recht. Du warst heute Abend einsame Spitze – auch deine Zugaben waren grandios, nur bei „Sweet Little Girl“ musst du am Ende noch mehr Herz hineinlegen. So wie du es damals in Paris gesungen hast, you know? Genauso wie dort möchte ich das morgen Abend hören. Schließlich haben wir die Olympiahalle an drei Abenden hintereinander ausverkauft, und viele Fans werden morgen sogar wieder dabei sein. Du hast also quasi eine Chance zur Wiedergutmachung.“

Brian antwortete spöttisch: „Hauptsache, du hast noch was zu meckern, Chris, dann weiß ich, dir geht es gut.“

Schneider ließ diese kleine Spitze unkommentiert, legte einen Arm um Brians und einen um Reginas Schultern, wozu er sich auf die Zehenspitzen recken musste, und sagte in die Runde: „Kommt, wir gehen runter in die Garderobe, Brian muss sich jetzt erst mal ausruhen.“

Brian hakte Regina unter, und die Fünf verließen lachend und scherzend den Backstage-Bereich. Keiner von ihnen nahm Notiz von der etwas zu aufdringlich geschminkten jungen Frau im schwarzen Schlauchkleid, die vom rotsamtenen Bühnenvorhang fast verdeckt, alles aus nächster Nähe beobachtet hatte.

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Ein Ordner – es war nicht Mr. Security – eilte herbei, um den Star des Abends und seine vier Begleiter sicher aus dem Backstage-Bereich zu eskortieren. Brian Jones betrat mit seiner Familie und seinem altgedienten Manager durch den Bühnenabgang den Flur in Richtung Garderobe. Dort wartete schon ein Mitglied von Brians Tour-Crew, um dem Star beim Umziehen zu helfen. Jess spähte der kleinen Gruppe durch die nicht ganz zugefallene Metalltür zum Flur nach.

Im Gehen zog Brian sein Jackett aus und drückte es der Garderobenassistentin in die Hand. Das Shirt darunter war durchgeschwitzt und die Muskeln seines wohlproportionierten Oberkörpers zeichneten sich deutlich ab, erotischer Stoff feuchter Frauenträume. Die junge Frau, die ein Headset auf dem Kopf trug und ansonsten in praktische schwarze Arbeitsklamotten gehüllt war, reichte ihm im Austausch ein frisch gewaschenes, weißes Handtuch, mit dem er sich im Weitereilen kurz den Kopf abfrottierte, um es sich dann lässig um den Hals zu hängen.

Jess folgte Brian, seiner Familie und seinem Manager in einigem Abstand. „Geil“, dachte sie und leckte sich unbewusst die Lippen, als sie das Muskelspiel von Brians Schultern und Oberarmen sah.

An der Metalltür zum Flur, die sie vollkommen unbehelligt erreichte – wer es bis hierher geschafft hatte, der musste in den Augen aller Beteiligten irgendwie dazugehören – blieb Jess stehen. Sie legte die Hände mit den makellos manikürten, blutrot lackierten Nägeln gegen das schwere, kühle, an einigen Stellen rostfleckige Metall und sah den Fünfen nach.

Die Gruppe verschwand um eine Ecke im Garderobentrakt.

„Bald“, dachte Jess. „Bald.“

Es war allerhöchste Zeit.

2

Treibgut

Olympiahalle München
Samstag, 14. 4. 2012

Die Minuten nach dem zweiten Münchner Konzert Brian Jones’ erschienen Jess wie ein Déjà-vu. Wie am Abend zuvor hatte sie sich mit ihrem Outfit und dem Make-up alle erdenkliche Mühe gegeben, zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die Tickets für die drei Eröffnungsshows zu Brians Europatournee in München hatte sie schon Monate zuvor bei Eventim gekauft – sie hatte sich zwar das Geld zusammenpumpen müssen, aber was bedeutete das schon? Ein Vermögen hatte sie in diese Eintrittskarten investiert, aber das war Brian ihr allemal wert.

Nun stolzierte sie auf ihren hohen schwarzen Hacken mit gespielter Überheblichkeit ein weiteres Mal auf den Garderobenbereich der Olympiahalle zu. Flüchtig ließ das junge Mädchen den Blick durch die sich allmählich leerende Halle schweifen. Glückliche, verschwitzte Gesichter, Stimmengewirr, vereinzelt sangen Menschen noch immer Brian-Jones-Hits oder lagen einander einfach in den Armen. Schon Wahnsinn … wenige schafften es, diese riesige Konzert-Location an zwei Abenden hintereinander auszuverkaufen, und Brian gedachte, noch einen dritten draufzusetzen.

Wie am Abend zuvor trat ihr ein schwarz gekleideter Ordner in den Weg. Sehr zu ihrem Missfallen war es nicht der junge Mann, den sie gestern mit ihren beiden „schlagenden Argumenten“ so gründlich aus dem Konzept gebracht hatte, dass er ihr den Durchgang gestattete. Der Kerl, der ihr dieses Mal den Weg versperrte, war deutlich älter als Peter vom Abend zuvor, hatte einen dunklen Crew Cut-Schnitt, war ebenfalls muskulös und ließ sie an Matt Damon denken, wenn der schon vierzig gewesen wäre.

Der laminierte Plastikausweis, den er an einem roten Lanyard am Gürtel trug, verriet, dass er Jim Lange hieß und verkündete zudem in großen pinkfarbenen Buchstaben „AAA“ – das stand für „Access all Areas“. Der Typ da, der aussah wie ein zufällig in die Olympiahalle gestolperter bayrischer Metzger mit Abo für die Sonnenbank, hatte also Zugang zu allen Bereichen der Halle, auch backstage. Interessant – Jess machte sich eine geistige Notiz. Mit seinen knapp hundert Kilo bei gut und gerne 1,85 Metern Körpergröße, das meiste davon Muskeln, sah der Kerl so schlecht außerdem gar nicht aus. Vielleicht konnte man den ja noch mal für irgendetwas brauchen, dachte Jess …

Der Mann vor ihr musterte sie neugierig, ganz ähnlich wie ziemlich genau vierundzwanzig Stunden zuvor sein jüngerer Kollege, jedoch mit einem Hauch von Spott und Herablassung im Blick. Dann machte er durch eine leichte Körperdrehung klar, dass er „Blondy“ nicht ohne Weiteres durchzulassen gedachte, klemmte die Daumen in den Bund seiner ausgewaschenen schwarzen Cargohose und wandte sich lässig ihr zu:

„Momentchen mal, Momentchen mal, junge Frau. Wo wollen Sie denn hin?“

Jess sah ihn an wie etwas, das sie bei einer näheren Inspektion ihrer Schuhsohle unter dieser klebend gefunden hatte. So arrogant und von oben herab wie möglich antwortete sie: „Zu Brian Jones natürlich!“

Jim blieb völlig ruhig. Mit einem kaum hörbaren amerikanischen Akzent versetzte er: „Aber natürlich – warum frage ich eigentlich? Kann ich dann bitte Ihren Backstage-Pass sehen, junge Frau? Wenn Sie, wie Sie behaupten, zu Mr. Jones’ Entourage gehören, dann wissen Sie doch sicher, dass Sie Ihren Ausweis immer sichtbar tragen müssen!“

Mit so viel distanzierter Sachlichkeit hatte Jess nicht gerechnet. Sie spürte sofort, dass ihre üblichen Tricks bei diesem Typen nicht verfangen würden. In Ermangelung einer Alternative griff sie zur ältesten Notlüge der Welt, von der sie hoffte, sie würde zusammen mit einem naiv-verführerischen Augenaufschlag ausreichen, um den schwarz gekleideten Ordner zu erweichen. Mit mädchenhaft quengelnder Stimme sagte sie freundlich: „Den habe ich verloren, aber ich muss ganz unbedingt zu Brian, Herr …“ Sie warf erneut einen Blick auf seinen Ausweis. „… Herr Lange. Er wartet sicher schon in seiner Garderobe auf mich.“

Mehr zu sich selbst als zu Jess murmelte der Ordner: „Mann, Mann, Mann, das darf ja wohl echt nicht wahr sein. Jetzt kommen die Groupies schon direkt vor die Garderobe und lügen einem die Hucke voll!“

Laut sagte Jim: „Es tut mir leid, junge Frau, Sie können hier nicht bleiben.“ Er packte sie nicht brutal, aber sehr bestimmt am nackten Oberarm. „Kommen Sie bitte mit, ich bringe Sie zum Ausgang.“

Als Jess seinen Griff abzuschütteln versuchte, packte der Metzger, wie sie den schwarz gekleideten Ordner im Geiste etikettiert hatte, fester zu. Resolut schob er sie in Richtung Ausgang.

„Ist ja schon gut“, versuchte sie es bockig ein letztes Mal, „ich habe vielleicht nicht so einen schmucken Ausweis wie du, aber du könntest ruhig ein bisschen netter zu mir sein, du Arsch!“

Ehe der Metzger darauf etwas erwidern konnte, kamen ihnen Lance Ortiz und Charly Stevens entgegen, die eben noch von einer Traube Fans am Bühnenrand umlagert gewesen waren und Autogramme gegeben hatten.

„Gibt es hier Probleme, Jim?“, fragte der Gitarrist lässig.

„Ach was, ich habe hier nur wieder mal so eine aufdringliche kleine Maus, die natürlich eine Privataudienz bei Brian persönlich hat“, höhnte der muskulöse Ordner. Jess versuchte derweil weiterhin ebenso energisch wie erfolglos, sich aus seinem eisernen Griff zu lösen. Ihre Blicke in seine Richtung waren vergiftete, eistriefende Dolche.

Lance Ortiz musterte sie von oben bis unten und zog sie dabei mit seinen Augen aus.

„Och“, grinste der Drummer dann, „rein körperlich sieht die Kleine aus, als könnte sich eine Audienz durchaus lohnen – vielleicht sogar ’ne Leibesvisitation.“

„Bloß nicht“, mischte sich der breitschultrige Bassist Lars Offermann ein, der gerade zu der kleinen Gruppe stieß, „sie wäre nicht die erste, die versucht, Brian zu stalken.“

„Bevor ich dich oder den Saitenquäler da auch nur mit der Beißzange anfassen würde, friert die Hölle zu“, schleuderte Jess Lance Ortiz wütend entgegen.

„Alles klar … dann zeig der kleinen Kratzbürste, wie schön es um diese Jahreszeit vor der Halle ist, Jim“, meinte der kopfschüttelnd. Wiehernd vor Lachen schlugen ihm seine beiden Bandkollegen auf die Schultern und verschwanden mit ihm zusammen im Backstage-Bereich.

Jim Lange intensivierte seinen Griff um Jess’ Oberarm und kam der Aufforderung nach.

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Villa der Familie Jones
Sonntag, 15. 4. 2012

Ein wunderschöner Frühlingsmorgen mit tiefblauem Himmel und weißen Schäfchenwolken zog über der Villa in Bogenhausen-Priel im Münchner Osten auf. Brian Jones saß in Jeans und Polohemd am Frühstückstisch im Esszimmer, das Haar von der morgendlichen Dusche noch feucht und zerzaust. Es war bedauerlicherweise noch zu kühl, um auf der Terrasse zu frühstücken, und so hatte der „King of Style“ es sich an dem geschnitzten Mahagonitisch bequem gemacht, den er vor über einem Jahrzehnt bei einem Antiquitätenhändler seines Vertrauens ausfindig gemacht hatte.

„Braucht ihr mich?“, rief er zerstreut und ohne den Kopf zu heben in die angrenzende Designerküche hinüber. Eigentlich war es eine rein rhetorische Frage, denn er war wie immer nach „Heimspielen“, wie er die Auftritte in seiner Heimatstadt spöttisch zu nennen pflegte, in die Presseberichte über das Konzert am Vorabend in der Süddeutschen und der tz vertieft und hatte nicht wirklich vor, sich an den Frühstücksvorbereitungen zu beteiligen.

„Schon gut, mein Schatz, lies nur weiter, was die Presse an Ruhm und Ehre über dich ausgießt“, antwortete seine Frau Regina dann auch erwartungsgemäß. Im Gegensatz zu ihrem Mann bot sie schon am frühen Morgen eine gepflegte Erscheinung. Sie gestattete sich keine Nachlässigkeit, zu sehr war ihr Beruf auch Teil ihrer Lebensart geworden. Sie liebte das Schöne und hatte einen untrüglichen Sinn für stilsichere Entscheidungen, sowohl bezüglich der Kleidung als auch der Einrichtung. Regina Jones stand nach wie vor bei ihrer alten Model-Agentur fest unter Vertrag und hatte trotz ihres für diese Branche „hohen Alters“ immer wieder Jobs als Cover-Model bei großen Modemagazinen. War es früher ihr Lebensinhalt gewesen, zu Modeshootings rund um die Welt zu jetten und zu den festen Größen auf den Laufstegen der großen Designer zu gehören, so hatte sie ganz bewusst eine andere Entscheidung getroffen, als sie und Brian sich ineinander verliebten und beschlossen, eine Familie zu gründen. Er war damals zwar erst am Anfang seiner Karriere gestanden, doch Regina hatte ihm den Rücken gestärkt und war mit ihm durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Dass das zulasten ihrer eigenen Karriere ging, hatte sie billigend in Kauf genommen. Die Tatsache, dass sie ihren Mann ständig mit der bisweilen sehr aufdringlichen platonischen Liebe seiner weiblichen Fans hatte teilen müssen, war für sie anfangs schwer zu ertragen gewesen. Eifersucht war ihr keineswegs fremd, und obwohl sie das nie offengezeigt hatte, war im Geheimen so manche Träne der Wut und Verzweiflung geflossen. Mittlerweile konnte sie mit diesen Situationen ganz gut umgehen, hatte sie längst gelernt, ihren Stellenwert zu sehen und stand sie diesen Schwärmereien weiblicher Fans selbstbewusst gegenüber. Sie war die Starke in ihrer Beziehung, kümmerte sich um Kinder, Haus, Lebensorganisation, kurz: einfach um alles für die Familie Wesentliche. Brian war sich darüber sehr wohl im Klaren. Er liebte sie heiß und innig und brachte ihr tiefen Respekt entgegen. Nicht zuletzt deshalb hatte es trotz der vielen Versuchungen nie eine andere Frau für ihn gegeben.

Dass Mode nach wie vor einen hohen Stellenwert hatte, ja zumindest ihr Hobby war, wurde noch an anderem deutlich. Heute, zum Beispiel, trug sie ein zweiteiliges Modell von Louis Vuitton, das ihr der LV-Designer Marc Jacobs, mit dem die Jones seit Jahren persönlich gut befreundet waren, auf den Leib geschneidert hatte. Überhaupt gehörte Regina wohl zu den besten Kundinnen der französischen Nobelmarke. Seit Beginn des Louis-Vuitton-Hypes zählte sie zu den jenem eingeschworenen handverlesenen Zirkel von Fashionliebhaberinnen, die alle Limited-Edition-Taschen, die das Label auf den Markt brachte, unaufgefordert zugeschickt bekamen. Sie sammelte Handtaschen wie andere Briefmarken. So waren von den über vierhundert Designertaschen, die in den vergangenen Jahren in ihre Besitz gelangt waren, sicher 250 von Louis Vuitton, darunter auch die seltene Tassle Speedy und einige Exemplare der neuesten Polka-Dot-Serie der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama. Zur Freude ihres Sohnes befand sich auch der Fußball mit dem bekannten Logo, den Louis Vuitton anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1998 in kleiner Serie gefertigt hatte, in dem dreißig Quadratmeter großen, begehbaren Kleiderschrank, der ausschließlich ihrer Taschensammlung diente.

Während Brian zwischen der Lektüre seine Frau beobachtete und leise lächelnd seinen Gedanken nachhing, bereitete Regina mit Unterstützung der Haushälterin Mimi gerade das Frühstück für die Familie vor. Solche gemeinsamen Mahlzeiten waren rar und wurden auch entsprechend zelebriert. Dann durfte es auch mal die ganze Fülle des Warenkorbes sein, obwohl Regina sonst sehr darauf achtete, dass achtsam mit den Nahrungsmitteln umgegangen wurde und die Familie sich abwechslungsreich und gesund ernährte. Mimi Sariakis, Reginas rechte Hand und „Allzweckwaffe“, war eine kleine, drahtige Griechin mit vollem schwarzem Haar, ohne jeglichen grauen Schimmer, und das trotz ihrer mittlerweile 65 Jahre. Mimi war schon vor Lesleys Geburt eine treue Wegbegleiterin des Ehepaars Jones und gehörte mittlerweile quasi zur Familie. Weder Lesley noch Philipp hatten Omas und Opas vermissen müssen, obwohl Brians und Reginas Eltern beide viel zu früh gestorben waren – diese Lücke füllte Mimi mit ihrer warmherzigen Fürsorge für die Jones-Sprösslinge voll und ganz aus.

Wenige Minuten später hatten die beiden Frauen ein üppiges Frühstück auf den Tisch gestellt. Feine Leckereien wie Lachs, Schinken, Pasteten, Käse, Konfitüre, wachsweich gekochten Eiern, Obst und verschiedene Brot- und Kuchensorten sowie Croissants auf silbernen Platten und Porzellantellern luden zum Zugreifen ein. Auf dem zum Tisch gehörenden Sideboard, wo Mimi die Kaffeekanne und den Tee für Regina auf Rechauds griffbereit abgestellt hatte, stand eine hohe, bunte Glasvase, die Brian und Regina auf ihrer Hochzeitsreise nach Venedig auf der in der Lagune vorgelagerten Glasbläserinsel Murano erstanden hatte. Darin prangte ein herrlicher Blumenstrauß, den Brian zur Feier des Tournee-Starts am Vorabend von seinem Management bekommen hatte, eine gewagte Kreation aus weißen und roten Rosen, betörend duftenden weißen Lilien, blau kontrastierenden Kornblumen und Palmenblättern.

Überall im Haus hingen wertvolle Gemälde. Kaum jemand wusste, dass Brian ein begeisterter Sammler moderner Kunst war und expressionistische sowie impressionistische Meisterwerke von Matisse bis Picasso sein eigen nannte. Selbst in Fachkreisen schätzte man ihn als Sachverständigen und zog ihn ab und an als Gutachter heran. Der Wert seiner Kunstgegenstände war in den zurückliegenden Jahren durch spekulatives Sammeln exorbitant gestiegen und war konkret nur seiner Versicherung bekannt. Als sie zwei Jahre nach der Hochzeit in der Villa eingezogen waren, hatte sich Regina zwar anfangs von einer angesagten Münchner Innenarchitektin unterstützen lassen, doch schon seit Jahren war sie es, die mit ihrem eigenen, unverwechselbaren Stil das Haus zu einem gemütlichen Heim machte.

Regina und Mimi schickten sich nach getaner Arbeit gerade an, sich zu Brian an den Tisch zu setzen, als die einen Spalt breit offenstehende Terrassentür plötzlich einen Schubs bekam und aufschwang. Bobby, die beigefarbige Pudel-Mischung der Familie, drückte sich schwanzwedelnd durch den Türspalt, trottete ins Zimmer und machte es sich unter dem Tisch gemütlich in der Hoffnung, von all dem lecker Duftenden einen Anteil abzubekommen. Der fünfjährige Mischling war ein echter Familienhund und aus dem Leben der Jones’ nicht mehr wegzudenken.

Regina lächelte liebevoll auf das wuschelige Tier hinunter, wandte sich zum Sideboard, nahm die weiße Porzellankanne vom Rechaud und schenkte ihrem Mann eine Tasse Kaffee ein. Brian sah kurz von der Lektüre auf, um seiner Frau einen dankbaren Blick zuzuwerfen, aber sein Blick kehrte rasch zu seiner Zeitung zurück.

„Schatz, hör mal zu, was die Süddeutsche über gestern Abend schreibt“, sagte er. „Das ist eine regelrecht euphorische Konzertkritik: Über 15.000 begeisterte Fans kamen zum ausverkauften ersten Konzert seiner Deutschlandtournee in der Münchner Olympiahalle – und er hat sie nicht enttäuscht. Brian Jones, der ‚King of Style‘, ist unbestritten auf dem Höhepunkt seines Erfolges und wird insgesamt drei Konzerte in Folge in München spielen. Nie war er besser, nie waren seine Songs gefühlvoller und nie kamen sie besser beim Publikum an.