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Alois Kothgasser
Clemens Sedmak

Jedem
Abschied
wohnt
ein Zauber
inne

Von der Kunst
des Loslassens

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Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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2012

Inhalt

Einleitung

  I. Loslassen

  1. Dinge loslassen

  2. Orte und Zeiten loslassen

  3. Gewohnheiten und Haltungen loslassen

  4. Pläne und Überzeugungen loslassen

  5. Verantwortung und Aufgaben loslassen

  6. Fähigkeiten und Gesundheit loslassen

  7. Schuld und Verbitterung loslassen

  8. Geliebte Menschen loslassen

  9. Das eigene Leben loslassen

II. Geschichten und Wege

  Petra Kuntner

  Alfred Delp

  Etty Hillesum

  Joseph Bernardin

III. Persönliche Erfahrungen

   Alois Kothgasser: Der Heimgang meiner Eltern

   Clemens Sedmak: Abschied von meinem Vater

IV. Trost, Hoffnung, Gottvertrauen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Vom Abschiednehmen

„Auf Wiedersehen“, sagen wir sehr oft und drücken damit die Hoffnung, ja in vielen Fällen auch die als selbstverständlich genommene Überzeugung aus, dass dieser Abschied nicht endgültig sein würde. Ganz anders klingt es, wenn wir „Leb wohl“ sagen. Jeden Tag verabschieden wir uns von jemandem oder von etwas – wir verabschieden uns nach einem Besuch oder einer Begegnung, wir entsorgen Müll, wir legen am Abend den Tag in Gottes Hände zurück. Abschiede sind etwas Alltägliches, fast Banales. Und doch liegt in jedem Abschied eine leise, tiefe Erinnerung, die uns sagt: „Alles Vergängliche kommt an ein Ende.“ Es mag noch so schön sein, es mag noch so fest verankert sein, es mag uns noch so selbstverständlich begleitet haben – alles Vergängliche kommt zu einem Ende. Und an diesem Ende heißt es, Abschied zu nehmen, endgültig Abschied zu nehmen.

Dieses Buch handelt vom guten Abschied, vom gelingenden Abschied. Jeder Abschied ist eine Form des Loslassens. Und jeder Abschied lädt zu einem Neuanfang ein, schafft Raum für Neues, ermöglicht eine Neuorientierung. Aus diesem Grund handelt dieses Buch von der Kunst des Loslassens. Und es spricht im Titel den Umstand an, dass sich in einem Abschied etwas Geheimnisvolles auftut, das auch den Hauch einer Verheißung hat, das Beginnende und Keimende andeutet – und in diesem Sinne einen Zauber trägt.

Der französische Arzt David Servan-Schreiber verabschiedete sich von der Welt mit einem kleinen Büchlein Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl. Er hatte zwanzig Jahre lang mit Krebs gelebt, ehe die Krankheit ihm keine Lebenschancen mehr ließ. Er war fünfzig Jahre alt und wollte den Menschen „Lebwohl!“ sagen. Er erlebte seinen Abschied von der Welt als ein Einüben, sich „in Gottes Hand“ zu wissen; er stützt sich auf Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser“); er lernt, die Hoffnung auf Heilung loszulassen und eine neue Hoffnung, die Hoffnung auf einen guten Tod, zu erwecken. Er beschreibt auch den Zauber, der in diesem Abschied liegt, in dem er Angelegenheiten ordnet, sich von Menschen verabschiedet, Verzeihung sucht. Er erlebt seine Situation, „als hätte eine sehr große Welle meinen Alltagstrott weggespült und mich auf ein tosendes Meer hinausgezogen“. Alle, die vom sicheren Ufer aus ins Meer schwimmen gegangen sind, sich von den Wellen treiben ließen, wissen um diesen Zauber, den das Meer ausübt. David Servan-Schreiber beschreibt die Freude, die im Kontakt mit lieben Menschen liegt, erzählt von den kleinen Freuden im Alltag (die Katze streicheln, einen Film anschauen, lachen). Er nennt die Demut als eine ganz wichtige Begleiterin, wenn man Abschied nehmen, wenn man loslassen, wenn man mit einer Krankheit leben muss. Auch eine tiefe Traurigkeit gehört zum Abschiednehmen, gerade wenn man Kinder zurücklassen muss, im Falle von Servan-Schreiber auch einen zweijährigen Sohn und ein halbjähriges Mädchen. Im Nachwort zu diesem Buch schreibt Émile Servan-Schreiber, der Bruder des Autors, dass David uns ein Beispiel für einen gelungenen Tod gegeben habe: „Er starb friedlich, begleitet von der Musik der ‚Playlist‘, die er für die Stunde seines Todes zusammengestellt hatte. Beim zweiten Satz von Mozarts Klavierkonzert Nummer 23, gespielt von Daniel Barenboim, glitt er auf die andere Seite.“ Auch in diesen Worten liegt ein Zauber.

Dieses Buch handelt nicht nur vom Sterben; es gibt viele Einladungen zum Loslassen; das Freiwerden von Abhängigkeiten, das Loslassen von Anhänglichkeiten, wird in der geistlichen Tradition als wichtiger Weg zur Reife beschrieben. Wir sind eingeladen, unsere Ängste und unseren Neid, unser Getriebensein und unsere engen Vorstellungen loszulassen. Ein befreiter Mensch ist ein Mensch, der gelernt hat, loszulassen und dennoch echt und tief zu lieben. Wir wollen in diesem Buch auch Geschichten von Menschen vorstellen, die einen Weg des Loslassens gelebt haben. Die Beispiele sollen auch zeigen, welche Kraft darin liegt, wenn man loslassen kann. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat in einem Manuskript einen Gewichtheber beschrieben, der unter der Last des Gewichts, das er stemmt, beinahe zusammenbricht. Wie befreiend kann es doch sein, wenn man diesem Extremsportler sagt: „Lass es los!“ Wenn wir unsere Lebenslasten stemmen, unsere Sorgen wälzen, uns immer wieder fragen „Was wäre, wenn das eintreten würde?“ – dann kann es ungeheuer befreiend sein, loszulassen. Zu eben diesem befreienden Loslassen hat Jesus uns aufgefordert: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11,28). Diese Ruhe stellt sich ein, wenn wir auf gute Weise losgelassen haben. Wenn wir Dinge „sein“ lassen können. Auch hier liegt ein Zauber des Abschieds.

Ein besonderer Zauber und eine besondere Kraft werden im guten Abschiednehmen von einem lieben Menschen den Hinterbliebenen zuteil. Der langjährige Weihbischof in der Erzdiözese Salzburg, Jakob Mayr, hat uns in seinem geistlichen Testament das hinterlassen, was den Menschen, den Priester, den Bischof Jakob Mayr zutiefst bewegte: „Auf mein Primizbild schrieb ich den Lobpreis: ‚Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist!‘ Mein Wahlspruch ‚Gott ist die Liebe‘ ist der tiefste Grund für den Lobpreis. Ich habe versucht, diesen Lobpreis durch mein Denken, Reden und Tun zu verwirklichen. Es ist oft nicht gelungen, aber trotz allen Versagens habe ich nicht aufgegeben, sondern immer wieder neu angefangen. Möge Gott dieses armselige Bemühen annehmen! Ich bitte alle um Vergebung, die diesen Lobpreis an mir nicht erkennen konnten! Ich habe in der Kirche und mit ihr gelebt, gearbeitet und auch gelitten. Sie war für mich nie wie ein bloßer Zweckverein, sondern immer ein Mysterium, weil Jesus Christus durch diese Kirche in der heutigen Zeit sein Erlösungswerk fortsetzt. Mein großes Anliegen war immer die Einheit gemäß dem Auftrag und dem Gebet Jesu (Joh 17,21). Ich bitte und beschwöre alle, die diese Zeilen hören oder lesen, bewahrt diese Einheit im Heiligen Geist zur Ehre Gottes des Vaters! Allen, mit denen ich zusammenarbeitete, denen ich begegnete und mit denen ich zu tun hatte, danke ich von Herzen und versichere ihnen: Ich schätze sie, ich habe sie gerne, ich bin ihnen dankbar. Ich konnte es nur nicht immer zeigen … Gedenket meiner im Gebet! … Möge Gott allen im Übermaß seiner Güte vergelten!“

In diesen schlichten und tiefen Worten verbirgt sich der Zauber eines guten Abschieds – wer auf gut vorbereitete Weise Abschied nimmt, kann noch Lebenslehren weitergeben, Dankbarkeit zeigen, auch darum bitten, dass ein begonnener Weg fortgesetzt werden möge. Diese Worte von Weihbischof Jakob gehen zu Herzen. Es ist gut, auf einen Abschied vorbereitet zu sein und nicht jäh aus dem Leben gerissen zu werden; es ist gut, sich auf das Loslassen, wie es der Eintritt in eine andere Lebensphase mit sich bringt, einzustellen. Wer gut Abschied nimmt, macht es den anderen Menschen leichter, Abschied zu nehmen. Wer loslassen kann, kann auch leichter losgelassen werden – weil wir diesen Menschen leichter „gehen lassen“ können. So verhält es sich mit kleineren Abschieden und mit dem endgültigen Abschied, den uns Tod und Sterben bescheren. Es fällt Eltern leichter, ihre erwachsenen Kinder loszulassen, wenn diese gerne in die weite Welt, wie es so schön heißt, hinausgehen: Es fällt berufstätigen Menschen leichter, in den Ruhestand zu treten, wenn sie etwas haben, auf das sie sich freuen können. Es fällt uns leichter, aus einem Haus auszuziehen, wenn wir gerne in die neue Wohnung übersiedeln. So durchzieht sich durch unser ganzes Leben mit seinen vielen großen und kleinen Abschieden die Einladung zum guten Loslassen.

Ein berührendes Wort des Abschieds hat uns auch Christian de Chergé, der Prior des Trappistenklosters von Tibhirine in Algerien, hinterlassen. Es ist mit 1. Dezember 1993 datiert und stammt bereits aus der Zeit, als das Leben im Dorf für die Mönche zusehends unsicher wurde. Die Mönche hatten sich aber zum Bleiben entschlossen, um weiter der Dorfgemeinschaft und dem Miteinander von Christentum und Islam zu dienen. Christian de Chergé war als junger Mann zum Militärdienst nach Algerien einberufen worden, als ihm ein muslimischer Freund das Leben rettete; dieser wurde daraufhin von radikalen Landsleuten getötet. Unter dem Eindruck dieses größten Opfers, das Leben für einen Freund hinzugeben (Joh 15,13), entschloss sich Christian de Chergé, sich in besonderer Weise für den Dialog zwischen Islam und Christentum einzusetzen. In der Nacht vom 26. zum 27. März 1996 wurden Christian de Chergé und sechs weitere Mönche aus dem Kloster Tibhirine verschleppt. Ihre verstümmelten Leichen – man hatte sie enthauptet – wurden zwei Monate später gefunden. Das Testament von Christian de Chergé mutet angesichts dessen prophetisch an. Er hatte etwas mehr als zwei Jahre vor seiner Ermordung mit aller Klarsicht und Einsicht in das Lebensrisiko eingewilligt, das der weitere Aufenthalt in Algerien mit sich bringen würde: „Wenn es mir eines Tages zustößt – und das könnte heute sein –, daß ich Opfer des Terrorismus werde, der gegenwärtig offenbar bereit ist, alle Ausländer zu verschlingen, die in Algerien leben, möchte ich meine Gemeinschaft, meine Kirche und meine Familie daran erinnern, daß mein Leben Gott und diesem Land gegeben wurde“, so heißt es am Anfang seines Testaments. „Ich habe lang genug gelebt, um zu wissen, daß ich selber ein Komplize des Bösen bin, das in dieser Welt leider die Überhand zu besitzen scheint, und auch ein Komplize dessen, der mich blind treffen könnte. Wenn der Moment kommt, würde ich mir wünschen, jenen Augenblick geistlicher Klarheit zu besitzen, der mir erlaubt, von Gott und meinen Menschheitsgeschwistern Vergebung zu erbitten und zugleich jenem von ganzem Herzen zu vergeben, der mich niedermacht.“ Er verteidigt Algerien und den Islam. Er spricht von Algerien als seiner ersten Kirche, gefüllt mit Respekt für die gläubigen Muslime. Er spricht auch schon den Mörder an: „Auch du, Freund der letzten Minute, der du nicht gewußt haben wirst, was du tatst. Ja, auch für dich wünsche ich mir dieses Dankeschön und dieses Adieu, das von dir angestrebt wird.“ Und schließt: „Möge es uns gewährt sein, uns als glückliche Schächer im Paradies wiederzufinden, so es Gott gefällt, unserem Vater von beiden. AMEN! Inschallah!“. Dieser kurze Text gilt mittlerweile als bedeutender geistlicher Text unserer Zeit.

Dieser Text erinnert uns daran, dass wir alle auf jene Gnade angewiesen sind, die dem Schächer am Kreuz zuteilwurde. Wir alle. Das Lukasevangelium erzählt uns im 23. Kapitel von dieser erlösenden Situation: Mit Jesus wurden zwei Verbrecher, zwei Kriminelle hingerichtet. Sie werden als solche bezeichnet. Einer der Verbrecher verhöhnt Jesus. Der andere weist ihn zurecht und erinnert ihn an die Gottesfurcht und sagt zu Jesus: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst“ (Lk 23,42). Und dieser Verbrecher erhält – als einziger Mensch in dieser Form – von Jesus die Heilsantwort: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lk 23,43). Dieses Wort ist kraftvoll und lebensspendend. „Heute noch!“ – keine Wartezeiten, keine Umwege, kein Zwischenstadium, kein Übergang. „Heute noch!“ „Mit mir im Paradiese“ – in Gemeinschaft mit dem Herrn, gemeinsam mit dem Herrn, in Jesu Nähe und in der Freundschaft mit Jesus. Hier haben wir die Verheißung einer Lebensgemeinschaft. Und das nennen wir „Paradies“. So verdanken wir dem überlieferten Wort des Schächers eines der schönsten Heilsworte Jesu.

Dieser Blick auf das Paradies ist stützend und heilend in schwierigen Zeiten, in Zeiten des Abschieds. Dieser Blick erinnert uns daran, dass wir von einer Hoffnung getragen werden, dass kein Abschied vom Guten endgültig ist; dieser Blick erinnert uns daran, dass wir aus einer Verheißung heraus leben. In der christlichen Tradition ist die Erinnerung an diese Verheißung auch immer Trostwort und Mahnwort gewesen: Wenn du Abschied nimmst, wisse dich getröstet durch diese Hoffnung! Wenn du lernen musst, loszulassen, fühle dich ermuntert und ermahnt, angesichts dieses letzten Horizonts, der unser Leben überspannt. Dieses Büchlein soll eine kleine Hilfe sein auf diesem befreienden Weg zum Loslassen – geschrieben von zwei Menschen, die auch Lernende sind in dieser Kunst. Wir wünschen von Segen begleitete Lektüre.

Salzburg, in der Fastenzeit 2012
Alois Kothgasser, Clemens Sedmak

I. Loslassen

Loslassen kann man nur, was man auch hält. Denken wir an ein gehobeltes Holzstück, das wir fest in der Hand halten. Wir können das Holz spüren, es begreifen, die Form, die Konsistenz, die Faserung erfahren. Wir sind uns auch unserer Hand in einer besonderen Weise bewusst. Wir spüren, wie das Holz warm wird, wie Hand und Holz, um es einmal so zu sagen, miteinander sprechen. Das Holz prägt die Hand und die Hand prägt das Holz. Wir haben einen Halt, wissen, was die Hand zu tun hat und was in der Hand liegt. Und dann lassen wir das Holzstück los. Es fällt zu Boden. Die Hand fühlt sich leer an. Es wird kälter, der Widerstand des Holzes ist nicht mehr da.

Loslassen kann man nur, was man auch hält. Loslassen kann man nur, was man gehalten hat. Es ist nicht schwer, Abschied von etwas zu nehmen, das uns wenig bedeutet hat. Es ist aber sehr schwer, das loszulassen, was uns Halt gegeben hat. Halt schenken uns Menschen, unsere Fähigkeiten und Gesundheit, aber auch Dinge und Orte, Gewohnheiten und die Verantwortungen, in denen wir leben. Loslassen ist die Kunst, Abschied zu nehmen von etwas, das hält und das wir gehalten haben. Wenn man es genauer betrachtet, bildet das eine Einheit: Das, was wir halten, hält auch uns. Die Menschen, Dinge, Orte, an denen wir hängen – sie geben uns eine Festigkeit im Leben, einen Rückhalt. Wir könnten es auch so sagen: Unser Leben wird strukturiert durch das, was uns wichtig ist, und um das sorgen wir uns auch. Und diese Sorge gibt dem, worum wir uns sorgen, eine Tiefe und eine Bedeutung. Durch das, was uns etwas bedeutet, sind wir auf besondere Weise mit dem Leben verbunden; wir bringen uns auf eine einzigartige Weise in unser Leben ein. Wir machen das Leben zu unserem Leben, zu einem Leben, das nur wir so führen können; zu einem Leben, das uns zu den besonderen Menschen macht, die wir sind. Die Sorge um das, was uns wichtig ist, gibt unserem Leben eine Richtung und auch ein Gewicht. Wenn es nichts gäbe, worum wir uns sorgen würden, wäre unser Leben einförmig und hätte keine Tiefe. Diesen Gedanken finden wir in dem Porträt, das der amerikanische Schriftsteller Paul Auster von seinem Vater gegeben hat. Auster hat nach dem Tod des Vaters einen Text verfasst mit dem vielsagenden Titel Porträt eines unsichtbaren Mannes. Darin beschreibt er seinen Vater als einen Menschen, der an nichts wirklich „hing“, den nichts wirklich „gehalten“ hat, der keinen Sinn für innere Tiefe erkennen lässt. Den Begriff, den Paul Auster zur Charakterisierung seines Vaters verwendet, ist der Begriff der „Abwesenheit“. Sein Vater war merkwürdig abwesend für die Menschen in seinem Leben und in gewisser Weise auch in seinem eigenen Leben. Auster beschreibt seinen Vater als einen Menschen, der in seinem eigenen Haus wie ein Fremder lebt, der „wie ein Tourist“ in seinem eigenen Leben war, frei war von Leidenschaften und Dingen, die ihn wirklich beschäftigten und erfüllten. Man hatte den Eindruck, als könne nichts in ihn eindringen, als hätte die Welt nichts zu bieten, was ihn interessieren würde. Die Welt prallte entsprechend an ihm ab, drang nie durch, er blieb an der Oberfläche der Dinge. Es war, als würde sich ihm sein eigenes inneres Leben entziehen. Auster beschreibt seinen Vater als einen Menschen, der keinen Zugang zu seinem Inneren hatte und diesen Zugang auch tunlichst vermied. Hier stoßen wir auf die Beschreibung eines Menschen, der zwar höflich und korrekt war, aber ohne inneres Engagement, ohne „echte Sorge“, die ihn bewegt hätte; ein Mann, der keinen Halt in der Welt gefunden hat, zwar „funktionierte“, aber nicht als besondere und unverwechselbare Persönlichkeit „gelebt“ hat. Diesem Mann fiel es nicht schwer, loszulassen, Abschied zu nehmen von seiner Ehefrau durch Scheidung, von seinem Haus durch Verkauf, von seinem Beruf durch Pensionierung – weil er Frau, Haus und Beruf nicht ernsthaft gehalten hat. Dahinter verbirgt sich natürlich eine tiefe Tragik, die Paul Auster erst nach dem Tod des Vaters zu verstehen begann: Sein Vater war als kleines Kind Zeuge eines schrecklichen Ereignisses (die Mutter tötet vor den Augen des Kindes den Vater) und dieses Ereignis hat ihn derart traumatisiert, dass er sich zurückgezogen hat von der Welt und dem, was hier Halt geben kann.

Loslassen kann man nur, was man auch hält und gehalten hat. Und das ist nun einmal eine besondere Kunst – in der rechten Weise an Menschen, an Dingen, an Orten, an Gewohnheiten zu hängen. Für Menschen, denen alles „gleich-gültig“ ist, liegt alles auf derselben Ebene, ohne Unterschied. Sie müssen zunächst einmal lernen, „zu halten“. Es ist sehr schwer, mit einem Menschen befreundet zu sein, dem alle Menschen „gleich (un-)wichtig“ sind. Freundschaft lebt gerade davon, dass wir in besonderer Weise Halt geben und dass wir in besonderer Weise gehalten werden. Freundschaft lebt davon, dass man einzigartig für den anderen und die andere ist. Manche Menschen müssen lernen, zu halten; sie müssen lernen, Bindungen einzugehen, Versprechen abzugeben.

Damit ist schon viel über das „Halten“ gesagt – einem Menschen Halt zu geben heißt, ein Versprechen abzugeben; das Versprechen, „für dich“ da zu sein, „mit dir“ auf dem Weg des Lebens zu gehen, mich „um dich“ zu sorgen. Die einflussreiche Philosophin Hannah Arendt hat in ihrem Buch Vita activa über die Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten nachgedacht. Wir leben in einer Welt, die sich stets verändert; wir leben inmitten von Menschen, die sich entwickeln und verändern; wir sind selbst Wesen, die Wandel unterworfen sind. Viele Pläne scheitern, immer wieder entstehen Missverständnisse, wir können nicht vorhersagen, wie sich Dinge entwickeln oder welche Konsequenzen unsere Handlungen im Einzelnen haben werden. Kurz, unser Leben ist von einer „Zerbrechlichkeit“ gekennzeichnet. Und weil das so ist, müssen wir einander Halt geben; dieser Halt wird durch zwei Grundakte ermöglicht, nämlich durch das Versprechen und durch das Verzeihen. Durch das Versprechen entsteht eine Bindung, die trägt; durch das Verzeihen entsteht ein Loslösen vom Gebundensein an eine unheilvolle Vergangenheit. An diesem Gedanken über die beiden menschlichen Grundhandlungen des Versprechens und des Verzeihens sehen wir auch, wie Halten und Loslassen miteinander verbunden sind. Halten und Versprechen auf der einen Seite sind angewiesen auf Loslassen und Verzeihen auf der anderen Seite. „Halten“ ist eine Form des Versprechens, eine Bindung auf die Zukunft hin, um ein Versprechen abgeben zu können, muss ich mich selbst kennen und auf festem Grund stehen; ich muss ein gewisses Vertrauen in die Welt und das Leben haben; und ich muss eine besondere Einschätzung und Wertschätzung der Person gegenüber haben, der ich etwas verspreche. Oder anders gesagt: Um ein Versprechen abgeben zu können, brauche ich „Selbstwissen“, „Lebenswissen“ und „Beziehungswissen“. Hier wirken also zwei Momente zusammen, ein Moment der Liebe, Zuneigung, besonderen Aufmerksamkeit auf der einen Seite; und ein Moment der Einsicht, Erkenntnis und des Wissens auf der anderen Seite. Damit ist wieder unterstrichen, dass Menschen, die Halt geben, selbst fest im Leben verankert sein müssen. „Sorge“ und „Klarheit“ sind die Grundpfeiler der Haltefähigkeit, Liebe und (Er-)Kenntnis.

Ein schönes und tiefes biblisches Bild für diesen Umstand finden wir im Alten Testament im Buch Tobit. Hier gibt es (Tob 6,1–4) eine kleine Szene, die das rechte Halten und Begleiten deutlich macht: Der junge Tobias geht in einem Fluss baden; da schießt ein Fisch aus dem Wasser hoch und droht ihn zu verschlingen. Am Ufer des Flusses steht der Reisebegleiter des Tobias, der Engel Rafael. Er ruft Tobias zu: „Pack den Fisch!“ Der junge Mann packt den Fisch und wirft ihn ans Ufer. Dann weist der Engel Tobias an, den Fisch aufzuschneiden, Herz, Leber und Galle herauszunehmen und aufzubewahren. Nachdem dies geschehen ist, braten sie den Fisch und essen ihn auf. Diese kurze Szene schildert eindrücklich, worum es im Haltgeben geht: Rafael steht auf festem Grund; er kennt Tobias und kann gut einschätzen, wozu Tobias fähig ist; Rafael hat Lebenserfahrung und kann die Situation und die Gefahr, die von dieser Situation ausgeht, beurteilen. Er macht keinen Schritt auf das Wasser des Flusses zu, sondern ermuntert Tobias, die Situation selbst „anzupacken“. Das Einzige, was wir Rafael tun sehen, ist der kurze Zuruf „Pack den Fisch!“. Hier sehen wir auch, wie Haltgeben mit „Klarheit“ und eigener „Festigkeit“ zu tun hat. Und nach dieser dramatischen Situation hilft Rafael Tobias in seinem Wachstum; hilft ihm auf dem Weg zu eigener Festigkeit und Stärke, indem Tobias das Wesentliche aus dieser gefährlichen Situation lernt und bewahrt (Herz, Leber und Galle sind die Wesensmomente dieser Situation und werden im Verlauf der weiteren Geschichte zu Heilmitteln, um anderen Menschen Halt zu geben) und indem sie sich die durchlebte Situation ganz zu eigen machen, „einverleiben“ (sie braten den Fisch, bereiten ihn also zu, verarbeiten ihn und essen ihn dann auf). Diese vier Verse erzählen in ganz kurzer Form Grundzüge des rechten Haltgebens: Rafael gibt Tobias Halt, indem er auf festem Grund steht, die Situation gut einschätzt, Tobias etwas zutraut und ihn in der Verarbeitung der Situation anleitet.

Die Schule des Loslassens ist zunächst eine Schule des Haltens. Halten hat mit „Versprechen“ zu tun; haltgebende Menschen sind solche, die Versprechen abgeben und Bindungen eingehen können. Loslassen kann auch befreien. Es ist befreiend, wenn man sich auf das Wesentliche konzentriert, wenn man das Unwesentliche hinter sich lassen kann. Immer wieder haben Menschen das Wagnis unternommen, Dinge loszulassen und neu anzufangen. Ein Salesianer Don Boscos in Israel hat alles weggegeben und nur das Notwendige und Nötigste behalten. Dadurch geschieht ein Bündelung des Lebens hin auf die Fragen: Was zählt eigentlich? Was brauche ich wirklich? Wenn wir auf einer Bergtour den Gipfel erreicht haben und den schweren Rucksack ablegen, dann ist dieses Loslassen befreiend – vor allem aber auch deswegen befreiend, weil wir den Rucksack wirklich und ernsthaft und lange getragen haben; entsprechend tief geht dann das Loslassen. Wieder sehen wir: Loslassen kann man nur, was man auch gehalten hat. Es sind verschiedene Formen von Halten und Loslassen, die wir unterscheiden können. Sehen wir uns einige dieser Weisen des Haltens und Loslassens an, in neun Schritten:

1. Dinge loslassen

Wir können DingeDer Trost der Dinge