
Ich, Michael Zamis
von Uwe Voehl und Peter Morlar
nach einem Handlungsexposé von Uwe Voehl
© Zaubermond Verlag 2012
© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go
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Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen.
Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. Auf einem Sabbat soll Coco zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut, und das Verhältnis zwischen ihm und der Zamis-Sippe ist fortan von Hass geprägt.
Seitdem lässt das Oberhaupt der Schwarzen Familie keine Gelegenheit aus, gegen die Zamis-Sippe zu intrigieren. Erst kürzlich schickte er den Dämon Gorgon vor, der Wien und alle seine Bewohner zu Stein erstarren ließ – und Wien komplett aus dem Gedächtnis der Menschheit löschte. Nur Coco konnte im letzten Augenblick entkommen.
Die junge Hexe flieht zunächst nach Indien, wo sie eine Einladung zu einem »Familientreffen« in der Bretagne erhält. Coco ist ratlos. Welche Familie? Sie hat jede Erinnerung an ihre Herkunft verloren ...
Neugierig folgt sie der Einladung – und entgeht nur um Haaresbreite einem erneuten Anschlag Asmodis auf ihr Leben.
In einem geheimnisvolles Labyrinth wird sie mit Teilen ihrer Erinnerungen konfrontiert. In einer Vision findet sie sich in Wien wieder und steht für einen kurzen Moment ihrer versteinerten Familie gegenüber – ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrem Bruder Georg und ihrem Onkel Enrico. Mehr denn je fühlt sie sich nun verpflichtet, etwas gegen Gorgons Fluch zu unternehmen.
Doch wie soll sie Gorgons Fluch aufheben?
Ein erster Hinweis führt sie zum Schloss Laubach in Deutschland, wo sich eine uralte Dämonenbibliothek befindet. In Tausenden Büchern ist hier die Geschichte der Schwarzen Familie verzeichnet. Auch über die Zamis-Familie gibt es Informationen. Coco stößt auf die Dämonenvita ihres Vaters, ein magisches Buch, das von einem affenartigen Wesen unter Verschluss gehalten wird. Diese Kreatur – der Bibliograf – verfasst die Lebensläufe unzähliger Dämonen für die umfangreiche Schlossbibliothek.
Coco gelingt es, das Buch an sich zu bringen und das Vertrauen des Bibliografen zu erringen. Voller Spannung vertieft sie sich in die Lektüre, von der sie sich weiteren Aufschluss über ihre Familienverhältnisse erhofft. Woher stammen die Zamis? Bisher weiß Coco nur, dass ihr Vater einst aus Russland nach Wien emigrierte und dort rasch eine herrschende Rolle innerhalb der Schwarzen Familie einnahm. Doch weshalb floh Michael Zamis aus Russland? Je länger Coco in der Zamis-Biografie liest, desto klarer wird ihr, dass die Ereignisse von damals mit ihren heutigen Problemen in Zusammenhang stehen. Auch Asmodi setzt alles daran, in den Besitz der Dämonenvita zu gelangen.
Noch ist ihm der Zugang zu Schloss Laubach durch einen Fluch, den der Bibliograf aussprach, verwehrt – doch schon bringt das Oberhaupt der Schwarzen Familie seine Schergen in Stellung, um die Festung Laubach zu stürmen ...
Die Schöne und der Bibliograf
von Peter Morlar
10. Januar 1869
»Wo zum Teufel bleiben sie nur?«
»Sie werden sicher gleich kommen, Herr.«
Jeffim Jankowitsch warf einen Blick auf seine goldene Taschenuhr und musterte vorwurfsvoll die hagere dunkelblonde Frau, die mit gesenktem Haupt hinter ihm stand. »Wann, Ljudmilla? Sie hätten schon vor Stunden wieder hier sein müssen.«
»Der Schneesturm, Herr …« Sie deutete auf das beschlagene Fenster.
»Das hilft meinem Weib auch nicht weiter!« Jankowitsch wischte – zum wievielten Mal in der letzten Stunde? – mit dem Ärmel über die Scheibe. Das Bild blieb das gleiche. Seit Tagen schon peitschte der orkanartige Wind Schnee und Eis über das Land. Rüttelte ungeduldig an Türen und offen stehenden Fensterläden. Pfiff durch sämtliche Ritzen und Fugen, die er auf Jankowitsch' Gehöft finden konnte. Die Dächer von Haupthaus und Ställen ächzten unter der Last der Schneemassen, im Gebälk knackte es verdächtig.
»Nur noch etwas Geduld, Herr. Auf den Genossen Doktor ist Verlass.« Ljudmilla schlang die Arme um ihren Körper, als ob sie fröre. »Normalerweise«, fügte sie leise hinzu.
»Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät.«
Die Magd versuchte ein Lächeln. »Euer Weib wird euch sicher einen stolzen Stammhalter gebären. Einen richtigen Jeffimowitsch.«
Es sollte wohl aufmunternd klingen.
Etwas krachte dumpf.
Jeffim Jankowitsch verdrehte die Augen und bedachte den sehnigen Mann, der mit einem Schürhaken die Holzscheite im Kamin umdrehte, mit einem zornigen Blick.
Stanislaw, der Stallknecht, hob verlegen die Schultern.
»Hast du Langeweile?«, herrschte Jankowitsch ihn an. »Dann sieh nach, wo der Doktor bleibt. Bestimmt hat er sich verlaufen.«
Er glaubte zwar selbst nicht daran, aber irgendwie musste er sein Gewissen beruhigen. Anna, sein Weib, lag in den Wehen. Wahrscheinlich war die Fruchtblase geplatzt, und die Niederkunft stand unmittelbar bevor. Schon heute Nachmittag hatte er Juri, seinen Vorarbeiter, nach dem Arzt geschickt. Weder er noch der Doktor waren bislang eingetroffen.
Jeffim wusste seine Frau bei Olga, der ebenso betagten wie beleibten Haushälterin, in guten Händen. Die rüstige Babutschka hatte selbst elf gesunden und mittlerweile erwachsenen Kindern das Leben geschenkt, aber eine Geburt als Hebamme durchzuführen, traute sie sich wahrlich nicht zu.
Jankowitsch löste den Blick vom Fenster und folgte Stanislaw, der ihm in den Hausflur vorausgeeilt war. Der Stallknecht hielt bereits eine Laterne in der Hand, die er umständlich entzündete. In den dicken Wollmantel, den er sich übergeworfen hatte, hätte er gut und gern zweimal hineingepasst. Das scharf geschnittene Gesicht mit den kantigen Zügen verschwand unter der fellbesetzten Mütze.
Stanislaw zog die Tür auf, musste sich mit dem ganzen Gewicht dagegenstemmen, als der Sturm sie aufzusprengen drohte. Der Wind heulte wie ein gequältes Tier und wirbelte Schneeflocken durch den Spalt. Sie vergingen, noch bevor sie den Boden berührt hatten.
Jankowitsch zwirbelte indes nervös die Enden seines Vollbarts, ein Gespinst aus borstigen, rostroten Haaren, das ihm bis auf die Brust fiel. Seine eng beieinanderstehenden Augen unter den buschigen Brauen flackerten unstet. »Und? Kannst du etwas erkennen?«
Stanislaw schüttelte den Kopf. »Dann sieh nach, du Tölpel! Weit können sie nicht mehr sein.«
Der Knecht duckte sich wie unter einem Peitschenhieb und zwängte sich durch den Türspalt. Mitten in der Bewegung stockte er.
»Was ist?«, zischte Jankowitsch.
»Die Tiere, sie …«
»Still!« Jeffim Jankowitsch hob den Kopf. Er schloss die Augen und lauschte konzentriert.
Tatsächlich. In den Pferdeställen rumorte es. Zwei Dutzend Hufe scharrten nervös auf dem Holzboden. Ängstliches Wiehern und Schnauben. Das Klirren von Ketten. Fast wäre es im Heulen des Windes untergegangen, im Knistern von vereistem Schnee, der gegen die Hauswand prasselte. Auch die Kühe stimmten jetzt mit ein. Sie röhrten. Tief und panisch. Dann ein dumpfer Schlag. Noch einer.
»Die Tiere drehen durch.« Jankowitsch' Stimme klang heiser. »Sie müssen irgendetwas gewittert haben.«
»Wahrscheinlich einen Wolf, der um die Ställe schleicht.«
»Der hat uns gerade noch gefehlt.«
»Gebt mir fünf Minuten, Herr.« Stanislaw verschwand im Haus. Einen Atemzug später stand er wieder neben Jankowitsch, ein altes Jagdgewehr in den Händen. Er überprüfte die Munition, nickte grimmig und entsicherte die Waffe.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, stapfte er los. Versank bis zu den Knien in der weißen Pracht. Sein Mantel wirkte wie mit Puderzucker überzogen, verschmolz beinahe mit der Umgebung. Der flackernde Schein der Laterne war das Letzte, was Jankowitsch von ihm sah, ehe auch er verlosch.
Der Landwirt wischte sich den klebrigen Schnee aus Gesicht und Haaren, huschte wieder ins Haus zurück und warf die Tür ins Schloss. Das Heulen und Prasseln riss schlagartig ab, drang nur noch gedämpft an seine Ohren.
»Verfluchtes Wolfspack.« Jankowitsch' Hände ballten sich zu Fäusten, als er an die beiden Hengste dachte, die diese Brut im letzten Monat gerissen hatte.
Das Pfeifen des Windes steigerte sich zu einem zornigen Fauchen. Irgendwo knallte ein Fensterladen. Glas splitterte.
Hätte ich nur das alte Dachfenster repariert, als Anna mich darauf hingewiesen hat.
Ein Schuss peitschte auf. Rollte über das Land.
Ein zweiter Schuss.
Und noch einer. Diesmal in kürzerem Abstand.
Stille.
Jankowitsch verzog die Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln. Eine Plage weniger.
Als noch ein vierter Schuss krachte, stutzte er. Etwas stimmte nicht. Stanislaw, für seine Treffsicherheit weit über Prokowskoje hinaus bekannt, brauchte doch sonst keine vier Schüsse, um einen Wolf zur Strecke zu bringen.
Der verdammte Schnee wird ihm wohl die Sicht geraubt haben.
Jankowitsch presste sein Ohr gegen die Tür und lauschte.
Nichts.
Der Landwirt zwang sich zur Ruhe. Stanislaw würde sicher jeden Moment zurück sein, ein zufriedenes Grinsen im Gesicht, womöglich sogar den Wolfskadaver geschultert. Seine Jagdtrophäe.
Aber er kam nicht. Wo blieb der Tölpel nur?
Wieder presste Jeffim den Kopf gegen das Holz. Weit entfernt knirschte in regelmäßigen Abständen der Schnee.
Es waren Schritte. Langsam und kraftvoll. Sie näherten sich der Hütte. Jankowitsch richtete sich auf.
Das Knirschen verstummte direkt vor der Tür.
Dann ein Wummern. Ungeduldig und fordernd.
»Ich bin ja nicht taub, du Tölpel!« Jeffim riss die Tür auf. »Wo zum Henker hast du die ganze Zeit ge…«
Die schwarz gekleidete Gestalt ließ den Arm sinken, den sie erhoben hatte, um erneut anzuklopfen. Ihre Statur füllte fast den gesamten Türrahmen aus. Jankowitsch, selbst ein Hüne von sechs Fuß Körpergröße, kam sich mit einem Mal wie ein Zwerg vor.
»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
Die Gestalt reagierte nicht. Stand nur da. Reglos. Lauernd. Wie ein sibirischer Bär kurz vor dem Angriff.
»Habt Ihr was an den Ohren, Towarischtsch?«
Der nächtliche Besucher straffte sich. Schien noch um ein paar Zoll zu wachsen.
Jeffim Jankowitsch fröstelte, woran nicht der eisige Wind, der ihm um die Ohren wehte, schuld war. Vielmehr ging die Kälte von jenem vermummten Fremden aus, der das Gesicht hinter einer schwarzen Maske versteckt hatte, in deren Sehschlitzen dunkelrote Reflexe glommen.
Der Landwirt bemerkte, dass keine einzige Schneeflocke auf dem schwarzen Mantel des unheimlichen Gastes lag, kein einziger Wassertropfen von den langen Zotteln perlte.
Wie war das möglich? Jeder, der sich seinen Weg durch den Sturm gebahnt hatte, musste vollkommen durchnässt sein. Dieser Fremde jedoch …
Jeffim erahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Instinktiv duckte er sich, doch der Schlag traf ihn mit ungeahnter Wucht, trieb ihm die Luft aus den Lungen.
Er flog durch den Flur und krachte gegen die Wand. Stechende Schmerzen zuckten durch seine Glieder. Er schrie unterdrückt auf, krümmte sich zusammen.
Energische Schritte.
Ein Schatten fiel über ihn, noch finsterer als die unbeleuchteten Ecken des Flurs. Ein Stiefelpaar verharrte vor seinem schmerzverzerrten Gesicht. Stöhnend richtete er den Blick nach oben.
Da zertrümmerte ihm der eisenbeschlagene Absatz das Nasenbein. Blut sprudelte fontänenartig aus den Nasenlöchern, während sich der beißende Schmerz bis in die letzten Windungen seines Gehirns fraß. Das Wasser schoss ihm in die Augen. Er riss den Mund zu einem Schrei auf, verschluckte sich am Blut.
Weitere Tritte in Magen, Unterleib und Genitalien brachten den Landwirt an den Rand einer Ohnmacht. Er spürte kaum mehr, dass zwei seiner Rippen brachen, ein brachialer Schlag ihm die linke Schulter zertrümmerte.
Den Schrei vernahm er wie durch Watte.
Grell und spitz.
Panische Angst wallte in Jeffim auf. Anna, seine Frau – sie war in Gefahr. Dem unbekannten Fremden hilflos ausgeliefert!
Wieder ein Schrei. Er steigerte sich zu einem schrillen Kreischen.
Nein, das war nicht Anna. Jankowitsch erkannte durch einen Schleier aus Tränen Ljudmilla, die – alarmiert durch das Gepolter – auf den Gang gestürzt war, wo sie wie zur Salzsäule erstarrt dastand, beide Hände auf den weit aufgerissenen Mund gepresst.
Mit einer Schnelligkeit, die Jeffim ihm nicht zugetraut hatte, hechtete der Fremde auf sie zu. Ein gezielter Schlag, und die Magd stürzte zu Boden wie ein schlaffer Mehlsack. Sie war nicht einmal mehr dazu gekommen, einen weiteren Schrei auszustoßen.
Jeffim kämpfte gegen den Schwindel an, die Panik, die übermächtig zu werden drohte. Er nahm die letzten Kräfte zusammen, versuchte sich aufzurappeln.
Der Fremde lachte bösartig. Im Augenwinkel sah Jeffim etwas auf sich zufliegen. Ansatzlos, kaum wahrnehmbar.
Der dumpfe Schlag erschütterte ihn bis ins Mark. Sein Kopf flog in den Nacken, krachte gegen etwas Hartes. Der Landwirt versank in einem Meer aus Schmerzen, pulsierend und heiß wie glühende Lava.
Anna!
Der Gedanke an sein Weib war das Letzte, das Jeffim durch den Kopf schoss, bevor er das Bewusstsein verlor.
»Was ist da unten los, Olga?«
Die Stimme klang schwach, beinahe wie ein Hauch. Anna Wasiljewna zog sich das feuchte, inzwischen brühwarme Stück Stoff von der erhitzten Stirn und versuchte, sich aufzusetzen.
»Nicht bewegen, Herrin.« Die alte Frau erhob sich aus dem Stuhl, auf dem sie die letzten Stunden neben dem Bett der Hochschwangeren verbracht hatte, und drückte Anna wieder zurück in die Kissen. »Ich werde nachsehen. Bitte legt Euch wieder hin.«
»Aber …«
Olga legte den Zeigefinger auf die geschürzten Lippen. Sie tauchte den Stoff in den Bottich zu ihren Füßen, in dem sich geschmolzenes Eis befand, wrang ihn aus und legte ihn auf die Stirn der Hausherrin.
Anna erschauerte. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Rasch zog sie die Decke hoch. Über ihren Bauch, in dem neues Leben heranwuchs.
Die Dielen ächzten unter Olgas Gewicht, als die füllige Greisin auf Zehenspitzen durch das Schlafzimmer schlich. Der Stoff ihrer Schürze raschelte leise.
Immer wieder verschwamm ihre korpulente Gestalt vor Annas Augen, schwankte bedrohlich. Die schwangere Frau brauchte ein paar Atemzüge, ehe sie begriff, dass nicht Olga es war, die um ihr Gleichgewicht kämpfte, sondern sie, weil ihr ein Schwindelanfall zu schaffen machte.
»Kannst du – etwas erkennen?«
Auf der Kommode neben dem Bett brannte eine einsame Kerze, deren flackernder Schein kaum ausreichte, die Umgebung aus der Dunkelheit zu reißen. Draußen auf dem Flur verströmten Petroleumlampen anheimelndes Licht. Olga, die im Türrahmen stehen geblieben war, wirkte wie ein schwarzer Scherenschnitt.
Dröhnende Schritte ertönten auf der Treppe. Ein breiter Schatten fiel in das im Halbdunkel liegende Zimmer, füllte den gesamten Türstock aus.
Olga wankte schreiend einen Schritt zurück.
Anna Wasiljewna fuhr entsetzt hoch und verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch ihren Unterleib zuckte. Zwischen ihren Beinen breitete sich eine warme, klebrige Flüssigkeit aus. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die hünenhafte, schwarz gekleidete Gestalt, dann auf Olga, die wimmernd vor ihr zurückwich.
»Wer – wer seid Ihr?« Anna versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Doch aus ihrer Kehle kam nur ein heiseres Krächzen. »Wo ist Jeffim?«
Die schwarze Gestalt drehte sich zu Olga um, die – beide Hände fest auf den wogenden Busen gepresst – an der Wand lehnte und wie Espenlaub zitterte. Ihre rosigen Pausbacken und das gewaltige Doppelkinn wabbelten wie Pudding.
»Verschwinde!« Die Stimme des Fremden duldete keinen Widerspruch.
Olga zog den Kopf zwischen die Schultern. Wie ein geprügelter Hund drückte sie sich an der Wand entlang und wischte aus dem Zimmer.
Der schwarz gekleidete Fremde richtete seinen Blick auf Anna. »Und jetzt zu dir – Süße.«
Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtiers näherte er sich der Schwangeren. Der Fellmantel raschelte, als er mit dem Stoff der Beinkleider in Berührung kam. Unter den schweren Tritten knarrte das Holz.
Anna Wasiljewna wich zurück, strampelte sich die Decke von den Füßen, rutschte Zentimeter für Zentimeter nach hinten, bis sie mit dem Rücken gegen den Bettpfosten stieß.
Sie schrie erstickt auf, schlang die Arme um ihren zitternden Körper. Von dem Fremden ging eine Kälte aus, die nicht von dieser Welt war. Anna konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals so gefroren hatte. Und doch vermochte sie nicht, den Blick von der Gestalt zu lösen. Starrte sie an. Starrte ihr ins Gesicht.
Welches Gesicht?
Eine Maske, schwärzer als die tiefste Dunkelheit, mehr war von der Physiognomie nicht zu erkennen. Einzig hinter den Sehschlitzen glomm es dunkelrot.
Anna schluckte. »Was – was wollt Ihr von mir?«
Ein raues Lachen bröckelte ihr entgegen. »Du besitzt etwas, das mir gehört.«
Die Schwangere senkte den Blick. Betrachtete ihren Bauch. Sah den Fremden wieder an. Verstand endlich und schüttelte den Kopf. »Nein! – Bitte … nein …«
»Du hast es begriffen, das erleichtert die Sache.«
»Was – was habt Ihr vor?«
»Ich möchte mir endlich meinen Sohn holen.«
»Eueren Sohn?« Annas Stimme kippte. »Ihr seid nicht der Vater meines Kindes. Jeffim Jankowitsch ist es.«
»Hast du es schon vergessen, Anna?«
»Wovon sprecht Ihr? Wer seid Ihr?«
Der Mann nahm die Fellmütze ab, griff in den Nacken und zog sich mit einem schmatzenden Geräusch die Maske vom Gesicht.
Etwas Dunkelrotes kam zum Vorschein, eine zerfurchte Fläche aus rohem Fleisch, in dem sich das Licht der Kerze spiegelte. Dort, wo sich normalerweise die Nase befindet, klaffte ein schwarzes Loch, aus dem unablässig ein gelbes Sekret sickerte. Die Augäpfel quollen weit aus den dunklen Höhlen, leuchteten weiß im Halbdunkel. Der lippenlose Mund inmitten der breiigen Masse verzerrte sich zu einem Grinsen.
»Erkennst du mich jetzt?«
Anna erwachte wie aus einer Trance, schüttelte den Kopf, als ob sie dadurch klarer denken konnte.
Ein Traum! Das alles ist nur ein schrecklicher Albtraum!
Langsam kroch die Erinnerung in ihr Bewusstsein.
April 1868. Frühling. Der erste warme Tag in jenem Jahr. Der Zufall hatte es so gewollt, dass Anna das Haus ganz für sich allein hatte. Jeffim Jankowitsch, ihr Ehemann, war zusammen mit Stanislaw ausgeritten, um einen beschädigten Zaun zu reparieren. Ihn erwartete sie erst am späten Abend wieder zurück. Olga befand sich auf der Hochzeit ihrer ältesten Tochter, während Ljudmilla schon seit Sonnenaufgang die Ställe ausmistete.
Eine unheilschwangere Stille lastete in den leeren Gängen und Zimmern, eine Stille, die an Annas Nerven zehrte. Das Singen der Vögel und das sanfte Raunen des Windes, der durch die Baumwipfel strich, waren die einzigen Geräusche, die an jenem Tag zu existieren schienen.
Anna schrubbte den Wohnzimmerboden, ein altes Volkslied vor sich hin summend. Ihr Gesicht glänzte unter einem dünnen Schweißfilm. Als sie sich aufrichtete, um ihren schmerzenden Rücken durchzubiegen, wuchs vor ihren Augen eine dunkle Gestalt in die Höhe. Die junge Frau erschrak fast zu Tode.
Der Eindringling befahl ihr aufzustehen und starrte sie beschwörend an, fixierte sie geradezu mit seinen glühenden Augen. Ein Schleier senkte sich über Annas Verstand. Widerstandslos führte sie den Fremden in ihr Schlafgemach, entledigte sich ihrer Kleidung und gab sich ihm hin.
Warum fällt mir das jetzt erst ein? Wie konnte ich so etwas nur vergessen?
Das kehlige Lachen riss sie zurück in die Gegenwart. »Wie ich sehe, hast du dich erinnert und dürftest nun wissen, wer der Vater deines Kindes ist.«
»Verschwinde«, hauchte sie.
»Warum begrüßt du mich nicht, Anna? So, wie du mich damals begrüßt hast – mit einem innigen Kuss.«
Schwang da nicht Hohn in seiner Stimme mit? Verachtung?
Obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte, schloss sie erwartungsvoll die Augen. Berührte das Gesicht, jene kalte, glitschige Masse aus blutigem Fleisch. Sie bewegte den Kopf nach vorn, reckte dem Fremden das Kinn entgegen und öffnete die Lippen.
Sein Maul mit den braunen, faulenden Zähnen presste sich auf ihren Mund. Pestilenzartiger Gestank raubte ihr den Atem. Eine schlangenartige Zunge, rau wie gegerbtes Leder, wand sich in ihren Rachen, ertastete ihre Mundhöhle.
Ekel stieg in ihr hoch. Bittere Galle, die ihr rebellierender Magen nach oben pumpte. Anna würgte, versuchte verzweifelt, sich aus der gewaltlosen Umklammerung zu lösen.
Endlich gab der Fremde sie frei.
Anna Wasiljewna drehte den Kopf und erbrach sich.
Als sie den Blick wieder auf den Fremden richtete, waren ihre Augen trüb und glasig. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Reste ihres Mageninhalts vom Kinn. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Leg dich auf den Rücken«, befahl der Mann.
Anna nickte apathisch und tat, wie ihr befohlen.
Der Fremde spreizte die Finger der rechten Hand. Die Nägel wuchsen mit rasender Geschwindigkeit und krümmten sich nach innen. Sie wurden lang wie Dolche, dünn und spitz. Die Pranke eines Raubtiers.
Der schwarz gekleidete Mann setzte den Zeigefinger unterhalb von Annas Brust an. Die schweißnasse Haut über ihrem gewölbten Bauch war zum Zerreißen gespannt.
Anna schrie auf, als sich der rasiermesserscharfe Dorn in die Haut bohrte. Blut quoll aus der Wunde, lief in schmalen Rinnsalen an den Seiten herab.
Der Fremde verstärkte den Druck, zog den Nagel kraftvoll nach unten.
Er schlitzt mich auf! Schneidet mir bei vollem Bewusstsein das Kind aus dem Leib!
Was Anna nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen für möglich gehalten hatte, wurde in den nächsten Minuten grausame Wirklichkeit.
Sie starrte auf ihre geöffnete Bauchdecke, das viele Blut – ganze Ströme von Blut –, die sich sprudelnd auf das Weiß des Bettlakens ergossen.
Sie starrte auf das kleine zuckende Bündel, das so zerbrechlich in der monströsen Klaue ihres Peinigers wirkte, starrte auf die dunkelrote, glitschige Nabelschnur, die Plazenta, auf Teile ihrer eigenen Gedärme.
Jemand schrie. Brüllte. In allergrößter Not.
Erst als der Fremde mit einem Ruck die Nabelschnur durchtrennte und das blutverschmierte Neugeborene in eine ausgefranste Decke wickelte, erst als sich die dunklen Schatten einer erlösenden Ohnmacht über ihren Verstand senkten, gewahrte Anna, dass sie es war, die da schrie.
Als Anna Wasiljewna wieder aus der Bewusstlosigkeit erwachte, war es später Nachmittag. Trübes Licht sickerte durch das vereiste Schlafzimmerfenster und tauchte den Raum in einen fahlen Schein.
Das Heulen des Windes war verstummt, der Schneesturm abgeflaut.
Anna schlug die Augen auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke.
Ich lebe! Mein Gott, ich lebe! Dieser schreckliche Albtraum … Der schwarz gekleidete Fremde … Mein Kind!
Mit einem gellenden Aufschrei fuhr sie hoch und schlug die Decke zurück. Orientierte sich. Blickte in zwei zusammengekniffene Augenpaare, die sie kritisch aus dem Halbdunkel musterten.
Jeffim Jakowitsch – und Igor Nassyrow, der Doktor!
Dem Himmel sei Dank, mein Mann ist da! Jetzt wird alles gut! Aber – sie stutzte – was ist mit seinem Gesicht passiert? Und warum trägt er den linken Arm in einer Schlinge?
Sie setzte zu einer Frage an, doch Jeffim kam ihr zuvor.
»Was ist hier passiert?«
Verwirrt sah Anna an sich herunter – und erstarrte.
Dort, wo sie die halbkugelförmige Wölbung ihres Bauches erwartet hatte, war – war – nichts! Gar nichts mehr. Nur straffes Gewebe. Flach. Keine Wölbung. Nicht einmal eine Narbe, die sie hätte davontragen müssen, wäre ihr Traum Realität gewesen.
Und das Kind? Wo ist das Kind geblieben? Ich kann doch meine Schwangerschaft – Anna schüttelte verzweifelt den Kopf, kämpfte mit den Tränen –, meine Schwangerschaft nicht geträumt haben! Nicht neun Monate lang!
»Was geht hier nur vor?«, hauchte sie tonlos.
»Gerade das möchte ich von dir wissen.« Jeffims Stimme klang kalt und distanziert. »Wer war dieser Kerl? Kennst du ihn?«
Anna presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?
»Wo ist unser Kind?«
»Jeffim – Liebling – ich … Ich weiß es nicht. Wirklich. Du musst mir glauben.«
»Ich glaube nur das, was ich sehe.«
»Jeffim …«
»Dieser Fremde hat es an sich genommen. Nur so kann es gewesen sein. Doktor Nassyrow und Juri haben ihn gerade noch davonlaufen sehen, als sie sich unserem Haus näherten. Sie schwören bei allem, was ihnen heilig ist, dass der Kerl ein kleines Bündel bei sich trug, bevor der Schneesturm ihn verschluckte.«
»Das – das kann doch nicht sein!«
Igor Nassyrow räusperte sich. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen, Anna. Was mir jedoch zu schaffen macht …« Er pickte sich die Nickelbrille mit den dicken, kreisrunden Gläsern von der Nase und massierte die dunkelroten Druckstellen, »… ist die Frage, wie er an das Kind kam. Hat er sich als Geburtshelfer betätigt?«
Geburtshelfer? Dass ich nicht lache! Metzger wäre wohl das passendere Wort. Er hat mich regelrecht geschlachtet und das Kind aus mir herausgeschnitten. – Falsch! Ich habe nur geträumt, dass er es aus mir herausgeschnitten hat, und der Traum ist plötzlich wahr geworden! – Ach, zum Teufel! Wer soll mir diesen Blödsinn abkaufen? Habe ich nun geträumt oder nicht?
Nassyrow richtete den Blick auf Annas Bauch. »Fest steht, dass der mysteriöse Fremde entweder über medizinische Kenntnisse verfügt …«
»… oder ein Hexenmeister ist«, ergänzte Jankowitsch kühl. Mit dem blutgetränkten Verband über der Nase glich sein Gesicht einer verzerrten Fratze. »Ich frage dich zum letzten Mal, Anna …«
Anna starrte auf den Boden. »Es tut mir leid, Jeffim.«
»Was tut dir leid?«, brüllte Jeffim mit überkippender Stimme.
Stockend erzählte Anna ihm alles.
Gegenwart
»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde, Coco.«
Der dumpfe Bariton hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. Noch völlig benommen von den Eindrücken, die bei der Lektüre der Dämonenvita meines Vaters auf mich eingeströmt waren, klappte ich das Buch zu und blinzelte mich zurück in die Realität.
Das schwarz behaarte Affenwesen mit Samtfrack, Spitzenhemd, seidenen Kniehosen und dem Dreispitz über den Segelohren wirkte auf mich noch immer wie ein Fremdkörper inmitten der unterirdischen Grotte, deren Wände von schwach phosphoreszierenden Pilzen und Schwämmen überwuchert waren. Dazwischen klafften mit Papierstapeln gefüllte Nischen, beinahe noch schwärzer als die wellenlose Oberfläche des Sees, an dessen Ufer ich mich auf einem Felsen niedergelassen hatte.
»Schon fertig mit der Arbeit?« Ich legte das Buch behutsam beiseite und warf einen Blick auf den festgetauten Nachen, in dem ich den Affen in seiner Funktion als Bibliograf zum ersten Mal gesehen hatte, fein säuberlich das notierend, was ihm die Seelen unzähliger verstorbener Literaten auf telepathischem Wege diktierten.
»Für heute habe ich mein Soll erfüllt.« Er verstaute seine Schreibutensilien unter einem breiten Gürtel. »Gelüstet es dich noch nicht nach einer Mahlzeit?«
»Wie spät ist es denn?«
»Zu früh, um in Morpheus' Armen zu versinken, aber für ein Abendessen spät genug.«
Abendessen? Hatte ich tatsächlich mehr als einen halben Tag hier verbracht, gedankenverloren in die Aufzeichnungen meines Vaters vertieft?
Dem Affenwesen blieb mein überraschter Gesichtsausdruck offenbar nicht verborgen. »Es muss eine sehr anregende Lektüre sein, die dich alles um dich herum vergessen lässt.«
Ich drückte das Buch instinktiv an mich.
Der Affe entblößte zwei kräftige Zahnreihen. »Hab keine Angst, ich werde es dir nicht wegnehmen. Du kannst darin lesen, sooft und solange du es wünschst.«
Und solange ich dir Gesellschaft leiste.
Noch immer hatte ich seine unheilschwangeren Worte im Ohr, die seit der listenreichen Vernichtung des Bibliothekars wie ein Damoklesschwert über mir schwebten: »Letztlich ist es doch ein Gewinn, statt eines kauzigen, alten Bibliothekars eine junge, bildschöne Bibliothekarin zu erhalten …«
Das konnte ihm vielleicht so passen!
Der Affe machte einen Kratzfuß. »Ich habe mir erlaubt, ein abwechslungsreiches Menü vorzubereiten, das deiner würdig ist, holde Coco.« Er streckte mir seine behaarte Pranke entgegen.
Nach anfänglichem Zögern ließ ich mir aufhelfen.
Auf dem Weg aus der Basaltgrotte nahm der Affe eine Fackel aus einer rostigen Halterung an der Mauer und ging gemessenen Schrittes voraus. Etwas in mir sträubte sich, als ich ihm notgedrungen folgte, aber einerseits wäre es unhöflich gewesen, seine Einladung auszuschlagen, andererseits knurrte mir wirklich der Magen.
Durch ein Wirrwarr von Gängen und Gewölben führte er mich zielsicher in einen Trakt des Schlosses, der mir gänzlich unbekannt vorkam. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass die dunklen, feucht schimmernden Mauern von unwirklichem Leben erfüllt waren und sich ständig zu verändern schienen.
Ein lebendes Labyrinth!
Um nichts anderes musste es sich hier handeln. Von außen hatte das Gemäuer zwar mächtig, aber nicht übermäßig groß auf mich gewirkt. Innen jedoch schien es die Ausmaße einer mittleren Kleinstadt zu erreichen.
Na, das konnte noch heiter werden. Ich hatte nicht die Absicht, das Schloss länger als nötig mit meiner Anwesenheit zu beehren, aber im Moment stand eine Flucht nicht zur Debatte.
Das Affenwesen hätte mich schneller eingefangen, als ich in der Lage gewesen wäre, das Hauptportal zu erreichen, das heißt, wenn ich es überhaupt gefunden hätte. Und auf meine Spezialität, den beschleunigten Zeitablauf, musste ich leider verzichten; das Schloss befand sich in einer temporären Schleife, irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart, deshalb wirkte mein Zauber nicht.
Nein, zuerst musste ich mir einen Überblick über die räumlichen Gegebenheiten verschaffen, bevor ich überhaupt daran denken konnte, dem Gemäuer den Rücken zu kehren. Möglicherweise gelang es mir sogar, dem Affen in einer feucht-fröhlichen Runde die eine oder andere hilfreiche Information zu entlocken.
Und so beschloss ich, erst einmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und mimte sichtliche Entzückung, als das Affenwesen eine doppelt mannshohe, zweiflügelige Tür öffnete und mit einer einladenden Geste in den dahinter liegenden Raum wies.
Ich muss gestehen, ganz unbeeindruckt ließ mich der Anblick tatsächlich nicht: roter Samt auf teakholzfarbenem Parkett, cremefarbener Samt an den Wänden, schummrig illuminiert durch Dutzende dunkelrote Kerzen in einem goldenen Kronleuchter, der von der stuckverzierten Decke herabhing. Warmer, dezent flackernder Feuerschein in einem breiten Kamin, über dem ein Ölgemälde monumentaler Größe prangte. In der Mitte des Zimmers eine reich gedeckte Tafel mit allem, was das Herz eines Gourmets höher schlagen ließ: geröstete Ente, knusprig gebackene Kartoffeln, ein gegrilltes Schwein, gedünsteter Fisch, ofenfrisch duftendes Brot, daneben bauchige Kristallkaraffen dekantierten Rotweins und vielerlei mehr.
Das Affenwesen ließ mir den Vortritt, geleitete mich an den Tisch und rückte mir gentlemanlike den hochlehnigen Stuhl zurecht, bevor es selbst Platz nahm und mit der nach oben gedrehten Handfläche einen Halbkreis beschrieb.
»Ich hoffe, du bist mit meiner bescheidenen Auswahl zufrieden, Coco.«
Ich nickte sichtlich beeindruckt. »Es ist überwältigend.«
»Eine meiner leichtesten Übungen«, sagte der Affe, und fast kam es mir vor, als sei er tatsächlich ein wenig verlegen ob meines Kompliments. »Greif zu, holde Coco. Und sollte es nicht ausreichen, so werde ich schleunigst nachlegen.«
Ich hob beschwichtigend die Hände. »Ich glaube, da esse ich nächste Woche noch daran.«
Wenn ich dann noch hier sein sollte, fügte ich in Gedanken hinzu, bevor ich mich hungrig auf die Ente stürzte.
Der Gedanke war vermessen gewesen, wenn nicht gar illusorisch. Nach fast einer Woche war ich noch immer keinen Schritt weitergekommen, ganz im Gegenteil. Immer, wenn ich mein Zimmer verließ und einen anderen Weg einschlug als den in die Basaltgrotte, verirrte ich mich in den lebenden Gängen des Schlosses.
Nur ein einziges Mal war es mir gelungen, eine Treppe zu finden und in ein tiefer gelegenes Stockwerk hinabzusteigen. Nachdem ich in den unendlich langen Fluren zwei oder drei Mal abgebogen war, weil sie plötzlich endeten, war ich wieder genau dort herausgekommen, von wo aus ich meine Odyssee begonnen hatte: im Gang vor meinem Zimmer. Und das, obwohl ich keine weitere Treppe mehr nach oben benutzt hatte.
Immer stärker wuchs in mir die Befürchtung, als wüssten die Mauern genauestens darüber Bescheid, was ich vorhatte, ja, als wären sie sogar imstande, meine Gedanken zu lesen und sich genau so umzuformieren, dass eine Flucht im Keim erstickt wurde. Es war ein satanisches Katz- und Mausspiel, das die Maus – in diesem Fall ich – nicht gewinnen konnte. Zumindest nicht, solange ich – dachte. Selbst die magische Barriere, die ich errichtet hatte, um meine Gedanken abzuschirmen, hatte die unheimliche Macht, die dem Gemäuer innewohnte, mühelos durchdringen können.
Mehr als einmal, als ich nach hilflosem Umherirren wieder vor meinem Zimmer ankam, musste ich mit Gewalt eine aufsteigende Panik unterdrücken, die ohne Zweifel jeden übermannt hätte, der Gefangener dieses lebenden Labyrinths war, dieser gigantischen Todesfalle, aus der es anscheinend kein Entrinnen gab.
Nach drei Tagen gab ich entnervt auf, suchte nach einer anderen Lösung. Wenn mir der Weg durch das Innere des Schlosses verwehrt blieb, warum es nicht einmal über die Außenseite probieren?
Diese Idee erschien mir um einiges erfolgversprechender. Noch am selben Abend verabschiedete ich mich frühzeitig von dem Affenwesen unter dem Vorwand, es gehe mir nicht besonders.
Kaum in der Kemenate angekommen, die mir der Bibliograf als Unterkunft zugewiesen hatte, knüpfte ich Laken, Kissen- und Bettbezüge zu einem langen Seil zusammen, um mich so aus dem Fenster in die Tiefe zu hangeln.
Offensichtlich war das Fenster lange nicht mehr geöffnet worden. Mit beiden Händen, die Beine zusätzlich gegen die Wand gestemmt, zog und zerrte ich an dem eingerosteten Griff, bis die beiden Flügel mit einem lauten »Plopp« aufsprangen.
Dunkelheit gähnte mir entgegen, eine tiefe, rabenschwarze Finsternis, die keinesfalls natürlichen Ursprungs sein konnte.
Als ich die Augen zusammenkniff, um mehr erkennen zu können, bekam ich prompt die Bestätigung. Die stockdunkle Nacht bewegte sich, bildete Schlieren und Schleier, als rührte ein Maler in seinem Bottich pechschwarze Farbe an. Aus der sirupartigen Finsternis schälten sich schattenhafte Gestalten mit grässlichen Dämonenfratzen und roten, bedrohlich flackernden Augen.
Die weit aufgerissenen Schlünde entließen ein mehrstimmiges Wispern und Raunen in die Nacht, kaum wahrnehmbar und doch Warnung genug.
Ich warf das Fenster zu, ließ mich entmutigt aufs Bett fallen und starrte an die Decke, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwann fielen mir die Augen zu, und ich versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert, der Morgen darauf war auch nicht viel besser. Wie jeder Morgen, den ich auf diesem verdammten Schloss verbrachte. Zudem ödete mich das Nichtstun an, abgesehen von den wenigen Momenten, in denen ich Zeit und Muße fand, in den Aufzeichnungen meines Vaters zu schmökern. Den überwiegenden Teil des Tages schlug ich alleine tot, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit zwischen der unterirdischen Grotte und meinem Zimmer hin und her irrend.
Nach Einbruch der Dämmerung kredenzte mir der Affe wie schon am ersten Abend die erlesensten Speisen und Getränke und überraschte mich mit geistreichen Gesprächen, kurzweiliger Konversation und nicht enden wollenden Anekdoten.
Ja, er gab sich sichtlich Mühe, mir zu imponieren, scharwenzelte um mich herum wie ein Pfau, der das Gefieder spreizt, und verstand es, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er war der perfekte Gentleman mit zwar etwas antiquierten Umgangsformen, aber intelligent, charmant und aufmerksam. Seinen Erzählungen zufolge sei er sogar ein ganz gewöhnlicher Mensch gewesen, der vor über drei Jahrhunderten von Asmodi, dem Fürsten der Finsternis, verflucht und in einen Affen verwandelt worden war – was nichts an der Tatsache änderte, dass er in mir offenbar weit mehr sah als nur eine neue Bibliothekarin – und somit um keinen Deut besser war als ein normalsterbliches Exemplar der männlichen Gattung.
Ich seufzte, hörte nur noch mit halbem Ohr hin und ließ die ermüdenden Lawinen radebrechender Erzählkunst über mich ergehen, in Gedanken noch immer fieberhaft nach einer Fluchtmöglichkeit suchend.
»Hörst du mir überhaupt zu, Coco?«
Ich blinzelte verwirrt. »Ja, natürlich.«
»Hast du dich inzwischen eingelebt?« Der Affe sah mich eindringlich an. »Ein bisschen wenigstens?«
»Es geht so«, sagte ich ausweichend. »Nur eins wüsste ich gerne: Weshalb bleibt mir jeder andere Weg als der von meinem Zimmer zur Grotte und wieder zurück verwehrt?«
Das Maul des Affen verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Wo willst du denn hin?«
Welch selten dumme Frage! Ins Freie natürlich! »Zum Beispiel in die Asservatenkammer.«
»Gibt es dafür einen Grund?«
»Ich habe ein Faible für alte Sachen.« Das war nicht einmal gelogen. In diesen mannshoch aufragenden Bergen ehemaliger Besitztümer von Dutzenden oder gar Hunderten unschuldiger Menschen, die sich auf dieses Schloss verirrt und diesen Entschluss mit dem Leben bezahlt hatten, wollte ich nach etwas suchen, das mir bei meiner Flucht von Nutzen sein konnte. Aber das brauchte ich dem Affen nicht auf die Nase binden.
»Wenn das so ist, holde Coco«, meinte er arglos und erhob sein Glas, »dann sei dir der Weg dorthin ab sofort gewährt.«
Ich prostete ihm ebenfalls zu. Zwar hatte ich vermutet, dass er es war, der für die lebenden Gänge verantwortlich zeichnete, aber jetzt besaß ich Gewissheit und konnte mein weiteres Vorgehen darauf abstimmen. Nur der lauernde Ausdruck, der sich nach dieser Eröffnung in die Augen meines Gegenübers geschlichen hatte, wollte mir ganz und gar nicht gefallen.
Ich sollte recht behalten.
Plötzlich erhob sich der Affe, stellte das Glas ab und schwankte auf mich zu. Er streckte mir seine Hand entgegen. »Der Abend ist noch jung, Coco. Ich will tanzen.«
Auch das noch!
»Tanz mit mir!« Er zog mich aus dem Stuhl hoch, und ehe ich mich versah, landete ich in seinen behaarten Armen und begann mich im Kreis zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller. Von irgendwoher kam auf einmal Musik. Violinenklänge. Ein ganzes Streichorchester. Es spielte das Stück Wiener Blut.
Hatte ich das Affenwesen bislang mit dem Hauptdarsteller aus Phantom der Oper verglichen, so erschien mir in Anbetracht dieser unwirklichen Situation eine Korrektur notwendig. Die Schöne und das Biest wäre wohl treffender gewesen.
Nach wenigen Walzerschritten schon war mir schwindelig, was den Affen darin zu bestärken schien, dass er ein begnadeter Tänzer war. Er legte noch einen Zahn zu, wirbelte mit mir förmlich durch den Saal. Die Wände rauschten an mir vorbei, als säße ich in einem Karussell, und hätte er mich nicht festgehalten, wäre ich geradewegs davongeflogen.
Meine Schwäche ausnutzend, presste er mich noch enger an sich heran, seinen Arm wie einen Schraubstock um meine Taille geschlungen. Heißer Atem schlug mir entgegen. Der Affe schien es sichtlich zu genießen, dass meine Brüste gegen sein Seidenhemd drückten, und drängte seinerseits mit dem Becken nach vorne. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte ich die stahlharte Erektion vielleicht als Kompliment aufgefasst; in meiner Lage jedoch war es die Ankündigung einer Katastrophe.
Schon im nächsten Moment glitt die freie Pranke des Affen über meinen Oberkörper und zwängte sich in den Ausschnitt des Korsagenkleids, das ich ihm zuliebe angezogen hatte.
Ich wollte aufbegehren, das Affenwesen von mir stoßen, doch ich war plötzlich zu keiner Bewegung fähig. Eine dumpfe Lähmung hatte von meinen Gliedern Besitz ergriffen, hinderte mich daran, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Einzig die Gedanken schienen davon nicht betroffen zu sein.
Lass mich los, du Scheusal! Nimm deine Pfoten weg!, schrie ich innerlich, obwohl ich wusste, dass mein Gegenüber mich nicht hören konnte.
Das Affenwesen hingegen stieß ein siegessicheres Grunzen aus, zog mir mit einem Ruck das Kleid von den Schultern.
Plötzlich stand ich oben ohne da. In den Augen des Affen funkelte es lüstern. Mit einem tiefen Knurren vergrub er das Gesicht in meinem Busen, während er mir brutal den Oberschenkel zwischen die Beine drängte und sein Becken immer heftiger an meinem Hüftknochen rieb.
Es war nur noch eine Frage von wenigen Sekunden, bis er endgültig die Beherrschung verlieren und über mich herfallen würde.
Ich verdrängte die aufsteigende Panik, zwang mich zur Ruhe, indem ich die Augen schloss und tief durchatmete. Dabei konzentrierte ich mich auf die magischen Kräfte, die nach wie vor in meinem Innersten schlummern mussten; dass die unheimliche Macht auf diesem Schloss sie alle außer Gefecht gesetzt hatte, glaubte ich nicht.
Augenblicklich durchlief mich ein warmer, pulsierender Strom, und ich bekam wieder Kontrolle über meine Glieder.
Doch gegen die Kräfte des Affen besaß ich nach wie vor nicht den Hauch einer Chance.
Dann eben anders.
Ich spannte meinen Körper an, bis ich das Gefühl hatte, zerplatzen zu müssen. Mit einem Schrei, der jedem Kung-Fu-Kämpfer zur Ehre gereicht hätte, riss ich mein Knie hoch, das punktgenau in den Schritt des Affen krachte. Gurgelnd krümmte der sich zusammen, presste heulend die Hände zwischen die Beine.
Die Gunst des Augenblicks nutzend, stieß ich den Affen von mir, raffte mein Kleid auf und flüchtete auf den Gang zu meiner Kemenate. Kaum dort angekommen, warf ich die Tür ins Schloss und versah sie mit einem halben Dutzend Zaubersprüchen, einer Art magische Alarmanlage, die es jedem Unbefugten unmöglich machte, sich mir unbemerkt zu nähern.
Wobei ich mir sicher war, dass ich von dem Affenwesen in dieser Nacht ohnehin nichts mehr zu befürchten hatte.
Anfang Februar 1875
Jeffim Jankowitsch' gebrochene Rippen und die zertrümmerte Nase waren dank Doktor Nassyrows Bemühungen wieder leidlich zusammengewachsen. Selbst die kaputte Schulter hatte der Mediziner hinbekommen, wenn man einmal von der stark eingeschränkten Bewegungsfähigkeit absah.
Allein die Wunde, die Annas ungewollte Liebesnacht in ihre Ehe gerissen hatte, heilte nicht. Der Landwirt distanzierte sich von seinem Weib, ließ sie in ein eigenes Zimmer umquartieren, strafte sie mit Ignoranz und wochenlangem Schweigen und stürzte sich in die Arbeit. Trotzdem demonstrierten Anna und Jeffim nach außen hin ungetrübte Harmonie und den bedingungslosen Zusammenhalt eines glücklich verheirateten Ehepaars. Das Ansehen, das sie in Prokowskoje genossen, war ebenso groß wie der Skandal, den Annas Fehltritt – wäre er bekannt geworden – ausgelöst hätte.
Und so kam es, dass die beiden Eheleute sich langsam wieder annäherten. Jeffim wechselte immer öfter ein paar Worte mit seinem Weib, Anna wiederum gab sich besondere Mühe beim Kochen und verwöhnte ihren Mann mit seinem Leibgericht – Borschtsch in allen Variationen – und half ihm bei der Arbeit, wo sie nur konnte. Irgendwann ritten sie wieder gemeinsam aus, lachten, scherzten, spazierten den ganzen Tag durch die wilde Natur des Uralgebirges, als sei nie etwas vorgefallen.
Erst weit nach Mitternacht kehrten sie wieder auf den Hof zurück. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Trotzdem trennten sich ihre Wege auf dem Gang zu den Schlafzimmern.
In der darauffolgenden Woche beschlossen sie, wieder öfter etwas zusammen zu unternehmen. Sie gingen in der Dorfschänke essen, erledigten gemeinsam die Einkäufe und amüsierten sich auf dem alljährlichen Straßenfest von Prokowskoje. Jedes Mal kamen sie sich ein kleines Stück näher. Und beinahe hätten sie sich sogar geküsst. Beinahe.
Anna Wasiljewna zog die Knie eng an den Körper, umschlang sie mit den Armen und seufzte. Wie gerne hätte sie mit Jeffim wieder eine stürmische Liebesnacht verbracht, ihn in sich gespürt, sein entspanntes, friedliches Gesicht betrachtet, wenn er neben ihr einschlief.
Findet er mich nicht mehr attraktiv? Sieht er mich nur noch als eine gute Freundin an, als einen Kumpel, mit dem man Pferde stehlen kann, aber nicht mehr?
Oder hat er mir womöglich noch immer nicht verziehen? Gibt mir die Schuld, dass unser Kind entführt wurde?
Anna verdrängte die aufkommenden Zweifel. Seit dem Vorfall vor sechs Jahren hatte Jeffim nie wieder ein Wort darüber verloren. Und die Zeit heilte bekanntlich alle Wunden. Warum nicht auch diese?
Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr reifte in ihr der Entschluss, Jeffim zu überrumpeln. Und sie wusste auch schon, wie: Nur mit einem kurzen, nahezu durchsichtigen Nachthemd bekleidet, das mehr preisgab, als es verbarg, das lange, braune Haar gekämmt und offen, so wie er es am liebsten hatte. Sie spürte seinen Blick förmlich auf ihrem Körper brennen, wusste, dass er sie im Geiste ausziehen und gleichzeitig um seine Beherrschung ringen würde, doch dieses Mal, ja, dieses Mal würde er ihren Reizen erliegen.
Hoffentlich.
Anna konnte es kaum noch erwarten, bis ihr Mann nach Hause kam. Er hatte in Prokowskoje noch ein paar Besorgungen zu erledigen und wollte spätestens gegen neun Uhr wieder zurück sein. Die Wartezeit hatte Anna genutzt, um Wohnzimmer und Küche zu reinigen und das Bett im Schlafzimmer neu zu beziehen, denn man konnte nie wissen, was die kommende Nacht noch bereithielt. Sie war in einen Hauch von Nachthemd geschlüpft, hatte einen unauffälligen Morgenmantel übergeworfen und sich mit jenem Parfum eingestäubt, bei dem Jeffim früher stets Wachs in ihren Händen geworden war.
Früher …
Die junge Frau warf einen Blick auf die dunkle, rustikale Standuhr, die im Wohnzimmer unermüdlich vor sich hintickte.
Der Stundenzeiger näherte sich behäbig der zehnten Abendstunde.
Wo bleibt Jeffim nur? Ihm wird doch nichts passiert sein?
Anna stand auf und sah besorgt aus dem Fenster. Draußen war es stockfinster. Einzig der Schein der Laterne am Hauseingang, die nächtlichen Besuchern den Weg durch die Dunkelheit wies, schuf eine fahle Insel auf dem vereisten Boden. Schneeflocken, groß wie Kinderfäuste, wirbelten wild durcheinander, schossen fast quer am Fenster vorüber, als der böige Wind sich binnen weniger Augenblicke zu einem fauchenden Orkan steigerte, mit unvorstellbarer Gewalt über den verlassenen Bauernhof tobte.
Ein dumpfer Schlag. Und noch einer.
Anna schrie unterdrückt auf.
Erleichtert atmete sie aus, als sie gewahrte, dass im oberen Stockwerk nur ein loser Fensterladen gegen die Scheibe gekracht war, ein Spielball in den mächtigen Klauen des Sturms.
Genau wie damals, schoss es Anna durch den Kopf. Sie versuchte, die jäh aufsteigenden Erinnerungen an jene schreckliche Nacht vor sechs Jahren zu verdrängen. Vergeblich. Die Bilder des Martyriums hatten sich unauslöschbar in ihren Geist gebrannt, waren präsenter als jemals zuvor.
Wenn Jeffim doch endlich zurückkäme, wenn …
Ein lautes, energisches Wummern an der Eingangstür. Es dröhnte durch das ganze Haus.
Jemand klopfte.
»Endlich!« Anna streifte sich den Morgenmantel ab und huschte auf Zehenspitzen durch den Flur. Riss die Eingangstür auf. Das Lächeln auf ihren Lippen gefror. Die Umgebung begann sich vor ihren Augen zu drehen. »Nein«, keuchte sie. »O nein …« »Guten Abend, Anna.« Die Stimme troff vor Ironie und Grausamkeit.
Anna Wasiljewna starrte wie gelähmt auf die schwarz gekleidete Gestalt, den fleischgewordenen Albtraum der Vergangenheit. Das Grauen schnürte ihr die Kehle zu.
»Freust du dich denn gar nicht?«
»Wo … Wo ist Jeffim?«
Der Fremde deutete hinter sich, auf die wild durcheinanderwirbelnden Schneeflocken. »Er wird sich ein wenig verspäten, fürchte ich. Wir werden für die nächsten Stunden vollkommen ungestört sein.« Er lachte bösartig. Anzüglich. »Wie ich sehe, hast du dich schon zurechtgemacht.«
Anna presste die Arme vor den transparenten Stoff ihres Nachthemds, bedeckte ihre Brüste. »Geh weg! Lass mich in Ruhe. – Bitte.«
»Willst du ihn gar nicht sehen, Anna?«
»Wen?«
»Deinen Sohn.«
Anna schwankte.