Hugo Kastner
Das Alphabet
Für Linda und Gerald
meinen Begleitern bei der Suche nach den Ursprüngen der Schrift und dem Charakter der Buchstaben
Hugo Kastner
Das Alphabet
Die Geschichte der Schrift
marixverlag
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Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: mauritius-images GmbH, Mittenwald/Steve Vidler
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0278-9
www.marixverlag.de
Inhalt
Vorwort
Einführung
Abkürzungen
Die Wiege des Alphabets
A Aleph – Ochs
B Beth – Haus
C Gimel – Wurfholz
D Dalet – Tür, Fisch
E He – Mensch (ausrufend)
F Waw – Haken, Keule
Phönizier – Griechen – Etrukser-Römer
G Zajin – Stichwaffe, Axt
H Chet – Zaun
I Jod – Arm, Hand
J Jod* – aus I
K Kaph – Handfläche
L Lamed – Ochsenknüttel
Meilensteine der Typografie
M Mem – Wasser
N Nun – Schlange, Fisch
O Ajin – Auge
P Pe – Mund
Q Qoph – Affe
R Resch – Kopf
Buchstabiertafeln
S Schin/Sin – Zahn, Bogen
T Taw – Kreuz, Zeichen
U Waw – Haken, Keule
V Waw* – aus U
Das Fingeralphabet
W Waw* – aus U
X Samech* – Griechisch: Chi
Y Waw* – Griechisch:Ypsilon
Z Zajin – Stichwaffe, Axt
Glossar
Ausgewählte Literatur
Vorwort
Vielleicht ist die Erschaffung der Schrift die größte Erfindung der Menschheit überhaupt. Sie macht es möglich, Geschichten zu Geschichte werden zu lassen, sie gibt uns ein zeitloses Medium der Kommunikation, über alle Epochen und über alle Regionen der Erde hinweg. Und das Alphabet, diese zirka zwei bis drei Dutzend Zeichen, stellen die Kronjuwelen dieser wahrlich königlichen Geistesleistung dar, egal mit welchem der bekannten Alphabete geschrieben wird. Verstreut wie Fürstentümer im Reich der Sprache führen die einzelnen Buchstaben ein Eigenleben, schlagen kuriose und überraschende Kapriolen und zeichnen sich doch durch kulturübergreifende, kollektive Wirkungskraft aus.
Schon oft bin ich mit Fragen zum Alphabet konfrontiert worden, wie etwa: Wieso ist das A der erste Buchstabe im Alphabet? Warum steht nach dem Q immer ein u? Weshalb steht das X für das Unbekannte? Warum hat das i einen Punkt? Welche Buchstaben kamen als letzte ins Alphabet? Warum sagt ein Baby zu allererst „Mama“ und „Papa“? Wieso können die Chinesen ein R nicht aussprechen? Warum heißt es „von Alpha bis Omega“, gleichzeitig aber „von A bis Z“? Woher kommt das Sprichwort „etwas aus dem FF können“? Wieso haben wir nur fünf Vokale im Alphabet? Wann sind die Umlaute in die Sprache gekommen? Warum haben die Griechen ein Alpha, Beta, Gamma, wir aber ein ABC? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und all die Fragen werden in diesem Werk auch zufriedenstellend beantwortet.
Doch dieses Buch möchte mehr sein als eine Unterstützung im Frage-Antwort-Spiel um unsere Schriftsymbole. Der Darstellung des Charakters jedes einzelnen Buchstabens unseres lateinischen Alphabets, seine Entwicklung auf dem nahezu viertausend Jahre langen Weg der Schrift, sowie das Sichtbarmachen der Zusammenhänge von Laut und Zeichen – diesen großen Themen unserer Kultur widmet sich das vorliegende Werk. Von den Ursprüngen als Hieroglyphen über die protokanaanäischen Zeichen, die Schriftzeichen der handelsreisenden Phönizier und kopierwilligen Griechen bis zu denen der mysteriösen Etrusker und weltbeherrschenden Römer zieht sich die Spur der Buchstaben. Aber dies war noch keinesfalls der Endpunkt, ganz im Gegenteil: Als vor zweitausend Jahren alles fertig und komplett schien, eingemeißelt in den Sockel der monumentalen Trajansäule (113 n.Chr.), gab es noch nicht einmal einen einzigen der Kleinbuchstaben, war das Alphabet erst 23 Buchstaben lang, fehlte vielen Buchstaben ihre heute allgegenwärtige Botschaft – etwa das AAA für Top-Qualität. Jeder Buchstabe entwickelte sich in den folgenden zwei Jahrtausenden zu einer ganz eigenwilligen „Persönlichkeit“, jedes Zeichen lebte und lebt von der Interpretation seiner Sprecher, von seiner Symbolik, von seiner Wirkung im geschriebenen und gesprochenen Wort.
Die Zeit der Recherche war für mich als Autor ungemein spannend. Kaum war eine Antwort auf eine Frage gefunden, drängte sich schon ein neues Rätsel auf. Wieso war es überhaupt möglich, dass simple Zeichen so einfach weitergegeben werden konnten? Antike Sprachen wie Phönizisch und Griechisch unterschieden sich voneinander immerhin mindestens ebenso stark wie heute etwa Deutsch und Arabisch. Und doch sind es immer die gleichen Grundsymbole, die ein Meer mit Millionen von Wörtern füllen, ohne je Gefahr zu laufen, sich völlig zu erschöpfen. Ich habe versucht, den Leserinnen und Lesern ein Buch in die Hand zu geben, in dem Übersicht und Lesbarkeit ebenso geboten werden wie wissenschaftlich fundierter Inhalt. Die Freude an den Geheimnissen der Buchstaben ist es, die hier zum Ausdruck kommen soll. Vorangestellt habe ich dem Hauptteil der 26 „Fürstentümer“ – sprich: Buchstaben – eine kurze allgemeine Einführung in das Thema „Alphabet“. Spezialkapitel wie Die Wiege des Alphabets, Phönizier – Griechen – Etrusker – Römer, Meilensteine der Typografie und Buchstabiertafeln sollen einen allgemeinen Überblick und eine leichtere Orientierung ermöglichen. Ein Glossar sowie ein Verzeichnis der verwendeten Literatur mag für die interessierten Leserinnen und Lesern eine Hilfe bei der weiterführenden Beschäftigung mit diesem großen Thema sein. Jeder einzelne Buchstabe wird mit einem Vorspann vorgestellt, und aus hunderten kleinen Informationen wird ein ganz eigenwilliges Puzzle zusammengesetzt. Egal wo Sie zu lesen beginnen: Sie werden das Wesen der geschichtlichen und symbolischen Seite der Buchstabens in vollen Zügen erfassen und genießen können. Mit einem Wussten Sie, dass …? und einer Abspannzeile aus typischen Fonts wird zudem jedes Kapitel über einen Buchstaben in lockerer Form abgerundet. Bitte stürzen Sie sich nun hinein ins Vergnügen, vielleicht beginnend mir Ihren ganz persönlichen Initialen!
Dank sage ich meinen Manuskriptlesern Linda Kastner und Gerald Folkvord, ohne deren Hilfe und Feedback die Entstehung dieses Buches in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Dank auch an Frau Zöller vom Marix-Verlag für die Bereitschaft, sich auf das „Abenteuer Alphabet“ einzulassen. Und abschließend möchte ich nun einen schönen Gedanken des schottischen Historikers und Essayisten Thomas Carlyle aufgreifen: „Certainly the art of writing is the most miraculous of all things man has devised.” Frei übersetzt: Zweifellos ist die Schreibkunst das Wunderbarste, was der Mensch je erschaffen hat. Dem bleibt nichts hinzuzufügen!
Wien, 1. August 2012
Hugo Kastner
Einführung
Sprache und Schrift sind untrennbar miteinander verbunden; unübersehbar ist hierbei die Abhängigkeit des geschriebenen vom gesprochenen Wort. Diese elementare Tatsache verhindert, dass der Traum eines Wilhelm Leibniz, eine universelle Schriftsprache zu erfinden, die überall auf der Welt verstanden wird, jemals wahr wird. Diese müsste nämlich aus Bildzeichen bestehen, wie etwa Hieroglyphen oder chinesische Schriftzeichen. Doch diese Piktogramme (Bilder) und Logogramme (Symbole für Begriffe) „sprechen“ nicht für sich; sie brauchen einen Vermittler, einen Interpreten, kurzum den menschlichen Geist. Auf den Begründer der modernen Linguistik, den Schweizer Ferdinand de Saussure (1857-1913), geht der schöne Vergleich der Sprache mit einem Blatt Papier zurück: „Der Gedanke ist die eine Seite des Blattes, der Laut die andere. So wie es unmöglich ist, eine Seite des Papiers zu zerschneiden, ohne die andere zu zerschneiden, ist es auch unmöglich, in einer Sprache den Gedanken vom Laut und den Laut vom Gedanken zu trennen.“ Schriften geben als Ausdruck der Sprache, als Hilfsinstrument der Gedanken, Worte wieder, und diese Worte bestehen aus Lauten und Zeichen. Mit dieser Erkenntnis stehen wir auch schon am Beginn unserer Reise durch das Alphabet.
Ungefähr um 2000 v. Chr. wurde das Alphabet in Ägypten erfunden (siehe das Kapitel Wiege des Alphabets), und zwar mit der klaren Intention, den Klang von Worten wiederzugeben. Und vermutlich formten die Lippen der Sprecher beim lauten Lesen diese Wortzeichen. Doch ist das Alphabet, um das es in diesem Buch geht, keinesfalls die älteste bekannte Schrift. Ägypten, Mesopotamien und vielleicht auch China kannten bereits seit 3300 v.Chr. nicht-alphabetische Systeme, wie etwa die sumerischen Tontafeln von Uruk (heute: Irak). Und der rätselhafte, 1908 durch einen italienischen Archäologen auf Kreta entdeckte Phaistos-Diskos, eine beidseitig beschriftete, 16 cm große Tonscheibe, stellt, wie der Spezialist für Frühgriechisch, John Chadwick, es ausdrückt, „die erste gedruckte Urkunde der Welt“ dar. Die Beschriftung dürfte aus der Zeit um 1700 v.Chr. stammen, doch bleibt jede weitere Aussage zu Sprache, Symbolik, Schöpfungsgrund und sogar Echtheit dieses Fundstücks Spekulation. Jedenfalls fehlten allen Schriftsystemen bis zu dieser Zeit Effizienz und Anpassungsfähigkeit – zwei Merkmale, die Alphabete so konkurrenzlos werden ließen. Mehr als fünf Milliarden Menschen verwenden eines der zirka dreißig bekannten Alphabete, mit den drei weltumspannenden Riesen lateinisches, kyrillisches und arabisches Schriftsystem. Die Hälfte dieser Menschen lebt in einer Kultur, die von lateinischen Buchstaben geprägt wird; sie umfasst mehr als einhundert wichtige Sprachen in über 120 Staaten der Erde. Die Geschichte der Entdeckungen, der frühen Industrialisierung sowie der Kolonialepoche hat zur weltweiten Verbreitung von Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und mit Abstrichen Deutsch beigetragen. Wenn auch die Zahl der Buchstaben von Sprache zu Sprache schwankt – im Englischen 26, im Finnischen 21, im Kroatischen 30 -, wenn auch ganz unterschiedliche diakritische Zeichen verwendet werden, wie etwa Umlaut, Çedille oder Hatschek, so sind es doch unsere 26 lateinischen Buchstaben, denen wir in diesem Buch die volle Aufmerksamkeit schenken wollen.
Eine weitere Überraschung bietet der Stammbaum dieser bekannten Alphabete: Mit Ausnahme der koreanischen Hangul-Schrift (in der Mitte des 14. Jahrhunderts entworfen) haben alle anderen Buchstaben gemeinsame Ahnen bzw. einen Stammvater: das proto-kanaanäische (proto-semitische) Alphabet, das um 2000 v.Chr. entstand. Die engen Familienbande werden klar, wenn man bedenkt, dass das lateinische Alphabet ein entfernter Cousin des arabischen, ein naher Cousin des kyrillischen und ein Enkelkind des griechischen Alphabets ist. Der Vater unserer römischen Buchstaben, das Etruskische, überlebte hingegen nur in Inschriften, die sich bis dato gegen jede Entzifferung stemmen. Wenn auch alle Alphabete augenscheinlich sehr unterschiedlich aussehen, so folgen sie mit dem Prinzip der Lautwiedergabe doch der genialen Grundidee dieser Schriftform – wobei diese Übereinstimmung zwischen Laut und Buchstabe keineswegs lückenlos erfolgt. Von allen Sprachen verwendet allein das Finnische ein nahezu rein phonographisches Zeichensystem (Laut = Buchstabe). Die Weltsprache Englisch ist vergleichsweise schwer zu lesen, da die Buchstabenkombinationen historisch bedingt völlig unterschiedliche Laute repräsentieren können. Klassisches Beispiel: U(-Turn), you, ewe, yew werden allesamt [ju:] gesprochen. Alle drei Wörter klingen exakt wie der Buchstabe in U-Turn. Eine etymologische Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Das Wort „Buchstabe“ steht vermutlich für die zum Los (Orakel) bestimmten germanischen Runenstäbchen (*bōks), die als Schriftzeichen (Runen) in schweres Buchenholz punziert wurden. Eine andere Theorie erklärt den Ausdruck „Stab“ mit dem charakteristischen kräftigen Zentralstrich der Runen.
An dieser Stelle soll auch ein Blick auf die fehlenden zwei Milliarden Menschen geworfen werden, die nicht-alphabetische Schriften verwenden. In erster Linie leben diese in China, Taiwan und Japan, das um zirka 600 n. Chr. das chinesische System übernommen hat. Was nun unterscheidet diese Schriften von Alphabeten? Einfach gesagt, wird im Mandarin-Chinesisch durch jedes Symbol ein ganzes Wort wiedergegeben, und zwar durch ein sogenanntes Logogramm (griech.: Wort-Buchstabe). Und diese Symbole sind in der Regel nicht phonetisch angelegt. Wenn wir im Deutschen das Wort „Blume“ als Bild wiedergeben, haben wir ein Piktogramm vor uns, wenn wir „Blume“ mit einem beliebigen Symbol belegen, z. B.ʘ, sprechen wir von einem Logogramm. Wenn wir aber „Blume“ mit fünf Buchstaben schreiben, bilden wir den Klang dieses Wortes ab, denn wir setzen fünf winzige Laute, sogenannte Phoneme, kleinste Einheiten, zusammen. Nun die gute Nachricht. Alle Sprachen tendieren zu einer sehr kleinen Zahl von Lautfarben – zwischen zwanzig und vierzig, grob gesprochen –, und die Buchstaben repräsentieren diese Laute. Egal nun, wie viele – Tausende oder Hunderttausende – Wörter eine Sprache benötigt: Alle können mit diesem Minimalinventar gebildet werden. Ja, genau genommen sind nicht einmal alle Laute einer Sprache im Buchstaben-Setzkasten enthalten. Wir helfen uns einfach mit freien Kombinationen wie ei oder sch. In wenigen Jahren können Kinder das Alphabet bequem erlernen, und zwar mit allen Feinheiten, die in der Schreibung zu beachten sind. Wie mühselig ist dagegen der Prozess des Spracherwerbs im Chinesischen, wo mindestens zweitausend Symbole memoriert werden müssen – mit einer Vielzahl an Homonymen, Wörtern also, die mehrere Bedeutungen tragen, aber in der offiziellen phonetischen Umschrift Pīnyīn (am 6. Feb. 1956 beschlossen) gleich wiedergegeben werden: Ma kann Mutter [mā], Hanf [má], Pferd [mă] oder schelten [mà] bedeuten, je nach Tonmodulation (hoch, steigend, fallend-steigend, fallend). Als chinesisches Schriftzeichen bestehen dagegen klar erkennbare Unterscheidungen, die es – und hier liegt wohl einer der Vorteile nicht-alphabetischer Sprachen – möglich machen, Texte zu lesen, die Hunderte Jahre alt sind. Außerdem konnten diese Zeichen leicht von Völkern, die irgendwann Teil des chinesischen Reiches wurden, übernommen werden. Damit wurde schriftliche Kommunikation möglich, ohne dass alle Mandarin beherrschen mussten. Eine Folge davon ist, dass die meisten Minoritäten in China (Ausnahme aus politischen Gründen: Uiguren und Tibetaner) relativ geringem Assimilierungsdruck ausgesetzt sind. Fazit: Logogramme sind eben nicht an Laute gebunden, logographische Schriftsysteme daher für die Ewigkeit erstellt.
Auch die Keilschrift kann nicht als vollwertiges Alphabet verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine Silbenschrift, die aus Syllabogrammen besteht. Das Wort „Al-pha-bet“ würde mit drei Silben geschrieben werden, die ebenso wie Buchstaben für immer neue Wörter herangezogen werden können. Doch daraus ergeben sich Schwierigkeiten. Erstens braucht man Hunderte von Silben, um ein halbwegs reichhaltiges Vokabular abzubilden, und zweitens sind manche Silben wie obiges pha nahezu überflüssig, da nur wenige Wörter damit gebildet werden können. Hindi und Koreanisch sind zwei moderne Sprachen, die Silbenschrift und Alphabet miteinander vereinen. Für Deutsch oder Englisch wäre dieses System zweifellos äußerst unpraktisch.
Also bleiben wir bei der schon mehrfach wiederholten Feststellung, dass nichts die Flexibilität des Alphabets überbieten kann. Ein paar Beispiele sollen dies verdeutlichen: Phönizier, Griechen, Etrusker, Römer – die Hauptträger der Buchstaben-Stafette – verwendeten völlig unterschiedliche Sprachen, doch alle wurden mit denselben Buchstaben glücklich. Eroberungen, missionarischer Eifer und kulturpolitische Entscheidungen mögen zweifellos der Motor für diese Verbreitung gewesen sein, doch um sich erfolgreich durchzusetzen, müssen Buchstaben diese unglaubliche Anpassungsfähigkeit bereits in sich tragen. Die neuen asiatischen Staaten Aserbeidschan, Turkmenistan und Usbekistan zeigen ganz drastisch die ewige, phänomenale Kraft des „Alphabets“. Alle drei sprechen zwar Turksprachen, sind jedoch Anfang der 1990er-Jahre wieder zum lateinischen Alphabet zurückgekehrt, das unter Stalin 1940 durch Kyrillisch ersetzt worden war. Vor 1920, das heißt vor der Abschaffung durch die Sowjets, wurde in allen drei Staaten sogar die arabische Schrift verwendet. Was für ein gewaltiger Sprung in nur einem Jahrhundert! Die Türkei entschied sich 1928 unter Kemal Atatürk, arabische Buchstaben gegen lateinische zu tauschen. Rumänien gab bereits 1860 Kyrillisch für Lateinisch auf, Vietnam wurde 1910 vom französischen Kolonialherrn auf lateinische Buchstaben umgestellt. Serbokroatisch, die frühere Sprache Jugoslawiens, wurde in Serbien mit kyrillischen Buchstaben geschrieben, in Kroatien mit lateinischen. Entscheidend war allein der kulturelle Hintergrund. Jiddisch ist nahe verwandt mit dem Deutschen, verwendet jedoch hebräische Schriftzeichen. Hindi und Urdu haben grundsätzlich die gleichen Wurzeln, die Schriftzeichen jedoch sind komplett unterschiedlich (Devanagari bzw. Arabisch). Arabisch wird von weit entfernten Völkern wie den Berbern (Marokko), Farsi (Iran), Kurden (u.a. Iran), Nubiern (Sudan), Paschto (Afghanistan), Uiguren (China) oder Malayen (Malaysia) gepflegt, deren Sprachen kaum miteinander verwandt sind. Selbst die in Afrika von mehr als achtzig Millionen Menschen gesprochene Bantu-Sprache Swahili (Suaheli, Kisuaheli) wird in Arabisch ebenso geschrieben wie in Latein.
Das eigentliche Wunder des Alphabets ist zweifellos die Tatsache, dass die gleichen Buchstaben von Sprache zu Sprache springen können, quer durch Raum und Zeit, über alle geografischen und historischen Grenzen hinweg. Anders ausgedrückt könnte man sagen: Das Alphabet ist der erste Schritt der Menschheit zu einer wahrhaft globalen Welt.
Abkürzungen
Vokale |
|||
a: / ā |
dunkles (langes) a / dt.: sah, eng.: father |
i |
offenes i / dt.: Sinn |
ĩ |
nasaliertes i / frz.: fin |
||
a |
helles (kurzes) a / dt.: Matte |
o: / ō |
geschlossenes o / dt.: Rohr |
ɐ |
abgeschwächtes a / dt.: Ufer |
ɔ |
offenes o / dt. Sport, eng.: hot |
ã |
nasaliertes a / frz.: grand |
ɔ: |
offenes (langes) o / eng.: born |
Λ |
dumpfes (tiefes, kurzes) a/ eng.: cup |
õ |
nasaliertes o / frz.: mon |
æ |
Umlaut ä / dt.: Äpfel |
ø |
Umlaut ö (geschlossen) / dt.: Höhle |
e: / ē |
geschlossenes (langes) e / dt.: Fee |
œ |
Umlaut ö (offen) / dt.: Hölle |
e |
offenes (kurzes) e / dt.: Bett, eng.: get |
ɜ: |
offenes (eng.) ö / eng.: burn |
ə |
abgeschwächtes e (Schwa) / dt.: |
u: / ū |
geschlossenes (langes) u / dt.: Uhr |
Amme, |
u |
offenes u / dt.: Mund |
|
i:/ī |
geschlossenes i / dt.: Riese |
y |
geschlossenes ü / dt.: süß |
Konsonanten |
|||
ç |
velares ch / dt.: ich |
θ |
stimmloses th/ eng.: thing |
ŋ |
ng-Laut / dt.: Ding |
ð |
stimmhaftes th / eng.: the |
s |
stimmloses s / dt.: Liste |
ɥ |
konsonantisches ü / frz.: Suisse |
z |
stimmhaftes s / dt.: Rasen |
v |
stimmhaftes w / dt.: Wein |
∫ |
stimmloses sch / dt.: Schule |
w |
halbvokalisches (eng.) w / eng.: |
ʒ |
stimmhaftes sch/dt.: Garage, frz.: |
well |
|
jour |
x |
palatales ch / dt.: Ach |
|
Diphthonge |
|||
ai |
ei, ai / dt.: Wein |
oi |
eu / dt.: Heu |
ei |
ei / eng.: say |
||
Sonstiges |
|||
* |
erschlossen / *g.: hǣra (Haar) |
[] |
phonetische Klammer |
Sprachen |
|||
ae. |
altenglisch |
idg. |
indogermanisch |
afrz. |
altfranzösisch |
it. |
italienisch |
ahd. |
althochdeutsch |
lat. |
lateinisch |
aind. |
sanskrit |
lett. |
lettisch |
air. |
altirisch |
lit. |
litauisch |
am. |
amerikanisch |
malay. |
malayisch |
anord. |
altnordisch |
nl. |
niederländisch |
bask. |
baskisch |
öst. |
österreichisch |
dän. |
dänisch |
pol. |
polnisch |
eng. |
englisch |
por. |
portugiesisch |
fin. |
finnisch |
russ. |
russisch |
frz. |
französisch |
sp. |
spanisch |
g. |
(gemein-) germanisch |
splat. |
spätlateinisch |
got. |
gotisch |
swa. |
swahili |
griech. |
griechisch |
tsch. |
tschechisch |
haw. |
hawaiianisch |
ung. |
ungarisch |
hebr. |
hebräisch |
viet. |
vietnamesisch |
Die Wiege des Alphabets
Die Suche nach der Wiege des Alphabets ist selbst heute, nach zwei Jahrhunderten der intensiven archäologischen Forschungen, noch keinesfalls abgeschlossen. Manche Gelehrte datieren die ersten Ansätze zur Entstehung unserer Buchstaben um ca. 2000 v.Chr., andere sehen die Zeit um 1500 vor unserer Zeitrechnung als eher wahrscheinlich an. Letzte Gewissheit wird vielleicht noch im trockenen Fels Mittelägyptens, der Sinaihalbinsel oder im heutigen Israel und Libanon zu finden sein, doch dies wird erst die Zukunft weisen.
Jedenfalls haben zwei ungemein spektakuläre Funde am Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts unseren Fokus auf Ägypten als den Ort dieser großartigen Schöpfung der Buchstaben gelegt. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts wurde von europäischen Sprachforschern das Land am Nil mit seinen Bildsymbolen, den Hieroglyphen, als mögliche Quelle der Inspiration vermutet. Doch Beweise blieben bis ins vorige Jahrhundert aus. Und nach der Entzifferung der Hieroglyphen mithilfe des Steins von Rosette, der unbestreitbar berühmtesten Inschrift der Welt, durch den genialen Jean-François Champollion im Jahr 1823 schien wegen der gänzlich unterschiedlichen Strukturprinzipien der ägyptischen Bildsymbole und unserer Buchstaben ein direkter Zusammenhang mehr als unwahrscheinlich zu sein. Dennoch lenkte das folgende Jahrhundert bei der immer intensiveren Suche nach dem Anfang des Alphabets alle Augen auf ein Handelsvolk, das zumindest im Nahbereich des Pharaonenreiches seinen Geschäften nachging: die Phönizier. Doch davon später.
Der erste Durchbruch
Der erste große Durchbruch kam im Jahr 1905, mit der Entdeckung von dreißig geheimnisvollen Inschriften, die nie zuvor ein moderner Wissenschaftler zu sehen bekommen hatte. Zunächst war unklar, wie diese Zeichensymbole einzuordnen wären, doch waren intensive Bemühungen der Entzifferung schließlich von Erfolg gekrönt. Es handelte sich – so wusste man ein Jahrzehnt später – offensichtlich um ein proto-phönizisches Alphabet, also um früheste Spuren einer vom Treibsand der Zeit fast vollständig verwehten Buchstabenschrift. Der Ort dieses sensationellen Fundes im südwestlichen Teil Sinais nannte sich Serabit el-Khadem. Der örtliche Sandstein, bar jeder Vegetation, sowie die trostlose Abgeschiedenheit dieser Gegend ließen diese krude gekritzelten Zeichen fast vier Jahrtausende überleben. Eine Randnotiz sei an dieser Stelle angebracht: Lina Eckenstein stellt in ihrem Werk A History of Sinai die Theorie zur Diskussion, dass es sich bei Serabit el-Khadem um den biblischen Berg Sinai handelt, wo Mose dem Alten Testament zufolge die Zehn Gebote erhielt. Heute ist dies nicht schlüssig zu beweisen. Doch zurück zu unserem Fund.
Der Entdecker dieser sensationellen Zeichen, der britische Archäologe William Flinders Petrie (1853-1942), war ein Autodidakt im wahrsten Sinne des Wortes. Als Sohn des Landvermessers und Ingenieurs William Petrie und seiner Frau Anne Flinders 1853 in Charlton nahe London geboren, wurde Petrie zeitlebens nur privat unterrichtet – galt er doch schon von Kind auf als gesundheitlich angeschlagen. Trotz der fehlenden formalen Schulausbildung war der Junge enorm bildungshungrig und lesebegierig. Vor allem die Geodäsie hatte es ihm angetan, und so trug Petrie zusammen mit seinem Vater auch zur bis dahin exaktesten Vermessung von Stonehenge bei. In den Jahrzehnten danach sollte Sir William Flinders Petrie zu einem der ganz großen Ägyptologen und Archäologen werden und enorme gesellschaftliche Anerkennung genießen. Aber zurück zu den Tagen in Sinai.
Schnell erkannte Petrie zwar die Wichtigkeit seines Fundes, doch sah er sich außerstande, die Zeichen zu lesen. Noch Jahre später glaubte Petrie, der ja mit der Absicht der Suche nach den Schätzen Ägyptens nach Sinai gekommen war, dass es sich keinesfalls um Schriftzeichen handeln könnte. Die Zeichen waren ohne Zweifel bildhaft, in groben Reihen und Spalten in den Sandstein gekratzt. Aber es fehlten Wortabstände, die Schreibrichtung war unklar – von links nach rechts oder umgekehrt, beides schien gut möglich, und sogar von oben nach unten war denkbar. Sinnverwirrend blieben diese Zeichen vorerst für jeden, auch den bestgebildeten Betrachter, doch musste eine Systematik dahinterstehen. Immerhin waren 27 wiederkehrende Formen zu erkennen: Fisch, Strichfigur mit ausgebreiteten Armen, Wellenlinie, Schlange und Ochsenkopf waren darunter, und überrascht, ja verblüfft, erkannten Schriftexperten die Ähnlichkeit mit den bereits hundert Jahre zuvor entzifferten Hieroglyphen. Doch alles blieb ein Rätsel, denn das Schreibsystem war ein anderes!
Schreiber der Asiaten
Im historischen Kontext betrachtet, musste es einen Grund dafür geben, dass diese Zeichen gerade in dieser wüsten Gegend aufgefunden worden waren. Es ist bekannt, dass Serabit el-Khadem in antiken Zeiten, zwischen 2200 und 1200 v. Chr., eine Stätte des Türkis- und Malachitbergbaus und ein Ort mit zahlreichen Porphyrsteinbrüchen war. Ägyptische Händler waren zuhauf mit dem Abbau des Halbedelsteins beschäftigt, allerdings unter Hilfeleistung von „Gastarbeitern“ und Sklaven aus der nördlich von Sinai anschließenden Levante. Die meisten dieser Fremden – Bergarbeiter, Soldaten, Händler und wohl auch Konkubinen – sprachen einen semitischen Dialekt, und es sollte sich letztlich herausstellen, dass diese geheimnisvollen Zeichen semitischen Ursprungs waren. Wodurch lässt sich diese Annahme untermauern? Einfach durch den Hinweis auf die Menge an „Asiaten“, also fremden Schreibern, die notwendig waren, um die Verwaltung und Organisation all dieser Menschen sicherzustellen. Ein in Berlin aufbewahrter Papyrus lässt deutlich die Worte „Schreiber der Asiaten“ erkennen. Nun, die Ägypter selbst – das „Volk“, wie sie sich selbstbewusst nannten – waren sich für mindere Schreibarbeiten einfach zu gut. Es war zudem verboten, sich mit „Asiaten“ an einen Tisch zu setzen, was auch in der Josefsgeschichte der Bibel (Gen 37–50) belegt ist. Und so dürften begabte Fremde aus der Not heraus die vereinfachte, kursive Hieroglyphenschrift, die zirka 600 hieratischen Zeichen, pflichtbewusst übernommen und für ihre Verwaltungs- und Handelszwecke adaptiert haben. Um die vielen semitischen Wörter und Namen zu schreiben, war zweifellos einige Übung in der Verwendung ägyptischer Einkonsonanten-Silbenzeichen nötig. Und es lag wohl nahe, diese Zeichen so weit umzufunktionieren, dass der Schreibvorgang möglichst erträglich und effizient geschehen konnte. Eine zufällige Parallele zwischen dem Ägyptischen und dem Semitischen betreffend die Namengebung der Zeichen kam den Schreibern zu Hilfe: Beide Sprachen kannten nur Wörter, die mit Konsonanten beginnen. Daher konnten die Schreiber die passenden ägyptischen Hieroglyphen aus dem riesigen Zeichenschatz herauspicken und zu ihren eigenen „Buchstaben“ machen. Das akrofonische Prinzip, demzufolge sie Zeichen wählten, deren semitische Namen die passenden Anfangskonsonanten lieferten, sollte vor allem beim Memorieren und Lernen helfen. Das „Wie“ der Entstehung des Alphabets können wir also heute erahnen, das „Wer“, also die Frage nach dem Genie, dem bei seiner mühevollen Arbeit die Idee zur vollen Konsonantenschrift kam, bleibt jedoch im Dunkeln der Geschichte verborgen. Doch die entscheidende Sternstunde der Menschheit hatte geschlagen!
Das erste Wort
Aber nun zurück nach Serabit el-Khadem. Inmitten Hunderter von konventionellen ägyptischen Hieroglyphen sowie Überresten eines der Göttin Hathor geweihten Tempels – das sollte sich später als entscheidend erweisen – standen da diese „proto-sinaitischen“ Spuren, unbeholfen in Stein geritzt, stumme Zeitzeugen des menschlichen Genies. Offensichtlich bestand auch inhaltlich ein Zusammenhang mit den ägyptischen Hieroglyphen, waren doch einige Zeichen neben ägyptischen Gravuren auf Steinfiguren erkennbar. Als Schlüssel zum endgültigen Nachweis, dass hier ein Alphabet benutzt wurde, diente eine unscheinbare Sphinx-Statue, die aufgrund ihrer künstlerischen Ausgestaltung zwischen 1800 v.Chr. und 1500 v. Chr. datiert werden muss. Heute sehen viele Archäologen das ältere Datum als das wahrscheinlichere an, doch fehlen eindeutige weitere Belege.
Ein Jahrzehnt konnte niemand diese uralten Zeichen wirklich bewerten, bis dann im Jahr 1916 der britische Ägyptologe Sir Alan Gardiner (1879-1963) einen brillanten, aufsehenerregenden Artikel publizierte: The Egyptian Origin of the Semitic Alphabet. Gardiners Schlussfolgerungen kurz zusammengefasst: Es handelt sich um ein Alphabet; jedes Zeichen steht für einen Buchstaben; als Vorlage dienten ägyptische Hieroglyphen; richtig ausgesprochen, werden alte semitische Wörter erkennbar. Und dann folgte auch gleich Gardiners Beweis: die Entzifferung eines einzigen Wortes. Mehrere Dutzend Zeichen einer „Viererkette“ waren auf diesen Inschriften auszumachen. Gardiner nannte diese box (Haus), eye (Auge), cane (Stock) und cross (Kreuz). Und einmal fanden sich diese auch auf der Sphinx-Statue, zusammen mit einer auf der Schulter eingeritzten, leicht lesbaren hieroglyphischen Inschrift: „Geliebte Hathor, Dame des Türkises.“ Gardiner hatte nun einen Geistesblitz. Was wäre, wenn die beiden Schriftzüge den gleichen Inhalt ausdrückten? Elektrisiert ging er an die Überprüfung dieser Annahme. Und in der Tat konnte er die vier Zeichen Haus, Auge, Stock und Kreuz (B-Kehlkopflaut-L-T) als eine Darstellung des semitischen Wortes „baalat“, Dame oder Göttin, entziffern. Diese mit Ehrfurcht eingeritzte weibliche Namensform des Gottes Baal konnte im semitischen Kulturkreis für den Titel oder den Namen einer Göttin stehen. Die Sphinx-Statue musste, so schien es, von den Menschen, die die Schriftzüge geschaffen hatten, dem Tempel der Göttin Hathor geweiht worden sein, vermutlich als Dank für ihren Schutz in den gefährlichen Türkisminen. Das älteste Wort, das bislang je als alphabetisch entziffert werden konnte, ist demnach „Dame“ oder „Göttin“, mit den drei Buchstaben „b“, „l“ und „t“. Wie für semitische Sprachen üblich, wurden nur Konsonanten geschrieben; das vierte Zeichen, das „Auge“, ein für uns kaum hörbarer gutturaler Kehlkopfverschluss, blieb bei der Transliteration meist einfach unberücksichtigt. Manche Linguisten geben es aber mit einem ‘ wieder: ba’alat. Mit seiner 1927 veröffentlichten ägyptischen Grammatik, die neben einem Wörterbuchteil auch die berühmte Gardiner‘s Sign List (Gardiner-Liste), eine Zusammenstellung der mittelägyptischen Hieroglyphen, enthält, legte dieser großartige Wissenschaftler den Grundstein zum späteren Ritterschlag (1948). Zudem wurden bald Alan-Gardiner-Ehrentitel der prestigeträchtigen Universitäten Durham, Oxford und Cambridge verliehen.
Nun zur brennenden Frage, die sich schon Gardiner stellte: Konnte das erste Alphabet auf der Sinai-Halbinsel entstanden sein? Die Spekulation ist ohne Zweifel reizvoll, doch die 27 Zeichen auf den dreißig Inschriften zeigen bereits einen gewissen Reifegrad. Daher sehen namhafte Linguisten diese Inschriften als Frucht einer bereits mindestens hundert bis zweihundert Jahre langen Entwicklung an. Unsere Buchstaben könnten also in der Tat nahe dem Beginn des zweiten Jahrtausends vor Christus auf Sandstein geschrieben worden sein – so interpretierte das zumindest Gardiner. Doch vielleicht geschah dieses „Wunder“ nicht unbedingt auf Sinai.
Die frühe Keilschrift
Die archäologischen Grabungen im Orient blieben nicht auf das frühe 20. Jahrhundert beschränkt. 1929 machten weitere überraschende Funde Schlagzeilen, diesmal in der kanaanäischen Stadt Ugarit, nahe dem nördlichen Abschnitt der Mittelmeerküste des heutigen Syrien. Mehr als tausend Inschriften mit geometrischen Ausformungen (Grundelemente: waagrechte, senkrechte und schräge Keile), von Sprachforschern als Keilschrift bezeichnet, zeugten von einem weiteren möglichen Geburtsort des Alphabets. Diese Formen entstanden offensichtlich dadurch, dass mit Schreibgriffeln Kerben in den noch weichen Beschreibstoff Ton geritzt wurden. 1300 bis 1200 v.Chr. mussten diese keilförmigen Zeichen entstanden sein – so weit ist die Datierung sicher. Handelskorrespondenz, Steuerbücher und zahllose behördliche Notizen, jeweils mit dreißig Zeichen geschrieben, sind der Ausdruck der wirtschaftlichen Zentralstellung dieser Stadt. Mit nur 27 „Buchstaben“ wurden dagegen religiöse Texte geschrieben, die, wie sich später herausstellte, sowohl in der Wortwahl wie auch in den Geschichten eine große Ähnlichkeit mit denen des Alten Testaments zeigen. Haben wir hierin vielleicht sogar die frühesten biblischen Texte zu sehen? Zu verneinen ist diese Frage keinesfalls, klare Beweise sind allerdings auch nur schwer zu finden. Ein nahe der türkischen Küste gehobenes Schiffswrack brachte zudem die damals über Ugarit gehende Handelsware zutage: Werkzeuge aller Art, Kupfer und Zinn, Glasbarren, Fayence- und Bernsteinperlen, Schmuck, vor allem aus Elfenbein, Tonwaren, Textilien und Bauholz. Zehn Sprachen und mindestens fünf Schriften waren in dieser Stadt bekannt, doch schien bis zur Schaffung der ugaritischen Alphabetschrift die akkadische Keilschrift verwendet worden zu sein. Möglicherweise war diese für die immer mehr an Bedeutung gewinnenden semitischen Händler zu umständlich und unsicher geworden. Jedenfalls entstanden im oben angegebenen Zeitraum völlig neue, aus exakt dreißig Buchstaben bestehende Keilschriftzeichen, und damit war ein vollwertiges Alphabet geschaffen. Für die Ausformung unserer heutigen Buchstaben hat diese Linie der Alphabet-Geschichte allerdings nur geringe Bedeutung.
Weitere Funde im heutigen Israel sowie im nördlich angrenzenden Libanon, die stark an die Sinai-Zeichen erinnern, zeigen Buchstaben, die mit Tinte auf Haushaltsgegenstände und Waffen gemalt worden waren. Ein Dolch, der auf 1650 v. Chr. datiert wird, sowie weitere (mehrere Dutzende) Gegenstände wechselnden Alters, jedenfalls vor 1200 v. Chr., vermitteln eine Vorstellung von der Verbreitung des Alphabets im damaligen Kanaan. Denn je weiter südlich – also im heutigen Israel – ausgegraben, desto älter sind die Fundstücke. Ein Bruchstück enthält gar eine Liste von 22 Buchstaben – eine mit dem späteren phönizischen Alphabet identische Anordnung. Das wusste man allerdings erst, nachdem vergleichende Studien mit dem Hebräischen diese Reihenfolge bestätigten. Mehr dazu in einem späteren Kapitel. Sprachforscher bezeichnen all diese Funde heute als proto-kanaanäische Inschriften. Wie schon die Funde auf der Halbinsel Sinai ist auch dieses Alphabet das Werk eines semitischen Volkes. Da die Phönizier als direkte Nachkommen der Kanaaniter anzusehen sind, schien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vielen Linguisten die Levante als Wiege des Alphabets wahrscheinlich; als Entstehungszeit wurde etwa 1750 v. Chr. angenommen.
Der zweite Durchbruch
Das Bild vom Ursprung unseres Alphabets um 1750 vor unserer Zeitrechnung schien also seit Gardiners Artikel unveränderlich, gleichsam „in Stein gemeißelt“. Dann jedoch die Sensation – ein neuer Fund! Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts werden alle bisherigen Spekulationen zum Ursprung des Alphabets neuerlich über den Haufen geworfen. Wie seinerseits Petrie war ein weiterer Ägyptologe, im Auftrag der Yale University, auf den Spuren des altägyptischen Straßenbaus. John Coleman Darnell führte in Begleitung seiner ebenfalls als Ägyptologin tätigen Frau Deborah eine breit angelegte Feldforschung durch, um die Landverbindungen der Städte am Nil untereinander und die Zugangsstraßen zum Roten Meer zu untersuchen. Immerhin war diese Infrastruktur für Karawanen, Soldaten und Boten aller Art enorm wichtig. Schon im Herbst 1992 machte das Ehepaar Darnell eine interessante Entdeckung im von Wüste umgebenen Hügelland, ca. 45 km nordwestlich von Luxor, dem antiken Theben: ein sehr gut erhaltenes Stück einer fast viertausend Jahre alten Straße. Offensichtlich war es ein Teil einer Verbindung zwischen dem königlichen Theben und der nördlich gelegenen Stadt Abydos. Das Tal, in dem dieser Straßenabschnitt lag, dürfte in den letzten Jahrtausenden weitgehend unberührt geblieben sein. Zumindest ließen die vielen kleinen Bruchstücke, die allerorts zu finden waren, diesen Schluss zu. Jedenfalls konnten hier noch keine „Räuber“ ihr Unwesen getrieben haben. Dennoch stellten die Darnells bald anhand von wenigen Fotos und Notizen fest, dass bereits 1936 ein britisches Archäologenteam durch dieses Tal gezogen sein musste. Da dieser Platz so trostlos und gottverlassen schien, hatte man ihm den Namen Wadi el-Hol gegeben, arabisch für „Tal des Schreckens“. Was für ein Name für einen Ort, an dem eine wahre Weltsensation auf ihre Entdeckung wartete! Auf den glatten Felswänden (Darnell sprach von „blackboard-like sheets of rock“; dt.: tafelgleiche Felswände) waren sogenannte Felsinschriften im Stil von Gedenk-Botschaften des altägyptischen Militärs zu sehen: eine Mischung aus Hieroglyphen und hieratischen Symbolen, einer vereinfachten Schreibweise, die im Mittleren Königreich zwischen 2000 und 1600 v.Chr. immer mehr Anhänger fand. Da Ägypten zu dieser Zeit immer wieder feindlichen Angriffen ausgesetzt war, wurde gerade im Bereich dieser Fundstätte ein starkes Patrouille-System auf Kamelen aufgebaut. In der einsamen, von Sand- und Felswüste geprägten Gegend entstand eine nur allzu verständliche Tradition, nämlich Erinnerungs- und Gedenk-Botschaften in den Fels zu ritzen, frühe Graffiti sozusagen, wie der moderne Jargon unserer Zeit diese bezeichnen würde. Fast wirkten diese Worte wie Grabinschriften für noch lebende Menschen. Name, Titel, Danksagungen an eine Gottheit, und vielleicht kurze Gebetsworte – das war es, was zukünftige Generationen an Militärpatrouillen an diesem öden Dienstort in der Fels- und Sandwüste Ägyptens an ihre Vorfahren erinnern würde und womöglich den Seelen der Betroffenen im Jenseits helfen sollte.
New York Times