image1

Robert Penn

Vom Glück auf zwei Rädern

Aus dem Englischen

von

Andreas Simon dos Santos

Tolkemitt Verlag

Deutsche Erstausgabe

The Pursuit of Happiness on Two Wheels« bei Particular Books erschienen.

Published by the Penguin Group.

Copyright © Robert Penn, 2010

Copyright © 2011 Verlage Haffmans & Tolkemitt;

Inselstr. 12, D-10179 Berlin

www.haffmans-tolkemitt.de

Korrektorat: Ursula Maria Ott, Frankfurt.

Gestaltung & Produktion von Urs Jakob,

Werkstatt im Grünen Winkel, CH-8400 Winterthur.

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten.

Druck & Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm.

Printed in Germany.

e-Pub ISBN 978-3-942989-33-6

INHALT

VORWORT

Die kleine Königin

KAPITEL 1

Diamantenseele: der Rahmen

KAPITEL 2

Eine Frage des Gleichgewichts: das Lenksystem

KAPITEL 3

Wir kommen in die Gänge: der Antrieb

KAPITEL 4

Mittig, schlagfrei und zentriert: die Laufräder

KAPITEL 5

Unterm Hintern: der Sattel

NACHWORT

Die Jungfernfahrt

ANHANG

Allerlei Lesenswertes

Nützliche Informationen

Dank

Bildnachweis

Register

Image

VORWORT

Die kleine Königin

Who climbs with toil, whereso’er
Shall find wings waiting there.

[Wer unter Mühen strebt zu höher’m Ort,
Sei’s gleich wohin, wird Flügel finden dort.]

Henry Charles Beeching, »A Boy’s Song«

»Das Pferd der Zukunft«, verkündet Butch mit einem breiten Grinsen und lädt die schöne Etta ein, auf seinem Fahrradlenker Platz zu nehmen. Was folgt, ist eines der bekanntesten Intermezzi der Filmgeschichte: Zu den Klängen von »Raindrops Keep Fallin’ on My Head« radelt Paul Newman mit seiner Filmpartnerin auf dem Lenker einen Farmweg im Wilden Westen hinunter und entlockt ihr mit seinen Radkunststückchen bezaubernde Lachsalven.

Der Film Butch Cassidy und Sundance Kid heimste 1970 vier Oskars ein, darunter für den besten Song und das beste Drehbuch. Auch das Plakat zeigte das Wild-West-Pärchen auf dem Rad. Die Szene hat eine tiefere Bedeutung: Nicht nur das Gesetz ist den alternden Revolverhelden auf den Fersen, die Zukunft selbst – versinnbildlicht durch das Fahrrad – ist ihnen dicht auf die Pelle gerückt. Als sie ihr Versteck aufgeben, stößt Butch das neumodische Ding einen Hügel hinab. »Die Zukunft gehört dir, du Scheißdrahtesel!«, ruft er ihm hinterher. Als die Räder des Gefährts tickernd in einem Flussbett zum Stehen kommen, ist das die filmische Überleitung zum Finale: Butch und Sundance wissen, dass ihre Zeit im Westen abgelaufen ist, und reisen nach Lateinamerika, in der Hoffnung, dort ihre verlorene Vergangenheit wiederzufinden – wie die berüchtigten Zugräuber Robert LeRoy Parker und Harry Longabaugh, die 1901 aus Wyoming nach Argentinien geflohen waren und dem Drehbuch als Vorlage dienten.

Nicht nur Zugräubern fiel es damals schwer, sich noch zurechtzufinden. Ein rasanter Wandel hatte die Zeit erfasst, im Wilden Westen ebenso wie in der übrigen Welt. Viele Menschen in den 1890er Jahren fühlten sich von der Zukunft förmlich überrollt. Das Jahrzehnt erlebte die ersten internationalen Telefonverbindungen, die Aufteilung Afrikas unter die westlichen Kolonialmächte, die Gründung der britischen Labour Party, die Festlegung anerkannter Regeln für zahlreiche Sportarten, die bald weltweite Verbreitung fanden, und die erste Olympiade der Neuzeit. Die spätere Bayer AG erlangte ein Patent auf Heroin, Marie und Pierre Curie entdeckten das Radium, Henri Becquerel die Radioaktivität von Uran. In New York eröffnete das Waldorf-Astoria, in Paris das Ritz. Émile Durkheim begründete die Soziologie. Der soziale Gedanke – Arbeiterrechte, soziale Absicherung – breitete sich zunehmend aus. In den USA häuften die Rockefellers und Vanderbilts beispiellose Privatreichtümer an. Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte die nach ihm benannten Strahlen, William Dickson und die Brüder Lumière entwickelten die Kinematographie. Es kam zur Wiener und Berliner Sezession. Verdi, Puccini, Tschaikowski, Mahler, Cézanne, Gauguin, Monet, Liebermann, Corinth, Munch, Rodin, Tschechow, Ibsen, Henry James, Yeats, Gerhard Hauptmann, Kipling, Oscar Wilde, Joseph Conrad, Arthur Schnitzler und Émile Zola: Sie alle standen auf dem Gipfel ihrer Schaffenskraft. Es war ein bemerkenswertes Jahrzehnt – die Blüte der Wilhelminischen Zeit, der Schlussstein der Viktorianischen Epoche.

Und im Herzen all dessen stand das Fahrrad. 1890 gab es schätzungsweise 150 000 Radfahrer in den USA. Ein Rad kostete noch grob die Hälfte des Jahreslohns eines Fabrikarbeiters. Bis 1895 war der Preis auf ein paar Wochenlöhne gefallen, und jedes Jahr kam eine Million neue Radler hinzu.

Der Fahrradtyp, auf dem Butch seine Etta spazieren fuhr, wurde »Sicherheitsrad« genannt. Es war das erste moderne Fahrrad und der Kulminationspunkt einer langen, sprunghaften Suche nach einem von menschlicher Muskelkraft angetriebenen Fahrzeug. »Erfunden« wurde das Sicherheits- oder auch Niederrad 1885 in England. Als drei Jahre später der Luftreifen hinzukam, der das Gefährt bequemer machte, begann das erste goldene Zeitalter des Fahrrads. Der Invasion von Armeen kann man sich erwehren, so hat sich Victor Hugo einmal sinngemäß geäußert, nicht aber dem Ansturm von Ideen, deren Zeit gekommen ist. Die »Frohe Botschaft des Rads« verbreitete sich so rasch, dass man sich allenthalben an den Kopf fasste, warum etwas so Einfaches nicht schon viel früher erfunden worden war.

Die Fahrradproduktion entwuchs ihren bescheidenen Anfängen in Hinterhofschmieden und wurde zu einem richtig dicken Geschäft. Fahrräder wurden binnen kurzem in Massen am Fließband hergestellt, Entwicklung und Herstellung wurden getrennt, spezialisierte Zulieferer fertigten standardisierte Teile. Ein Drittel aller Patente, die in den 1890er Jahren im amerikanischen Patentamt in Washington, D.C., registriert wurden, betraf Neuerungen zur Verbesserung des Fahrrads. Das Amt unterhielt sogar ein eigenes Gebäude nur für Erfindungen, die sich auf das Fahrrad bezogen.

1895 stellten auf der jährlichen Industriemesse des Fahrrads, der Stanley Bicycle Show, bereits 200 Firmen 3000 Modelle aus. Die Zeitschrift The Cycle meldete, dass in jenem Jahr in Großbritannien 800 000 Fahrräder hergestellt wurden. Viele Schlosser, Büchsenmacher und Metallfacharbeiter gaben ihre Stellen auf und suchten sich Arbeit in den Fahrradfabriken. 1896 erreichte die Produktion in den USA ihren Gipfel: 300 Firmen produzierten 1,2 Millionen Fahrräder und machten die Fahrradherstellung zu einer der bedeutendsten Industrien des Landes. Das größte Unternehmen, Columbia, beschäftigte in seinen Werken in Hartford, Connecticut, 2000 Arbeiter und rühmte sich, ein Fahrrad pro Minute zu fertigen.

Bis zum Ende des Jahrzehnts war das Fahrrad für Millionen zu einem nützlichen Fortbewegungsmittel geworden – zum »Drahtesel« oder zum »Stahlross« des kleinen Mannes. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Arbeiterklasse mobil. Da die Arbeiter nun zur Arbeit pendeln konnten, leerten sich überfüllte Mietshäuser, die Vorstädte dehnten sich aus, das räumliche Gefüge der Städte veränderte sich. Auf dem Land sorgte das Fahrrad für eine weitläufigere Durchmischung der Gene: Britische Geburtsregister aus den 1890er Jahren belegen, dass Nachnamen nun immer öfter fern des Landstrichs auftauchten, in dem sie seit Jahrhunderten verwurzelt gewesen waren. Überall war das Fahrrad Anlass für Kampagnen zur Verbesserung der Straßen, die dem Automobil buchstäblich den Weg ebneten.

Der gesundheitliche Nutzen des Radfahrens passte gut zum aufstrebenden Geist der Selbstertüchtigung, der die Epoche beseelte. Dieselben Arbeiter, die zu den Fabriken und Zechen radelten, gründeten Gymnastikvereine und Chöre, Leihbüchereien und literarische Gesellschaften. An den Wochenenden unternahmen sie Radtouren im Verein. Die Zahl der Amateur- und Profirennen explodierte förmlich. Radrennen auf Bahnen und in Velodromen wurden zum beliebtesten amerikanischen Zuschauersport. Arthur A. Zimmerman, einer der ersten internationalen Sportstars, gewann über 1000 Rennen auf drei Kontinenten, erst als Amateur, später als Profi, darunter Goldmedaillen bei der ersten Bahnradweltmeisterschaft 1893 in Chicago. Auf dem europäischen Festland wurden Straßenrennen enorm populär. Langlebige Klassiker wie die Rennen Lüttich – Bastogne – Lüttich und Paris – Roubaix wurden zum ersten Mal 1892 respektive 1896 ausgetragen. 1903 fand die erste Tour de France statt.

Besonders die Amerikaner begeisterten sich in den »fröhlichen Neunzigern« für die Idee der Geschwindigkeit: Durch die Fortschritte im Verkehrs- und Fernmeldewesen wurde Geschwindigkeit zum Inbegriff von Zivilisation und verhieß die Vereinigung ihres riesigen Landes. Auf einem Fahrrad konnten die Amerikaner daran teilhaben. Ende 1893 erreichten Bahnrennfahrer Geschwindigkeiten von über 60 Stundenkilometern. Das Fahrrad überflügelte das Pferd als schnellstes Verkehrsmittel der Straße. Technische Innovationen machten das Rad im Laufe der Dekade noch leichter und schneller. 1891 stellte Monty Holbein im Londoner Herne-Hill-Velodrome einen 24-Stunden-Bahnweltrekord von 577 Kilometern auf. Sechs Jahre später sattelte der zigarrenrauchende Niederländer Mathieu Cordang noch 400 Kilometer drauf.

Ein typisches Fahrrad hatte einen starren Gang (nur einen einzigen Gang ohne Freilauf), einen Stahlrahmen, einen leicht abgesenkten Lenker und einen Ledersattel. Es kam gewöhnlich ohne Bremsen aus (gebremst wurde durch Treten in die Gegenrichtung). Tourenräder wogen meist um die 15, Rennräder unter zehn Kilo – was in etwa dem Gewicht der besten heute im Handel angebotenen Straßenrennräder entspricht. Am 30. Juni 1899 erlangte Charles Murphy Berühmtheit, als er auf den mit Bohlen ausgelegten Gleisen der Long Island Rail Road im Windschatten einer Lokomotive als Erster eine Meile in knapp unter einer Minute fuhr.

In der Gesellschaft des Fin de Siècle stillte das Fahrrad die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Mobilität, und das Sicherheitsrad erschloss dem neuen Fortbewegungsmittel ganz neue Käuferschichten. Zum ersten Mal konnte jeder ein Rad fahren: die Kleinen ebenso wie die Unsportlichen, Frauen ebenso wie Männer, Alte ebenso wie Junge (Jugendräder wurden bereits seit den frühen 1890er Jahren vermarktet). Die Massenproduktion und ein aufkeimender Markt für Gebrauchträder sorgten dafür, dass sich die Mehrheit der Menschen auch eins leisten konnte. »Alles«, so frohlockte der zeitgenössische amerikanische Autor Stephen Crane angesichts dieses Siegeszugs, »ist Fahrrad.«

Vielleicht bestand die größte Wirkung des Rads darin, dass es die bis dahin rigiden Schranken zwischen Klassen und Geschlechtern aufbrach. Dem Fahrrad haftete etwas Demokratisches an, dem die Gesellschaft widerstandslos erlag. H. G. Wells, der »Poeta laureatus der Radler«, wie ihn einer seiner Biografen nannte, illustrierte in mehreren seiner Romane den durchgreifenden gesellschaftlichen Wandel, den das Fahrrad beförderte. In seinem auf der Höhe des Booms 1896 veröffentlichten Roman The Wheels of Chance begibt sich Mr. Hoopdriver, ein kleiner Textilverkäufer aus der unteren Mittelschicht, auf eine Fahrradtour und begegnet einem von zuhause weggelaufenen Mädchen aus der oberen Mittelschicht, das übers Land radelnd »seine Freiheit« zur Schau trägt. Wells nimmt satirisch die britische Klassengesellschaft aufs Korn und zeigt, wie das Fahrrad sie aufweicht: Auf der Straße sind Hoopdriver und die junge Dame gleich. Die von der Gesellschaft zur Wahrung der herrschenden Hierarchie geforderte Kleideretikette, die Beschränktheit auf die eigenen Clubs und Zirkel, auf strenge Benimmund Moralregeln – all das verlor seine Bedeutung, wenn man gemeinsam eine Landstraße in Sussex hinunterradelte.

Auch dem Romancier John Galsworthy war die egalisierende Wirkung des Rads nicht entgangen. Er schrieb in seinem Werk On Forsyte ’Change:

Das Fahrrad … hat mehr Bewegung in Sitten und Moral gebracht als alles andere seit Charles II. … Teilweise oder gänzlich unter seinem Einfluss erblühten Wochenenden, starke Nerven, stramme Beine, Kraftausdrücke … Gleichheit der Geschlechter, gute Verdauung und Ausbildungsberufe – mit einem Wort: die Emanzipation der Frau.

Das Fahrrad gab sicher nicht den Anstoß zur feministischen Bewegung, doch es fiel mit ihr zusammen und kam zu einer Zeit, die eine Wende im langen Kampf um das Frauenstimmrecht brachte. Selbstverständlich war den Fahrradherstellern daran gelegen, dass Frauen radelten. Schon seit dem ersten Fahrradprototyp von 1819 hatten sie sich mit Damenmodellen versucht, doch erst das Sicherheitsrad brachte den Durchbruch. Radfahren wurde zum ersten populären Frauensport, und bis 1893 hatte beinahe jeder Hersteller ein Damenmodell im Angebot.

Im September 1893 löste Tessie Reynolds in England eine Sensation aus, als sie auf einem Herrenrad von Brighton nach London fuhr – in »Reformkleidung«: ein Hosenkostüm aus langer Jacke und einer über die Knie reichenden Pumphose. Es war ein Wendepunkt in der Akzeptanz praktischer Kleidung für Frauen, von denen die meisten noch in voluminösen Röcken, Korsetts, Unterröcken, langärmligen Blusen und hochgeschlossenen Jacken radelten. Als 1912 die Kampagne des zivilen Ungehorsams der Suffragetten ihren Höhepunkt erreichte, galt Reynolds Fahrt längst als Meilenstein.

Image

Im Juni 1894 brach Anna Kopchovsky unter dem Namen Annie Londonderry mit nur einer Garnitur Wäsche zum Wechseln und einem Damenrevolver mit Perlmuttgriff von Boston aus zu einer Weltumrundung auf dem Fahrrad auf. Kopchovsky war eine schillernde Persönlichkeit, die es bei ihren Schilderungen mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm, doch sie war witzig, klug und charismatisch und machte sich bewusst die Sache der Frauen zu eigen. Sie war das Inbild der »neuen Frau«, ein amerikanischer Ausdruck für moderne Frauen, die in ihrem Auftreten ihre Ebenbürtigkeit mit den Männern zum Ausdruck brachten. Das Rad, das der Historiker Robert A. Smith einmal als »Freiheitsmaschine« bezeichnete, gab der neuen Frau Auftrieb.

Führende Frauenrechtlerinnen der Zeit wie die Suffragette Susan Anthony traten mit ihrer Kritik an der überkommenen Kleiderordnung dafür ein, den Frauen dasselbe Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit zu verschaffen, das die Männer genossen. Anthony, die berühmt wurde, als sie es schaffte, sich an der Präsidentschaftswahl 1872 zu beteiligen, dafür dann aber verhaftet wurde (in den USA wurde das Frauenwahlrecht erst 1920 eingeführt), wusste um den Wert des Fahrrads. In einem Interview in der New York Sunday World erklärte sie 1896:

Ich will Ihnen sagen, was ich vom Radfahren halte. Ich glaube, es hat mehr für die Emanzipation der Frau getan als irgendetwas anderes auf der Welt … Es gibt der Frau ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit … In dem Augenblick, wo sie sich auf den Sattel setzt, weiß sie, dass ihr nichts Schlimmes widerfahren kann, sofern sie nicht vom Rad steigt, und dann fährt sie dahin – ein Bild freier, ungebundener Weiblichkeit.

Als sich Butch Cassidy und Sundance Kid nach Südamerika aufmachten, hatte das Fahrrad bereits breite Anerkennung gefunden und einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gesellschaft entfaltet. Binnen eines Jahrzehnts hatte sich Radfahren von einer neumodischen Freizeitbeschäftigung, die einer exklusiven, winzigen Minderheit von wohlhabenden athletischen Herren vorbehalten war, zur populärsten Fortbewegungsart der Welt entwickelt. Sie ist es bis heute geblieben.

Das Rad ist eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit – von ebenso hohem Rang wie der Buchdruck, der Elektromotor, das Telefon, das Penizillin oder das Internet. Unsere Vorfahren hielten es für eine ihrer größten Errungenschaften. Diese Vorstellung kommt heute wieder in Mode. In den letzten Jahrzehnten wächst das kulturelle Ansehen des Fahrrads von neuem. Das Rad ist aufgrund einer Reihe von Faktoren – von der Gestaltung der städtischen Infrastruktur über die Verkehrspolitik und die Sorge um die Umwelt bis hin zum Radsport und einem veränderten Freizeitverhalten – heute wieder stärker in die westliche Gesellschaft eingebettet. Tatsächlich sprechen einige schon davon, dass wir uns an der Schwelle zu einem neuen goldenen Zeitalter des Fahrrads befinden.

Das Fahrrad lässt sich in wenigen Worten beschreiben: ein lenkbares Gerät bestehend aus zwei linear hintereinander an einen Rahmen montierten Laufrädern mit Luftreifen und einer drehbaren Vordergabel, angetrieben von einem Fahrer, der mit seinen Füßen Muskelkraft auf zwei Pedale ausübt, welche mittels Kurbeln an einem Kettenblatt befestigt sind, dessen Bewegung durch eine Kette auf ein Ritzel am Hinterrad übertragen wird. Es ist also ganz einfach. Mit dem Rad kann auf einer halbwegs geeigneten Fahrbahn mit demselben Kraftaufwand das Vier- oder Fünffache der Gehgeschwindigkeit erreicht werden. Damit ist es das effizienteste von Muskelkraft angetriebene Fortbewegungsmittel, das je erfunden wurde. Zum Glück ist es leicht, das Radfahren zu erlernen (so leicht sogar, dass man es auch den meisten Primaten beibringen kann). Und hat man es einmal begriffen, kann man das Radfahren praktisch nie wieder verlernen.

Image

Seitdem ich erwachsen bin, bin ich so gut wie jeden Tag geradelt. Ich kann mich allerdings nicht mehr daran erinnern, wann ich als Kind das erste Mal Rad gefahren bin. Ich weiß, eigentlich sollte ich den Moment der Offenbarung zurückrufen können, den wir alle teilen: als an einem flachen Abhang im Park die Stützräder entfernt wurden, mein Vater seine Hand zurückzog und ich taumelnd das große Gleichgewicht erlangte, das mich nie wieder verlassen sollte; jener Augenblick, als ich zum ersten Mal unbewusst, wenn auch noch wackelig, den Schwerpunkt über den Auflageflächen des Fahrrads aussteuerte und zum ersten Mal das esoterische Prinzip der Balance begriff. Aber nein, leider kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Tatsächlich entsinne ich mich nicht einmal mehr meines ersten Fahrrads.

Das erste Rad, an das ich mich erinnere, war ein lilafarbenes Raleigh Tomahawk, eine Miniaturversion des Modells Chopper von derselben Firma. Danach stieg ich auf ein Raleigh Hustler um, ein Rennrad, ebenfalls lila, aber mit weißem Lenkerband, weißem Sattel, weißer Wasserflasche, weißen Zughüllen und weißen Reifen aufgebrezelt – es waren die 70er Jahre. Als ich ihm entwachsen war, besorgte mir meine Oma ein Dreigang-Kinder-Tourenrad von Dawes aus fünfter Hand. Verglichen mit dem Hustler war es von der Eleganz eines Gummistiefels, aber es flog nur so dahin. Während des Sommers 1978 düste ich damit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang durch die Nachbarschaft. Meine Eltern erkannten, dass mich das Radfieber gepackt hatte, und im folgenden Frühjahr bekam ich ein Viking-Rennrad mit zehn Gängen – ein schwarzes Vollblut. Es stand noch im Schaufenster des örtlichen Fahrradladens, als ich es abholte. Es war, wie Jack London einst in einem Brief geschrieben hatte: »Schon geradelt? Also das ist was, das macht das Leben lebenswert! … Ach, auch nur mit den Händen den Lenker zu umfassen und dich nach vorn zu beugen und über Straßen und Wege zu preschen, über Bahngleise und Brücken, dich durch Menschenmengen zu schlängeln … und dich die ganze Zeit zu fragen, wann du dir wohl Hals und Beine brichst. Was für ein Mordsspaß das ist!« So fühlte ich mich auf meinem Viking-Rennrad. Ich war der geborene Herumtreiber. Mit zwölf Jahren hatte ich endlich Flügel.

Als ich wieder landete, war ich in der Pubertät. Das Fieber – zu radeln und immer weiter zu radeln aus purer Lust daran – war verflogen. Statt auf die rhythmische Kadenz zweier Räder fuhr ich nun auf Ska-Musik ab. Natürlich benutzte ich weiterhin ein Fahrrad, um von einem Ort zum anderen zu kommen, und verschliss in der Folge drei ungeliebte, verbeulte Rennräder. Zu Beginn meines letzten Jahres an der Uni brachte mein Mitbewohner ein rotes Tandem mit nach Hause, ein Fahrrad so ehrlich und rot, dass wir es Otis nannten. Bei Mondschein fuhren wir damit Zeitrennen um Londons georgianische Plätze.

1990 kaufte ich mein erstes Mountainbike – ein schnörkelloses, ungefedertes britisches Saracen Sahara. Ich fuhr darauf von Kashgar in China über das Karakorumgebirge und den Hindukusch nach Peschawar in Pakistan. Zurück in London, wo ich als Rechtsanwalt arbeitete, leistete das Rad mehr, als mich nur von einem Ort zum anderen zu bringen: Es repräsentierte das Leben jenseits der Nadelstreifenanzüge. Dann wurde es gestohlen. Eine Reihe von eigens für das Pendeln ausgestatteten Mountainbikes folgte: ein Kona Lava Dome, zwei Specialized Stumpjumper, ein Kona Explosif und andere. Sie wurden allesamt gestohlen. Einmal wurden mir an einem Wochenende gleich zwei geklaut. Ich unternahm mit diesen Rädern Touren entlang des Ridgeway National Trail, im Dartmoor-Nationalpark und dem Lake District, aber die meiste Zeit dienten sie mir dazu, mich durch Londons Nebenstraßen zu bringen.

An einem winterlichen Samstagnachmittag des Jahres 1995 betrat ich das Geschäft von Roberts Cycles, einem angesehenen Rahmenbauer in Südlondon, und gab einen maßgefertigten Trekkingrahmen in Auftrag. Ich taufte ihn auf den Namen Mannanan, nach der keltischen Mythengestalt Mannanan mac Lir, der die Isle of Man beschützt, wo ich aufgewachsen bin. Mit meinem Mannanan-Rad fuhr ich durch die USA, Australien, Südostasien, den indischen Subkontinent, Zentralasien, den Nahen Osten und Europa – praktisch rund um die Welt. »Sei eins mit dem Universum«, hat der amerikanische Fahrradmechanikerpapst und Handbuchautor Lennard Zinn einmal geschrieben. »Wenn du das nicht schaffst, sei wenigstens eins mit deinem Rad.« Nach drei Jahren und 40 000 Kilometern war ich es.

Image

Heute hängt Mannanan an der Wand meines Schuppens. Ich besitze fünf weitere Fahrräder: Ein zehn Jahre altes Specialized Rockhopper aus Stahl, an dem ich ständig herumschraube, um es für den täglichen Gebrauch fahrbereit zu halten. Mein altes Rennrad, für den Winter, ist ein Mischmasch aus Komponenten auf einem Nervex-Alu-Rahmen mit einer Karbongabel von Ambrosio. Das neue Rennrad von der italienischen Marke Wilier hat einen schlanken Karbonrahmen, der in Italien entworfen und in Taiwan hergestellt wurde. Mein altes Mountainbike ist ein Schwinn, mein neues, zugleich auch meine jüngste Erwerbung: ein superleichtes, halbgefedertes Geländerad aus Alu von Felt (ein Hardtail), das perfekt geeignet ist für die Pfade in den Brecon Beacons, den walisischen Bergen, in denen ich heute lebe und radle.

Mit dieser kleinen Truppe hart arbeitender Räder ist mein Grundbedarf gedeckt. Und doch fehlt noch etwas Wesentliches: In meinem Zweiradschuppen klafft ein gähnendes Loch, eine Leerstelle, die nur mit etwas anderem, mit etwas ganz Besonderem gefüllt werden könnte. Es ist eine unerfüllte Sehnsucht, wie sie Zehntausende anderer Alltagsradler mit ihren Nutzrädern umtreiben muss. Mein Leben lang hatte ich eine Liebesaffäre mit dem Fahrrad – doch keins meiner Räder deutet auch nur entfernt darauf hin.

Ich fahre seit 36 Jahren Fahrrad. Heute benutze ich das Rad, um zur Arbeit zu fahren, manchmal, um mich abzuarbeiten, um fit zu bleiben, um Luft zu schnappen und Sonne zu tanken, um einkaufen zu fahren, um das Weite zu suchen, wenn mir die ganze Welt auf den Keks geht, um die Gesellschaft von Freunden zu genießen, um zu reisen, um bei Verstand zu bleiben, um vor dem Badetag meiner Kinder auszubüxen, um Spaß zu haben, um einen Augenblick der Gnade zu erhaschen – gelegentlich auch, um jemanden zu beeindrucken, um den Kitzel der Angst zu spüren oder um meinen Sohn lachen zu hören. Manchmal fahre ich mein Rad, nur um mein Rad zu fahren. Es ist eine ganze Palette von praktischen, körperlichen und emotionalen Gründen, die alle eins vereint: das Fahrrad.

Und nun will ich ein neues, ein ganz besonderes Rad. Ich könnte sofort ins Internet gehen, meine Kreditkarte zücken und 3500 Euro für ein Karbon- oder Titanrennrad von der Stange ausgeben. Morgen Abend schon könnte ich auf einer erstklassigen neuen Maschine über die Hügel brettern. Die Vorstellung ist verlockend – mehr als das. Aber es wäre nicht richtig. Wie viele andere Menschen habe ich den Kauf von Dingen satt, die nur dazu gemacht sind, bald ersetzt zu werden. Ich möchte mit diesem neuen Rad aus diesem Kreislauf ausbrechen. Ich werde es 30 Jahre und länger fahren und möchte den Prozess auskosten, es Stück für Stück zu erwerben. Ich will das beste Rad, das ich mir leisten kann, und ich möchte alt werden damit. Eine solche Summe werde ich im Übrigen nur einmal im Leben ausgeben. Ich begehre mehr als ein gutes Rad. Tatsächlich verlange ich ein Fahrrad, dass man nicht im Internet erwerben kann, ein Rad, das man nirgendwo zu kaufen bekommt. Jede und jeder, der regelmäßig Fahrrad fährt und auch nur die geringste Achtung oder Zuneigung für seinen Drahtesel hat, wird diese Sehnsucht kennen: Ich will mein Rad.

Image

Ich brauche ein Zauberrad, das irgendwie meine Radlergeschichte spiegelt und meine Zweiradaspirationen verkörpert. Ich will Handwerk, keine Technologie. Ich möchte, dass es von Menschen gemacht ist. Ich bin scharf auf ein Rad, das Charakter hat, eins, das nie wie das Vorjahresmodell aussehen wird. Ich möchte ein Rad, das meine Wertschätzung für die Tradition, die Weisheit und Schönheit des Fahrrads spiegelt. La petite reine, so lautet der französische Kosename für das Fahrrad: Ich will meine »kleine Königin«.

Ich weiß, wo ich anfangen muss. Ich werde mir von einem Rahmenbauer einen Fahrradrahmen nach Maß fertigen lassen. Was nur wenige wissen: Man kann sich für weit weniger Geld, als viele exotische, seriengefertigte Rahmen von der Stange kosten, die es im Handel zu kaufen gibt, einen Rahmen eigens anfertigen lassen, abgestimmt auf die eigenen Körpermaße und ausgelegt für die bevorzugte Art des Fahrens. Vor 60 Jahren gab es in jeder norditalienischen, französischen, belgischen und niederländischen Stadt mindestens einen Rahmenbauer. In Großbritannien gab es die meisten, jede größere Stadt hatte Dutzende von ihnen. Während eine Handvoll großer Hersteller wie Rudge-Whitworth, Raleigh und BSA in Großbritannien, Bianchi in Italien, Peugeot in Frankreich, Hercules, Mifa, Adler, Panther und Kettler in Deutschland die radfahrenden Massen versorgten, bauten kleine Rahmenbauer Fahrräder für Clubs, Rennfahrer, Tourenfahrer und Connaisseure. Diese Handwerker fertigten im Jahr einige Dutzend Rahmen, mit viel Liebe zum Detail und in ihrer individuellen Handschrift. In One More Kilometre and We’re in the Showers, seinen liebevollen Erinnerungen an die Radfahrerszene nach dem Zweiten Weltkrieg, nannte der Kunstkritiker und Journalist Timothy Hilton diese handgefertigten Rahmen »industrielle Volkskunst«. Ihre einfachen Werkzeuge – Feile, Metallsäge, Lötlampe, Rahmenlehre – verankerten die Rahmenbauer in einer innovativen Kunsthandwerkskultur, die bis zu den Anfängen der Fahrradherstellung zurückreichte.

Selbst Raleigh hatte einmal als kleine Werkstatt angefangen. 1888 stellte die Firma nur drei Fahrräder in der Woche her. 1951 waren es 20 000 Räder pro Woche. Anfang der 50er Jahre befand sich die Fahrradindustrie in Europa in schwindelerregenden Höhen. Allein in Großbritannien gab es zwölf Millionen Fahrradfahrer. Zusammen mit den wichtigsten Herstellern boomten auch die kleinstädtischen Rahmenbauer. Sammler erinnern sich heute nur noch an ihre Namen: Major Nichols und Ron Cooper in Großbritannien, Alex Singer und René Herse in Frankreich, Faliero Masi und Francesco Galmozzi in Italien oder Hugo Rickert in Deutschland, um nur eine Handvoll unter Hunderten zu nennen.

Bis Ende der 50er Jahre war das Fahrrad in ganz Europa immer noch das Haupttransportmittel der Arbeiterschaft. In Großbritannien war Radfahren auch die bedeutendste Freizeitbeschäftigung. An den Wochenenden leerten sich die Städte von jungen Leuten. Die britische Landschaft, von Werbeleuten und Schriftstellern bereits tüchtig idealisiert, quoll über von eifrigen Radausflüglern auf der Suche nach bukolischen Freuden.

Doch langsam hielt das Auto Einzug. Wurden in Großbritannien 1955 noch dreieinhalb Millionen Fahrräder verkauft, war die Zahl 1958 auf zwei Millionen gefallen. 1959 kam der Mini Cooper in den Handel. Kleine Rahmenbauer begannen zu verschwinden. In den 70er Jahren, als die Ölkrise in den USA einen enormen Nachfrageschub entfachte, gab es eine kurze Wiederbelebung. Ein paar Jahre lang konnten die Amerikaner von britischen und italienischen Leichtrennrädern nicht genug bekommen. Hingerissene junge Männer reisten über den Atlantik, um in London oder Mailand den Rahmenbau zu erlernen. Richard Sachs, Ben Serotta und Peter Weigle – heute eine Art Heilige Dreifaltigkeit der amerikanischen Rahmenbauer – gingen alle in den 70er Jahren in der einst berühmten Radschmiede Witcomb Cycles im Stadteil Deptford in Südostlondon in die Lehre.

Dennoch: Gegen Ende der 70er Jahre hatte die kulturelle Wahrnehmung des Fahrrads in Großbritannien einen Tiefpunkt erreicht. Das Rad galt nicht länger als geeignetes Fortbewegungsmittel, sondern bloß noch als Spielzeug oder, schlimmer noch, als Pest. Diese Ansicht beginnt sich erst heute wirklich zu wandeln. Als ich Anfang der 90er Jahre in London als Rechtsanwalt arbeitete, pendelte ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die meisten Leute hielten das bestenfalls für schrullig. Ich fuhr jeden Tag durch den Hyde Park und kannte die meisten anderen Radpendler mit Vornamen, weil es so wenige von uns gab. Auf den Straßen herrschte zwischen Autofahrern und Radlern offene Feindseligkeit. Die spontanen monatlichen Fahrraddemos, die Critical Mass Rides, waren praktisch anarchistische Veranstaltungen, die häufig in rollende Schlachten mit der Polizei ausarteten. Die Fahrradkuriere mit ihrem Heroin-Look waren die Bannerträger der Bewegung. Sie schossen durch die Kolonnen der im Stau stehenden Autos, schlüpften durch winzige Lücken, berauscht von den Abgasen und den Ausdünstungen der vor Wut siedenden Autofahrern.

Mein damaliger Fahrradladen in Holborn war eine bevorzugte Anlaufstation dieser kriegerischen Kurierklasse. Eines Freitagabends schaute ich dort nach der Arbeit vorbei, um mein Rad abzuholen, nachdem einer meiner Pedalarme abgebrochen war. Der Mechaniker schob das Rad aus der Werkstatt an drei Fahrradkurieren vorbei, die gemeinsam ein Dosenbier hoben. Der alte Pedalarm, ein klobiges Stück Aluminium, war mit einer Runde Klebeband am Lenker festgebunden.

»Wozu soll denn das gut sein?«, fragte ich und zeigte auf das Metallstück. Der Mechaniker wechselte einen Blick mit den Kurieren und sah mich dann wortlos an. Offensichtlich hätte ich wissen müssen, wozu das gut war, selbst wenn ich dort in einem grauen Nadelstreifenanzug stand. Nach einer langen Pause sagte einer der Kuriere mit wildem Blick: »Sie … knallen … es … durch … die … Scheibe … eines … Scheiß- …. Autos!«

Der Umzug in die Brecon Beacons vor sieben Jahren vermittelte mir eine weitere aufschlussreiche Lehre über die kulturelle Wahrnehmung des Fahrrads. In der Stadt gab es damals schon eine wachsende Zahl von Menschen, die das Rad für ein gesundes, nützliches Fortbewegungsmittel hielten. Auf dem Land fuhr man dagegen nur Rad, wenn man seinen Führerschein verloren hatte. Für einen Bauern in den walisischen Bergen konnte es dafür keinen anderen Grund geben. Punkt. So sahen mich die Einheimischen Tag für Tag aus Abergavenny hinaus- und wieder hineinradeln und schüttelten den Kopf.

Fünf Monate nach unserem Einzug ging ich Freitagabends in den örtlichen Pub hoch oben auf einer Hügelkuppe. Ein alter Knabe, den ich nur vom Namen seiner Farm her kannte, nahm mich beim Ellbogen, schob mich sachte in eine Ecke der Kneipe und fixierte mich mit ernstem Blick. »Ich sehe dich immer auf dem Rad, Junge«, begann er. »Wie lange ist dein Lappen denn schon weg?« Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, dass ich meinen Führerschein nicht verloren hatte, sondern jeden Tag mit dem Rad fuhr, weil ich, nun ja, weil es mir einfach einen Riesenspaß machte. Er blinzelte mir zu und tippte sich mit dem knorrigen Finger an die windgegerbte Nase. Ein Jahr darauf nahm mich der Bauer abermals an einem Freitagabend im Pub beiseite. Dieses Mal war sein Blick noch ernster. »Ich sehe dich immer noch auf dem Rad, mein Junge«, sagte er. »Ganz schön lange flöten gegangen, dein Schein. Mir kannst du’s doch sagen … Ist dir mit dem Auto was Schreckliches passiert? Hast du ein Kind totgefahren?«

Die besten Rahmenbauer haben mehr gemein mit den Kunsthandwerkern, die Patek-Philippe-Uhren, Monteleone-Gitarren oder Borelli-Hemden erschaffen, als mit Herstellern, die am Fließband Karbon- oder Aluminiumrahmen aus Fabriken in Fernost zu Rädern verwursten. Vor nicht allzu langer Zeit waren viele der Dinge, die wir besaßen, lebendige Zeugnisse der Fertigkeiten, ja des Idealismus der Menschen, die sie hergestellt hatten: des Schmieds, der unsere Werkzeuge anfertigte, des Schusters, des Drechslers, des Schreiners, des Stellmachers, der Näherin und der Schneiderin, die unsere Kleider machten. Wir bewahren Gegenstände auf, die gut gefertigt sind, und mit der Zeit gewinnen sie an Wert für uns und bereichern unser Leben, wenn wir sie benutzen.

Solch eine Qualität soll der Rahmen meines neuen Fahrrads haben. Er soll ein Unikat, soll aus Stahl sein. Der Rahmen ist die Seele eines Rades.

Mein Rad wird wie ein Rennrad aussehen, aber genau auf meine Fahrbedürfnisse abgestimmt sein. Wenn Sie so wollen, wird es ein echtes Fahr-Rad werden. Ich werde damit keine Rennen veranstalten, aber ich werde dieses Rad regelmäßig und schnell fahren. Ich werde damit durch meine heimischen Berge und durch das ganze Land radeln. Ich werde damit, gemeinsam mit Freunden und anderen Radsportlern, centuries machen, d. h. Strecken von mindestens 100 Meilen am Stück zurücklegen. Ich werde damit die Pyrenäen der Länge nach überqueren, den Col du Galibier in den französischen Alpen bezwingen, den Mont Ventoux erklimmen und den Pacific Coast Highway hinunterfahren. Wenn ich deprimiert bin, werde ich damit zur Arbeit fahren. Und mit 70 werde ich es zweifellos benutzen, um damit zur Kneipe zu radeln.

Die einzelnen Teile – Lenker, Vorbau, Gabel, Steuersatz, Naben, Felgen, Speichen, Tretlager, Freilauf, Kettenblatt, Ritzelpaket, Kette, Umwerfer und Schaltwerk, Pedale und Pedalarme, Bremsen und Sattel – werde ich passend zum Rahmen wählen. Es werden nicht die Komponenten mit dem geringsten Gewicht oder dem größten Sexappeal sein, sondern schlicht die besten. Um mit eigenen Augen zu sehen, wie all die Teile, die ich mir für mein Rad wünsche, gefertigt werden, werde ich Werkstätten und Fabriken in Italien, Amerika, Deutschland und Großbritannien besuchen. Für sich genommen wird jedes Bauteil etwas Besonderes sein; zusammengenommen werden sie mein Traumfahrrad ausmachen.

Das Rad rettet mein Leben, Tag für Tag. Wenn Sie auf einem Fahrrad jemals einen Moment der Ehrfurcht oder das Gefühl der Freiheit erlebt haben; wenn Sie je vor einem Anfall von Traurigkeit in den Rhythmus zweier wirbelnder Räder geflohen sind oder neue Hoffnung in sich aufkeimen fühlten, als Sie mit schweißnasser Stirn radelnd eine Hügelkuppe bezwangen; wenn Sie sich je gefragt haben, ob die Welt stillsteht, wenn Sie vogelgleich einen Berg hinabstießen; wenn Sie je, und sei’s nur ein einziges Mal, mit singendem Herzen auf einem Rad gesessen und sich wie ein gewöhnlicher Sterblicher gefühlt haben, der das Göttliche berührt, dann haben wir eine grundlegende Erfahrung gemeinsam. Wir wissen, dass das Glück zwei Räder hat.

 

Image