Edgar Wallace


Gangster in London 

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-074-2


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Kapitel 30



Die Firma Dorries machte glänzende Geschäfte. Zweiunddreißig neue Konten waren eröffnet worden, und es handelte sich nicht um kleine Summen, sondern um namhafte Depots. Das war das Ergebnis der ersten vierzehn Tage.

Leslie konnte sich indes in den verschiedenen Abteilungen der Firma nicht immer zurechtfinden. Jedes mal war es dann der sonst so schweigsame Kassierer, der ihr Aufschluss gab. Von Dorries und seinem Partner sah und hörte sie nichts.

Eines Tage speiste sie mit einer Dame zu Mittag, die eine wichtige Stellung in einem Bankhaus einnahm. Als sie ins Büro zurückkehrte, ließ sie den Kassierer rufen. "Stimmt es, Mr. Morris, dass einen Monat vor meinem Eintritt die Firma insolvent war und beinahe ihre Zahlungen eingestellt hätte?"

Er nickte. "Ja, die Firma wurde dann saniert. Unser Mr. Dorries nahm einen neuen Partner auf, man kann ja wohl besser sagen: Er verkaufte das Geschäft. Er selber behielt nur noch einen kleinen Anteil."

Sie schüttelte ratlos den Kopf. "Ich verstehe dann aber nicht, wieso die Firma plötzlich wieder so gut geht. Warum vertrauen uns die Leute plötzlich? Warum werden uns große Frachtaufträge nach Übersee gegeben? Heute morgen sah ich doch ein solches Schriftstück, als ich die Schiffspapiere kontrollierte. Für viertausend Pfund Geschirr! Verkaufen wir denn derartige Waren?"

Er lächelte. "Nein, Miss Ranger! Wir handeln in solchen Fällen nur als Agenten. Sie werden eine Menge von Geschäftsaufträgen finden, die Sie zunächst nicht verstehen. Aber mit der Zeit arbeiten Sie sich schon ein!"


* * *


Am Nachmittag vor Tetleys Tod hatte die Regierung den Entschluß gefaßt, Kerky Smith zu verhaften und aus London auszuweisen.

Nur Jiggs Allermans Einspruch war es zu danken, dass diese Maßnahme unterblieb. "Tun Sie das nicht!" riet er. "Behalten Sie ihn hier! Sie müssen seine Zuversicht und sein Selbstvertrauen erschüttern, dann erschüttern Sie seine Organisation."

Und es zeigte sich auch, dass seine Auffassung die richtige war.

Kerky Smith las die Morgenzeitung in seinem Hotelzimmer. Der Kellner hatte eben das Frühstück abgeräumt, und Kerky fühlte sich in Frieden mit der ganzen Welt. Nur Eddie Tanner verursachte ihm Mißbehagen: Der hatte kalte Füße bekommen und ging aus dem Geschäft, als gerade das Korn reifte ...

Der Diener kam aus dem Schlafzimmer.

"Kerky", sagte er leise. "Die Polizei hat heute morgen eine Razzia bei dem Friseur abgehalten, alle Telefone besetzt und Dinky verhaftet! Man hatte die ganzen Leitungen seit einer Woche überwacht ..."

Kerky machte ein sonderbares Gesicht, als ob er pfeifen wollte. "Ich dachte, sie wüßten nichts von dem Platz?"

"Die Polizei kann nicht immer taub und blind bleiben. Den Safe haben sie auch gefunden ..."

"Es war nichts drin!" entgegnete Kerky schnell.

Der Diener schüttelte den Kopf. "Nein, er wurde gestern ausgeräumt. Aber sie wußten, dass etwas drin gewesen war; und sie haben Dinky verhört, wie viele Briefe er in letzter Zeit nach Amerika geschickt hätte."

"Wer hat ihn denn ausgefragt?"

"Jiggs! Und den kennst du doch?"

"Ja, den kenne ich!" knurrte Kerky grimmig. "Aber ich kenne auch Dinky, der verrät nichts!"

"Das wäre ja möglich." Geräuschlos ging der Mann wieder ins Schlafzimmer zurück.

Verteufelte Situation! dachte Kerky. Dinky war einer der drei Kassierer der Bande, Zahlmeister und hervorragender Buchhalter. Das kleine Wettbüro im ersten Stock hatte sehr glückliche Kunden: Dinky schickte mit jeder Post Pakete von französischen und amerikanischen Banknoten nach den Vereinigten Staaten. Leute, die hereinkamen, um sich rasieren oder das Haar schneiden zu lassen, gingen reicher hinaus, als sie gekommen waren ...

"Die verdammte Schießerei ist dran schuld", brummte Kerky erbost.

Kurze Zeit nachher kam unerwartet Cora zurück, die man wegen eines Formfehlers in ihrem Paß nicht hatte abfahren lassen.

Wenn sie nicht mal Cora aus dem Land ließen, welche Möglichkeit hatte er dann, auf normale und gesetzmäßige Weise fortzukommen? Aber sie konnten ihn nicht zurückhalten, wenn er reisen wollte. In zwei Stunden war er notfalls mit dem Flugzeug in Paris, und das Flugzeug wartete Tag und Nacht. Immerhin war die Lage äußerst bedrohlich. Hinter allem steckte natürlich Jiggs. Mit diesem Kerl mußte endlich Schluß gemacht werden!

Aber am nächsten Morgen wurde während Kerkys Abwesenheit sein Kammerdiener Jack verhaftet, und er erkannte, dass seine Lage allmählich verzweifelt wurde. Die beiden besten Führer seiner Organisation waren ihm genommen, und in einer halben Stunde mußten die Posten neu besetzt sein ... Noch andere Dinge hätten sich geändert: Über London lag ein lähmender Bann, als die Gangsterschießereien begannen, aber jetzt brach die allgemeine Wut los. Die Atmosphäre war geladen. Kerky fühlte es.

Er nahm das Mittagessen auf seinem Zimmer ein und schickte eine Nachricht zu seinem geheimen Flugplatz. Dann ging er nach unten, um mit dem Geschäftsführer zu sprechen. "Am nächsten Mittwoch gebe ich ein Diner. Fünfzig Gedecke. Stellen Sie das beste Menü zusammen! Es soll ein fürstliches Mahl werden."

Der Geschäftsführer war hochzufrieden.

Kerky fuhr ganz offen in die Bond Street und kaufte ein. Die Detektive, die ihn beobachteten, berichteten Captain Allerman darüber.

"Großartig!" sagte der Amerikaner und gab einen Befehl.

Als Kerky ins Hotel zurückkam, fand er Cora nicht und klingelte. "Wo ist Mrs. Smith?" erkundigte er sich, als der Flurkellner erschien.

"Sie ist nicht mehr da. Zwei Herren kamen und nahmen sie mit ... Ich glaube, sie waren von der Polizei. Captain Allerman war der eine."

Der beste und tüchtigste Rechtsanwalt Londons rief in Scotland Yard an und bat um Aufklärung; sie wurde ihm jedoch höflich verweigert. Kerky ließ durch seine Vertrauten alle Polizeistationen absuchen, aber nirgends fand sich Cora; nirgends auch Jack.

Am Nachmittag wurde in der Downing Street ein rot gedruckter Brief abgegeben. Es wurde jedoch kein Geld verlangt, sondern nur Straflosigkeit für alle, die an den letzten Unruhen teilgenommen hatten. Man sollte ihnen die Abreise gestatten und eine Frist von sieben Tagen gewähren, um England zu verlassen.

"Kerky wird der Boden zu heiß, er will sich aus dem Staub machen", meinte Jiggs, als Terry ihn den Brief hätte lesen lassen. "Was macht übrigens zur Zeit der Ministerpräsident? Hat er öffentliche Verpflichtungen?"

"Er eröffnet eine neue Schule am Themseufer."

"Innerhalb der City?"

"Ja."

"Aha, nun durchschaue ich die Sache!"

"Wembury meint, der Ministerpräsident solle die Feierlichkeit absagen."

"Nichts wird abgesagt!" erklärte Jiggs. "Er soll die Feier ruhig abhalten. Es wird ihm nichts passieren. Glauben Sie mit!"

Terry lächelte wehmütig. "Ich wünschte nur, wir könnten unsrer Sache tatsächlich so sicher sein!"

Ganz London wußte von dem Drohbrief, den der Ministerpräsident erhalten hatte. Und ganz London strömte an dem betreffenden Tag am Themseufer zusammen.

Alle Polizeibeamten, die irgendwie abkömmlich waren, wurden hingeschickt, nicht nur, um die Menschenmenge zu kontrollieren, sondern vor allem, um die Person des Ministerpräsidenten zu schützen. Downing Street und ein Teil von Whitehall wurden abgeriegelt.

Jiggs sah sich vom Präsidium aus den Menschenauflauf an. Die Westminsterbrücke war schwarz von Leuten. Um zehn Uhr mußte der Verkehr über eine andere Brücke gesperrt werden, ebenso die Zugänge zum Trafalgar Square. Leslie Ranger brauchte anderthalb Stunden, um zum Büro zu kommen. Als sie es schließlich erreichte, fand sie den alten Prokuristen verzweifelt und sehr erregt.

"Alle neuen Konten sind wieder geschlossen worden, alle zweiunddreißig! Und alle ziehen ihr Geld aus der Firma zurück, in Dollars!"

Sie starrte ihn ungläubig an. "Was hat denn das zu bedeuten?"

Mr. Morris, der gewandte Kassierer, schien durchaus nicht beunruhigt. "Das ist doch nichts Außergewöhnliches!" meinte er. "Diese Konten wurden von einer Anzahl von Leuten angelegt, die zusammen ein Syndikat bilden. Sie haben einen Beschluss gefaßt, das ganze Kapital in die Gesellschaft zu stecken, das heißt: auf eine Stelle zu konzentrieren. Sie haben uns nur gebeten, ihre Depotbilanz auszuzahlen. Das kommt doch auch sonst vor!" Er lächelte. "Wenn wir das Geld nicht hätten, Miss Ranger, wäre es eine böse Sache. Aber wir sind doch gedeckt! Ich werde zur Bank gehen und die nötigen Anordnungen treffen."

Kurz vorm Mittagessen brachte er ihr das Geld in einer großen Ledertasche. Sie schloss sie in dem Safe ein, der in ihrem Büro stand. "Heißt das nun, dass die Firma Dorries wieder insolvent geworden ist?" fragte sie traurig.

"Nein, die Firma ist solvent! Auf der Bank sind noch fünfzigtausend Pfund. Wir haben nur ein paar Kunden verloren, in Wirklichkeit nur einen Kunden. Es sind auch gewisse Aufträge von außerhalb zu annullieren; aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorge zu machen!" Er sah ihr offen in die Augen. "Um genau zu sein: Wir haben neunundvierzigtausend Pfund auf der Bank. Die Miete für das Büro ist im voraus auf lange Zeit bezahlt, und es ist auch noch genügend Geld vorhanden, um die Gehälter auf ein Jahr zu decken. Wollen Sie sich übrigens nicht auch das große Schauspiel ansehen, wenn der Ministerpräsident die neue Schule eröffnet?"

Sie schüttelte den Kopf. Fünf Minuten vor zwei saß sie in ihrem Büro und schrieb einen Brief. Das Büro des Kassierers lag neben dem ihren, Und die beiden Räume waren durch eine Tür verbunden. Als sie eine Pause machte, hörte sie plötzlich ein scharfes Krachen nebenan. Sie öffnete die Tür. "Ist etwas passiert?" fragte sie und blieb dann, starr vor Schrecken, stehen.

Der Kassierer war über den Schreibtisch gesunken. Neben ihm stand Kerky Smith. Die weiße Schreibunterlage hatte sich rot gefärbt ... Noch ein andrer Mann war im Zimmer.

"Schreien Sie nicht, Miss Ranger", flüsterte Kerky und gab dem andern ein Zeichen, hinauszugehen. Geräuschlos zog sich der Mann zurück. Leslie ging rückwärts in ihr Büro. Er folgte ihr und schloss die Tür. "Sie haben eine Ledertasche in Ihrem Safe ... Wollen Sie mir die aushändigen? Machen Sie keine Schwierigkeiten! Eddie hat sein ganzes Geld bei Ihnen deponiert. Er hat es auf diese Weise recht schlau versteckt."

"Mr. Tanner hat nichts mit der Firma Dorries zu tun", brachte sie ängstlich hervor. Kerky grinste.

"Tanner selbst ist doch Dorries! Aber nun öffnen Sie gefälligst den Safe oder geben Sie mir den Schlüssel. Wenn Sie Lärm schlagen, schieße ich Sie nieder! Eddie wird sein Geld nicht mitnehmen können ..."

Die Tür zum äußeren Büro wurde plötzlich geöffnet und wieder geschlossen. Eddie Tanner stand im Eingang. In seiner Hand blitzte ein Revolver.

Blitzschnell sprang Kerky hinter Leslie Ranger und hielt sie fest. Im gleichen Augenblick feuerte er zweimal. Eddie Tanner sank in die Knie; die Waffe fiel aus seiner Hand ... Kerky schleuderte Leslie von sich und zog die Schublade auf. Ein paar Sekunden später hatte er den Safe geöffnet und hielt die Ledertasche in der Hand. Da knallten kurz hintereinander drei Schüsse.

"Ich verhafte Sie, Kerky!" Jiggs stand in der anderen Tür.

Die Revolver der beiden krachten zu gleicher Zeit. Aus dem Büro des Kassierers eilten drei Männer herein. Leslie kauerte in einer Ecke und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen den Kampf. Jiggs feuerte mit beiden Händen, und zwei der Angreifer wälzten sich auf dem Boden. Kerky stand noch. Sein Revolver hatte Ladehemmung; gedankenschnell zog er einen anderen. Im nächsten Moment schoss er, aber gleichzeitig hatte auch Jiggs abgedrückt. Kerky Smith taumelte und sank langsam auf die Knie ...

Drei Ärzte waren bis spät in die Nacht damit beschäftigt, Captain Allerman zu verbinden. Er war schwer verwundet, aber am dritten Tag saß er wieder aufrecht und vergnügt im Bett.

"Ich sterbe so bald nicht, glauben Sie mir das nur! Kerky Smith kann einen Polizeibeamten aus Chikago nicht um die Ecke bringen! Ich wußte, dass die Firma Dorries nur eine Fassade war. Eddie kaufte sie, weil er eine Bank für sein Geld brauchte, und übertrug Leslie Ranger die Leitung, weil er ihr vertraute. Der Kassierer war sein Buchhalter für das Erpressergeschäft, außerdem ein glänzender Pistolenschütze. Ich habe die Firma beobachtet, seit Miss Ranger dort war. Und ich ahnte, dass Kerky eines Tages hinter dem Geld her sein würde. Der Brief an den Ministerpräsidenten war allerdings eine geniale Idee; Kerky konzentrierte dadurch alle Polizeibeamten auf eine ganz andere Stelle und konnte frei schalten und Walten. Sicher wäre er auch unbehelligt entkommen, wenn nicht Tanner auf der Bildfläche erschienen wäre. Der arme Eddie, der hat nun auch sein Teil! Haben Sie sein Testament gesehen, Terry? Ich glaube, es wird Sie interessieren, wem er sein Vermögen vermacht hat ..." Er begegnete Leslies Blick und zwinkerte mit den Augen. "Wirklich, alles in allem ein feiner Kerl! Er hat sich an dieser Sache nicht deshalb beteiligt, weil er Geld machen wollte, sondern weil er ein geborener Feind von Gesetz, Ordnung und ruhigem Leben war. Ob er seinen Onkel erschossen hat? Aber natürlich!"

"Warum wollte er denn plötzlich nichts mehr mit der Geschichte zu tun haben?" fragte Terry. "Hat er sich gefürchtet?"

Jiggs schüttelte den Kopf. "Nein, Eddie konnte man keine Angst einjagen!" Diesmal vermied er Leslies Blick. "Ich glaube, er hatte sich verliebt ... Das kann auch andern Leuten passieren ..."

Eine ängstliche Krankenschwester neigte sich über ihn. "Sie dürfen nicht so viel sprechen, Captain!"

Er sah sie ärgerlich an. "Was, ich soll nicht sprechen?" brummte er. "Warum denn nicht? Glauben Sie vielleicht, ich wäre tot?"

Ende

 

 

Inhalt



Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20
 
Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

 

 

 

Kapitel 1



Eine hübsche junge Dame stieg die Stufen zur Haustür von Berkeley Square Nr. 147 hinauf und klingelte energisch. Ihre ungewöhnliche Größe fiel nicht auf, weil ihre Figur durchaus gut proportioniert war. Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Alles an ihr verriet eine Persönlichkeit, die weit über dem Durchschnitt stand.

Die Haustür öffnete sich, und ein Diener sah die Dame fragend an.

"Kommen Sie wegen der Stellung ...?"

"Ist der Posten bereits vergeben?"

"O nein! Wollen Sie nicht nähertreten?"

Er führte sie in ein großes, kühles Zimmer, das sie an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Nach fünf Minuten erschien er wieder. "Kommen Sie bitte mit."

Diesmal brachte er sie in die Bibliothek. An den Wänden standen Schränke und Regale, und auf dem Tisch lag eine Menge neuer Bücher.

An dem großen Schreibpult saß ein hagerer Herr, der das junge Mädchen über seine Brille hinweg betrachtete.

"Nehmen Sie Platz! Wie heißen Sie?"

"Leslie Ranger."

"Sie sind wohl die Tochter eines pensionierten Offiziers oder sonst eines vornehmen Herrn?"

"Nein. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter und arbeitete sich zu Tode, um seine Familie anständig durchzubringen", erwiderte sie und bemerkte, dass seine Augen aufleuchteten.

"Haben Sie Ihre letzte Stellung aufgegeben, weil Ihnen die Arbeitszeit zu lang war?" fragte er barsch.

"Ich habe sie aufgegeben, weil der Chef zudringlich wurde ..."

"Großartig!" erwiderte er ironisch. "Wie ich aus Ihren Zeugnissen sehe, stenographieren Sie unglaublich schnell; und die Handelskammer bestätigt hier, dass Sie vorzüglich Maschine schreiben können. Dort steht eine!" Er deutete mit seinem dürren Finger darauf. "Setzen Sie sich und schreiben Sie nach meinem Diktat! Papier liegt auf dem Tisch, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten und nervös brauchen Sie auch nicht zu sein!"

Sie spannte ein Blatt in die Maschine und wartete. Gleich darauf begann er außergewöhnlich rasch zu diktieren. Die Tasten klapperten unter ihren flinken Fingern.

"Sie sprechen zu schnell für mich", sagte sie schließlich.

"Das weiß ich. Kommen Sie wieder hierher!" Er zeigte auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. "Welches Gehalt beanspruchen Sie?"

"Fünf Pfund die Woche."

"Ich habe bisher nie mehr als drei gezahlt. Ich werde Ihnen vier geben."

Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. "Es tut mir leid."

"Also gut: fünf Pfund! Welche fremden Sprachen beherrschen Sie?"

"Ich spreche fließend Französisch, und ich kann Deutsch lesen."

Er schob die Unterlippe vor, was sein Gesicht noch abstoßender machte. "Fünf Pfund sind eine Menge Geld ..."

"Französisch und Deutsch sind eine Menge Sprachen!" entgegnete Leslie.

"Wollen Sie sonst noch etwas wissen?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Nichts über Ihre Pflichten und über die Arbeitszeit?"

"Nein. Ich nehme als selbstverständlich an, dass ich nicht hier im Haus wohne."

"Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!"

Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.

"Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!" Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.

Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:

"Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?"

Sie schüttelte den Kopf. "Halten Sie das für notwendig?"

"Nein, im Gegenteil!" erwiderte er nachdrücklich.


* * *


Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.

Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. "Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe."

Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: "Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, dass er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, dass Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoss, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, dass Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge."

Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.

Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.

"Er ist der einzige Verwandte, den ich habe", brummte der Alte eines Tages. "Wenn er ein bisschen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten."

"Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?" entgegnete Leslie.

"Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?" fuhr er sie an.

Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, dass er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.

Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, dass sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.

Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.

Als Leslie das zum ersten mal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.

"Mr. Decadon", bemerkte Terry freundlich. "Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!"

"Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?" fragte der alte Mann brummig.

"Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen."

Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.

"Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?"

"Ja, Mister ..."

"Chefinspektor Weston, Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, dass Sie mich 'Terry' nennen."

Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.

Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.

Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, dass sie sich dann sofort zurückziehen würde.

"Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?" fragte er einmal.

"Er ist doch kein Griesgram!" verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.

"Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?"

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. "Warum stellen Sie dieses Verhör an?"

"Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner."

Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.

Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.

"Wollen Sie Ed diesen Brief geben?" fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche.

"Meinen Sie Mr. Tanner?"

"Ja: Ed Tanner." Er nickte. "Sagen Sie ihm, er komme vom 'Großen'!"

Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht.

"Vom 'Großen'?" wiederholte er nachdenklich. "Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann etwa so groß?"

Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.

"Ach, seh'n Sie mal an!" entgegnete Tanner. "Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!"

Kapitel 2



"Es gibt zwei vorherrschende Triebkräfte im Leben der Männer: die Liebe und die Furcht vor dem Tode ... Verstehen Sie?" Captain Jiggs Allerman von der Chikagoer Geheimpolizei lehnte sich im Sessel zurück und blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke hinauf. Er war groß, schlank und von der Sonne gebräunt wie ein Indianer.

Terry Weston grinste. Er amüsierte sich immer über Jiggs.

"Sagen Sie mal: Sie sind doch Chefinspektor oder so etwas Ähnliches?" fuhr Jiggs fort, "Mir scheint, dass man nächstens hier noch Kinder zu höheren Beamten macht. Wie alt sind Sie denn jetzt, Terry?"

"Fünfunddreißig."

Jiggs machte ein verächtliches Gesicht. "Das ist eine gemeine Lüge! Wenn Sie älter sind als dreiundzwanzig, dann lasse ich mich totschießen."

"Immer wenn Sie Ihren jährlichen Besuch in Scotland Yard machen, erzählen Sie denselben faulen Witz. Man könnte doch meinen, dass Ihnen mit der Zeit etwas Neues einfallen sollte? Aber Sie haben eben von zwei Triebkräften im Leben gesprochen ..."

"Ja, Liebe und Tod." Jiggs nickte eifrig. "Mit der Liebe hat man immer schon viel Geld verdient; aber mit dem Tod haben bisher nur die Ärzte und die Beerdigungsinstitute ihr Geschäft gemacht. Doch passen Sie auf: Das wird jetzt anders, Terry! In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr Unsummen für den persönlichen Schutz wohlhabender Bürger verausgabt. Und was dort drüben ein gutes Geschäft ist, müßte sich auch in England, Frankreich, Deutschland oder sonstwo bezahlt machen. Die Menschen sind überall gleich, und es wird überall mit Wasser gekocht. Jedenfalls: Unsere großen Gangster, ich weiß das, haben sich inzwischen in England umgesehen, und zwar einer aus Chikago und einer aus New York. Und wenn die sich was in den Kopf setzen, führen sie's auch durch. Denn diese Burschen, mit denen ich es drüben zu tun habe, denken in Millionen oder gar in achtstelligen Zahlen. Im vorigen Jahr wollten sie ein neues Geschäft in einem anderen Land aufmachen und haben allein für Vorarbeiten zwei Millionen Dollar ausgegeben. Die Sache rentierte sich dann aber nicht, und so haben sie einfach ihre ganzen Ausgaben auf Verlustkonto gesetzt ... Da staunen Sie, was? Diese Leute könnten jedes Jahr aus England hundert Millionen Dollar ziehen, ohne dass es auffiele."

Jiggs Allerman war bei seinem Lieblingsthema angelangt. Er hatte sich schon öfters mit Terry darüber unterhalten, der ihm jedes mal widersprach. Persönlich wäre er an dieser besonderen Art von Verbrechen interessiert gewesen, denn er arbeitete in Scotland Yard im Dezernat für Betrug, Erpressung und ähnliche Vergehen.

Kurz darauf ging er mit dem Amerikaner zu Tisch. Er hatte Jiggs Allerman gern und wußte, dass er noch viel von ihm lernen konnte.