Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet,
die unter meinem blödsinnigen Wahn,
der sogenannten Herrenrasse anzugehören,
gelitten haben.


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1. Auflage 2012
© 2012 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
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Dieses Buch erzählt Manuel Bauers Geschichte aus seiner Sicht. Alle Ereignisse sind wirklich so passiert, jedoch wurde zum Schutz anderer Personen ein Großteil der Namen und wiedererkennbaren Merkmale geändert.
     
Redaktion: B. Walter
Umschlaggestaltung: Münchner Verlagsgruppe GmbH
Umschlagabbildung: © R. Fischer
     
ISBN Epub 978-3-86413-210-0
     
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Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet,
die unter meinem blödsinnigen Wahn,
der sogenannten Herrenrasse anzugehören,
gelitten haben.
Freiheit statt Rassenhass und Gewalt
    Ein Vorwort von Bernd Wagner, EXIT-Deutschland
1. Von vornherein
2. Eine Kindheit in der DDR
3. Die ersten Glatzen
4. Die Verwandlung
5. Einer von vielen
6. Schlagende Argumente
7. Der Freund und Helfer
8. Es geht weiter abwärts
9. Die Macht der Gewalt
10. Die Dommitzscher Jungs
11. Unter Soldaten und Kameraden
12. Im Häuserkampf
13. Die Zweiraumwohnung
14. Der Bund Arischer Kämpfer
15. Im Untergrund
16. Eine explosive Mischung
17. Die Kampfausbildung
18. Eine türkische Hochzeit
19. In Angst und Schrecken
20. Außen hui, innen …
21. Der Sündenfall
22. Die Wehrsportgruppe Racheakt
23. Die Erpressung
24. Der Schrecken nimmt kein Ende
25. Wie im Rausch
26. Das Ende vom Lied
27. Im Namen des Volkes
28. Vor dem Haftantritt
29. Die türkischen Helfer
30. Der offene Vollzug
31. Ein Weg nach draußen
32. Zwischen den Welten
33. Wieder in Freiheit
34. Der Lebenskünstler
35. Die Schlinge zieht sich zu
36. Nichts wie weg!
37. Wie neugeboren
38. Als Soldat einer Partei
39. Die Gefahr von rechts
40. Schuld und Sühne
Ein Nachwort von Georg Simonsky, ehemaliger EXIT-Betreuer von Manuel Bauer
Demokratie braucht Demokraten
    Von Harald Zintl, Friedrich-Ebert-Stiftung
Worte des Dankes
Der Jungpionier1 in einer ostdeutschen Kleinstadt weiß noch nicht, dass er in einem vereinten Deutschland ein Nazi sein wird. Rassistische Gewalt ist ihm noch fremd. Und doch wird er später ein fremdenfeindlicher Schläger, übt im Gelände den militärischen Aufstand und träumt von einer Volksgemeinschaft, in der das Gute gedeihe, von Wohlstand, Gerechtigkeit und Harmonie unter den deutschen Menschen, die er höher gestellt als andere sieht. Er schwelgt in der Kraft der Gruppe, pflegt seinen Hass und prügelt sich für die rassistische und nationale Ideologie durch das Leben und durch die Welt der Feinde, von denen er sich umgeben sieht. Er verschont auch seine Familie nicht, Blut ist eben nicht dicker als Wasser. Die Kameradschaft soll es sein, die Idee, die Sache und die Mission – Vehikel, die fantastisch durch die Zukunft irrlichtern. Sie geben ihm Kraft und Stärke. Manuel Bauer ist also ein Nazi, der Kriminalität als Normalzustand erachtet: als Kampf für die Sache.
Im Gefängnis beginnt er aufzuwachen, Erlebnisse helfen nach. Er sieht sich mehr und mehr als Spielball einer Fiktion, einer Ideologie, die ihm zunehmend als Aufbruch in die Illusion erscheint und ihn menschlich in die Unzufriedenheit und in eine soziale Sackgasse führt. Er hat die Wahl zwischen einer rechtsextremen kriminellen Dauerkarriere und dem Aufbau einer neuen persönlichen Freiheit ohne Rassismus, Volksgemeinschaftswahn und zerstörerische Gewalt. Das ist kein leichter Weg und kein leichter Abschied. Die Vergangenheit ist hartnäckig, sie zerrt an allen Ecken und Enden. Auch die Zukunft birgt ihre Tücken, das Leben ist kein Schlaraffenland. Dennoch entsteht nach und nach ein neuer Manuel Bauer. Er wird feinfühliger, er löst Konflikte auf neue Art, er findet an seinem neuen Leben Gefallen, und er verliebt sich. Er entdeckt neue Fähigkeiten und Interessen. Die Welt hält nun auch Schönes bereit und ist nicht mehr in das Dunkel der Apokalypse getaucht.
Dieser Vorgang wird in der Öffentlichkeit profan als Ausstieg bezeichnet – einst ein Modewort ausgebrannter und sinnsuchender Yuppies und Hippies. Auch der Ausstieg, den Manuel Bauer vollzieht, ist eine Sinnsuche, aber er gestaltet sich anders. Manuel Bauer kann sich nicht einfach zurücklehnen, den Strand genießen, Batikgewänder tragen und den Sonnenuntergang beobachten. Er kommt aus einer Welt des Hasses und der Gewalt, aus einer Lebensanschauung, in der der Mensch keine universelle Würde besitzt. Er wird angefeindet. Ehemalige Kameraden wollen ihn bestrafen, ihn stellen. Er muss aufpassen, vorsichtig sein. Die Opfer haben noch immer Angst, viele misstrauen ihm, missdeuten nicht selten seine Worte, glauben ihm nicht. Manuel Bauer lässt sich nicht beirren. Er warnt in seinen Vorträgen vor seinem früheren Ich, dem brutalen Anhänger des Rassismus, vor seinem einstigen Verständnis der Welt und vor seiner Bewertung der Menschen – wie diese sein sollten und wer wie viel wert oder unwert war. Für manche ist es kaum erträglich, wenn er ungeschminkt seinen Hass und seine Neigung zur Gewalt bekennt und von der Scham erzählt, die er den Opfern gegenüber heute aufrichtig empfindet.
Manuel Bauer fasst im Gefängnis den Entschluss zu seiner Freiheit, die ihn nicht nur aus der Inhaftierung führt, sondern auch zu einem neuen Ich. In dieser Situation spricht er EXIT-Deutschland an, eine Organisation, die Menschen wie ihm seit dem Jahr 2000 hilft. Er schafft es, sich mit Rat und Tat aus seiner rechtsextremen Gruppe zu lösen. Er baut sich schon im Gefängnis eine neue Existenz auf, versucht alte Konflikte zu lösen, was sehr schwierig ist. Die politische Ordnung muss neu gedacht und neu erlebt werden, die Werte sind andere, und er muss diese bewusst erkennen. Er kann nicht mehr leichtfüßig und leichtgläubig sein, in einer Welt des Scheins und der Doppelbödigkeit ist dies keine leichte Aufgabe. Nicht jeder ist ein guter Freund. So mancher will ihn ausnutzen.
Manuel Bauer sieht sich in der Pflicht aufzuklären, über den Geist des Unmenschlichen, das Gespenst der rechtsextremen Gewalt und der Ausgrenzung. Er will junge Menschen warnen, nicht so zu werden wie er und sich dabei als Mensch zu verlieren. Deswegen präsentiert er sich mit seinen Vorträgen in der Öffentlichkeit. Auch in diesem Buch erzählt er seine persönliche Sicht der Dinge. Der Leser mag entscheiden, welche Informationen und Bilder bedeutsam sind, um Rechtsextremismus und Rassismus als Kräfte zu begreifen, die die universellen Menschenrechte, die Gleichwertigkeit, Freiheit und Würde aller Menschen und die Demokratie für nichtig erklären und angreifen. Der Leser mag beurteilen, was die Persönlichkeit von Manuel Bauer trägt und auch die der anderen Aussteiger aus der rechtsextremen Szene, denn Manuel Bauer ist nur einer jener Aussteiger, die sich 2008 im AKTIONSKREIS bei EXIT-Deutschland zusammenfanden, um aus dem eigenen Erleben heraus ihre Stimme gegen den völkischen, antidemokratischen Hass und die daraus resultierende Gewalt zu erheben.
Berlin, im Juni 2012
Bernd Wagner
Bernd Wagner ist Mitbegründer der Ausstiegsinitiative EXIT-Deutschland und war einer von Manuel Bauers Betreuern.
Mehr Informationen unter www.exit-deutschland.de
1 Die Bezeichnung »Jungpionier« entspricht der offiziellen Klassifikation innerhalb der Pionierorganisation Ernst Thälmann in der ehemaligen DDR; Jungpioniere = 6 bis 10, Thälmann-Pioniere = 10 bis 14 Jahre.
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Wie oft denke ich an die Zeit zurück, in der ich mit meiner jüngeren Schwester Peggy im Alter von gerade einmal sieben oder acht Jahren eine Perlenkette für den Nikolaus bastelte. Wie oft erinnere ich mich daran, wie unsere jüngste Schwester Stefanie uns immer wieder mit ihren Barbiepuppen »traktierte« und wie schön es war, mit meinem Stiefvater, den ich wie einen leiblichen Vater ansah, auf der Weide zu sein und den Kühen hinterherzujagen. Was für einen Spaß hatten wir Polbitzer Dorfkinder, wenn wir zwischen Strohballen und Büschen Verstecken spielen oder in Drebligar, einem Nachbarort, zur evangelischen Christenlehre gehen konnten. Zu Fräulein Hanke und Frau Schumann.
Wie sehr bewunderte ich einen älteren Schüler, der sich so gut auf Russisch mit den Sowjetsoldaten unterhalten konnte, die in den Sommermonaten mit ihren überlauten Armeelastern durch unser kleines Dorf fuhren, um die Stroh- und Heuballen in den Scheunen aufzustapeln. Und wie gerne spielten wir Jungs mit unseren Vätern auf den Wiesen Fußball …
In dieser Zeit war die Welt für mich noch in Ordnung. Meine Eltern hatten sich einen Moskwitsch gekauft, mit dem wir 120 Sachen fahren konnten. Und ich sehe bis heute meine Mutter vor mir, wie sie immer wieder ein Auge zudrückte, wenn wir Kinder Unfug getrieben hatten. Bis zu meinem elften Lebensjahr war ich – so heißt es zumindest – ein liebenswerter Junge. Ich galt nicht als auffällig, aggressiv oder in irgendeiner Weise anders als die Kinder um mich herum. Als Junge in der ehemaligen DDR ging ich gerne zu den Pionieren, ich liebte es, an allen möglichen und unmöglichen Plätzen Fußball zu spielen, und saß wie alle Kinder meines Alters gebannt vor dem Fernseher, sah den Sandmann an und beharrte darauf, noch längst nicht müde zu sein.
Dann trat die politische Wende ein und nahm mir durch die unerbittliche Lawine von Veränderungen, die unser Land überzog, fast alles, was meinem kindlichen Gemüt wichtig war. Und dann kamen die Rechten. Wie ein Krake streckten sie ihre braunen Tentakel in die Schulhöfe und Sportvereine aus. Ehe man sich’s versah, war man ein Skinhead geworden und wenig später ein vor Hass und Wut geifernder junger Neonazi.
Was in den Anfängen kindlicher Spaß und der naturgemäße Reiz des Verbotenen war, wurde schon bald zu einer flammenden Überzeugung. Aufgepeitscht durch die aggressiven Klänge und Texte des Rechtsrock, aufgestachelt durch die unermüdliche Ideologisierung innerhalb der rechtsextremen Gruppe und bitter enttäuscht von den brutalen Auswirkungen der sogenannten Wiedervereinigung, wurde aus dem normalen, unauffälligen Jungen irgendwann ein brutaler Schläger, Brandstifter, Dieb und Gewalttäter.
Heute blickt die gesamte Republik erschrocken und entsetzt nach Zwickau und muss fassungslos erkennen, dass der braune Terror in Deutschland eine Dimension erreicht hat, die die Taten der linksextremistischen RAF in vielerlei Hinsicht übersteigt. Sicher, es wurden keine hohen Repräsentanten des Staates ermordet, wie es in den 1970er- und 1980er-Jahren der Fall war. Gleichwohl: Was Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in diesem Land angerichtet haben, sprengt jede Vorstellungskraft. Und dass dieses mörderische Trio mehr als zehn Jahre lang fast unbehelligt durch Deutschland ziehen und dabei Menschen erschießen, Bomben zünden und Banken überfallen konnte, lässt uns in der Tat verständnislos erstarren.
Wie konnte diese Verbrechensserie so lange andauern, ohne dass die Ermittler auch nur ansatzweise eine verwertbare Spur aufnehmen konnten? Waren diese drei rechtsextremen Terroristen unheimlich clever oder die Behörden unglaublich dumm?
Ich selbst bin sicherlich nicht die kompetente Instanz, die diese Fragen beantworten kann. Ich weiß aber aus eigener Erfahrung zu berichten, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in der Form agierten, die in der rechten Szene als angemessene und kluge Taktik galt. In neonazistischen Kreisen herrschte eine wichtige Maxime: Schweigen und handeln!
Ohne dass uns die Vorgehensweise der Zwickauer Terrorzelle bekannt gewesen wäre und ohne diese drei Personen jemals kennengelernt zu haben, folgten auch wir in unseren militanten Gruppierungen der innerhalb der rechten Szene gängigen und als möglichst sicher eingestuften Praxis. Keine Bekennerschreiben, wenig Mitwisser und klare Botschaften in Gestalt der verübten Taten.
Ich persönlich war an der Gründung zweier militanter rechtsextremistischer Gruppierungen beteiligt. Ohne uns im Nachhinein größer machen zu wollen, waren wir ähnlich wie das Zwickauer Trio zu allem bereit. In paramilitärischen Ausbildungslagern in Polen und Tschechien geschult, waren wir wild entschlossen, als rechtes Pendant der ehemaligen RAF das Land mit Terrorakten zu überziehen, um auf diese Weise eines Tages einen politischen Umsturz herbeiführen zu können. Das geschah übrigens mithilfe einer ganz legal in Deutschland operierenden Rechtspartei, die unsere Ausbildung zu Gewalttätern und potenziellen Untergrundkämpfern großzügig subventionierte.
Letztendlich war ich nur durch den Arm des Gesetzes zu bremsen, der mich nach einer schlimmen Straftat für einige Zeit aus dem Verkehr zog. Im Gefängnis fand ich zum ersten Mal zur anderen, rechtsstaatlichen Seite Kontakt und gelangte schließlich zu einer toleranteren, versöhnlicheren Überzeugung.
Dieses Buch soll am Beispiel meiner persönlichen Geschichte zeigen, wie der braune Untergrund denkt, wie er operiert und wie er bis in die Kreise der Polizei und der Justiz hinein vernetzt ist. Es soll verständlich machen, wie aus Kindern und Jugendlichen gemeine Schläger und skrupellose Straftäter gemacht werden. Vor allem aber soll es verdeutlichen, wie der Weg aus dem rechtsradikalen Untergrund hinaus zurück in die Gesellschaft führen kann.
Ich bin diesen Weg gegangen. Er war lang und äußerst steinig und wird wohl nie vollständig abgeschlossen sein. Ein Teil meiner Vergangenheit wird mich immer verfolgen. Als Erinnerung, als schlechtes Gewissen und als tiefe Scham. Wenn dieses Buch es jedoch vermag, junge Menschen vom Rechtsradikalismus abzubringen oder ihnen dabei zu helfen, einen Ausweg aus der perfiden braunen Umschlingung zu finden, dann habe ich wahrscheinlich mehr erreicht, als ein Mensch meines Formats gemeinhin vollbringen kann. Und mehr, als ich mir selbst je zugetraut hätte …
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Vor Gericht würde ein Strafverteidiger in seinem Schlussplädoyer versuchen, für die unbegreiflichen Taten seines Mandanten eine Erklärung zu liefern. Schließlich will die Öffentlichkeit verstehen, wie es dazu kam, dass ein junger Mann sich so weit von der gesellschaftlichen Norm entfernte, dass er zu einem Schwerverbrecher wurde, der – ideologisch verblendet und moralisch mehr als fragwürdig – von dem Hass auf Fremde und Minderheiten getrieben über Jahre hinweg für Angst und Schrecken sorgte.
Er würde schildern, wie der Angeklagte bereits als Kleinkind unter einem trinkenden, gewalttätigen Vater litt. Er würde von den erdrückenden Umständen im Elternhaus seines Mandanten berichten, von einer schwachen, wehrlosen Mutter, von Kindern, die aus lauter Angst bis in ihre Schulzeit hinein Bettnässer waren. Er würde von Ausreißversuchen erzählen, von trügerischen Idyllen und verzweifelten autoaggressiven Hilferufen, von Alkohol und Drogen. Er würde das Versagen der Behörden und der Gesellschaft beschreiben und das fast schutzlose Scheitern eines jungen Menschen, der nun – als Brandstifter, Dieb, Schläger, Erpresser – die Verantwortung für ein Leben tragen muss, das ihm sein Umfeld geradezu aufgezwungen hat.
Das in etwa würde ein Strafverteidiger tun und dafür müsste er noch nicht einmal ein besonders guter Jurist sein. Das ist solides Handwerk – Tag für Tag unzählige Male in Gerichtssälen weltweit vorgetragen. Es ist der hilflose Versuch zu erklären, was eigentlich nicht zu erklären ist, denn schließlich ist nach allem, was die Wissenschaft bis heute in Erfahrung bringen konnte, noch kein Baby als Mörder, Gewalttäter oder Sexualstraftäter zur Welt gekommen. Ungeachtet der genetischen Mitgift starten alle Neugeborenen unter ähnlichen Voraussetzungen ins Leben. Was aus ihnen später einmal wird – ob ehrbarer Richter oder verabscheuungswürdiger Verbrecher –, zeigt sich erst sehr viel später. Die Schilderung einer kaputten, abseits jeder Norm liegenden Kindheit und Jugend mag vieles besser verständlich machen, sie wäre in meinem Fall aber leider gelogen.
Nein, mein Vater, der eigentlich mein Stiefvater ist, hat mich nicht geschlagen. Er hat nicht getrunken, er hat auch meine Mutter oder meine Geschwister nicht misshandelt – er war ein einfacher, anständiger Mensch, der mit all seiner Kraft zu jeder Zeit versucht hat, mir und meiner Familie ein gutes Zuhause zu bieten.
Geboren wurde ich im Januar 1979 in Torgau an der Elbe. Nach der Trennung meiner Mutter von meinem Vater wuchs ich ab dem Alter von drei Jahren in Polbitz auf. Polbitz wird man auf der Karte nur schwer finden. Es war damals ein Ort mit gerade einmal 40 Einwohnern. Es gab dort einige Bauernhöfe, einen kleinen Laden und eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, in der meine Eltern als Viehwirtschafter unseren Lebensunterhalt verdienten. Meine Schule lag ein paar Kilometer entfernt in Dommitzsch. Die nächstgrößere Stadt mit damals rund 22 000 Einwohnern war Torgau.
Meine Eltern hatten für rund 70 Ostmark von der LPG einen nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen Besitzern zwangsenteigneten riesigen Hof gemietet, in dem mein Vater jeden Morgen zunächst das dort untergebrachte Vieh des staatlichen Unternehmens versorgte, bevor er für den Rest des Tages zusammen mit meiner Mutter in dem Hauptbetrieb der LPG seiner Arbeit nachging. Wir Kinder indes – ich habe noch zwei jüngere Schwestern – gingen in Dommitzsch zur Schule und verbrachten die Nachmittage in einem Hort.
Ich will, so ungewöhnlich das auch klingen mag, von einer schönen, harmonischen Kindheit sprechen, die von einer ruhigen, friedvollen Atmosphäre in meinem Dorf wie auch in meinem Elternhaus geprägt war. Bis heute erinnere ich mich gut daran, wie in unserer Familie das gemeinsame Abendessen, das geradezu heilig war, mit Beständigkeit zelebriert wurde: Ein fester Punkt des Tages, an dem man sich austauschte, von seinen Erlebnissen berichtete und der Familie, die tagsüber getrennt war, eine gewisse Einheit verlieh.
Nach dem Abendessen kam es häufig noch zu einem gemeinsamen Spaziergang mit dem Hund, bevor wir Kinder den zu DDR-Zeiten nicht wegzudenkende Sandmann sehen durften. Am Ende der Sendung hielten wir uns immer Kissen vor die Augen, damit wir von dem Sand verschont bleiben würden, der uns müde machen sollte. An manchen Abenden wurde uns erlaubt, heimlich und unter strengster Vertraulichkeit Matlock anzusehen. Die Serie konnten wir verfolgen, weil mein Vater verbotenerweise die Antenne so installiert hatte, dass wir Westfernsehen empfangen konnten.
Bis zum Jahr 1989 herrschte größere Aufregung in meiner kindlichen Welt eigentlich nur im Vorfeld des jährlich stattfindenden Pionierlagers, auf das ich mich stets ungemein freute und das meinem Leben jene Weitläufigkeit gab, die im Westen wohl als Reisefreiheit bezeichnet wurde. Meine persönliche Reisefreiheit, meine große Freiheit überhaupt, war dieses Lager, in dem es nach Abenteuer roch und wir Jungpioniere, nach der Farbe unserer Halstücher eingeteilt, eine wilde, aufregende Zeit erlebten, für die keine Lira oder Peseten notwendig waren. Es war Ausland und Fernreise innerhalb Sachsens mit Lagerfeuerromantik und ein paar versteckten Tränen aus Heimweh unter dem Schlafsack.
Dann kam die Zeit vor der Wende, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann. Unsere kleine Ortsgemeinschaft traf sich abends beim Dorfladen, wo die Erwachsenen ihr Feierabendbier tranken und hinter vorgehaltener Hand politisierten. Es war eine schöne, aufregende Zeit, denn wir Kinder durften an diesen lauen Sommerabenden endlich ein wenig länger aufbleiben, ohne zu verstehen, was sich in Berlin, Bonn, Washington und Moskau hinter den Kulissen wirklich abspielte.
1990, ich war mittlerweile in der vierten Klasse, wurde uns plötzlich mitgeteilt, dass wir unsere roten Halstücher und die dazugehörenden Pionieruniformen nicht mehr tragen sollten. Diese Anweisung war für mich mit meinen zehn Jahren schwer zu verstehen, sie war jedoch der Startschuss für ein neues, verändertes Leben, unter dem ich in der Folgezeit noch viele Male leiden sollte.
Im Grunde ging von da an alles sehr schnell, und die Erbarmungslosigkeit der Umwälzungen raubte schon bald einem Großteil der Menschen um mich herum die Euphorie und die Freude über den lange herbeigesehnten politischen Zusammenschluss.
Zu den ersten gravierenden Einschnitten in meinem Leben zählte die Streichung des Pionierlagers. Durch diese Maßnahme, die aus der Sicht der Erwachsenen sicherlich ihre ideologische Berechtigung hatte, wurde mir mit einem Schlag etwas genommen, auf das ich mich, seit ich mich erinnern konnte, in etwa genauso gefreut hatte wie auf Weihnachten und meinen Geburtstag. Obwohl es mir nie wirklich gefallen hatte, an den Pioniernachmittagen und Feiertagen die offizielle Uniform tragen zu müssen, waren mir die Lager und Treffen in all den Jahren heilig gewesen.
Gleichzeitig – und das entging auch dem unbedarften Blick eines Jungen nicht – fing es in meinem kleinen Mikrokosmos an allen erdenklichen Stellen buchstäblich an zu bröckeln. Der Pionierpark, der neben unserer Grundschule lag, verfiel von Woche zu Woche mehr. Dann wurde der Schulgarten aufgegeben, in dem wir Kinder unter der Anleitung der Lehrer in den ersten Jahren Gemüse und Obst angepflanzt hatten. Innerhalb von wenigen Monaten wurde vieles, was ich bis dahin kannte, dem unaufhaltsamen, schleichenden Verfall preisgegeben.
Auch das Schulgebäude selbst schien nur mehr wenig gepflegt zu werden. An den nicht mehr richtig funktionierenden Toiletten und dem bröckelnden Putz wurde eine gewisse Verwahrlosung sichtbar. Alles, was zu DDR-Zeiten, wenn auch zum Teil auf primitivem Niveau, am Leben erhalten worden war, schien nun rasant abzusterben.
Natürlich weiß ich heute, dass viele öffentliche Gebäude bereits in sozialistischer Zeit in einem erbärmlichen Zustand waren und nur mit einfachsten Mitteln funktionstüchtig gehalten wurden. Sie erinnerten oft an die Potemkinschen Dörfer, die man aus Büchern kannte. Aber es hatte funktioniert. Irgendwie. In dem Moment jedoch, in dem jede Anstrengung, diese Fassade aufrechtzuerhalten, eingestellt wurde, brach vieles im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Und zu allererst brachen die Illusionen der Bewohner ein.
Der Verfall betraf auch mich und meine Familie. Als Erstes erwischte es meinen Großvater, der bereits 1990 seine Arbeit verlor. Der Ochsenstall, in dem er über viele Jahre hinweg seinem Dienst nachgegangen war, wurde aufgelöst. In dem Laden, in dem mein Großvater einkaufen ging, lagen nun Bananen und Orangen in Hülle und Fülle, aber das Geld, das ihm als Arbeitslosen zur Verfügung stand, reichte nicht aus, um sich diesen Luxus leisten zu können.
Auf den Schulbänken und in den Straßen unseres Dorfes wurde es immer lichter. Freunde von mir verschwanden, weil viele Familien der neu gewonnenen Freiheit misstrauten und aus Angst, die Grenzöffnungen könnten wieder rückgängig gemacht werden, in die alten Bundesländer übersiedelten. Andere wiederum sahen für unseren ehemaligen kleinen Arbeiter- und Bauernstaat keine Perspektive mehr, was sich – zumindest in den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung – ja leider auch bestätigte. Diese Erklärungen gaben mir meine Eltern, wenn ich wieder einmal traurig vor ihnen stand und sie fragte, warum erneut gute Freunde weggezogen waren.
Als Nächstes machte der Tante-Emma-Laden – der sogenannte Konsum – in Polbitz zu. Auch der Kindergarten in Drebligar, den ich bis zur Einschulung besucht hatte, wurde geschlossen. Dann stand eine Familie aus Kassel vor unserer Haustür und erklärte, dass der Dreiseithof, in dem wir seit Jahren lebten, von Rechts wegen ihnen gehörte. Die Wolken, die Tag für Tag über uns aufzogen, schienen immer dunkler zu werden.
Meine Eltern konnten sich nach längeren Verhandlungen mit den vormals zwangsenteigneten Hausbesitzern auf eine Kaufsumme einigen, und da beide noch immer in dem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten, war es kein allzu großes Problem, bei der Bank einen Kredit zu bekommen und diesen angesichts eines geregelten Einkommens abzubezahlen. Dann jedoch verloren auch meine Eltern ihre Arbeitsplätze – der Kuhstall der ehemaligen LPG wurde geschlossen. Nun hatten wir ein riesiges Gehöft, 35 000 Mark Schulden und kein Geld, um eigenes Vieh zu kaufen und um den Bankkredit ohne Weiteres zu tilgen.
Innerhalb weniger Monate wurde aus dem harmonischen Familienleben auf dem Lande eine von Ängsten und Kummer überschattete Existenz in einer neuen Welt, die so vieles versprochen und so wenig gehalten hatte.
Um es auf einen kurzen und einfachen Nenner zu bringen: Mit der Wende wurde mir fast alles genommen, was mir als Kind in jener Zeit wirklich wichtig war: die Pionierorganisation, viele Freunde, die Arbeit meiner Eltern und damit auch die unbeschwerten Familienabende. Aus der Sicht eines kleinen Jungen, der noch kein ausgeprägtes politisches Verständnis besitzt, waren diese Veränderungen durchaus umfangreich.
Mein Vater fand zu unserer großen Erleichterung schon bald einen Job als Fahrer für einen Schlachthof, und meine Mutter konnte zwischenzeitlich an der Kasse eines Supermarktes arbeiten. Die Sorge, den Kredit nicht abbezahlen zu können, war somit erst einmal beiseitegeschoben. Aber die Harmonie kehrte nach der Wende nie wieder in unsere Familie und in mein damaliges Leben zurück.