GABRIELE KATZ
MARGARETE
DIE BIOGRAFIE
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Neue, überarbeitete Auflage 2015
© Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement & Korrektorat: Julia Prus
Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Beatrice Hildebrand
Logo: Margarete Steiff GmbH
Druck: Orga-Concept e.K., Filderstadt
Erstausgabe erschienen bei Osburg Verlag, Berlin 2011
Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg
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ISBN: 978-3-7650-2110-7
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:
ISBN: 978-3-7650-8902-0
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»Die vier Füße begannen sich gleich nach dem Zeitmaß zu regen, nicht schrittweis wie zuvor und bedächtig, vielmehr im kunstgerechten Tanz, als hätten sie von klein auf mit dem Seil verkehrt, und schien ihr ganzes Tun nur wie ein liebliches Gewebe, das sie mit der Musik zustand zu bringen hätten.«
Eduard Mörike, Das Stuttgarter Hutzelmännlein
In seiner Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein aus dem Jahr 1853 lässt Eduard Mörike seinen Protagonisten nach einer abenteuerlichen Wanderschaft das Liebes- und Lebensglück auf einem Jahrmarktshochseil finden.
Den Wunsch, zu gehen und beide Arme voll bewegen und nutzen zu können, musste Margarete Steiff als junge Erwachsene nach zahlreichen und langwierigen Heilungsversuchen endgültig aufgeben. Der Wunsch, sich schwerelos fortzubewegen, sollte die behinderte Frau ein Leben lang begleiten. Das »Leben als Hochseilakt«, wie es der schwäbische Dichter in seiner kunstvoll aufgebauten, märchenhaften Erzählung beschreibt, enthält, als ein Lebensgefühl verstanden, mindestens zwei Elemente: Da ist einerseits die Angst vor dem Absturz in die Tiefe und andererseits das angstfreie Erleben freundlicher Weiten. Beide Gefühle hat Margarete Steiff in ihrem Leben kennengelernt, und sie haben prägende Spuren hinterlassen, denen wir nachgehen werden.
Mit eineinhalb Jahren erkrankte Margarete Steiff an der damals noch völlig unbekannten und nicht therapierbaren Kinderlähmung, die sie fortan zu dem machte, was ihre Zeitgenossen einen »Krüppel« nannten.
Sie war jedoch ein äußerst vitales Mädchen und lehnte sich von frühester Jugend an vehement gegen die Außenseiterrolle auf, die die Gesellschaft ihrer Zeit einem behinderten Menschen zudachte. Stattdessen entwickelte sie Strategien, um sozial zu überleben.
Margaretes Problem war das Milieu, in das sie in Giengen an der Brenz, einer kleinen Stadt am Rande der Schwäbischen Ostalb, fernab von der württembergischen Residenzstadt Stuttgart, hineingeboren worden war. Das kleine Mädchen war von Menschen umgeben, die alle körperlich arbeiteten, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Diese Leistung wurde unter allen Umständen auch von ihr erwartet. Nach dem Ende ihrer Schulzeit stand Margarete Steiff – deren Vorname im heimischen Giengen auf der ersten Silbe betont wird, also Margarete – vor der beschwerlichen und langwierigen Aufgabe, sich in einem beschädigten Leben einzurichten.
Die typisch weibliche Existenz mit Ehemann und Kindern blieb einer jungen Frau im Rollstuhl versagt, auch wenn sie sehr hübsch war, einen freundlichen, offenen Charakter hatte und die Menschen von klein auf mit Charme und Einfallsreichtum an sich binden konnte. Margarete musste Schritt für Schritt lernen, eigenständig für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
Nachdem sie 13 Jahre als Lohnnäherin gearbeitet hatte, gelang es ihr, sich mit einer eigenen Werkstatt zu etablieren. Glücklicherweise hatte sie männliche Vorbilder und Ratgeber in ihrer näheren Umgebung, mit denen sie sich austauschen konnte und die sie zu Überlegungen anregten, wie sie effektiver mit ihrer Arbeitskraft umgehen und ihre Kreativität besser zum Unterhalt ihres Lebens einsetzen könnte.
Sie begann mit der Produktion und dem Versand von Kleidung und dekorativen Haushaltsartikeln wie Kissenhüllen und Tischdecken aus dem strapazierfähigen Material Filz. Ihre Idee, weich gestopfte Spieltiere aus diesem Material herzustellen, verwirklichte sie über mehrere Jahre hinweg nur in kleinen Stückzahlen. Dann setzte im Deutschen Kaiserreich ein wirtschaftlicher Boom ein, viele Menschen konnten plötzlich Geld ausgeben – auch für ihre Kinder.
Margarete Steiff nutzte beherzt ihre Chance. Sie wurde Industrielle in einer Branche, die erst im Entstehen war. Ihre Neffen und auch eine Nichte traten in die Firma ein. Steiff positionierte sich auf dem internationalen Markt. Als Richard Steiff den heute noch auf der ganzen Welt von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen heiß begehrten Teddybären entwickelte, war das ein Meilenstein der zeitgenössischen Pädagogik.
Die weltweite Begeisterung für den beweglichen Plüschbären überschüttete die Firma Steiff mit einer Lawine von Aufträgen. Um die enorme Nachfrage auch nach den übrigen Spieltieren bewältigen zu können, veranlasste Margarete Steiff die Errichtung ultramoderner Fabrikgebäude aus Glas und Stahl: ein ästhetischer Schock in ihrer beschaulichen Umgebung. Das 20. Jahrhundert war damit überraschend, unübersehbar und endgültig in Giengen angekommen.
Bei allen Turbulenzen gab sich die erfolgreiche Unternehmerin ganz eins mit der Rolle, die sie sich in der Gesellschaft erkämpft hatte; das war schwer genug gewesen. Nur keine Schwäche zeigen war das Fazit, das ihr schwacher Körper sie zu ziehen lehrte.
1908 schrieb Margarete Steiff die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend nieder. Bereits Jahre zuvor hatte sie ein kleines, in Leder gebundenes Buch mit leeren Seiten geschenkt bekommen. Ihre Erinnerungen begann sie mit den Worten: »Tagebuch von Fräulein Margarete Steiff. Dieses Buch wurde mir einst geschenkt mit der Weisung, meine Lebensgeschichte dareinzuschreiben; endlich komme ich dazu, damit zu beginnen, glaube aber nicht, dass es etwas rechtes wird, den[n] schriftstellern ist nicht meine Sache. Ich gebe, was ich kann, und meine Eigenen werden mich schon verstehen.«
Die Einundsechzigjährige war es nicht gewohnt, viele Worte um sich zu machen. Und seit Jahrzehnten war sie darin geübt, stark zu sein. Dementsprechend wählte sie einen sehr offiziellen, heiteren Duktus, der kaum ein wirkliches Gefühl erahnen lässt. Eines sollte unmissverständlich klarwerden: Sie hatte sich in diesem Leben durchsetzen wollen, und das war ihr gelungen. Selbstmitleid und Sentimentalität waren der Schwäbin völlig fremd. Selbstbeherrschung war alles. Dass sich Fremde für ihr Leben interessieren könnten, kam der Chefin einer Weltfirma nicht in den Sinn. Und daher hörte sie konsequenterweise mit dem Schreiben auf, als sie zu der Zeit ihres Lebens vorgedrungen war, die die Verwandten miterlebt hatten.
Es ist schon vergleichsweise viel über Margarete Steiff geschrieben worden. Von den zahlreichen Publikationen zum Thema historisches Spielzeug sollen hier stellvertretend die von Marianne und Jürgen Cieslik sowie die von Günther Pfeiffer hervorgehoben werden. Letzterer widmete sich besonders Richard Steiff und den Fabrikneubauten. Das Tor zur Kindheit von Wolfgang Heger aus dem Jahr 1997 hat die örtlichen Quellen zum Leben von Margarete Steiff erhoben. Es ist akribisch recherchiert und bietet unzählige Detailinformationen über die Geschichte der Stadt, in der Margarete Steiff aufwuchs. Die Berührung Margaretes mit dem Pietismus hielt das Interesse an ihrer Person auch in der frommen Literatur wach. In ihrer 2005 erschienenen Kleinen Chronik großer Frauen reiht Elisabeth Stiefel die Spielzeugfabrikantin unter den besagten »großen Frauen« ein. Ihre Behinderung wird als Prüfung Gottes interpretiert, die Meisterung ihres Lebens ein »Ja zu Gottes Wegen« genannt. Mit Margarete Steiff. Ich gebe, was ich kann hat Ulrike Halbe-Bauer 2007 einen liebevollen Jugendroman veröffentlicht, der seine Protagonistin allerdings allzu sehr mit ihrem Schicksal hadern lässt.
Ein Dokumentarfilm über den »Knopf im Ohr« von Stefanie Baumann aus dem Jahr 1998 setzte Leben und Werk erstmals in Bilder um. Der Spielfilm Margarete Steiff aus dem Jahr 2005 unter der Regie von Xaver Schwarzenberger errang den Bayerischen Fernsehpreis 2006 und den Bambi-Publikumspreis; Heike Makatsch in der Rolle der Margarete Steiff erhielt zudem den Bambi als »beste Hauptdarstellerin«. Die nicht immer faktentreue Verfilmung von Margarete Steiffs Lebensgeschichte brachte deren Behinderung ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Mittels einer fiktiven Liebesgeschichte wird hier versucht, die Innenwelt der Heldin, ihre unerfüllten Wünsche und Hoffnungen – wenn auch sehr konventionell – ins Bild zu setzen. 2009 schließlich produzierte die Steiff GmbH eine zwanzigminütige gefühlvolle Dokumentation unter dem Titel »Ode an die Freude«.
Es bleiben jedoch nach wie vor inhaltliche Fragen zu Leben und Schaffen unbeantwortet: Die Frage etwa, woher gerade eine Margarete Steiff, die durch die langjährige mühe- und schmerzvolle Handarbeit zu mehr als hundert Prozent ausgelastet, ja überanstrengt war, die Kraft bezog, so völlig neue Ideen, wie es ihre Spieltiere waren, aus dem Nichts zu schaffen. Warum kam gerade sie auf die Idee, mit dem Thema »Spiel« Geld verdienen zu wollen? Welche persönliche Bedeutung hatte die Produktion der Spieltiere für ihre Schöpferin, und welchen Stellenwert nahmen die Steifftiere in der zeitgenössischen Pädagogik ein? Wie agierte Margarete Steiff als Unternehmerin? Wie sahen die Arbeitsbedingungen in ihrem Unternehmen aus? Wie veränderte sie die Lebenswelt der (arbeitenden) Frauen?
Nicht zuletzt diese Fragen rechtfertigen es, das Leben dieser Ausnahmefrau noch einmal zum Thema eines Buches zu machen – ein Unterfangen mit ganz spezifischen Schwierigkeiten: Wie nähert man sich einer Frau an, die in einem sozialen Milieu aufwuchs, in dem man möglichst nicht über sich sprach? Die in einer Gegend Deutschlands zu Hause war, in der Disziplin und Selbstverleugnung hohe Ideale waren? Die in einer Zeit lebte, in der Individualität im Lebensweg einer Frau weder anerkennende Beachtung noch interessierte Neugier entfachte, sondern als missliebige Abweichung von der Norm empfunden wurde?
Margarete Steiff führte ein verschlossenes Frauenleben – ohne Ehemann, ohne eigene Kinder, das Leben einer Tante, die zum Mittelpunkt und Oberhaupt einer agilen Großfamilie wurde. Es fehlen daher auch die typisch weiblichen Konflikte – zumindest wissen wir nichts davon. »Fräulein Steiff« lebte in einer Welt, die ihr solche Gefühle nicht zugestand. Stattdessen fand sie männliche Verbündete, die sie jahrzehntelang unterstützten. Und, völlig ungewöhnlich für die damalige Zeit: Sie nahmen sie ernst.
Es ist ein Leben, geprägt durch eine Frömmigkeit, die, ganz in der protestantischen Tradition, in der täglichen Arbeit immer auch die Arbeit »im Weinberg des Herrn« sieht. Nachdem Margarete Steiff in der Herstellung von Spieltieren einen »Beruf« gefunden hatte, der ihren Geist und ihr Gemüt gleichermaßen forderte, widmete sie sich ihm mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft und Energie.
Kontur gewinnt dieses Ausnahmeleben im Vergleich mit dem Leben der Frauen in Margaretes Umgebung: dem der Mutter, ihrer Tanten, der Frauen in den pietistischen Kreisen, dem Leben ihrer Schwestern und ihrer Schwägerin. Es sind dies die Leben der ausgelaugten, überarbeiteten Ehefrauen, der sprichwörtlichen »armen alten Jungfern«, der hilflosen Witwen oder der ungefragt verheirateten Töchter. Margarete Steiff lebte wirtschaftlich unabhängig, selbstbestimmt. Dennoch hat sie mit größtem Interesse an dem anderen, dem typischen Frauenleben teilgenommen.
Margarete Steiffs Leben ist auch ein Paradebeispiel schwäbischen Familiensinns, geprägt durch ein weit gespanntes und intensives familiäres und freundschaftliches Beziehungsgeflecht. Man kannte sie, man vertraute ihr, und so wurde sie zum Teil einer lokalen Aufstiegselite. »In der Margarete arbeiten« hieß es noch Jahrzehnte nach dem Tod der Firmengründerin, wenn man in der Firma Steiff sein Geld verdiente.
Margarete Steiffs Leben ist auch Teil der Geschichte der Industrialisierung Württembergs. Neue Produktionsweisen und der Einsatz von Maschinen zogen die Arbeit in die Fabriken. Ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel ergriff auch die Familie. Die Frauen, die zum Arbeiten in die Firma Steiff, also in die »Margarete«, kamen, führten ein völlig neues Leben.
Die Entwicklung zur bürgerlichen Kleinfamilie bildete den Rahmen für die Etablierung der Kindheit als selbstständiger Lebensabschnitt und bereitete so den Boden für die Spielzeugindustrie. Entsprechend versuchte die zeitgenössische Pädagogik, die Kinder auf ihre Rolle im Erwachsenenleben vorzubereiten. Die Tiere von Margarete Steiff wiesen den Kindern keine geschlechtsspezifischen Rollen zu und bereiteten nicht auf das Erwachsenenleben vor. Sie waren aus der Perspektive des Kindes entwickelt, sollten Spaß machen, robust und langlebig sein; der Rest blieb den Kindern überlassen. Ihre Schöpferin schwieg über etwaige eigene pädagogische oder sonstige Beweggründe, die sie mit der Herstellung ihrer Tiere verband.
Hunderttausende von Steifftieren brachten das »Alles ist möglich« der Gründerzeit auf den Punkt und spiegeln bis heute die fundamentale Lebensbejahung der Unternehmerin wider. Sie stehen für den starken und rebellischen Charakter einer Frau, in deren eigener Kindheitswelt es kein Spielzeug gegeben hatte und Spielen als Zeitverschwendung verachtet worden war.
Margarete Steiff arbeitete sich heraus aus Beengung und vorgeschriebenen Rollen, führte ein Leben in der luftigen Höhe von Kreativität und Innovation, wirtschaftlichem Risiko und gesellschaftlichem Aufstieg; ein Leben, das über weite Strecken tatsächlich einem Hochseilakt gleicht. Getragen von einer tief empfundenen Religiosität fühlte sie sich auch in diesen Phasen ihres Lebens wohlaufgehoben und geborgen.
Paradoxerweise machte es gerade Margarete Steiffs Behinderung möglich, dass sie sich aus den zeittypischen Konventionen für Frauen herausentwickeln konnte. In der Zeit der Industriebarone und Kommerzienräte war Margarete Steiff eine »Industriebaronesse«, eine »Selfmadewoman«, eine Pionierin in der Männerdomäne Unternehmertum. Sie war, um mit der Unternehmensberaterin und Buchautorin Gertrud Höhler zu sprechen, eine Wölfin unter Wölfen. Die überaus emanzipierte Persönlichkeit, die sich den damaligen Rollenklischees für Frauen erfolgreich widersetzte, schrieb auch ohne öffentliche Resonanz Unternehmens- und Kulturgeschichte.
Je eingehender man sich mit ihrer Person beschäftigt, umso mehr verstärkt sich der Wunsch, Margarete Steiff wäre in ihrer Innenperspektive nicht so bescheiden gewesen, sondern hätte aus ihrem emanzipatorischen Tun auch das entsprechende Bewusstsein ziehen mögen. Die Sächsin Louise Otto-Peters trat in Deutschland bereits während des Vormärz für die Rechte der Frauen ein. 1866 veröffentlichte sie ihre Schrift Das Recht der Frauen auf Erwerb. Über die Bedeutung der Erwerbstätigkeit für alle Frauen heißt es dort: »[…] nur dadurch können sie wahrhaft befreit werden – jeder Emanzipationsversuch, der auf einer anderen Basis ruht, – ist Schwindel.«
In der Welt, in die Apollonia Margarete Steiff am 24. Juli 1847 hineingeboren wurde, war der Platz eines Mädchens und einer Frau ganz genau festgelegt. Ein Mädchen hatte sanft zu sein und sich leicht erziehen zu lassen. Bescheiden, fleißig und folgsam, hatte es nur dann zu reden, wenn es gefragt wurde. Später sollte es tugendhaft sein, hübsch, aber nicht allzu schön, gesund und kräftig, keinesfalls eitel und anspruchsvoll. Eine junge Frau musste sich willig verheiraten lassen, gesunde Kinder bekommen und eine treue Ehefrau sein, die mit dem Geld ihres Mannes sparsam umging, seinen Besitz mehrte, sich ihm unterordnete und seine Tage ruhig und friedlich gestaltete: Sie hatte ein Leben lang für andere da zu sein.
»Das Stufenalter der Frau«, ein Bilderbogen aus dem Jahr 1900, setzte die ideale weibliche Biografie in einer auf- und absteigenden Kurve ins Bild. Er war als Belehrung über zukünftige Rollen gedacht und wurde gern zur Konfirmation oder zur Verlobung verschenkt: Die Betrachterin sieht links das kleine Mädchen, das fröhlich Federball spielt, die von einem Mann umworbene junge Frau, die glückliche Mutter. Den Höhepunkt weiblichen Lebens markiert im Alter von 50 Jahren der erste Enkel – wogegen sich der gleichaltrige Mann im entsprechenden Bilderbogen auf dem Gipfel seines Berufslebens und damit auch seines persönlichen Erfolges befindet. Für die ältere und alte Frau folgen der Verlust des Ehemannes und der einsame Lehnsessel als abfallende Stufen der Lebenslinie. Von frühester Kindheit bis zum Tod bleibt das Leben der Frau auf die Familie beschränkt und durch Männer bestimmt. Ihre Aufgabe ist es, den Fortbestand der Familie zu sichern. Dafür gebühren ihr die Anerkennung und der Dank der Kinder und Enkel. Der Mann dagegen hat sich im Kampf mit der Welt zu bewähren.
Dieses auf Mann und Familie zentrierte Frauenbild hatte bei der Entstehung des Bilderbogens bereits eine lange Tradition, wurde doch stets die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams gemäß dem jahwistischen Schöpfungsbericht im Alten Testament (Genesis 2,22) als Beleg für die Zweitrangigkeit der Frau herangezogen. Und genau dieses biblische Geschehen wird auch auf dem kolorierten Bild in der Mitte des Fundaments jener Stufentreppe dargestellt, auf der sich hier das »ideale« Frauenleben entfaltet.
Das in seiner Zeit als Wandschmuck äußerst beliebte »Stufenalter der Frau« zeigt eine bürgerliche Frauenbiografie. Im Handwerkermilieu, dem Margarete Steiff entstammte, kam zu der auch dort selbstverständlichen Fremdbestimmtheit und Familienbezogenheit der Frau noch hinzu, dass bereits das kleine Mädchen der Mutter in Haus und Garten sowie bei der Beaufsichtigung der kleineren Geschwister helfen musste. Die unverheiratete Tochter ging den Eltern selbstverständlich täglich zur Hand, und die Frau eines Handwerkers half in der Werkstatt mit, wenn eine weitere Hand gebraucht wurde.
Nichts davon wird bei Margarete Steiff so sein. Das Leben ihrer Mutter lief jedoch genau nach diesem gesellschaftlichen Muster ab. Maria Margarete Steiff, geborene Hähnle (1815–1889), entstammte einer alteingesessenen Familie von Zinngießern, Müllern und Gastwirten.1 Bei Margaretes Geburt war die Mutter bereits zum zweiten Mal verheiratet und hatte vier Kinder zur Welt gebracht, von denen nur ihre beiden Töchter aus der zweiten Ehe überlebt hatten.
Giengen, die Stadt, in der Margarete Steiffs Mutter geboren worden war, lag am Schnittpunkt zweier Handelswege: auf der Nord-Süd-Achse zwischen Ulm und Nürnberg und auf der Ost-West-Achse zwischen Augsburg und dem Neckargebiet. Die Stadt, die das märchenhafte Einhorn im Wappen führt, konnte auf eine mehrhundertjährige Geschichte als kleine, aber wohlhabende freie Reichsstadt zurückblikken. Hier galt die stolze Devise »Stadtluft macht frei!«. Mit dem Anbruch der württembergischen Herrschaft sind diese Zeiten jedoch vorbei. Nur von 1806 bis 1808 ist Giengen Oberamtsstadt; danach verliert der Ort an Bedeutung, und es folgt eine Zeit der wirtschaftlichen Depression.
Marias Eltern, Bartholomäus und Anna Maria Hähnle, führten das Gasthaus »Zur Kanne« in der Marktstraße. Die »Kanne«, zu der eine Brauerei gehörte, war eine der 16 Schilderwirtschaften der Stadt, die besondere Privilegien, wie das Recht, Bier zu brauen und Gäste zu beherbergen, besaßen. Maria wuchs mit sieben Geschwistern auf.2
Selbstverständlich arbeitete eine Mutter in solch einem typischen Familienbetrieb in Küche und Ausschank mit, und auch die Kinder mussten helfen. Ehe und Familie galten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als wichtigste Form der Existenzsicherung. Die lebenslängliche Arbeitsgemeinschaft von Mann und Frau in den nicht adligen und nicht bürgerlichen Schichten der Gesellschaft stellte das Zentrum des wirtschaftlichen Überlebens dar.
Eine Auswertung des Gebäudebesitzes in Giengen, aufgeteilt in Berufsgruppen, zeigt, dass einige Berufe mit besonders großen Gebäudewerten verbunden waren. Die Wirte gehörten zu den wohlhabenden Bürgern der Stadt.3 Sie besaßen große und wertvolle Immobilien. Das Häuserbuch von 1805 beschreibt das Gasthaus »Zur Kanne« in der Marktstraße 22 als zweistöckiges Wohnhaus samt Anbau, Bierbrauerei, blecherner Dörre und angebautem Schweinestall sowie Nebenhaus und Scheuer. Der Gesamtwert betrug 2100 Gulden. Aus der benachbarten Kronenwirtschaft, deren Immobilienwert mit 2700 Gulden angegeben wird, stammte Margaretes Großmutter.4 Die vermögenden und einflussreichen Familien einer Stadt wie Giengen heirateten untereinander, auch wenn sie weitläufig miteinander verwandt waren. Das »Sach«, wie es im Schwäbischen heißt, also der Besitz, musste zusammengehalten, ja möglichst im Lauf des Lebens sogar vermehrt werden. Grund dafür war die in Württemberg praktizierte Realteilung, der gemäß den Söhnen und Töchtern bei ihrer Verheiratung nicht nur eine Aussteuer zustand, sondern der Besitz im Erbfall zu gleichen Teilen unter allen Kindern der Familie aufgeteilt wurde.
Diese Praxis führte trotz sparsamen Wirtschaftens und enormen Fleißes meist zu einer stetigen Verkleinerung der einzelnen Besitzstände. Jede folgende Generation stand unter dem Druck, die durch die Realteilung erlittenen Verluste in ihrer Lebensarbeitszeit wieder wettzumachen. Bei sieben Geschwistern zum Beispiel musste man das Siebenfache der Eltern erwirtschaften. Für eine breite Schicht der Bevölkerung war mit diesem System zwangsläufig die Gefahr des sozialen Abstiegs verbunden. Die Situation verschlechterte sich aufgrund der spektakulären Krisen- und Hungerjahre 1816/17 und 1846/47 weiter. Zahlreiche Giengener wanderten aus – vor allem nach Amerika.
Wilhelm I. von Württemberg (1781–1864) hatte 1816 von seinem Vater ein finanziell ruiniertes Land übernommen. Er baute den Schuldenberg innerhalb von zwei Jahrzehnten ab, förderte nach den Erfahrungen des Hungerwinters 1816/17 insbesondere die Landwirtschaft, befreite die Bauern und ermöglichte ihnen eine Ablösung der feudalen Grundlasten. Königin Katharina widmete sich vornehmlich der Armenpflege. Durch diese Aktivitäten gelang es langsam, den wirtschaftlichen Aufstieg Württembergs in einem politisch vergleichsweise ruhigen Klima zu fördern.
Maria Hähnle wählte ihren Bräutigam nicht innerhalb der wohlhabenden Familien von Giengen – oder sie wurde von keinem der entsprechenden jungen Männer erwählt. Sie heiratete auch kein Mitglied ihrer weit verzweigten Verwandtschaft, sondern einen Mann, dessen Vater in die Stadt zugezogen war. Dieser Johann Georg Wulz war Bauhandwerker und stammte aus Oggenhausen bei Heidenheim.5 Er wurde Bürger von Giengen und als Meister in die Zunft aufgenommen.
Die Zünfte, seit dem Hochmittelalter bestehende Zusammenschlüsse von Handwerkern, waren ein »Closed Shop« der damaligen Zeit. Sie legten fest, wie viele Meister eines Gewerbes in einer Stadt ansässig sein durften. Sie stellten die Regeln der Handwerksberufe auf und überwachten Ausbildung, Preise, Qualität der Produkte, Arbeitszeit und Ehrenkodex der Mitglieder. Nur wenn ein Meister starb, konnte ein neuer aufgenommen werden. Man wollte die sehr begrenzten Einkommenschancen unter sich verteilen. Außerhalb dieses Zusammenschlusses durften die »zünftigen« Berufe nicht ausgeübt werden. Viele Zunftordnungen enthielten die Vorschrift: Stirbt ein Meister, muss die Witwe innerhalb von ein bis zwei Jahren wieder heiraten. Ansonsten verliert sie die Werkstatt ihres Mannes.6
Johann Georg Wulz war in Giengen zu einigem Wohlstand gelangt. Er ist im ersten Brandversicherungs-Kataster der Stadt als Eigentümer der Ledergasse 26 eingetragen, eines zweistöckigen Wohnhauses mit einem Anbau im Wert von 550 Gulden.7 Sein gleichnamiger Sohn ergriff den Beruf des Vaters.8 Inzwischen war der Zunftzwang für die Bauhandwerker mit der neuen Gewerbeordnung von 1828 abgeschafft worden.
Indem die 23 Jahre alte Maria Margarete Hähnle den Sohn eines »reingeschmeckten« Handwerkers heiratete, traf sie eine für den Stand ihrer Familie etwas ungewöhnliche Partnerwahl. Vielleicht weil sie sich in den jungen Wulz verliebt hatte? Einem solchen Gefühl nachzugeben wäre in der damaligen Zeit und in der Gesellschaftsschicht, in der sie lebte, eine völlige Ausnahme gewesen. Am 6. November 1838 jedenfalls heiratete sie den Maurermeister.9 Das junge Ehepaar zog in das Haus der Familie Wulz, das am östlichen Rand der von einer Mauer umschlossenen Stadt lag.
Die Handwerkerfamilien zählten in Giengen zu den angesehenen Bürgern. Die Männer sprach man mit ihrer Berufsbezeichnung an, die Frauen mit »Frau Meisterin«. Wie in dem Gasthaus, aus dem Maria Hähnle stammte, war auch im Handwerkerhaushalt die weibliche Mithilfe ein wichtiger Garant des wirtschaftlichen Erfolges. Handwerkerfrauen managten das System des »Ganzen Hauses«, zu dem neben älteren Familienangehörigen und der stattlichen Kinderschar auch die Gesellen und Lehrlinge gehörten, denen sie Kost und Logis gewährten. Sie hielten Ziegen, Hühner oder sogar ein Schwein, bewirtschafteten einige kleine Grundstücke und den Hausgarten. Damit war der Bedarf an Kartoffeln, Gemüse, Obst, Eiern und Fleisch auch in Zeiten geringen Umsatzes gedeckt.
Das Ehepaar Wulz bekam kurz hintereinander zwei Söhne, die beide bereits im ersten Lebensjahr starben.10 Das war in der damaligen Zeit mit ihrer hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit keine Seltenheit, aber sicher hat es die junge Mutter belastet. Sie musste jedoch noch einen viel härteren Schicksalsschlag hinnehmen, als im dritten Ehejahr ihr Mann im Frühjahr bei Dacharbeiten an der Brauerei ihres Vaters abstürzte und sich tödlich verletzte.11 Mit 26 Jahren war Maria Wulz Witwe. Von ihrer Trauer einmal ganz abgesehen, stellte sie die Situation vor ein zentrales wirtschaftliches Problem: Sie konnte den Betrieb ihres Mannes nicht allein aufrechterhalten. Zunächst führte der aus dem 45 Kilometer entfernten Geislingen an der Steige am Rande der Rauhen Alb stammende und bereits seit einigen Jahren bei Johann Georg Wulz tätige Geselle Friedrich Steiff (1817– 1894) das Baugeschäft weiter.
Zwei Kinder tot, der Mann vom Dach gefallen. Hätte da jemand in Giengen Maria Wulz überhaupt noch heiraten wollen? Für sie selbst bedeuteten diese Erlebnisse wohl das Ende ihrer Lebensfreude. Sie verhärtete sich in einer rigorosen Religiosität, fühlte sich von ihrem Gott geprüft und versuchte, sich seinem vermeintlich strengen und unerbittlichen Willen durch Arbeit und Leiden zu unterwerfen. Sie lebte eine Art von Hiobsexistenz, identifizierte sich in gewisser Weise mit der alttestamentarischen Leidensfigur und machte damit ihrer nächsten Umgebung das Leben schwer. Margarete sollte die Mutter in ihrem Tagebuch als überstreng, hart gegen sich und andere, humorlos, freudlos und kränklich darstellen.
Die Familie des im Giengener Baugeschäft tätigen Friedrich Steiff ist seit 1545 in Geislingen nachweisbar.12 Ein Johannes Steiff (1603–1651) wird als »Gastgeber zum Goldenen Löwen, Gerichtsverwandter« genannt. Zwei nachfolgende Generationen waren Bäcker. Mit »Johannes Steiff (1738–1817), Zimmermann« wechselten die Männer der Familie ins Bauhandwerk. Der junge Friedrich Steiff hatte in seiner Heimatstadt offensichtlich keine Stelle gefunden. Schon in Zeiten des Zunftzwanges war die Lage der Gesellen schwierig gewesen. In der seit 1828 freieren Wirtschaft mussten sie nicht weniger hart gegen den beruflichen Abstieg ankämpfen.
Verwitwete Frauen und Männer jeden Alters gingen so rasch wie möglich eine neue Ehe ein, und Maria Wulz tat das, was Meisterwitwen seit Jahrhunderten getan hatten: Sie entschied sich dazu, den ersten Gesellen ihres Mannes zu heiraten. Offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden fast Gleichaltrigen waren die Abstammung aus einer Gastwirtsfamilie, die Mentalität der Älbler, das Schwerblütige, Schweigsame, Verhaltene. Welche Gefühle die beiden verbanden, ist völlig unklar. Was sie zusammenführte, war vor allem der pragmatische Wunsch, wirtschaftlich zu überleben.
Um die Frau seines verstorbenen Brotherrn heiraten zu können, musste Friedrich Steiff um die Erteilung des Bürgerrechtes nachsuchen. Es wurde ihm am 4. Februar 1843 vom Gemeinderat zuerkannt.13 Mit der Hochzeit am 9. Mai 1843 änderten sich die Gewichte zwischen den beiden. Das Haus in der Ledergasse ging in die Verwaltung und das vorhandene Kapital in den Besitz von Friedrich Steiff über.14 Das Geschäft konnte weitergehen. Die Vernunftehe war geschlossen.
Friedrich Steiff wurde mit dieser Heirat Meister. Und Maria Wulz setzte dem Gerede vom Unglück, das auf ihr lag, ein Ende. Sie bekam eine zweite Chance, alles »richtig« zu machen. Der soziale Druck der Verhältnisse in der kleinen Stadt, in der jeder jeden kannte, in der die Familien seit Generationen lebten und größten Anteil am Schicksal der anderen nahmen, war enorm. Es herrschte eine festgefügte Ordnung, in die jeder sich einzufügen hatte. Sonst nahmen Klatsch und Tratsch kein Ende. Die protestantische Ehe, durchaus verstanden als gesellschaftliche Pflicht, diente zur Kanalisierung der verpönten Sexualität als notwendiges Übel im Dienste der Fortpflanzung.
Neun Monate nach der unter diesen Umständen gefeierten Hochzeit gebar Maria Steiff am 22. Februar 1844 ihre erste Tochter Marie. Pauline folgte am 27. November 1845. Am 24. Juli 1847 schließlich wurde Apollonia Margarete geboren – Margarete Steiff. Ihre Geburt war sicher mit der Hoffnung verbunden gewesen, dass endlich ein Sohn in der Ledergasse das Licht der Welt erblicken möge. Ein Mann musste eine Frau haben, eine Frau musste einen Mann haben, und beide mussten sie Kinder haben. Kinder bedeuteten Arbeitskräfte, erhielten den Besitz und gewährleisteten die Versorgung der Alten. Aber nur Söhne trugen den Namen der Familie in die nächste Generation.
Alle werden Margarete ein Leben lang mit ihrem zweiten Namen oder einfach »Gretle« beziehungsweise »Gret« rufen. Ihr erster Name, Apollonia, erinnert Reclams Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten zufolge an »eine betagte christliche Jungfrau«, die 249 in Alexandria den Märtyrertod erlitt.15 Nach ihr hieß das Mädchen zu Ehren ihrer Patentante, der jüngeren Schwester der Mutter, die eine wichtige Bezugsperson für Margarete werden sollte. In derlei Namensgebungen macht sich die Randlage Giengens im Königreich Württemberg und die Nähe zu katholischen Gebieten bemerkbar. Zum Glück sollte sich sehr schnell zeigen, dass die Kleine keinerlei Anlage zum Martyrium in sich hatte. Sie schlug da schon eher nach ihrer zweiten Patronin, einer christlichen Jungfrau, die beherzt gegen den Drachen kämpfte.
Tante Apollonia wird eine intensive Verbindung zu Margarete aufbauen und aufrechterhalten. Die »Basdot«, also Patentante, nennt sie der Dialekt. Das Patenamt hatte eine wichtige Bedeutung in evangelischen Familien. Die Paten gelobten bei der Taufe, für die christliche Erziehung des Kindes zu sorgen und die Stelle der Eltern einzunehmen, wenn diese einmal nicht selbst für ihr Kind sorgen konnten. Im kargen und armen Schwaben und in der Zeit, als die einzelnen Familien noch viele Kinder hatten, bekamen die Kinder zu Weihnachten und zum Geburtstag ihre Geschenke vor allem von den Paten.
Kurz vor Margaretes Geburt hatte Apollonia Hähnle den wohlhabenden Müller Johann Jakob Hähnle geheiratet – den Cousin ihres Vaters. Nach den beiden Ehen von Maria Steiff tritt uns hier nun ein dritter Typ von Mann-Frau-Beziehung gegenüber: Margaretes zukünftige Patentante gab einem wesentlich älteren, wohlhabenden Mann ihr Jawort; einem Mann, dessen Anwesen vor dem Klingel-Tor im Jahr 1805 ein stattliches »zweistöckiges Wohnhaus mit 3 Mahl- und 1 Gerb-Gang, eine zweistöckige Scheuer hinter dem Haus, ein[en] Anbau daran mit einem Rindviehstall, eine Wasserstube an der Mühle, ein besondere[s] Waschhaus an der Wasserstuben« im Gesamtwert von 4200 Gulden umfasste.16
Der bei der Eheschließung 45 Jahre alte Johann Jakob Hähnle hatte die 24 Jahre Jüngere in dritter Ehe zur Frau genommen. Sie kümmerte sich nun um seine acht Kinder.17 1851 bekam Apollonia Hähnle selbst eine Tochter, Anna Maria. Margarete Steiff und die vier Jahre jüngere Cousine wurden lebenslange enge Freundinnen. Wie ihre Schwester hatte Apollonia Hähnle die Lebenssicherung durch einen Mann gewählt, auch wenn sie dafür gleichsam in das Leben einer anderen eintreten musste. »Mir geschirret miteinander« – also »wir gehen gemeinsam im Geschirr« – sagten und sagen schwäbische Eheleute von sich, wenn sie ihr Miteinanderarbeiten und Aufeinander-angewiesen-Sein beschreiben. Und vergleichen sich dabei mit einem Ochsengespann, das den Acker umpflügt. Das Thema des »Ehejochs« schwingt deutlich mit, obwohl die Beschreibung eine eindeutig positive Bewertung darstellt, fast schon ein Eigenlob.
Margaretes Geburt fiel in die Zeit unmittelbar vor der bürgerlichen Revolution von 1848. Ziel dieser Bestrebungen in Deutschland war die Formulierung einer demokratischen Verfassung und die Errichtung eines Nationalstaats. Auch Württemberg und das damals etwa 2000 Einwohner zählende Giengen wurden von den damit verbundenen politischen und militärischen Turbulenzen erfasst.
Bereits im Vorfeld war auch die Lage der Arbeiter und Frauen diskutiert worden. Die Frauenrechtlerin Mathilde Franziska Anneke (1817–1884) veröffentlichte die Schrift Das Weib im Conflikt mit den socialen Verhältnissen, und Luise Otto-Peters (1819–1895) postulierte, die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates sei eine Pflicht. Die Märzrevolution begünstigte die Entstehung zahlreicher demokratischer Frauenvereine, und Louise Otto-Peters begann mit der Herausgabe der Frauenzeitung. Um ihre Tätigkeit zu unterbinden und die Zeitung zu verbieten, verabschiedete Sachsen sogar ein eigenes Gesetz, die »Lex Otto«.
Inzwischen erwartete Maria Steiff schon das nächste Kind. Die gesundheitlich angeschlagene junge Mutter wurde vielleicht bereits zu dieser Zeit von ihren Eltern bei der Kinderbetreuung entlastet. Margarete wird später von den glücklichen und verwöhnenden Aufenthalten bei ihren Großeltern im Gasthaus »Zur Kanne« erzählen.
Am 27. Dezember 1848 kam ein Sohn zur Welt: Friedrich (1848–1900), der Erbe und Stammhalter. Margarete war zu diesem Zeitpunkt 15 Monate alt. Sie sprach ihre ersten Worte, konnte krabbeln, bereits etwas laufen, sich an den Möbeln entlanghangeln. Doch plötzlich erkrankte die Kleine an hohem Fieber. Sie konnte ihre Beine nicht bewegen, der rechte Arm war schwach, die Finger der rechten Hand konnten nur mit größter Kraftanstrengung greifen.
In ihrem Tagebuch schrieb Margarete Steiff lapidar: »Mit 1½ Jahren wurde ich von einer Krankheit befallen, nach welcher ich nicht mehr gehen konnte, der linke Fuß war vollständig, der rechte teilweise gelähmt, auch der rechte Arm war sehr geschwächt.«18 Drei Jahre später diagnostizierte ein Ulmer Arzt Kinderlähmung. Da man die Ursache der Erkrankung nicht kannte, gab es auch keine wirkliche Therapie. Das sollte für Margaretes Jugend eine wichtige Rolle spielen.
Noch im Todesjahr von Margarete Steiff war die Krankheit nicht erforscht. Das Meyersche Konversationslexikon, Band 16 von 1909, beschreibt die Symptome: »Häufiger ist die akute Poliomyelitis (spinale Kinderlähmung) bei jungen Kindern, bei denen die Erkrankung oft unter hohem Fieber meist die Vorderhornzellen des Lendenmarks befällt; die von hier aus mit Nerven versorgten Glieder verfallen einer schlaffen Lähmung. Das Leiden kann sich insofern bessern, als manche anfangs gelähmte Muskelgruppen sich allmählich wieder erholen, ein größerer oder geringerer Defekt mit Schwäche und Wachstumsstörung des betreffenden Gliedes bleibt aber meistens zurück.«
Wie sich Maria Steiff wohl mit der Behinderung ihrer Tochter auseinandergesetzt hat? In jedem Fall war es ein Prozess, der sich in mehreren Schritten vollzog. Die hoch ansteckende, durch Viren übertragene Infektionskrankheit beginnt nach zirka zwei Wochen Inkubationszeit mit Kopf- und Gliederschmerzen, Schluckbeschwerden, Appetitlosigkeit und Durchfall. In der akuten Phase der Krankheit musste das hohe Fieber gesenkt werden. Da waren kalte Wadenwickel das probate Mittel.
Danach dringt der Erreger in das zentrale Nervensystem vor und löst die zweite Krankheitsphase aus, deren Symptome von Rücken- und Muskelschmerzen bis hin zu Hirnhautentzündung und Muskellähmungen reichen können. Die halbseitige Lähmung Margaretes wurde sicher zunächst der Schwächung durch das Fieber zugesprochen. Aber das Fieber sank, und die Lähmung blieb zurück. Hilflosigkeit und ein Gefühl der Ohnmacht stellten sich ein. Die Ärzte in Giengen wussten keinen Rat.
Bei aller Fürsorge war die Mutter durch die Mehrfachbelastung mit ihrem Säugling, dem Haushalt, Garten und Landwirtschaft sowie dem Baugeschäft so ausgelastet, dass sie sich die Zeit für ihre durch die Krankheit geschwächte Tochter quasi minutenweise aus ihrem festgelegten Alltag herausschneiden musste. Alle Menschen mussten in dieser von der Arbeit bestimmten Welt funktionieren, so dass sie wie Zahnrädchen ineinandergriffen. Wer das nicht konnte, störte. Auch Margarete sollte unter allen Umständen funktionieren.
Maria Steiff hatte Angst, dem Kind könne noch mehr zustoßen. Die steile Stiege, die vielen Möbel, an denen sie sich verletzen konnte, überall im Haus lauerten Gefahren. Unzähligen Bemühungen, die kleine Tochter zum Stehen zu motivieren, folgte jedes Mal die Enttäuschung. Die strenggläubige und ängstliche junge Mutter fragte sich vermutlich, was ihr Herrgott denn dieses Mal mit ihr vorhatte. Erneut beschlich sie das bedrückende und lähmende Gefühl, auf ihrem Leben liege kein Segen. Die Ängste, die sie nach dem Tod ihres Mannes befallen hatten, kehrten zurück. Die beiden Söhne aus erster Ehe gestorben, der erste Ehemann tot und nun das kranke Kind.
Für Margarete selbst war die Erkrankung ein drastischer Einschnitt in ihrem jungen Leben. Sie hatte vor ihrer Krankheit bereits begonnen, ihre Umgebung zu erobern; nun war sie in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt und musste viele Stunden am Tag darauf warten, dass die Mutter ein wenig Zeit für sie hatte. Vor allem hat Margarete Steiff ihre Mutter wohl klagen hören.
In ihren Kindheitserinnerungen betont sie, wie schwach die Mutter gewesen sei, wie sehr ihr Körper unter der vielen Arbeit gelitten habe und wie groß die Zusatzbelastung durch die auf Hilfe angewiesene Tochter war. Aber Margarete war ein vitales Kind, das, sobald es sich von der Krankheit erholt hatte, am Leben teilhaben wollte. Nachdem der akute Krankheitsschub vorbei war, war sie nicht mehr krank. Sie litt unter Krankheitsfolgen, aber nicht unter einer Krankheit.
Sie musste sich beengt fühlen im Haus ihrer Eltern, in dem sie sich schlecht vorwärtsbewegen konnte und immer unter der Aufsicht der Mutter stand. Ein separates Kinderzimmer war in diesem Milieu zu jener Zeit nicht üblich. Säuglinge und Kleinkinder schliefen im Zimmer der Eltern. Die größeren Kinder teilten sich eine gemeinsame Schlafstube, meist unter dem Dach, die nicht beheizbar war und nur den Betten Platz bot. Auch die mussten sich die Geschwister meist zu mehreren teilen.
Margarete hörte die Geräusche von draußen, sah durch das Fenster die Sonne, ahnte den frischen Wind. Der Blick nach draußen bleibt für sie ein Leben lang wichtig. In jedem Haus, in dem sie wohnt, wird sie einen besonderen Fensterplatz mit bevorzugter Aussicht haben.
Die Eltern Hähnle versuchten weiter, ihre zunehmend verzweifelte und überforderte Tochter zu entlasten, und nahmen die kleine Enkelin häufig zu sich. »Mein Großvater holte mich oft in seine hintere Stube, wenn auf dem Berg Schafe zu sehen waren. Da rief ich dann aus Leibeskräften zum Fenster hinaus ›Schäfer, wo sind deine Schauf, ’s hintre lauft dem vordera nauch.‹«19 Dem etwas unaufmerksamen Schäfer waren also die Tiere davongelaufen, dem Herdentrieb folgend. Und Margarete mahnte ihn mit größtem Vergnügen, seine Arbeit doch etwas besser zu machen – sehr schwäbisch!
Die Alb mit ihren kargen Hochflächen war seit Jahrhunderten ein Gebiet, in dem Schäferei betrieben wurde. Wie viele Schafe Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Alb standen, geht aus der Oberamtsbeschreibung Heidenheim von 1844 hervor. »Die Wolle wird meist an Heidenheimer Fabrikanten und Tuchmacher, zum Teil aber auch auf dem Wollmarkt zu Kirchheim abgesetzt.«20
Margarete durfte im Haus der Großeltern nicht nur laut aus dem Fenster schreien und übermütig und wild sein, sie wurde auch mit besonderen Leckereien verwöhnt. »Und wie gut war Großvater’s Kaffee! Er hatte eine breite Schüssel [Tasse] mit Handgriffen, da stellte er ringsum Dunkerle [kleine Gebäckstücke zum Eintauchen], die er von seiner Nudel [traditionelles Hefegebäck, vergleichbar mit den österreichischen Buchteln] abgeschnitten hatte, die waren halt so gut.«21
Gutes Essen kostete Geld. Und Geld gab man in Schwaben nicht gern aus, egal, ob man es hatte oder nicht. Sparen war Landestugend. Und so war auch das Alter von Bartholomäus und Anna Maria Hähnle durch große Sparsamkeit bestimmt. Trotzdem gab es die Verwöhnung für das Enkelkind, und zwar so, dass Margarete es genießen konnte. Ihre sonnigen und heiteren Züge scheinen sich in der Obhut der Großeltern entwickelt zu haben. In diesem Punkt unterscheidet sie sich deutlich von ihren Schwestern, und diese Andersartigkeit wird zum Konfliktpotenzial mit der Mutter.
Margarete Steiff schreibt: »Ich konnte natürlich nicht begreifen, dass die liebe Tante Ursche nicht gerne sah, wenn wir die Dunkerle alle wegaßen. Was wussten wir Kinder davon, wie sauer es der Tante wurde, für die Großeltern das Nötigste zu beschaffen, da musste sehr gespart werden.«22 Ursche, Ursula Hähnle, die jüngere, ledige Schwester der Mutter, die den Großeltern den Haushalt führte, lebte das beengte Leben einer unverheirateten Frau und war für Margarete von Kindheit an ein Negativbild an Eingeschränktheit und Abhängigkeit.
Um etwas dazuzuverdienen, fertigte die Großmutter Strümpfe mit Monogramm. Sie unterhielt das Kind dabei mit Geschichten. »Meine Ahne beschäftigte sich stets mit Stricken; sie hat viele feine Aussteuerstrümpfe gestrickt mit prächtigen Namen. Daneben erzählte sie von ihrer Jugend. Ihre Mutter (meine Urgroßmutter) war gebürtig aus Rudelstetten im Ries. Dort war meine Ahne öfter zu Besuch. Da sei neben der Küche eine Holunderstaude gewesen, und hat die Urahne die Holunderküchle an der Staude gebacken, indem sie die Dolden in den Teig tunkte und mit dem siedenden Schmalz hinausging, worin die Küchlein buken.«23
Duftende, knusprige, in Teig ausgebackene Holunderküchlein, die sozusagen am Strauch wuchsen, das muss der kleinen Margarete, die sich für leckeres Essen begeisterte, wie ein Bild aus dem Schlaraffenland erschienen sein. Dass in dem Holunderstrauch die guten Feen wohnten, hat ihr die Ahne sicher auch erzählt. Bei diesen Geschichten brauchte sie keine Beine, ihre Fantasie konnte mühelos folgen. Die Großmutter lehrte sie, dass man mit Geschichten Menschen fesseln konnte: Sie blieben sitzen und hörten gebannt zu. Erzählen war eine Form von Macht. Das wollte Margarete unbedingt können.
Auch bei Tante Apollonia gab es gutes Essen und darüber hinaus etwas zum Spielen. Die Klingelmühle, die heute noch steht, war keine 300 Meter von Margaretes Elternhaus entfernt, für sie jedoch ohne fremde Hilfe unerreichbar. Hier lebte Apollonias Stiefsohn Hans Hähnle (1838–1909). Er war zu der Zeit gerade 14 Jahre alt und hatte die Lateinschule abgeschlossen.
»An den Sonntagen, wenn die Schwestern mit ihren Freundinnen fortgingen und mich nicht mitnehmen konnten, da bettelte ich fort und fort an der Mutter, bis sie mit mir zur Bas [Tante] Seifensieder oder zur Basdot ging. Besonders in der Mühle konnte man so schön spielen auf den breiten Simsen; da war ein Geduldsspiel, das man niemals zusammen brachte und viele andere Herrlichkeiten. Im Frühjahr durfte man den Hasen holen und im Winter gab’s Metzelsuppe.«24
Unterbrochen wurde dieser Kinderalltag in Giengen durch Reisen zu verschiedenen Ärzten, von denen sich Margaretes Eltern Heilung für ihr Kind erhofften. Im Tagebuch heißt es: »Einmal fuhren wir über Ulm, mit welcher Gelegenheit kann ich mich nicht mehr erinnern. Post oder Eisenbahn gab’s damals nicht.« Ulm ist über 30 Kilometer entfernt. Nach einem Fahrplan von 1863 brauchte die Postkutsche für diese Strecke vier Stunden.25
»Dort angekommen bat meine Mutter einige Kinder, sie sollen mich auf ihren Schlitten nehmen.«26 Die Kinder zogen sie zum Gasthof »Zur Gans«, wo ihr die Mutter »eine ganze knusprige Bratwurst« spendierte. Für das Kind und noch 50 Jahre später für die erwachsene Frau ein Höhepunkt: »Dieser Wurst wegen ist mir diese Reise im Gedächtnis geblieben, denn von dem aufgesuchten Doktor weiß ich nichts mehr.«27
»Wer bin ich? Wie soll ich die Probleme des Lebens anpacken? Was wird aus mir werden?« Fragen, die in der Psychologie als grundlegend für die kindliche Psyche genannt werden. Margarete versuchte ihren Platz in der Welt, die sie umgab, zu finden, und ihr sehnlichster Wunsch war es daher, am Leben in der Ledergasse teilzunehmen. »Alle Hausgenossen bettelte ich an: ›Tragt mich auf die Gasse‹, wenn ich auch manchmal fast erfror.«28 Das alte Motto der Freien Reichsstadt, dass Stadtluft frei mache, hatte es auch ihr angetan. Und so wurde sie oft schon früh am Morgen von ihrer Mutter in einen Leiterwagen gepackt, der seinen Platz vor dem Haus der Eltern hatte. Selbst wenn sich wegen großer Kälte sonst niemand draußen aufhielt und alle dick vermummt an ihr vorbeihasteten, saß Margarete in ihrem hölzernen Leiterwägelchen. Sie wollte nicht das Gefühl haben müssen, vergessen, verlassen und hilflos im Haus zu sitzen.
Eng beieinanderstehende Häuser prägten das Erscheinungsbild der Gasse und das Lebensgefühl der Bewohner. Metzger, Schuhmacher, Gerber und Müller waren ansässig – ein eigener Kosmos der Geschäftigkeit. Für ein wissbegieriges und aufgewecktes Mädchen gab es jede Menge zu sehen, zu hören und zu riechen. Die Brenz, die damals in einem Kanal auch durch die Ledergasse floss, trieb die Wasserräder an und war unersetzlich für die zahlreichen Handwerksbetriebe in der Stadt. Der 55 Kilometer lange nördliche Nebenfluss der Donau entspringt im Brenztopf bei Königsbronn nahe Heidenheim. Mit nur 70 Metern Gefälle zwischen Quelle und Mündung ist der Verlauf eher gemächlich; außerhalb der Städte mäandert der Fluss idyllisch durch Talwiesen.
Die Nachbarn sprachen häufig mit der kleinen Margarete, sie werden sich amüsiert haben über die gespannte Aufmerksamkeit, mit der das Kind ihre Arbeit verfolgte. Warum interessierte sie das alles, sie war doch ein »Mädle« – ein Mädchen. Auch sie wurden zu Lieferanten von Leckereien. Margaretes Lieblingsnachbar Jesajas Edelmann, Schuhmacher und Kleinbauer, konnte den Kindern der Familie Steiff keinen Wunsch abschlagen. Sein Haus folgt direkt auf das der Eltern: Ledergasse 28.
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