Berlin im Februar 2012: Dem Hitze- folgte quasi über Nacht der Kälteschock. Von knapp dreißig Grad mit Sonnenmilch und Sombreros ging es zurück in die deutsche Eiszeit mit Wollmützen und Fäustlingen. Aber Jammern ist nicht, Ausruhen von den Reisestrapazen und vom Jetlag allerdings auch nicht. Eine neue DVD steht an, und es gibt noch jede Menge zu tun, denn mal wieder hat die Plattenfirma eine knallharte Deadline gesetzt, die nur mit etlichen Nachtschichten eingehalten werden kann. Arbeitsteilung und kreatives Chaos heißt mal wieder die Zauberformel: Während ein Teil der Band das Filmmaterial der schwermetallischen Schiffsreise sichtet und dabei in Gedanken durch Miami flaniert, befasst sich ein anderer Teil intensiv mit den Konzertaufnahmen. Editieren, schneiden, soundtechnisch bearbeiten, Layouts, Cover, Credits, ein hektischer Sänger, ein humpelnder Schlagzeuger, ein dirigierender Gitarrist und und und. Während ihr diese Zeilen lest, steht Sterneneisen: Laut Sind Wir Und Nicht Die Leisen auf jeden Fall im Handel. Auf den letzten Drücker, wie immer. Aber dennoch pünktlich wie die Tagesschau. Timing ist alles. Sagt auch Specki, der sich direkt nach dem Mexiko-Konzert gemeinsam mit Basti nach Acapulco abgesetzt hatte. Schirmchendrinks und Sonnenschein sollen angeblich am wirkungsvollsten gegen Knochenbrüche helfen. Wer’s glaubt …
Bei einem gemeinsamen, gepflegten Gläschen Ende 2011 hatten IN EXTREMO angekündigt, das neue Jahr ein bisschen ruhiger angehen zu lassen. »Wir können ja nicht ständig Vollgas geben!«, meinte Kay fast schon entschuldigend. Tja, was soll ich an dieser Stelle schreiben … Mal wieder blieb der Wunsch unserer Helden der Vater des Gedankens, denn die Ferne ruft verlockender denn je! Im Jahr 2012 werden die Herren Rocker ihre Dudelsäcke in Österreich, Polen, Ungarn, Kroatien, Italien, Tschechien, Frankreich, Belgien und in der Schweiz schultern. Von wegen Pause! Aber wie singt Michael in Neues Glück so treffend:
»Neues Glück liegt auf den Wegen
Die Welt ist groß und sie ist mein
Alte Träume die brach gelegen
Ich lass die Sorgen Sorgen sein
Neue Städtchen
And’re Mädchen
Es steht nie still das Rädchen
Einerlei an welchem Ort
Einfach von Zuhause fort.«
© Universal Music Publishing GmbH
Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen. Höchstens noch, dass Pymonte, Kay, Basti, Specki, Boris, Marco und Michael bereits einige tolle Ideen für ein neues Album gesammelt haben. Das Album nach Sterneneisen, wie wird es wohl werden? »Das weiß nicht einmal der Deibel«, sagt Kay. Sicher ist nur: Bei so viel Reiselust, Neugier, Unberechenbarkeit und Einfallsreichtum muss uns um die Zukunft der wohl verrücktesten Rockband Deutschlands nicht bange sein! IN EXTREMO – das war, ist und bleibt eine Abenteuergeschichte in Vollendung.
Wolf-Rüdiger Mühlmann
Seevetal im Februar 2012
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2. Auflage 2016
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Umschlaggestaltung: Marco Slowik
Satz: HJR, Manfred Zech, Landsberg am Lech
EPUB: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN Print 978-3-86883-879-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-145-5
ISBN E-Book (EPUB; Mobi) 978-3-86413-179-0
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KAPITEL 1: »Ein Fuß war im Grab, ein Fuß im Knast«
KAPITEL 2: Lumpenkönige auf LSD
KAPITEL 3: »Ich will ihn reich und berühmt machen!«
KAPITEL 4: »Der Kerl war eine lebende Fackel!«
KAPITEL 5: Meskalin in Mexiko
KAPITEL 6: »Du mixt diese Platte niemals!«
KAPITEL 7: »Mit so einem Asozialen fahre ich nicht!«
KAPITEL 8: »Die Strolche lernen aufrecht stehen«
KAPITEL 9: Flugverbot auf Lebenszeit
KAPITEL 10: Hitze, Haschisch, Hakenkreuze
KAPITEL 11: Sieben flogen übers Kuckucksnest
KAPITEL 12: »Foxterrier schmeckt besser als Windhund«
KAPITEL 13: Zu Besuch bei Bill Clinton
KAPITEL 14: »Verdammt! Wir haben unser Glück, Genossen!«
EPILOG
(Wie sich wilde Rockmusiker mit der DDR anlegten)
Schlagersänger wollte er werden. Und dazu Gitarre spielen. Und natürlich berühmt sein. Was denn sonst?
Bereits in seiner Kindergartenzeit wusste der fünfjährige Brandenburger Kay Lutter ganz genau, dass das Showgeschäft und die großen Bühnen sein Arbeitsplatz werden mussten. Ein normaler, bürgerlicher Beruf kam für den 1965 in Henningsdorf geborenen Jungen nicht infrage, und mit dem Gedanken, dass es mit einem Musikerberuf vielleicht nichts werden könnte, beschäftigte er sich in seinem Leben nicht eine einzige Sekunde lang. Kays Mutter Jutta war leidenschaftliche Sammlerin von Schallplatten, und zwar ausschließlich Schlagermusik. So nach und nach verschwanden große Teile der Sammlung, wie auch der Plattenspieler, im Kinderzimmer. Zur Einschulung bekam Kay von seinen Eltern eine Gitarre geschenkt, und schon bald war klar: Ich werde Gitarrist! Logisch, denn die sahen auf den Covers der Schlagerplatten immer cooler aus als die geschniegelten Sänger.
Im gleichen Ort, nur wenige Häuser entfernt, wohnte ein Berufsmusiker, mit dessen Kindern Kay befreundet war. Der Mann spielte Klavier in einer Big Band. Als der Musiker und seine Bandkollegen eines Tages auf dem Wilhelmshorster Tennisplatz auftauchten, war Kay wie elektrisiert, denn diese Typen sahen einfach aus wie aus einer anderen Welt. Sie hatten lange Haare, gefährliche Vollbärte, und sie qualmten eine Zigarette nach der anderen. Völlig abgefahren!
Einige Wochen später lungerten Kay und sein Bruder Axel mal wieder in der von ihren Eltern betriebenen Drogerie des Kleinstadtnestes herum, als die Ladentür aufflog und zwei düstere Gestalten mit geflickten Jeans hereinkamen. Sie trugen selbstgemachte Ketten und Lederarmbänder und sie hatten die mit Abstand längsten Haare, die Kay jemals an einem Mann gesehen hatte. Schwer beeindruckt rannten die zwei Rotzlöffel nach Hause und eröffneten ihrer Mutter feierlich, dass sie sich von nun auch die Haare wachsen lassen würden. Acht Jahre später trugen die beiden Brüder extrem lange Matten, und die düsteren Typen von damals wären vermutlich vor Neid erblasst.
Eines Tages steckte Jutta ihrem Sohn eine Grifftabelle für die Gitarre zu, die sie »von einem Bekannten« bekommen hatte – und zwar von Kays künftigem Stiefvater Peter. Und dieser hatte zwei Leben, von denen den Jungen besonders das zweite interessierte: Peter war Gitarrist und Sänger in einer Band! Dass es sich dabei nicht um eine Rockgruppe, sondern um eine Tanzmusikcombo handelte, spielte für Kay keine Rolle, denn welcher Teenager in seinem Freundeskreis konnte schon damit prahlen, dass im elterlichen Wohnzimmer eine feuerrote E-Gitarre nebst Verstärker zu finden war? Richtig, keiner.
Wenig später durfte Kay dann bei einer Bandprobe live dabei sein und stellte fest, dass sein Stiefvater den obercoolen Spitznamen Zonen-Elvis trug. Im wahren Leben war Zonen-Elvis Chef einer Firma für Landschaftsgartenbau. Er entwarf Sportplätze und Gärten und viele andere Dinge, für die sich Kay nicht die Bohne interessierte – aber er war es auch, der den Jungen zum Eignungstest an der Musikschule anmeldete. Als achtjähriger Bengel marschierte Kay also in die Musikschule, um seine Karriere als Gitarrist anzukurbeln, doch beim Eignungstest erklärte man ihm, dass der Gitarrenkurs leider schon komplett ausgebucht wäre. Okay, dachte Kay, dann halt Schlagzeug. Dummerweise lag das Mindestalter für Schlagzeugschüler bei zehn Jahren. Was nun? Zwei Jahre auf einem Apfelbaum sitzen und warten? »Wie sieht es denn bei der Bassgitarre aus?«, fragte daraufhin Zonen-Elvis den Schulleiter. Gut sah es da aus! Kay machte den Test, bestand mit Bravour – und hatte auf dem Nachhauseweg mit seinem Stiefvater nur noch eine einzige Sache zu klären: »Was ist eigentlich eine Bassgitarre?« Peter antwortete: »Sie ist elektrisch.« Damit war auch das geklärt, und der achtjährige Kay Lutter hatte seinen Platz im Leben gefunden. Zu seinem neunten Geburtstag bekam er seine erste Bassgitarre!
Seiner Hingabe zum Instrument und seinem Ehrgeiz hatte der Bursche eine gewisse Narrenfreiheit zu verdanken. Kays Eltern waren ziemlich tolerant und standen allen Ideen und Plänen des Burschen recht aufgeschlossen gegenüber. Bereits in der 7. Klasse, also mit 13 Jahren, durfte Kay abends mit seiner ersten Band – sie trug den granatenmäßigen Namen Kräuterbutter – proben. Mit seiner zweiten Gruppe übte er sogar im Speisesaal von Stiefvaters Firma. Und wenn im naheliegenden Potsdam ein Sommer-Open-Air anstand, pilgerte die ganze Familie dahin. Jutta, im Großhandel tätig, besorgte ihrem Sohn regelmäßig seltene Schallplatten sowie Leerkassetten, die im Handel bei einem Stückpreis von 15 bis 25 Ostmark für einen Schüler beinahe unerschwinglich waren. Mit 15 durfte Kay nach Babelsberg in den Club Lindenpark, und wenig später nach Teltow in den Sacken, dem berüchtigten Bluesschuppen am Rande von Berlin. Als 16-Jähriger trampte er gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder an die Ostsee, und von dort in die tschechische Hauptstadt Prag. Er trug eine Levis Jeans mit genau 34 Flicken, die allesamt von seiner Mutter kunstvoll aufgenäht wurden. Seine Eltern akzeptierten alles: die langen Haare, die bunten Hosen, die Stirnbänder. Und sie ertrugen auch die Blicke der Nachbarn und Arbeitskollegen – solange die Leistung stimmte. Leistung hieß in diesem Falle, dass sich die beiden Brüder um die Schule zu kümmern hatten und dort nichts anbrennen lassen durften. Eine Rebellion fand in Kays Kindheit und Jugend nicht statt, denn im heimischen Wohnzimmer saß niemand, gegen den man rebellieren musste. Genau nach dem Vorbild seines Stiefvaters reifte der Junge zu einem fanatischen Musikliebhaber und einem atheistischen Pazifisten mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn heran.
Im Jahr 1982 zog der 17-Jährige nach Berlin, schrieb sich an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik ein, Fach Bass, Fachrichtung Tanz- und Unterhaltungsmusik. Parallel dazu spielte er in einer Potsdamer Band namens Bab und verdiente erstmals ein bisschen Geld als Musiker. Mit dem Gitarristen der Combo teilte sich Kay eine kleine Wohnung, und so tingelte unser Protagonist ein Jahr lang mit seiner Band durch die brandenburgischen Dorfsäle, ehe er im Jahr 1984 bei einem Projekt namens Keefa andockte, einer Gruppe, die eine Rockoper namens »So Long Chello« am Potsdamer Hans-Otto-Theater aufführen sollte. Was als großes Langzeitprojekt für die nächsten Jahre gedacht war, fand jedoch nach exakt 21 weniger erfolgreichen Aufführungen ein recht schnelles Ende.
Unmittelbar danach, im Winter 1984, landete der Bassist bei Freygang – und diese in der DDR berühmt-berüchtigte Institution des Blues-Rock sollte ihn viele Jahre lang prägen, und zwar in jeglicher Hinsicht: Von allen bekannteren Combos in der DDR hatten Freygang bei den Betonköpfen in Regierung, Partei, Justiz und Polizei so ziemlich den schlimmsten Ruf. Gleichzeitig waren die Musiker der Combo die Götter aller ostdeutschen Hippies. Und Kay, nunmehr von Größen wie Led Zeppelin, Black Sabbath, Neil Young & The Crazy Horse, Jimi Hendrix sowie Ton Steine Scherben maßgeblich beeinflusst, war mittlerweile ein waschechter Hippie geworden. Durch Zufall erfuhr er, dass man bei Freygang auf der Suche nach einem Bassgitarristen sei, da der eigentliche Bassist einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatte und folglich nach Westberlin übergesiedelt war und dessen etatmäßiger Nachfolger momentan im Gefängnis einsaß. Kurz: Freygang waren eine Rockgruppe im Fadenkreuz des Systems, Chaos und Anarchie bestimmten den Alltag. Ganz klar die passende musikalische Heimat für Kay. Nach einer kurzen Bandprobe wurde er also zum Bassisten einer Combo gekürt, die wegen eines staatlich verordneten Spielverbots offiziell gar nicht existierte! Oder wie Kay heute sagt: »Ich war mit 19 Jahren Mitglied der unglaublichsten Band der DDR!«
Im April 1985 – niemand hatte ernsthaft damit gerechnet – erhielten Freygang dann doch eine sogenannte Einstufung. Sprich: Sie mussten vor einem Komitee, bestehend aus Partei- und Kulturfunktionären, spielen und kritische Fragen beantworten. Die Funktionäre entschieden daraufhin, dass die Musiker unter strengsten Auflagen wieder live spielen durften. Eine dieser Auflagen lautete, dass die Combo ausschließlich im sogenannten Sputnikbereich, gemeint war die Ringbahn um Berlin, Konzerte geben durfte. Am 9. April bestand Kay seine Feuertaufe in der Leipziger Kongresshalle vor 3000 frenetischen Fans. So viel also zum Thema Sputnikbereich …
»Wenn sich’s eiskalt um dich schließt
Wenn du kein Land mehr siehst
Wenn du überall Grenzen siehst
Wohin du auch gehst
Wenn du siehst die Kneipe ist voll
Und die Säufer amüsier’n sich wie toll
Wenn ein Kumpel vor die Hunde geht
Und du die Welt nicht mehr verstehst
Halte durch, halte durch es wird Winter
Halte durch! Halte durch!
Wenn du keine Kohle mehr hast
Und du dein letztes Geld verprasst
Wenn der Spanner vor dir steht
Und dich fragt wie es dir geht
Halte durch, halte durch es wird Winter
Halte durch! Halte durch!«
(Freygang: Halte durch)
© BuschFunk Musikverlag GmbH, Berlin
Als die Freygang-Musiker am 6. September 1986 mit ihrem alten Pkw Wolga in Lindenau, einem Nest in der Nähe von Dresden, ankamen, war alles irgendwie anders als sonst. Normalerweise traf die Band bereits bei der Anreise auf Horden von Fans, die zum Veranstaltungsort pilgerten. Diesmal lungerte nur eine Handvoll Hippies herum, als die Musiker ihre Soundanlage auf dem Gelände der Freilichtbühne entluden. Dafür marschierte ein großes Polizeiaufgebot inklusive einer wild kläffenden Hundestaffel auf. Allen Beteiligten war klar, dass es heute richtig Ärger geben würde. Nachdem zwei Vorgruppen gegen die gedrückte Stimmung unter den 600 Fans mehr oder weniger erfolglos anmusiziert hatten, zogen Freygang ihren Auftritt durch, während die Polizisten das Publikum stetig schikanierten. Nach einer wütenden Ansage des Sängers Andre stürmten die Uniformieren plötzlich die Bühne, bereiteten dem Auftritt ein gewaltsames Ende, drängten die Musiker zurück in ihre Garderobe und fesselten den Sänger mit Handschellen an ein Bettgestell.
Trotz dieser Schikanen und Einschüchterungsversuche schaffte es die Combo irgendwie, in der folgenden Woche drei weitere Konzerte zu geben – danach erhielten die Musiker die berühmt-berüchtigte Einladung des Berliner Magistrats, Abteilung Kultur, verbunden mit der Aufforderung, ihre Unterlagen mitzubringen. Am Tag des staatlich befohlenen Bußgangs war eigentlich ein Konzert in der Berliner Langhannsstraße angesetzt. Dieses musste natürlich »aus technischen Gründen« ausfallen.
Dr. Christian Hartenhauer, Stadtrat für Kultur, sprach der Band ein offizielles Auftrittsverbot aus – und zwar lebenslänglich! Übrigens: Der Parteischerge durfte kurz nach der Wende ein paar Monate lang Oberbürgermeister von Ostberlin spielen. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht …
Trotz des Verbots schafften es die Musiker, im Dezember 1986 unter einem anderen Bandnamen durch das russische Uralgebirge zu touren. Und das kam so: Einem befreundeten Sänger aus Berlin kam wegen diverser Streitereien seine gesamte Band abhanden, und zwar eine recht neue Metal-Combo. Diese Gruppe erhielt die Möglichkeit, in Russland aufzutreten, doch die Herren Musiker hatten schlicht keine Lust dazu. Also benannten sich die Freygang-Burschen in Egon-Kenner-Band um, spielten einer Kulturtussi der Arbeiter- und Bauernpartei ihr Programm vor – Standards wie Sweet Home Alabama und Jumping Jack Flash – danach ging der Gitarrist mit dem Mädel »mal ganz nett einen Kaffee trinken«, und wenig später kam das Okay der staatlichen Behörden. Freygang alias Egon-Kenner-Band fuhren auf Russland-Tournee!
Zwar wurden die verrückten Hunde bereits beim ersten Konzert – sehr zur Freude der dort stationierten ostdeutschen Erdgastrassenarbeiter – als die verbotene Band Freygang erkannt, aber was konnte der Staat dagegen schon machen? Eine offiziell nicht existente Rockgruppe tourte in Russland und bekam ihre Gage vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgezahlt: Das war der Parteiführung verdammt peinlich, und so einigten sich die Staatsschützer, diesen Fauxpas auf ganz kleiner Flamme zu kochen. Bei Freygang damals mit dabei war übrigens Andreas »Vadda« Vater, der spätere Tontechniker von IN EXTREMO.
»Bezüglich Ihrer Tätigkeit als Amateurtanzmusiker teile ich mit, dass Ihnen mit sofortiger Wirkung die Staatliche Spielerlaubnis entzogen ist, da Sie die Voraussetzungen der »Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik« vom 1.11.1965 … nicht erfüllt und gegen die Auflagen einer Spielerlaubnis verstoßen haben. Ihre Staatliche Spielerlaubnis ist umgehend dem Berliner Haus für Kulturarbeit zuzusenden.
Mit sozialistischem Gruß
Dr. Christian Hartenhauer«
Von 1987 bis zur Wende im Herbst 1989 schlug sich Kay in diversen Bands und Projekten durch, unter anderem in einer Countrygruppe, in einer Tanzmusikband bis hin zur Hof-Blues-Band oder auch der im Osten ziemlich angesagten Gruppe Kerschowski, die im Oktober 1988 sogar im Vorprogramm von Rio Reiser in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle auftreten durfte. Unmittelbar vor der Wende versuchte die Freygang-Besetzung einen Neustart, aber nach einem Jahr merkte Kay, dass die Luft raus war und er sowohl eine musikalische als auch inhaltliche Veränderung brauchte. Durch den Fall der Mauer und dem Ende der Honeckerdiktatur waren Freygang die Feinde abhandengekommen, und im Laufe der Zeit auch mehr und mehr die Fans. Selbst diverse Besetzungswechsel – Reiner Morgenroth von der Gruppe Tausend Tonnen Obst sowie von der Magdalene-Keibel-Combo saß nun am Schlagzeug – brachten keinen frischen Wind und konnten den Absturz von Freygang nicht mehr aufhalten. Zwar hielt Sänger Andre die Band weiterhin am Leben, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Doch konzentrieren wir uns auf jenen Reiner Morgenroth: Der gebürtige Berliner arbeitete sich seit seiner Kindheit zu einem angesehenen Schlagzeuger hoch. Schon früh nervte er seine Nachbarn im Wohnviertel Plänterwald im Berliner Stadtteil Treptow mit seinem Getrommel im Kinderzimmer, danach übte er zwei Jahre lang in der Musikschule Berlin-Mitte im sogenannten Klassischen Kleine Trommel Unterricht – die DDR hatte für jede Simplizität eine dämliche Bezeichnung parat. Bereits in der zehnten Klasse stieg Reiner in der Band Asinus ein, wo er bis zur Auflösung der Combo und zeitgleichen Einberufung zur Armee im Jahr 1983 auf dem Schlagzeughocker saß.
Nach seiner Armeezeit schloss sich der Berliner der Gruppe Cold Steel an, 1988 trat er Tausend Tonnen Obst bei, und 1989, mitten in der Wendezeit, stieg der Drummer bei Freygang ein.
Von Berlin verlagern wir unseren Fokus ins Thüringische: Kinderlieder fand Michael Rhein, Jahrgang 1964, schon immer ziemlich blöd. Harte Rock- und Bluesmusik musste es sein, denn seine älteren Geschwister waren eifrige Plattensammler, schnitten außerdem Songs ihrer Lieblingsbands auf Tonbändern mit, wenn diese im Radio gespielt wurden, und fixten den Jüngsten der Familie mit dem Krach ordentlich an. Als er zehn Jahre alt war, kam an einem Sonntag um 11.45 Uhr ein Konzert der Rolling Stones im Fernsehen. Michael durfte genau 15 Minuten zuschauen, da die Familie sonntags pünktlich um 12 Uhr zu Mittag aß. Ausnahmen gab es nicht, da waren die Eltern knallhart. Der Fernseher wurde gnadenlos ausgeschaltet, aber diese 15 Minuten hatten den Knirps grundlegend verändert. Mit einem Mal war Rockmusik das A und O. Mit elf Jahren erlebte Michael sein erstes Livekonzert, im Saal seiner Heimatstadt Leinefelde spielte die in der DDR sehr beliebte Leipziger Bluesrockband Klaus-Renft-Combo. Ohne Wissen der Eltern hatte Michaels Bruder Frank Wolfgang den Steppke einfach mitgenommen. Im Alter von zwölf Jahren durfte Michael das erste Mal ohne Begleitung seiner Eltern zelten, und zwar im thüringischen Großbartloff. Abends, an den Lagerfeuern spielte ein Typ Gitarre, und er war es dann auch, um den sich die hübschesten Mädchen scharten. Eine Woche später besorgte sich Michael eine Wandergitarre, übte jede freie Minute und spielte drei Wochen später am Lagerfeuer die eingedeutschte Staatsfeindversion des Welthits Lady In Black von Uriah Heep. Der Text ging so: »30 Meter im Quadrat, Mienenfeld und Stacheldraht, nun wisst ihr, wo ich wohne. Ich wohne in der Zone.« Der erste Kuss von irgendeiner Petra war der Lohn fürs harte Proben, und Michael hatte kapiert: Lieder-Singen bedeutet Weiber-Kriegen. Und so hatte er seine Bestimmung im Leben gefunden. Es musste irgendwas mit Musik sein.
In der zehnten Klasse trat Michael als Sänger in einer Schülerband auf und mit 14 stand er erstmals auf einer echten Bühne, und zwar bei Liederjan, einem Projekt aus Eisenach. Später trat er der Gruppe Frachthof bei und machte im Alter von 16 Jahren gemeinsam mit dem Erfurter Bluesgitarristen Jürgen Kerth Musik. Kurz darauf gründete er seine erste eigene Band: Nr. 13. Zu diesem Schritt maßgeblich bewogen hatte ihn Andre Greiner-Pol von Freygang, der Michael immer wieder dazu drängte, sein eigenes Ding zu machen. Aus Nr. 13 ging im Jahr 1985 die Gruppe Einschlag hervor. Bis auf den Bassisten war die Band mit Nr. 13 identisch – doch unter jenem Namen hatte Michael mittlerweile Spielverbot von den deutsch-demokratischen Zensurbehörden erhalten.
1984 streckte die Nationale Volksarmee der DDR ihre Krallen nach dem Thüringer aus. Während der Musterung offenbarte der Musiker den Uniformierten vom Wehrkreiskommando, er wolle den Dienst an der Waffe verweigern. »Sehr gut, Herr Rhein! Dann holen wir Sie, wenn Sie 27 sind und Frau und Kinder haben. Wie gefällt Ihnen das?« In der DDR wurden die Männer zweimal jährlich eingezogen: April und November. »In jedem Jahr hatte ich zweimal Schiss, dass sie mich holen«, erinnert sich Michael. Also zog er regelmäßig im Frühjahr um oder gab dem Einwohnermeldeamt einfach eine neue Adresse, um Verwirrung zu stiften. Auch überlegte er mehrmals, einfach in den Westen abzuhauen oder die Ausreise zu beantragen. Im April 1989, also sieben Monate vor dem Mauerfall, kam der Schock in Form eines schriftlichen Einberufungsbefehls. Eilig packte Michael seine Siebensachen und tauchte unter. Er irrte umher und fuhr nach Polen, wo er bis zur ukrainischen Grenze reiste. Nach ein paar Wochen kehrte er zurück und rechnete mit seiner umgehenden Verhaftung. Doch die ersten Demonstrationen waren bereits in vollem Gange, die Menschen flüchteten in Scharen über Ungarn nach Österreich, und der völlig marode Staatsapparat interessierte sich für einen vagabundierenden Michael Rhein nicht die Bohne. Also hatte er der NVA ein Schnippchen geschlagen.
Übrigens: Im Jahr 1991 erhielt der Langhaarige erneut ein Einberufungsschreiben, diesmal allerdings von der Bundeswehr. Michael pinselte mit Großbuchstaben »HA! HA! HA!« auf den Brief und schickte ihn zurück …
Im Jahr 1986 hatte die Combo im thüringischen Leinefelde ein Haus besetzt und sich dort ihren Proberaum eingerichtet. Natürlich ging dies nicht lange gut, und wenige Wochen später quietschten LKW-Reifen vor dem Haus, ein Trupp Bereitschaftspolizisten sprang von der Pritsche herunter und räumte das Objekt. Bei einem Auftritt im Jahr 1987 in Neukirchen bei Eisenach warteten Polizisten mit ihrem Funkstreifenwagen am Hintereingang des Tanzsaals, verhafteten Michael direkt nach dem Konzert und führten ihn in Handschellen ab. Die Combo hatte das Einheitsfrontlied, ursprünglich getextet vom Dramatiker Bertholt Brecht und komponiert von Hanns Eisler, in einer radikal veränderten Version gespielt: Statt »Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist«, sang Michael: »Reih dich ein in die Arschlöcher-Einheitsfront, weil du auch ein Arschloch bist.« Offensichtlich befand sich ein Denunziant im Publikum und steckte dem Staatssicherheitsdienst sowie der Polizei, dass die Combo sozialismusfeindliche Lieder fabriziere. Nach zwei Tagen Haft und diversen Verhören durfte der Langhaarige seine Zelle verlassen, hatte aber keine offizielle Spielerlaubnis mehr, die in der DDR für Auftritte notwendig war. Eine Woche später traten die unbeugsamen Rock’n’Roller unter falschem Namen in Creuzburg auf, wo das Publikum lauthals »Freiheit für Michael Rhein!« und »Es lebe Nr. 13!« skandierte. Daraufhin entzogen die Behörden allen Musikern die Spielerlaubnis. Nr. 13 benannten sich mal wieder um und kämpften erneut um behördliche Spielerlaubnis. Zum Einstufungskonzert im September 1987 in der Berliner Langhannsstraße erschien der Sänger nicht als Michael Rhein, sondern als Robert Rain. Ganz so falsch war der Name nicht einmal, da er mit Michael Robert ohnehin einen Doppelnamen hatte. Und es funktionierte tatsächlich! Zumindest kurz. Es folgten erneut Verhöre und die üblichen volkspolizeilichen Drangsalierungen. Eine neue Band musste her, und rein zufällig suchte die Rockgruppe Noah gerade einen Sänger.
Michaels erstes Konzert mit Noah ging 1988 in Röderau bei Riesa über die Bühne. Der Thüringer war fast krank vor Lampenfieber, weswegen er sich etliche Flaschen Bier hinter die Binde kippte und er daraufhin während des Auftritts dringend pinkeln musste, da seine Blase schier zu platzen drohte. Michael erinnert sich: »Ich zischelte unserem Gitarristen zu, er solle mal eben ein Solo spielen, und während er sich einen abgniedelte, huschte ich hinter den Vorhang, der hinter dem Schlagzeug hing, und pisste mal fix in die Ecke. Einen Backstage-Raum gab es ja nicht.« Dummerweise war die Bühne schräg, sie wies von hinten zum vorderen Bühnenrand ein leichtes Gefälle auf. Also lief die ganze Brühe direkt unter der Basstrommel entlang bis nach vorne zu den Monitorboxen. Nach dem Konzert kam Joachim Gräfe, der Schlagzeuger und Chef der Combo, wütend zu Michael, packte ihn am Kragen und schrie ihn an: »Du Schwein, du alte Drecksau! Wir nehmen dich in unsere Band auf, und du pisst auf unsere Instrumente.« Doch der Sänger log ihn ganz dreist an: »Das war ich nicht!«, stürmte hinter die Bühne und legte fix eine leere Limoflasche an den Anfang der Pisslache. Als Joachim kurz darauf die leere Glaspulle da liegen sah, dachte er nach und sagte dann kleinlaut: »Micha, ich muss mich wohl bei dir entschuldigen.« Und Michael lächelte und antwortete: »Hättest du mir etwa so eine Sauerei zugetraut?«
Von Monat zu Monat verschoben sich Schritt für Schritt die Machtverhältnisse bei Noah. Michael übernahm nicht nur die Texterei und bestimmte mehr und mehr den musikalischen Kurs der Combo, sondern er war es auch, der sich um Organisation und Auftritte bemühte. Mit dieser Verschiebung der Verantwortlichkeiten einher ging immer massiver werdender Ärger mit der Staatsobrigkeit. Bis zur Wende im Herbst 1989 galten Konzerte der Band als eine Art Vabanquespiel. Wo das Quartett auch auftrat, waren Stasispitzel und uniformierte Störenfriede nicht weit. Sobald Michael kritische Texte ins Mikrofon schrie, konnte er versichert sein, dass mindestens einer im Publikum heimlich Notizen anfertigte, die später in diversen Akten abgeheftet wurden. »Ein Fuß war im Grab, ein Fuß im Knast«, sagt der Sänger heute über die späten Achtziger.
»Siehst du
Wie es zu Ende geht mit uns und der Kultur
Siehst du
Wie ausgestorben kahlgeschoren wir zugrunde gehen
In uns ist Winter
Um uns ist Winter und die Herzen eingefrorn
In uns ist Winter
Um uns ist Winter und die Herzen eingefrorn
Hilf deiner Polizei
Schlag dich selbst
Hilf deiner Polizei
Schlag dich selbst
Hilf deiner Polizei«
(Noah: Hilf deiner Polizei)
© Ed. Tough Enough/Arabella Musikverlag GmbH (Universal Music Publishing Group)
Höhepunkt der kompletten Übernahme von Noah durch den Sänger war der Weggang des Schlagzeugers Gräfe, dem einstigen Gründer der Combo. Am April 1991 heuerten Reiner Morgenroth und Kay Lutter (er kam für Joe Starke) bei Noah an und machten nun mit Michael Rhein und Thomas Mund gemeinsame Sache. Kay dazu: »Ich hatte Micha bei einem gemeinsamen Konzert 1986 kennengelernt, und seitdem standen wir eigentlich immer irgendwie in Kontakt. Wenn Not am Mann war, sprang ich in seiner alten Combo namens Einschlag ein. Es war logisch, dass wir irgendwann mal zusammen in einer Band spielen würden.«
Und so bezog die Truppe ihren neuen Proberaum im Club 29 in der Nähe der Volksbühne. Reiner arbeitete dort als Hausmeister, was Noah natürlich völlige Narrenfreiheit bescherte. Der Wechsel von Kay und Reiner zu Noah schlug Freygang-Kopf Andre Greiner-Pol ziemlich auf den Magen. Bereits zu DDR-Zeiten galt dieser – neben Aljoscha Rompe von Feeling B – als Kiezkönig im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Doch was war ein König schon wert, wenn er sowohl das Zepter als auch sein Volk verloren hatte? Aus der einstigen Freundschaft entwickelte sich eine distanzierte Hassliebe, von der sich Greiner-Pol bis zu seinem Tod im Jahr 2009 nicht befreien konnte.
Bevor Thomas Mund, Baujahr 1963, bei Noah einstieg, tingelte er in diversen anderen Combos durchs Land. Der Gitarrist und studierte Sportlehrer schrubbte die sechs Saiten bei Mephistopheles, danach bei Skeff, später bei Die Bürger. »Alle Bands vor Noah waren wenig erfolgreich, und ich war auch nur ein zweitklassiger Musiker«, sagt Thomas rückblickend.
Im Gegensatz zu seinen Bandkollegen war es weniger die Musik, die Thomas’ Kindheit und frühe Jugend prägte, sondern Leistungssport. Fast täglich zog er in der Schwimmhalle seine Bahnen. Nachdem er mangels Körpergröße aus der Sportschule geworfen wurde, versuchte er sich als Volleyballer im Leistungszentrum von Rotation Berlin-Prenzlauer Berg, danach wurde er Boxer bei Blau-Gelb Berlin. Und dann trat Michael von Noah in sein Leben. »Der Bursche hatte eine ganze Menge bei mir ausgelöst«, so Thomas. »Auch wenn es laufend hieß, dass wir uns oft zankten, waren wir verdammt viel zusammen. Eigentlich täglich. Ich habe jedes Scheiß-Auto, das er unbedingt haben wollte, mit ihm zusammen gekauft. Und das waren nicht wenige.«
Mit der Zeit verschwanden die Blueseinflüsse komplett aus dem Sound von Noah. Rock hieß die Devise, und Anfang der Neunziger konnte man sogar einen Schuss Punk im Gesamtsound der Band heraushören. So tingelte die Truppe in ihrer Bandkutsche, einem steinalten Volkswagen LT 28 durch die Provinz, und es gab kaum eine Konzertreise, die ohne schnelle Hilfe des ADAC zu Ende gebracht wurde. Thomas, Reiner und Kay waren allesamt Mitglieder im Automobilclub, und an jedem Wochenende musste einer der drei die Notrufzentrale anrufen – bis die Kostenstelle vom ADAC die Schnauze voll hatte und an Thomas einen Brief aufsetzte, in dem sie ihn freundlich aufforderte, er möge doch bitte über den Kauf eines neuen Fahrzeugs nachdenken. Also wurde die Karre verschrottet und für wenige hundert Mark ein orangefarbener Ford Transit angeschafft.
An einem Wochenende ging die Fahrt nach Altdöbern bei Cottbus, wo ein Noah-Konzert anstand. Thomas und die Techniker fuhren im Ford, und Michael, Kay und Reiner tuckerten in einem alten Barkas-Kleinbus nebst Bühnentechnik und Boxen hinterher. Wie immer war die rostige Karre hoffnungslos überladen und zudem gar nicht amtlich registriert. Die Nummernschilder mit Erfurter Kennzeichen hatte Michael vor Jahren von einem Wartburg auf einem Parkplatz in Thüringen abgeschraubt. Es kam, wie es kommen musste: Auf der Autobahn machte die Lichtmaschine schlapp, die Rostlaube geriet ins Stottern, das Licht ging aus, aber glücklicherweise schafften es die drei noch bis zum Standstreifen, wenige hundert Meter von der nächsten Ausfahrt entfernt. Und hinter der Ausfahrt – der Rockmusiker-Gott hatte offenbar ein Einsehen – befand sich die Autobahnmeisterei Freiwalde. Michael versuchte hektisch, unter der Motorhaube ein paar Drähte miteinander zu verbinden und klopfte unbeholfen an der Lichtmaschine herum, was natürlich ein sinnloses Unterfangen war. Hilfe war vonnöten. Also marschierte das Trio zur Autobahnmeisterei. Als Erstes erblickte der Sänger einen abgesperrten Parkplatz, auf dem ein alter DDR-Laster vom Typ W 50 abgestellt war. Diese Lkws dienten damals sowohl als Abschleppfahrzeuge als auch dem Winterdienst. Die Musiker betraten das Büro der Meisterei, die anwesenden Schlosser und Lasterfahrer unterbrachen ihr Skatspiel und musterten die Besucher. »Was gibt’s? Was wollt ihr langhaarigen Penner?« – »Wir haben ne kleine Panne und brauchen ein paar Schraubenschlüssel, um einen Keilriemen festzumachen.« – »Ja, was für Schlüssel?« – »Nen Zehner, nen Vierzehner und nen Dreizehner.« – »Wenn wir euch das Werkzeug mitgeben, bringt ihr es doch nie wieder zurück!« – »Doch, doch! Versprochen!« Einer der Kartenspieler stand auf, ging zum Werkzeugschrank, griff nach den Schraubenschlüsseln und reichte sie Michael. »Bringt sie ja wieder, sonst suche ich euch und schneide euch die Haare ab!«
Schnurstracks marschierte der Sänger zu dem Parkplatz, auf dem der Lkw stand, flankiert von Reiner und Kay. »Micha, was hast du vor?« – »Ich hab da so ne Idee!« Während Reiner und Kay Schmiere standen, baute der Sänger die Batterie aus dem Laster aus. Danach schleppten die Diebe das fünfzig Kilo schwere Ding im Schutze der Dunkelheit über einen Kartoffelacker, wuchteten die Batterie schwitzend über einen Zaun und bauten sie im Barkas hinter dem Fahrersitz ein. Sofort sprang die Kiste an, die Fahrt konnte weitergehen und Michael drückte auf die Tube. Der Batteriestrom reichte tatsächlich bis Altdöbern. »Was ist mit den Schraubenschlüsseln?«, fragte Reiner noch. »Die behalten wir«, antwortete Michael. »Ich lass mich doch nicht von jedem als langhaarigen Penner beschimpfen.«
Als Noah wenige Tage danach im sächsischen Lüttewitz auftraten, mit einer jungen, aufstrebenden Band namens Rammstein im Vorprogramm, war es um Thomas geschehen. Von nun an wollte er auch härtere Gitarrenriffs spielen. Musikalisch tickten Thomas und Michael ohnehin auf einer Wellenlänge. Aber ihre Vorstellungen von der Zukunft und ihr damit verbundener Lebensstil konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Michael der Rock’n’Roller war, der für den Augenblick lebte und somit auch kein Problem damit hatte, in schöner Regelmäßigkeit alles auf eine Karte zu setzen, sehnte sich Thomas mal bewusst und mal unbewusst nach risikofreier Sicherheit, nach klaren Regeln und Gesetzen.
In den Jahren 1991 und 1992 spielten Kay und Reiner parallel bei Noah und bei Tausend Tonnen Obst, außerdem hatte Kay noch ein Projekt namens Die lose Basskapelle am Laufen, in der ausschließlich Bassisten und ein Schlagzeuger lärmten. Erfolglos wie Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, aber Hauptsache, es machte Spaß. Lange konnte so ein Tanz auf verschiedenen Hochzeiten allerdings nicht gut gehen, und so verließen Kay und Reiner sehr zum Ärger Michaels Noah, um mit Tausend Tonnen Obst ihre beispiellose Weltkarriere in Angriff zu nehmen. Beispiellos deshalb, weil sie es nicht einmal schafften, eine CD zu veröffentlichen. Nach einem kurzen Intermezzo bei Church Of Confidence, wo der spätere Beatsteaks-Drummer Thomas Götz am Schlagzeug saß, wurde Kay klar, dass er sich in einer Konstellation mit Reiner und Michael doch am wohlsten fühlte. Und so zogen Noah erneut in der Besetzung Michael Rhein, Kay Lutter, Thomas Mund und Reiner Morgenroth durch die alten und neuen Bundesländer. Die Clubs waren meistens gut besucht, hin und wieder gab es allerdings wegen diverser harter Zoten und pubertärer Texte Auftrittsboykotte – die Band sei frauenfeindlich, hieß es aus feministischen und politisch korrekten Kreisen. Diese Sexismus-Vorwürfe waren gleichermaßen lustig wie auch begründet: Neben dem Noah-Proberaum befand sich nämlich ein Sexladen, dessen Verkäufer Thomas kannte und ihm irgendwann mal eine Handvoll Vibratoren schenkte. Während eines Auftritts in einem Studentenklub im sächsischen Freiberg zog Kay einen Vibrator aus der Hosentasche, schaltete ihn an und reichte das Ding rüber zu Michael. Die Band spielte gerade einen langen Gitarrenmittelteil, und so hielt der Sänger den eingeschalteten Frauenbeglücker ans Mikro und ließ ihn ordentlich brummen. Nach dem Konzert kam plötzlich eine Studentin auf Kay zu und fragte den Bassisten in tiefstem Sächsisch: »Was hobt’n ihr da fürn komisches Instrument benutzt?«
Neben all den Konzertreisen mit Noah werkelte Michael an seinem zweiten Standbein: der Mittelaltermusik. Seit 1990 trieb er sich, wann immer es ihm möglich war, auf mittelalterlichen Märkten herum. Der Noah-Sänger war von dieser jahrhundertealten, überlieferten Musik begeistert und nervte damit seine Bandkollegen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Im Jahr 1992 stand er das erste Mal als Musiker auf der Bühne eines Mittelaltermarktes, sein Kumpel Brandan von der Gruppe Corvus Corax hatte ihn mitgeschleppt. Und so enterte Michael mit Bernd Dobbrisch alias Willi von Corvus Corax und Karsten Liehm alias Achmed die Bretterbühne und trommelte zu deren Dudelsackmelodien. Ebenfalls auf dem Markt zugange waren Mike Paulenz alias Teufel sowie dessen beide Freunde Bo und Hatz, die immer im Windschatten von Corvus Corax segelten. Teufel war kurz zuvor bei Corvus Corax rausgeflogen und hatte nun seine neue Band Pullarius Furcillo am Start. Doch die Combo kam mit ihrem Trommler Hatz nicht klar, sodass Michael noch am selben Abend dort einstieg. Dummerweise erfuhr Hatz erst ein paar Wochen später von seinem Rausschmiss und war dementsprechend alles andere als amüsiert.
Pullarius Furcillo probten und probten, und spielten auch schon bald erste Konzerte in kleineren Rockschuppen, zu denen Michael, der sich wegen eines T-Shirt-Motivs mit dem Abbild von Klaus Kinski fortan Das Letzte Einhorn nannte, durch seine Band Noah die entsprechenden Beziehungen hatte. Doch die Anfangseuphorie des Trios währte nur für ganz kurze Zeit: Wenige Stunden nach einem Konzert, auf dem Weg nach Hause, starb Bandkollege und Freund Bo bei einem Autounfall. Fortan traten Teufel und Michael als Duo auf, fast fünf Jahre lang. 1995, gegen Ende der Saison, teilte Teufel seinem Partner mit, dass er zu Corvus Corax zurückkehren werde. Mit einem Mal war, wahrscheinlich zur Schadenfreude des einstigen Trommlers Hatz, Michael der Gelackmeierte.
1994 kam es zu einem ersten halbherzigen Test, Mittelalterklänge und Rockmusik miteinander zu verbinden. Noah (in der Besetzung Reiner Morgenroth, Thomas Mund, Michael Rhein, Kay Lutter sowie Detlef Mahler als zweitem Gitarristen) gaben ein Konzert im Berliner Franzklub und luden die Mittelaltermusiker Teufel, Achmed und Willi zu einer gemeinsamen Session ein. Beide Parteien hielten die Kombination Rock und Mittelalter für eine sehr gute Idee, was Monate später schlussendlich zu IN EXTREMO und im Jahr 1998 zu Tanzwut führen sollte. Bei dieser Probe versuchten Noah und die Dudelsackspieler, das überlieferte Stück Ai Vis Lo Lop zu »verrocken«. Das Ergebnis bezeichnet Kay rückblickend als grauenhaft, aber zumindest ausbaufähig. »Der ausschlaggebende Grund für mich, das Projekt zunächst nicht weiterzuverfolgen, war vor allem Teufel«, macht Kay aus seinem Herzen keine Mördergrube. »Ich fand nicht nur, dass er kaum spielen konnte, sondern ich fand ihn sogar ganz und gar unmusikalisch. Von seinem geistigen Niveau mal ganz abgesehen.« Die Zeit für eine Fusion zweier Welten war also noch nicht reif. Und wenn man zwischenmenschlich ohnehin nicht zusammenpasst, so lautete schon immer Kays Credo, sollte man ein Miteinander auch nicht erzwingen. Wer weiß schon, so dachte sich der Bassist damals, wofür seine konsequente Haltung noch gut sein sollte …