Chiles Nationaldichter Pablo Neruda beschrieb in seinen Memoiren „Ich bekenne, ich habe gelebt“ eine kuriose Begebenheit:
In einem Gespräch mit Schriftstellerkollegen aus Europa fragte er einmal: „Wir sprechen so viel von Chile. Sicherlich, weil ich Chilene bin. Aber wissen Sie denn etwas von meinem so unendlich fernen Land? Zum Beispiel, welches Fahrzeug wir benutzen? Den Elefanten, das Auto, die Eisenbahn, das Flugzeug, das Fahrrad, das Kamel, den Schlitten?“ Die weitaus meisten antworteten allen Ernstes: „Elefanten.“ Heute, mehr als fünfzig Jahre später, kennt man Chile in Europa besser. Meist ist von Chile als dem Land mit der eindrucksvollen Landschaftsvielfalt die Rede. Denn hinter dem Faltenrock der Anden breiten sich Salzwüsten und Vulkane, üppige Urwälder und fruchtbare Felder, Gletscher und Fjorde aus. Für Europäer ist Chile ein „fernes“ Land geblieben, das sich, wie die Chilenen selbst zu sagen pflegen, im letzten Winkel der Erde (en el último rincón del mundo) befindet.
Umso erstaunlicher ist es, dass das Land dem Reisenden, der zum ersten Mal nach Chile kommt, seltsam vertraut erscheint und er sich sogleich heimisch fühlt. Verblüfft wird er später feststellen, dass je länger sein Aufenthalt dauert und je enger der Umgang mit Chilenen ist, die Unterschiede umso augenscheinlicher zutage treten. Was dem Chile-Neuling dabei widerfährt, ist kein drastischer, akuter Kulturschock, sondern vielmehr ein Kulturschock „auf Raten“.
Von den vielen kleinen und großen Unterschieden der Kulturen erzählt dieser Band, der das Vertraute im Fremden entdeckt und erklären will, warum die Dinge in Chile so sind wie sie sind. Fakten und Anekdoten geben Einblicke in den Alltag und das Wesen der Bewohner des schmalen Landes, die den Moment leben und in deren Vorstellung eines glücklichen Daseins Heirat, Kinder und Wohlstand die wichtigste Rolle spielen. Der „KulturSchock Chile“ zeigt Facetten auf, die dem Europäer recht unbekannt sind und die er vielleicht nicht erwartet. So muss man beispielsweise damit rechnen, ständig umarmt und geküsst zu werden und darf sich nicht wundern, wenn ein platter Witz als chiste alemán (deutscher Witz) betitelt wird und keiner darüber lacht. Ansonsten lieben Chilenen es, über alles und jeden Witzchen zu reißen und selbst in eher unerfreulichen Augenblicken einen lustigen Kommentar zum Besten zu geben. Denn die Lebensdevise in Chile heißt: Lachen.
Doch auch die Probleme und Sorgen des stolzen Volkes, das an der Schwelle des Wandels zu einer modernen Industrienation steht und gleichzeitig an seinen katholisch-konservativen Werten festhält, werden nicht verschwiegen.
Ein Kapitel über religiöse Bräuche und traditionelle Feste fehlt ebenso wenig wie nützliche Exkurse über die Einstellung und das Verhalten der Chilenen gegenüber ihren Mitmenschen, Ausländern und Touristen. Letzteren soll dieses Buch dienen – als Einstieg für eine erste Chilereise und Einstimmung auf die chilenische Lebens- und Alltagskultur. Es soll auch all denjenigen nützlich sein, die bereits einen Blick hinter den Andenvorhang geworfen haben. Mitunter sind sie gleichzeitig fasziniert wie auch verwirrt und stellen Fragen zu den Hintergründen manchen Widerspruchs. Auch alte Chilekenner mögen neugierig darauf sein, was ein anderer Pendler zwischen Europa und der Andenrepublik wohl zu sagen hat.
Die Chilenen zeichnen sich durch eine Vielschichtigkeit an Eigenarten aus, die sich zweifelsfrei auch mit dem Betrachter wandeln. Denn Begegnungen mit einer fremden Kultur sind stets wechselseitig. So sieht es wohl auch der chilenische Autor Manuel Rojas. Dessen Sicht auf sein Land soll diesem Band als Leitfaden dienen und dem Leser helfen, dem Andersartigen – und manchmal Irritierenden – in der chilenischen Kultur mit Verständnis zu begegnen: „Fragt man mich, wie Chile ist, wüsste ich es nicht zu sagen: Es ist ein Land, das ich gelebt und gefühlt habe, ein Land wie ein Mensch mit einer Gestalt und Wesensart, die sich ändern, je nachdem, wer es betrachtet.“
In komprimierter Form will dieses Buch dem Leser einen Schlüssel zum Verständnis der chilenischen Mentalität und Wirklichkeit in die Hand geben, neue Sichtweisen eröffnen, kulturelle „Fettnäpfchen“ vermeiden helfen, Missverständnissen auf den Grund gehen und nicht zuletzt die liebenswerten Bewohner des fernen Landes dem europäischen Leser näherbringen.
Cindy Schönfeld
Extrainfos im Buch
ergänzen den Text um anschauliche Zusatzmaterialien, die von der Autorin aus der Fülle der Internet-Quellen ausgewählt wurden. Sie können bequem über unsere spezielle Internetseite www.reise-know-how.de/kulturschock/chile19 durch Eingabe der jeweiligen Extrainfo-Nummer (z. B.„#1“) aufgerufen werden.
Vorwort
Verhaltenstipps A–Z
Die geschichtlichen Wurzeln
Die Urbevölkerung vor Ankunft der Spanier
Spanische Eroberung und Kolonialzeit
19. Jh. – Stabilität, Modernisierung, Expansion
Aufbruch in die Moderne
Geschichtstabelle
Der kulturelle Rahmen
Vielfalt in der Einheit: ethnische Zugehörigkeit
Kirche, Religion und Glaube
Lebendiges Brauchtum
Denkweisen und Lebensgefühl
Die Gesellschaft heute – Staat, Politik und Wirtschaft
Politisches Panorama und Engagement
Die Rolle des Militärs
Global Player Chile
Konzentration der Einkommen
Wa(h)re Bildung
Stadt gegen Provinz
Geschlechter und Familie
Das Land der starken Frauen: Mamas, Machos und Karriere
Kleines Land, große Familie
Kinder und Jugendliche
Chilenische Lebensentwürfe
Der Alltag A–Z
Arbeitsleben
Bürokratie und Paragrafendschungel
Erdbeben und Vulkanausbrüche
Essen und Trinken
Geld, Kreditkarten und Banken
Hausmädchen
Musik: Gitarre, Mischpult und Panflöte
Naturverschmutzung und Umweltbewusstsein
Poesie und Bücher
Presse, Radio, Fernsehen
Sport und Freizeit
Sprache und Kommunikation
Tabak, Alkohol und Übergewicht
Rodeo – der Nationalsport
Sauberkeit und Ästhetik
Wettkultur: Lottomanie und Pferderennen
Wohnen
Zeitverständnis: Weile statt Eile
Zu Gast in Chile
Don Otto der Deutsche
Die Chilenen – ein Inselvolk?
Chilenen verstehen: Gesten, Verhalten, Mentalität
Begegnungen – privat und geschäftlich
Unterwegs im Land
Anhang
Glossar
Lektüretipps
Chile im Internet
Register
Übersichtskarte Chile
Die Autorin
Der Salpeterkrieg: Kriegserklärung an die Nachbarn
Vorwärts in die Vergangenheit
Mythen und Legenden
Colonia Dignidad
Tanzender und singender Protest
Die Bewegung der „arpilleristas“
Künstlicher Familienzuwachs
Vorsichtsmaßnahmen bei Erdbeben
Deutsch-Chilenen
Exilchilenen in der DDR
Anrede: In Chile ist man schnell beim „Du“, meist auch ohne besondere Absprache. Junge Leute, Freunde, gute Bekannte und Kollegen duzen sich sowieso, Ältere die Jüngeren und auch unter Unbekannten auf der Straße ist es nicht ungewöhnlich. Gleichwohl ist Usted, das „Sie“, die korrekte und bei einer Vorstellung übliche Form. Im Zweifelsfall ist man mit Usted auf der sicheren Seite (mehr dazu ab Seite 237).
Armut und Bettelei: Auf Bettler trifft man in Chile meist vor Kirchen oder an Busbahnhöfen, ansonsten nimmt die Bettelei kreativere Formen an. Beschönigend werden freiwillige Gaben auch „Trinkgeld“ genannt. So verdingen sich propineros (Trinkgeldverdiener) an den Kassen der Supermärkte als Einpacker oder auf Parkplätzen, wo sie auf Fahrzeuge aufpassen und diese auf Kundenwunsch auch waschen. Nicht nur, dass propineros Unternehmen kostenfrei zur Verfügung stehen, sie zahlen sogar Abgaben in Form einer Art Standgebühr pro Tag. Meist handelt es sich um junge Leute, Senioren oder Arbeitslose, die sich mit „Trinkgeldern“ einen Zuerwerb für ihre Ausbildung oder ihr täglich Brot verdienen (müssen). Zwischen 800 und 1000 Pesos (1 bis 1,30 Euro) liegen die bereitwilligen Gaben. In Cafés, Straßenimbissen und Bussen trifft man zudem häufig auf „ambulante Händler“, Musiker oder Gaukler. Sie bieten mit Kleinwaren – von Heftpflastern bis zu orthopädischen Stützstrümpfen – so ziemlich alles feil, singen, musizieren, tragen Gedichte vor oder erzählen Witze. Schließlich bitten sie um etwas Geld. Während man in Europa als Geringverdiener, Arbeitsloser oder Alleinerziehender auf staatliche Unterstützung zählen kann, springt man in Chile in einen Bus und verkauft Eis am Stiel, bis man das Abendessen für die Familie zusammen hat. Hier zu kaufen und zu geben, löst nicht das Problem der verdeckten Arbeitslosigkeit, doch man kann darauf vertrauen, damit etwas Gutes zu tun. Mehr zu den Hintergründen im Abschnitt „Land der Lohnarbeiter“ ab Seite 132.
Begrüßung und Verabschiedung: Wo sich das Deutsche mit einem Telegrammstil begnügt, fallen Begrüßung und Abschied auf Chilenisch weit wortreicher und herzlicher aus. Frauen werden stets zuerst begrüßt und geküsst, denn zu einer chilenischen Begegnung gehört ein flüchtiger Kuss auf die linke Wange. Auch chilenische Männer kommen sich näher als deutsche: per Händedruck, der oft mit einem leichten Schulterklopfen einhergeht. Mehr dazu ab Seite 238.
Behörden und Polizei: Beamte und Polizisten arbeiten sehr korrekt und genießen Achtung in der Bevölkerung. Korruption in geldlicher Form ist nicht weit verbreitet und ein zugesteckter Geldschein kann Ermittlungen wegen versuchter Bestechung nach sich ziehen und ist daher besser zu unterlassen. Als Tourist oder Neuankömmling fördert mitunter der Umstand, Ausländer zu sein, Entgegenkommen. Üblicherweise ebnen pitutos, „gute Freunde“ bzw. Vitamin B, behördliche Wege. Weiteres hierzu in den Abschnitten „Freundschaftsdienste“ ab Seite 235 und „Polizei“ ab Seite 250.
Bekleidung: Auf ein gepflegtes Äußeres wird großer Wert gelegt. Abgesehen von Klima und Jahreszeit bemisst sich die Kleidung nach Sozialstatus, Beruf und natürlich dem Anlass. Grundsätzlich setzt man auf eine gediegene, solide Garderobe und gibt sich eher formell. In den Büros und Amtsstuben dominieren Anzug und Krawatte bzw. Kostüm bei den Damen, welches selbst bei hohen Temperaturen eisern ge- und ertragen wird. Bei allzu freizügiger europäischer Sommermode sollte man vorsichtig sein, denn im eher zurückhaltenden Chile könnte das mit hochgezogenen Augenbrauen kommentiert werden. Mehr hierzu im Kapitel „Sauberkeit und Ästhetik“ ab Seite 212.
Demonstrationen: Seit 2011 gehen immer mehr Bürger auf die Straße und machen mobil. Es geht um Bildungspolitik, Forderungen der indigenen Bevölkerung oder den Bau von Staudämmen in Patagonien. Der Protest ist laut, bunt und erfasst alle Milieus. Zuweilen kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, die Wasserwerfer und Tränengas gegen Demonstranten einsetzt. Um nicht zwischen die Fronten zu geraten, sollte man sich von diesen Schauplätzen eher fernhalten. Genaueres zu den Hintergründen ab Seite 109 im Abschnitt „Soziale Bewegungen“.
Dokumente: Das in Chile meist gezückte Papier ist die cédula (Cédula de Identidad), die dem Personalausweis bzw. der Identitätskarte entspricht. Wichtiger als der Name ist hierbei die RUT (Rol Único Tributario), die auf der cédula abgedruckte Steuernummer, ohne die in Chile nichts läuft. Ob beim Einkauf, Abschluss eines Mietvertrages, Ausleihen einer DVD oder Abholen eines Päckchens bei der Post, allerorten wird die neunstellige RUT verlangt, die jeder Chilene von klein auf auswendig weiß. Ist ein längerer Aufenthalt im bürokratieverliebten Chile geplant, ist anzuraten, sich mit beglaubigten Kopien von Geburts-, Heirats- und Berufsabschlussdokumenten einzudecken. Mehr zu diesem Thema unter „Bürokratie und Paragrafendschungel“ ab Seite 174.
Erdbeben: „Jeder größere politische Umbruch beginnt mit einem Beben“, heißt es in Chile. Das fünftstärkste je gemessene Erdbeben erschütterte im Februar 2010 das Land und läutete gleichzeitig einen Machtwechsel ein. Die konservative Regierung bekleidete mit Sebastián Piñera das Amt bis März 2014, als die Sozialistin Michelle Bachelet zum zweiten Mal Präsidentin wurde – und abermals ereignete sich ein starkes Beben mit heftigen Nachbeben im Norden des Landes. Die Erde kommt in Chile, das an der Grenze der tektonischen Nazca- und der Südamerikanischen Platte liegt, nicht zur Ruhe und steht ständig unter Spannung. Die Chilenen sind daran gewöhnt, dass die Erde immer wieder spürbar bebt. Die temblores (schwächere Beben) sind Tagesgespräch wie hierzulande ein heftiges Gewitter. Wie Chilenen mit Beben umgehen und welche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen sind, wird im Kapitel „Erdbeben und Vulkanausbrüche“ ausführlicher beschrieben (ab Seite 177).
Ess- und Trinksitten: In Chile isst man gern und gern auch frisch. So backen die panaderías (Bäckerläden) mehrmals am Tag und selbst in den entlegensten Winkeln des Landes bekommt man immer irgendwo noch frisches Brot. Weißbrot in Form riesenhafter Brötchen wird zu den üppigen Mittagessen gereicht und zur once serviert, der chilenischen Teezeit zwischen 17 und 19 Uhr. Denn Chilenen sind eher Teeals Kaffeetrinker. Mit Kaffee ist in Chile löslicher Nescafé gemeint, der allerorten meist in kleinen Tütchen verpackt angeboten und selbst in Luxusrestaurants auf silberne Löffel gehäuft kredenzt wird. Echten Bohnenkaffee hingegen, café de grano oder cafécafé, gibt es vorwiegend in den Cafés der Hauptstadt. Besonders unter Geschäftsleuten beliebt sind die Stehcafés „mit Beinen“ (cafés con piernas), z. B. Haiti oder Café Caribe, in Santiago, wo adrette Damen im Minirock den Frischgebrühten ausschenken (mehr ab Seite 180).
Fotografieren: Übermannshohe Kakteen, Pinguine im Frack, majestätische Araukarien: Chile bietet einen reichen Schatz an Motiven für Naturaufnahmen. Menschen hingegen zu fotografieren, erfordert ein hohes Maß an Sensibilität, insbesondere in den ländlichen und indigenen Gebieten. Hier sollte stets um Erlaubnis gefragt werden, wenn nicht verbal, dann über Augenkontakt – auch bei Kindern. Mitunter glaubt man nämlich, ein Foto würde die Seele rauben.
Gastfreundschaft: Auf eine vorschnelle Kameradschaft, wie man sie im Allgemeinen mit Südamerika verbindet, trifft man in Chile weniger. Gegenüber Fremden reagieren Chilenen mit einer Art höflich zurückhaltender Gastfreundschaft. Sobald jedoch das Eis gebrochen ist, sind sie äußerst liebenswürdig und aufrichtig interessiert an Besuchern aus Europa. „Woher kommst du“ und „Wohin geht die Reise“ sind meist der Auftakt der Fragen, um ins Gespräch zu kommen. Bald stellt sich eine Verbindung heraus, ein Freund etwa, der einst in Berlin studierte, und im Handumdrehen wird man zum amigo (mehr ab Seite 236).
Hierarchien: Wohl der langen Zeit der Militärregierung geschuldet, ist man in Chile äußerst obrigkeitshörig. Die unteren Ränge haben kaum Entscheidungsbefugnis und müssen sich ständig nach oben rückversichern. Auf dieses Phänomen trifft man in sämtlichen Lebenslagen, ob beim Amt, am Arbeitsplatz oder im Geschäft. Um einen Vorgang zu beschleunigen, kann es hilfreich sein, denjenigen ausfindig zu machen, der eine Angelegenheit entscheidet, und ihm die Sache persönlich vorzutragen. Siehe auch „Soziale Klassen und Hierarchien“ ab Seite 92.
Homosexualität: Im katholischen Chile lange ein Tabuthema, wird Homosexualität heute öffentlich diskutiert. Einen traurigen Anlass gab der brutale Mord an dem Homosexuellen Daniel Zamudio in Santiago 2012, der die gesamte chilenische Gesellschaft über die Schwulen- und Lesbenszene hinaus bewegte. Zehnttausende beteiligten sich an Demonstrationen für die Rechte Homosexueller. Unter dem Druck der Öffentlichkeit verabschiedete wenige Wochen später die konservative Regierung unter Piñera das Antidiskriminierungsgesetz zum Schutz sexueller Minderheiten, das seit Jahren im Parlament auf Eis lag. Anfang 2018 trat zudem das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Kraft. Dessen ungeachtet ist die Stellung Homosexueller in einer von „echten“ Männern beherrschten Welt nicht einfach. Obgleich die Hauptstädter toleranter reagieren, herrscht in den Regionen und insbesondere auf dem Land das traditionelle Familienbild vor. Näheres hierzu unter „Fortschritte und Rückschläge“ ab Seite 154.
Hunde: Streunende Hunde gehören auf Chiles Straßen zum Alltag ganz selbstverständlich dazu. Man sieht sie als Mitläufer bei Demonstrationen, schlafend vor dem Präsidentenpalast oder kläffend auf Fußballplätzen. Auf der Suche nach Essbarem durchstöbern sie die für die Müllabfuhr abgelegten Plastikmülltüten oder betteln Fußgänger an. Hat man ein ungutes Gefühl, wenn man von einem Rudel angesteuert wird, hilft es, blitzschnell in Bückstellung zu gehen, um einen vermeintlichen Stein aufzuheben. Dann machen die Hunde sofort kehrt, denn sie wurden schon oft mit Steinen vertrieben. Soweit sollte man jedoch nur bei echter Bedrohung gehen. Verwildert, abgemagert, verwundet und lädiert führen sie ohnehin ein bemitleidenswertes Hundeleben.
Kiosk-Kultur: Geht der Chilene aus dem Haus, geht er entweder zur Arbeit oder zum Kiosk. Diese gibt es so gut wie an jeder Ecke und sie gleichen kleinen Süßwarenabteilungen. Aktuelle Tageszeitungen, Prepaid-Karten fürs Handy, Lottoscheine, Zigaretten und gekühlte Erfrischungsgetränke sind hier ebenso erhältlich wie hilfreiche Informationen jeglicher Art. Die Büdchen sind ein beliebter Treffpunkt und eignen sich hervorragend, um ins Gespräch zu kommen. Weitere Informationen finden Sie im Abschnitt „Einkaufen“ ab Seite 246.
Obst und Gemüse: Die Mitnahme von Obst und Gemüse sowie von Milch- und Fleischprodukten nach Chile ist streng verboten. Verstöße werden mit hohen Bußgeldern geahndet, selbst wenn es sich um einen versehentlich nicht deklarierten Apfel im Handgepäck handelt. Dabei geht es um den Schutz der bislang von vielen Schädlingen und Krankheiten freien chilenischen Obst- und Gemüsekulturen. Die Vorsichtsmaßnahmen gehen soweit, dass selbst die Einfuhr aus dem Norden in die südlichen Regionen des Landes verboten ist. Mehr zu den Hintergründen unter „Äpfel und Lachs vom Ende der Welt“ ab Seite 124.
Öffentliche Verkehrsmittel: Innerorts verkehren die sogenannten micros, Stadtbusse von der Größe langer Linienbusse in den Großstädten und Kleintransportern in ländlichen Regionen. Ein Wink mit der Hand genügt, um den Fahrer – wo auch immer – halten zu lassen. Wer aussteigen will, zieht an einer Leine oder drückt auf einen Knopf. Nur in Santiago regeln seit ein paar Jahren obligatorische Haltestellen das Ein- und Aussteigen. Eine schnelle Alternative sind Sammeltaxis (colectivos), die bis zu fünf Fahrgäste zu festen Tarifen befördern. Von Taxis unterscheiden sie sich durch Schilder, die das Fahrziel und den groben Kurs angeben. Übrigens: Chilenen bedanken sich stets beim Fahrer, wenn sie aussteigen. Weitere Informationen zum Überlandverkehr in „Verkehr und Transportmittel“ ab Seite 255.
Patriotismus: September ist Frühlingsanfang in Chile und steht ganz im Zeichen der Nationalfeierlichkeiten (fiestas patrias). Von Arica bis Punta Arenas leuchtet das Land in den Nationalfarben Blau, Weiß und Rot. Die Chilenen eint ein ausgeprägter Nationalstolz, der nicht nur im Chilemonat September zutage tritt, sondern auch beim Morgenappell in der Schule, auf politischen Demonstrationen, bei Fußballspielen oder Begegnungen mit Ausländern. „¿Te gusta Chile?“ – „Gefällt es dir in Chile?“ gehört zu den ersten Fragen, die man als Besucher hört und unbedingt positiv beantworten sollte. Näheres unter „Patriotismus und Nationalgefühl“ ab Seite 97.
Pünktlichkeit: Chilenen sind um Pünktlichkeit bemüht. Zu Verabredungen 15 bis 30 Minuten später als zur vereinbarten Uhrzeit zu kommen, gilt dabei als pünktlich. Bei privaten Einladungen sollte man tunlichst vermeiden, auf den Glockenschlag zu erscheinen, und höflich eine halbe bis gute Stunde später da sein. Ansonsten droht man, die Gastgeber in Bedrängnis zu bringen und ihnen nicht genug Zeit zur Vorbereitung zu lassen. Siehe auch „Zeitverständnis: Weile statt Eile“ ab Seite 217.
Rauchen: In öffentlichen Gebäuden, am Arbeitsplatz, in Bussen, colectivos und Taxis gilt ein gesetzliches Rauchverbot. In Restaurants und Cafés sind für Raucher eigens ausgewiesene Bereiche eingerichtet. Inzwischen wird ein Verstoß gegen das Tabakgesetz teurer bestraft (ca. 80.000 Pesos – gut 100 Euro), als am Handy oder ohne Sicherheitsgurt beim Autofahren erwischt zu werden. Wiederholungstäter innerhalb eines Jahres erwartet die doppelte Strafzahlung. Gedampft werden darf aber trotzdem, denn die Rauchverbote gelten nicht für E-Zigaretten. Weiteres unter „Tabak, Alkohol und Übergewicht“ auf Seite 210.
Sicherheit: Chile gilt als relativ sicheres Reiseland, in dem Gewaltverbrechen selten sind. Taschendiebstähle und Einbrüche in Mietwagen kommen in den Touristenzentren und größeren Städten jedoch immer wieder vor. Deshalb sollten keine Wertgegenstände sichtbar im Auto liegen gelassen, Handtaschen nicht nachlässig über Stuhllehnen gehängt und teure Kameras sowie Schmuck nicht zur Schau getragen werden. An Busbahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen ist besondere Vorsicht geboten. Weiteres unter „Sicherheit“ ab Seite 253.
Souvenirs: Das chilenische Kunsthandwerk hat einiges zu bieten: Gebranntes aus Ton wie die dreibeinigen Schweinchen aus Quinchamalí, die Glück bringen sollen, oder die von Mapuche gefertigten Holzarbeiten oder Silberschmuckstücke. Jede Region bietet eigene einzigartige Arbeiten an, die man am besten auf den lokalen Märkten ersteht. Extravagante Souvenirs wie Lampen oder Regenstöcke aus Kakteenholz oder auch Medizin aus der traditionellen Hausapotheke können den Heimreisenden beim Zoll allerdings in die Bredouille bringen. Kakteenholz zum Beispiel zählt zu den geschützten Arten und unterliegt den Einfuhrbestimmungen nach dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES). Wohl ist es erlaubt, Freiexemplare der beliebten Musikinstrumente mitzuführen, doch zum Schutz der Art sollte man vom Kauf ganz absehen. Für große Decken und Ponchos aus Vikunja- oder Alpakawolle sind gültige CITES-Ein- und Ausfuhrbewilligungen erforderlich. Um nicht versehentlich zum Artenschmuggler zu werden, sind unproblematische Mitbringsel wie die bunten Tischdecken aus Nordchile, die chilotischen Pudelmützen aus Schafswolle oder Moais in Kleinformat von der Osterinsel Chiloé zu empfehlen.
Sprache: Spanisch ist die offizielle Landessprache, die in Chile eine eigene Variante kennt und erst einmal ein wenig Übung erfordert. Denn im Chilenischen werden Endungen gern verschluckt, Ausdrücke in völlig anderen Zusammenhängen gebraucht und es wird oftmals genuschelt. Doch keine Angst, der Sprachunterricht war nicht vergebens und nach einigen Tagen hat man sich an das chileno gewöhnt. Es lohnt sich, ein paar Spanischkenntnisse mitzubringen, denn es öffnet die Herzen. Die Chilenen helfen gern mit ein paar Brocken Englisch aus und im Süden, wohin es viele deutschsprachige Einwanderer verschlagen hat, wird sogar mitunter Deutsch gut verstanden. Die Sprachen der indigenen Bewohner sind ebenfalls präsent, beispielsweise das Aymara in den Andenregionen des Nordens oder Mapudungun, die Sprache der Mapuche, im Süden. Siehe auch das Kapitel „Sprache und Kommunikation“ ab Seite 207.
Straßenverkehr: Auf Chiles Straßen muss man stets mit dem Unvorhergesehenen rechnen. So kann links und rechts überholt werden und Busse oder Taxis können jeden Moment anhalten, um Fahrgäste ein- oder aussteigen zu lassen. Fußgänger leben gefährlich, denn sie haben praktisch nie Vorrang, selbst wenn sie einen Zebrastreifen überqueren oder die Ampel ihnen grünes Licht erteilt. Die Autobahnen, autopistas, sind zum großen Teil Mautstraßen und haben eher den Charakter von Überlandstraßen. Wegen der für den Durchschnittsbürger recht hohen Gebühren sind sie wenig befahren. Anders die Straßen der Hauptstadt, wo der Anzahl der Fahrzeuge in den letzten Jahren enorm gewachsen ist und es zu Stoßzeiten zu chronischen Verstopfungen kommt. Im Winter verschmutzen die Autoabgase Santiagos Luft derart, dass dann durch Fahrverbote, restricciones, täglich 20 bis 40% der Fahrzeuge ohne Katalysator aus dem Verkehr gezogen werden.
Tabus: Während hierzulande Aufrichtigkeit und Direktheit hoch geschätzt werden, empfinden Chilenen diese Verhaltensweisen als unhöflich und taktlos. Direkte Kritik wird so gut wie nie geübt. Falls doch, wird sie in Lob verpackt und betrifft allenfalls ein Detail, aber nicht den Kern der Sache. Man sollte sich darauf einstellen, dass Chilenen nicht offen kritisieren und mitunter unwahre Aussagen treffen, um das eigene Gesicht zu wahren. Deshalb darf man sie jedoch nicht für unglaubwürdig halten, sondern sollte vielmehr ein Gespür für relative Äußerungen entwickeln. Mehr dazu im Kapitel „Chilenen verstehen: Gesten, Verhalten, Mentalität“ ab Seite 231.
Toiletten: Zwei Dinge, die man über öffentliche Toiletten wissen sollte: Confort (Toilettenpapier) ist kein Standard. Daher sorgen die meisten Chilenen mit eigenem vor. Benutztes Toilettenpapier gehört nicht in die Schüssel, sondern in einen separaten Eimer. Das mag unhygienisch klingen, muss aber trotzdem sein, denn sonst könnte es durch Verstopfungen der Rohrleitungen noch unangenehmer werden.
Trinkgeld: Dem Kellner (garzón) stehen bei Bezahlung 10 % des Rechnungsbetrages an Trinkgeld (propina) zu, die seit 2014 laut Trinkgeldgesetz als servicio in der Rechnung ausgewiesen sein müssen. Fühlt man sich nicht gut bedient, muss propina nicht zwingend gezahlt werden. Bei Ausflügen und Unterkünften sieht es ähnlich aus. Näheres in den Abschnitten „Trinkgeld“ ab Seite 254 und „Geld, Kreditkarten und Banken“ ab Seite 187.
Vegetarier: In Chile, wo Fleisch zu jedem Essen gehört, haben es Vegetarier nicht leicht. Mitunter treffen sie auf Unverständnis darüber, wie man freiwillig auf Fleisch verzichten kann, oder werden missverstanden. Bestellt man nämlich sin carne (ohne Fleisch), bezieht sich das ausschließlich auf rotes Fleisch und Schwein. Huhn (pollo), Wurst (salchicha) oder Schinken (jamón) gehören nicht dazu. In einheimischen Restaurants, wo es gute deftige Hausmannskost gibt, werden Vegetarier aber trotzdem satt. Fleischlose Leckerbissen bietet die regionale Küche in Form von humitas (Maisbrei in Maisblättern) oder Gerichten aus Algensorten. Vegetarische Restaurants finden sich fast nur in der Hauptstadt und den Touristenhochburgen. Ein guter Tipp sind die Hare-Krishna-Gemeinschaften, die auch in den größeren Provinzstädten einen preiswerten Mittagstisch sin carne, pollo, jamón, … anbieten.
Wegauskünfte: Wegangaben sind eine heikle Sache. Innerhalb von Ortschaften werden sie mit cuadras, Häuserblöcken, angegeben und sind daher meist sehr präzise. Außerhalb von Städten beziehen sich die Angaben eher auf die benötigte Zeit als auf die zurückzulegende Distanz. Am häufigsten ist media hora (eine halbe Stunde) zu hören, wobei „30 Minuten“ hier ein sehr dehnbarer Begriff ist. Gelegentlich kommen vage oder gar falsche Auskünfte vor und lassen sich wohl mit der chilenischen Gefälligkeit und Höflichkeit begründen, den Fragenden nicht mit einem No lo sé („Keine Ahnung“) vor den Kopf zu stoßen. Um ganz sicher zu gehen, ist es ratsam, mehrere Auskünfte einzuholen. Weiteres im Abschnitt „Orientierung“ ab Seite 248.
Als die Spanier in Chile eintrafen, fanden sie eine Vielfalt von Völkern vor, die sie „Atacameños“, „Araukaner“ oder „Großfüßler“ nannten. Anders als in Mexiko oder Peru, wo sich große Imperien über weite Territorien erstreckten, die von einer starken zentralen Macht geführt wurden, lebte in Chile jedes Volk unabhängig voneinander und in mehr oder weniger engem Kontakt mit seinen Nachbarn. Entlang des 4500 km langen Landstreifens bildeten sich viele ungleiche Kulturen in ihren oft extremen naturräumlichen Umgebungen heraus.
Den Norden bezeichneten die ersten spanischen Chronisten als despoblado de Atacama („unbewohnte Atacama“) in der falschen Annahme, die Wüste sei unbewohnt und unbewohnbar. Dabei lassen sich gerade hier einige der ältesten Spuren der Völker Amerikas finden. Bereits vor 10.000 Jahren lebten kleine Gruppen von Jägern und Sammlern in den höheren Andenregionen und stiegen von den kalten Hochebenen hinab in die Senke zwischen Hochkordillere im Osten und Salzkordillere im Westen, dort wo sich der Salar de Atacama bildete. Zu jener Zeit war das Klima weniger extrem als heute und die Wüste nicht so trocken, da es in höheren Lagen häufig und viel regnete. So entstanden riesige Salzseen, deren teilweise meterdicken Salzkrusten von 20 bis 30 m tiefen Lagunen und Seen mit Süßwasser bedeckt waren.
Einer ca. 6000 v. Chr. einsetzenden extremen Dürre folgte eine größere Abwanderung von Menschen in die Küstengebiete, wo sich in den folgenden Jahrtausenden an den Küsten und Flusstälern von Arica die Chinchorro-Kultur entwickelte, die die weltweit ältesten bekannten Zeugnisse künstlicher Mumifizierung hinterließ.
Schon früh standen die Völker zwischen Hochland und Pazifik miteinander in Verbindung. Mit Lamas erreichte man fruchtbare Gebiete, um Handel zu treiben. Monumentale Felszeichnungen und Geoglyphen entlang der alten Handelsrouten, wie etwa die unzähligen Lama-Abbildungen zwischen Putre und Arica, zeugen noch heute von jenem regen Verkehr. Ein Zentrum des interregionalen Handels war der Wüstenort San Pedro de Atacama, Siedlungsraum der Likan Antai, die vor 3000 Jahren die ersten festen Siedlungen in der Region errichteten. Sie züchteten Tiere, vor allem Lamas, und legten Feldterrassen an, auf die sie das Wasser aus den Bergen lenkten. Von ca. 1000 bis 800 v. Chr. fiel der Norden Chiles in die Einflusssphäre des Tiahuanaco-Reiches, dessen Interessen sich vom Titicacasee bis einschließlich San Pedro de Atacama erstreckten und welches die Region durch die Einführung neuer Bewässerungstechniken und neuer Handelsgüter bereicherte. Übliche Waren stellten vor allem feine Webstoffe, Lamawolle, Keramik und Holzarbeiten dar. Mit dem Niedergang der Tiahuanacos entwickelte sich ein Zusammenschluss von kleineren Herrschaftsgebieten, der als Arica-Kultur bezeichnet wird.
Südlich der Atacama im heutigen sogenannten „Kleinen Norden Chiles“ sind Spuren menschlichen Lebens im Tal von Quereo nahe Los Vilos aus der Zeit von 12.000 bis 11.000 v. Chr. gefunden worden. Vom Pazifik bis ins Landesinnere entstand hier an der Küste und in den fruchtbaren Flusstälern die El-Molle-Kultur, deren Volk töpferte, Metalle bearbeitete und bereits begann, seine Haustiere zu zähmen.
Ab 900 n. Chr. entwickelten sich die als chilenische Diaguitas bezeichneten Völker, bekannt für ihre feine Keramikkunst und ihr Wissen über metallurgische Verfahren. Wie ihre Nachbarn im Norden wurden die Diaguitas ab Mitte des 15. Jh. von den Inka unterworfen, die ihre Herrschaft um 1490 bis weit nach Süden zum Fluss Maipú ausweiteten. Die Bevölkerung wurde unter teilweiser Beibehaltung der lokalen Machteliten in die Organisationsstrukturen der Inka eingebunden. Allerdings kam es dabei auch zu Zwangsumsiedlungen. Die Inka führten neue landwirtschaftliche Techniken ein und erschlossen das eroberte Territorium bis zum Salar de Atacama durch Straßen.
Südlich des Flusses Maipú setzten die dort siedelnden Mapuche den Inka erbitterten Widerstand entgegen und konnten, trotz vereinzelter Vorstöße der Inka auf ihre Gebiete, ihre Unabhängigkeit aufrechterhalten. Über die Gesellschaft der Mapuche, die von den Spaniern als „Araukaner“ bezeichnet wurde, ist wenig aus der Zeit vor Ankunft der Spanier bekannt. Die Angaben stützen sich auf die Überlieferung der ersten spanischen Chronisten und wenige archäologische Funde. Die Araukarisch sprechenden Völker besiedelten damals das Gebiet zwischen Copiapó und Chiloé: im Norden die Picunche („Menschen des Nordens“) und von Valdivia bis Chiloé die Huilliche („Menschen des Südens“), bei denen man je nach Naturraum drei Hauptgruppen unterscheidet. Am Pazifik lebten die Lafkenche als Küstennomaden, die auf Fischfang und Meeresalgen spezialisiert waren. Die Lafunches bewohnten das Zentraltal und widmeten sich der Landwirtschaft und Tierhaltung. In der Präkordillere (Voranden) siedelten die Pehuenche, deren Lebensgrundlage die stärkehaltigen Früchte der Araukarie waren. Im Sommer zogen die Pehuenche zur Ernte in die Araukarienwälder auf die Hochflächen der Anden, wo die Kerne der Araukarienzapfen geröstet oder zu Brei und Fladenbrot verarbeitet wurden. Im Winter lebten sie in den tiefer gelegenen Tälern von der Jagd und von Früchten und Beeren. Auf der Insel Chiloé siedelte neben den Huilliche das Volk der Chono, dessen Siedlungsgebiet bis zur Magellan-Straße reichte.
Ein Labyrinth von Tausenden von Inseln, eine stark zerklüftete Küste, weite Steppen und feuchte Wälder prägen das Landschaftsbild Patagoniens südlich von Chiloé. Bis an die Südspitze des Kontinents lebten einst Nomadenvölker, die sich an die extremen Natur- und Klimabedingungen von Regen, eisiger Kälte und starken Stürmen angepasst hatten. Die ersten spanischen Seefahrer bezeichneten Patagoniens Einwohner ob ihrer unförmigen Fußbekleidung aus Guanaco-Fellen, die große Spuren hinterließ, als „Großfüßler“ (patagones).
Feuerland war seit Ende der letzten Eiszeit (vor ca. 10.000 Jahren) besiedelt und es gab einen regen Austausch zwischen den auf der Hauptinsel lebenden Selk’nam (auch Onas genannt) und dem als Wassernomaden lebenden Volk der Yámana (auch Yaganes genannt), deren Territorium sich vom Beagle-Kanal bis Kap Hoorn erstreckte. Auf kleinen, aus Baumrinde gefertigten Kanus durchstreiften die Kaweshkar (auch Alakaluf genannt) auf der Jagd nach Seelöwen und Robben die südwestlichen Inseln zwischen dem Golf der Leiden und der Magellan-Straße.
Über Jahrtausende lebten diese Völker in einer der unwirtlichsten Regionen der Erde und hatten Strategien entwickelt, sich gegen extremste Naturgewalten zu behaupten. Den Mitbringseln des „weißen Mannes“ konnten sie jedoch nichts entgegensetzen. Tuberkulose, Pocken, Alkohol und Besitzgier fielen viele dieser Völker innerhalb weniger Jahre nach Ankunft der Spanier zum Opfer.
Im sechzehnten Jahrhundert schufen die Spanier ein riesiges Kolonialreich in Mittel- und Südamerika, welches sie insgesamt als „Las Indias“ und dessen Einwohner sie als „Indios“ bezeichneten. Natürlich war die „neue Welt“ alles andere als einheitlich, vielmehr zeichnete sie sich durch ihre Vielfalt aus. Das Territorium Chiles war dabei eine einzigartige Kombination aus geografischen und ethnischen Besonderheiten, welche die Region von den anderen spanischen Kolonien unterschied und zunächst isolierte.
Als erster Europäer erreichte der portugiesische Seefahrer Fernão Magalhães den Süden Chiles und durchsegelte 1520 die Meerenge, die das argentinische und chilenische Festland von Feuerland trennt. Erst 15 Jahre später wandte sich Diego de Almagro, ein Mitstreiter Pizarros, von Peru aus Richtung Chile. Doch statt der erhofften Goldschätze fand er nur Wüste vor und stieß am Fluss Maule auf so starken indigenen Widerstand, dass er mit seinen Männern umkehren musste. Almagros Berichte über den öden Norden und die widerspenstigen Araukaner verhinderten vorerst weitere Erkundungszüge.
Um so erstaunlicher war es, dass Pedro de Valdivia seine Silbermine in Peru aufgab und sich 1540 auf den Weg gen Süden machte. Valdivia drang mit seinen Männern bis nach Zentralchile vor und gründete 1541 die Stadt Santiago, wo er sich zum Gouverneur ernennen ließ. Bereits sieben Monate später griffen Einheimische Santiago an, brannten alles nieder und ließen den Spaniern kaum mehr als etwas Weizen und Vieh zurück. Der Kampf um Chile begann und sollte fast 350 Jahre andauern. Bis 1553 stießen Valdivias Männer nach Süden vor. Stets unter Gegenwehr der Mapuche gründeten sie eine Reihe von Stützpunkten zur Sicherung der Herrschaft im Zentraltal, darunter Concepción, La Imperial (heute Carahue), Valdivia und Villarica. Mit jeder Stadtgründung belohnte Valdivia ausgewählte Konquistadoren mit sogenannten encomiendas, einer Art Lehnsystem. Dieses räumte dem ernannten Schutzherrn (encomendero) das Recht ein, im Namen des Königs von der indigenen Bevölkerung auf seinen Ländereien Tribute einzufordern. Im Gegenzug nahm er sich deren Schutz und Christianisierung an. Da die Einheimischen kaum materiellen Reichtum besaßen, hatten sie die Abgaben in Form von Zwangsarbeit zu leisten. Südlich des Maule-Flusses erwies sich die Bezwingung der Mapuche zur Sklavenarbeit als schwierige Aufgabe. Anstatt eines vereinten spanischen Heeres kämpfte zunächst jeder encomendero für sich, denn immerhin hing sein eigener Wohlstand vom Ausgang dieser Kämpfe ab. Am Weihnachtstag 1553 lockten die Mapuche, angeführt vom Kriegshäuptling (Toqui) Lautaro, den spanischen Anführer beim Fort Tucapel in die Falle. Es gab keine Überlebenden. Einer Legende zufolge wurde Valdivia gefangen genommen und gezwungen, flüssiges Gold zu trinken, um so die Gier nach dem heiß begehrten Edelmetall zu stillen. Einer der Gründe für die erfolgreiche Kriegsführung der Mapuche lag in ihrer schnellen Anpassungsfähigkeit und ihrem Scharfsinn gegenüber den spanischen Invasoren. Taktisch geschickt griffen sie z. B. bei Regen an, weil dies die Funktion der gegnerischen Feuerwaffen minderte und sie eigneten sich schnell die Kampf- und Reittechniken der Spanier an. Erst als die Mapuche mit Colo Colo, Lautaro und Caupolicán bis 1558 wichtige Führungspersönlichkeiten verloren hatten, konnten sie von den Spaniern zurückgedrängt und neue Städte wie Osorno oder Castro im Süden gegründet werden. Die Annahme, man könne die Mapuche dauerhaft zurückdrängen, erwies sich jedoch als illusorisch.
Die permanente Bedrohung durch indigene Angriffe, der Verlust der Städte des Südens und die endlosen Auseinandersetzungen veranlassten die spanische Krone 1601, ein stehendes Heer in Chile zu stationieren und dieses zu finanzieren, was in keiner anderen spanischen Kolonie erfolgte. Eine weitere Maßnahme der Krone sah vor, die chilenischen Ureinwohner einer „gesonderten“ Kategorie zuzuordnen und deren Versklavung in Chile 1608 durch königlichen Erlass offiziell zu erlauben, was in anderen Teilen des spanischen Kolonialreichs verboten blieb. Auch wenn dies seit 1570 längst Realität war, machte die Sonderregel den Krieg erst recht zu einem institutionalisierten Unternehmen und legitimierte die Brandschatzzüge und „Sklavenjagden“.
Angesichts des hartnäckigen indigenen Widerstands und andauernder Niederlagen seitens der Spanier versuchte der neue Gouverneur Laso de la Vega den Konflikt zu Beginn des 17. Jh. auf andere Weise beizulegen, indem er einen Friedensvertrag anstrebte. Im Frieden von Quilín 1641 erkannten die Spanier den Bío-Bío als Grenzfluss sowie die Unabhängigkeit der einheimischen Bevölkerung an. Im Gegenzug wurde den Jesuiten- und Franziskanermissionaren Zutritt in einheimische Gebiete gewährt. Nie zuvor hatte Spanien die Souveränität eines indigenen Volkes anerkannt. Zwei Jahre später wurde der Friedensvertrag offiziell von König Philipp IV. bestätigt, jedoch von den Beamten der Krone, den encomenderos und Soldaten nicht befolgt. Dafür war die indianische Arbeitskraft zu wertvoll. Sklavenjagd und Plünderungen blieben die Haupteinnahmequelle in der chilenischen Kolonie.
In Chile stieß die spanische Kolonialmacht in den Expansionsbestrebungen an ihre Grenzen. Immer wieder traf sie auf den unbeugsamen Widerstand der Mapuche. Im Gegensatz zu den anderen Eroberungszügen standen die Spanier hier keinem zentralisierten Reich wie bei den Azteken oder Inka gegenüber. Stattdessen gab es eine unüberschaubare Zahl von Kampfverbänden. Schaltete man einen Anführer aus, fand sich schnell ein neuer, der den Kampf fortführte.
Zwar war die militärische Eroberung Chiles erst im 19. Jh. abgeschlossen, jedoch hatte das autoritäre Eroberungssystem bereits die Fundamente einer vielschichtigen Klassengesellschaft gelegt. Diese war nicht nur durch die Ausbeutung von Arbeit gekennzeichnet, sondern auch von Korruption, willkürlichem Missbrauch der Amtsgewalt, Missachtung des Rechtssystems sowie der sozialen und wirtschaftlichen Institutionen, was die Entwicklung Chiles bis ins 20. Jh. beeinflussen sollte. Unter denselben Missständen litten auch die meisten anderen spanischen Kolonien auf dem Kontinent. Im Gegensatz zu den Hauptkolonialgebieten führten die geografische Isolierung und das Nichtvorhandensein von großen Gold- und Silberminen dazu, dass sich eine landwirtschaftlich geprägte Wirtschaft in Chile herausbildete. Die Konzentration der Bevölkerung im Zentraltal sowie die permanente Bedrohung und Sicherung der Grenze zu den Mapuche-Gruppen formte mit der Zeit eine koloniale Oberschicht mit militärischer Tradition und europäischer Orientierung.
Die grundlegende Gesellschaftsstruktur des Generalkapitanats Chile bildete sich im 16. und 17. Jh. heraus. Durch ethnische Vermischung entstand eine zunehmend homogene Bevölkerung, die sich vorwiegend aus einer mestizischen Mehrheit und einer kleinen Oberschicht von Kreolen und Spaniern zusammensetzte und sich bereits deutlich in Schichten untergliederte. Die sozialen Unterschiede bildeten sich mit der Entwicklung der ländlichen Regionen heraus. Aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen des Zentraltals und des Mangels an großen Gold- und Silbervorkommen entwickelte sich eine großflächige Landwirtschaft, die Chile lange Zeit prägen sollte. Entlang des Längstals zwischen dem Aconcagua-Tal und dem Fluss Bío-Bío zur Mapuche-Grenze entstanden Haziendas (riesige Landbesitze), deren Macht sich bis weit in die Zeit der Unabhängigkeit hinein fortsetzte. Aus Sicht der Spanier waren zur Kolonisierung zwei Dinge notwendig: Land und Indios. Die Art und Weise, wie man sich diese aneignete, war von Mexiko bis Feuerland unterschiedlich. Sogenannte cabildos (Stadträte), zusammengesetzt aus den wichtigsten Eroberern, wurden von der spanischen Krone mit der Landzuteilung und Landvergabe betraut unter der Auflage, indianische Rechte zu schützen. In Chile ging man bei der Landvergabe recht großzügig vor, ohne sich unbedingt an die Vorgaben der Krone, die ohnehin weit weg war, zu halten. Die Siedler vereinnahmten dabei auch Land, das sich inmitten von indianischen Gebieten befand, wobei die Einheimischen zur Umsiedlung gezwungen oder der Grundherrschaft des Landnehmers einverleibt wurden.
Einer Schätzung zufolge gab es während der Kolonialzeit 400 bis 500 Großgrundbesitze mit jeweils ca. 1000 ha Land. Die Hälfte davon konzentrierte sich auf den Getreidehandel. Die Landarbeiterschaft bestand vor allem aus mestizischen Arbeitskräften, wobei inquilinos (Landarbeiter) das Rückgrat der chilenischen Landwirtschaft bildeten. In einer Art Pachtbauernschaft, die bis 1960 auf dem Land vorherrschend war, wurde ihnen gegen Arbeitsleistungen auf dem Gut des Großgrundbesitzers Land zur Verfügung gestellt. Peones (Gelegenheitsarbeiter) übernahmen zusätzlich vor allem während der Erntezeit die Feldarbeit. Die Hazienda stellte den gesellschaftlichen Mittelpunkt auf dem Land dar und wies neben den Produktionsstätten auch Läden, Schulen und Kirchen auf. So nahm die Macht der Großgrundbesitzer zu. Sie genossen hohes Ansehen und gewannen auch politisch immer mehr an Einfluss. Auf dem Land waren die Haziendas oftmals die einzige Verbindung zu den kommerziellen Zentren der Städte, wo der Grundherr in der Regel über einen Wohnsitz verfügte.
Im Gegensatz zum fruchtbaren Zentraltal war der Norden Chiles in dieser Hinsicht weniger begünstigt. Statt einer florierenden Landwirtschaft war es der Bergbau, der dem dünn besiedelten Raum zum Aufschwung verhalf und am Ende der Kolonialzeit erheblich zur Entwicklung der Wirtschaft Chiles beitrug. Die Ureinwohner des nördlichen Chile bis Copiapó fügten sich den Spaniern. Sie waren durch die Erfahrung der Inka-Herrschaft bereits an Fronabgaben gewöhnt. Sie produzierten Gold, Lebensmittel, Felle und Talg, die als Hauptexportwaren nach Peru verschifft wurden und die encomenderos bereicherten sich daran.
Wie in anderen Teilen Amerikas waren Krankheiten und Ausbeutung Ursache einer raschen Dezimierung der Urbevölkerung, sodass nur kleine Gruppen von Aymara und Likan Antai im Norden Chiles überlebten.
Auch die südlich des Grenzflusses Bío-Bío lebenden indigenen Bevölkerungsgruppen sahen sich den eingeschleppten Krankheiten ausgesetzt. Durch den ständigen Kontakt mit den Spaniern veränderte sich die Kultur der Mapuche – eine Sammelbezeichnung, die sie gegen Ende dieser Epoche selbst wählten. Bis zur Ankunft der Spanier bildeten sie keineswegs eine geschlossene Einheit, zu unterschiedlich waren die regionalen Gruppen. Bedingt durch die permanente Kriegsführung bildete sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl heraus und mit der Ausbreitung von Landwirtschaft und Handel übernahmen die Mapuche Produkte und Anbaumethoden ihrer nördlichen Nachbarn. Entlang der Grenze des Bío-Bío entwickelte sich ein lebhafter Handel. Ponchos, Pferde und Werkzeuge wurden hier getauscht. Die in unmittelbarer Nähe der Forts lebenden Mapuche standen in engem Kontakt mit den Spaniern. Mestizen oder Spanier lebten unter den Mapuche und nahmen eine wichtige Mittlerrolle zwischen den Kulturen ein. Die Mapuche wiederum entsandten gegen Ende des 18. Jh. Kaziken als Botschafter nach Santiago. Araukanien entwickelte sich zwar nicht zu einem zentralisierten Staat, stellte aber ein unabhängiges Gebiet im Süden dar, das erst in den 1880er-Jahren in den dann unabhängigen chilenischen Staat eingegliedert wurde. Im Bewusstsein der Chilenen ist die Region südlich des Bío-Bío immer noch „La Frontera“ – die Grenze.
In den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. verschafften die administrativen und handelspolitischen Maßnahmen der spanischen Krone Chile ein gewisses Selbstbewusstsein. Mit dem Ziel, Missstände in der Kolonialpolitik abzubauen, führte die Krone wichtige Institutionen wie die staatliche Münze und den Handels- und Bergbaugerichtshof in der chilenischen Kolonie ein und lockerte die Monopolansprüche Spaniens im Handel mit Amerika. Eine eigene Kaufmannschaft (consulado) in Santiago nahm ab 1795 selbst Einfluss auf Handel und Transport. Mit der Gründung der Universität San Felipe in Santiago und einem wissenschaftlichen Austausch zwischen Europa und Amerika erreichten Ideen der Aufklärung und des Fortschritts das Land. Der Unmut gegen die absolutistischen Vorstellungen der Spanier und das Streben nach größerer politischer Einflussnahme wuchs mit wachsender Bildung in der kreolischen Oberschicht. Die Staatskrise in Spanien ab 1808, die Besetzung des Landes durch Napoleon und die Absetzung Ferdinands VII. ermutigten die chilenischen Kreolen, die Krise auszunutzen und ihre Autonomiebestrebungen durchzusetzen. Der Anstoß dazu kam 1810 aus Buenos Aires. Dort hatten Unabhängigkeitskämpfer den Vizekönig von Río de la Plata abgesetzt und eine eigene Regierungsjunta etabliert, die die Regierungsgewalt an sich nahm. Chile zog am 18. September (dem heutigen Nationalfeiertag) desselben Jahres nach und rief eine BürgerversammlungBildung einer RegierungsjuntaBefreiung erfolgte von Argentinien aus,Bernardo O’HigginsLuis CarreraSan MartínUnabhängigkeit Chiles