2
Chaos in mir
(1917 – 1921)
Es waren neue Horizonte für die Familie, zu denen der verträumte Junge mit dem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex und dem ausgeprägten Drang nach Anerkennung und Geborgenheit im April 1917 aufbrach. Einerseits erfüllte es ihn mit Stolz, als Sohn eines kleinen Angestellten mit der Elite der deutschen Jugend studieren zu dürfen; andererseits war ihm auch etwas bange, wußte er doch nicht, wie die Kommilitonen ihn, den Krüppel, aufnehmen würden. Wohl auch deshalb empfand er den Frühlingstag, an dem er sein Elternhaus sowie seine Freundin Lene Krage zurückließ, um sich an der Bonner Universität einzuschreiben, als »rauh und kalt«[1].
In der Koblenzer Straße bezog Joseph Goebbels ein bescheidenes Möblierzimmer und machte sich, wie jeder Neuankömmling, mit der Residenzstadt und ihrer Alma mater vertraut, an der trotz der schlechten Zeiten das studentische Leben seinen althergebrachten Gang nahm. Beherrschend waren dabei die Vereinigungen und Verbindungen der farbentragenden Studenten, die trotz aller Unterschiede die tiefe Verehrung für den Kaiser und die Liebe zum Vaterland miteinander verband. Und selbstverständlich suchte auch der junge Student, fasziniert von der vielbesungenen Burschenherrlichkeit, sogleich dort Anschluß. Dem Rat seines früheren Religionslehrers Kaplan Mollen folgend, trat er schon kurz nach Semesterbeginn dem katholischen Studentenverein Unitas Sigfridia bei, wo seine kleinbürgerliche Herkunft eine geringere Rolle spielte als in manch elitärer Burschenschaft[2]. Im Kreise der Vereinsmitglieder gab er sich jetzt den Namen »Ulex«. Er habe ihn gewählt, bekundete er selbst, weil er einen Roman von Raabe so sehr liebe, in dem der Held diesen Namen trage, »ein alter deutscher Idealist, tief und träumerisch, wie wir Deutschen alle sind, trotz aller Industrie und materialistischer Zeitströmungen«[3].
In der durch Einberufungen und Kriegsfreiwilligen-Meldungen stark dezimierten Bonner Korporation fand Joseph Goebbels Ersatz für das Elternhaus und in dem sogleich überschwenglich verehrten Jurastudenten Karl Heinz Kölsch, genannt »Pille«, einen guten Kameraden. An seiner Seite trat der »Fuchs« fortan unermüdlich – vielleicht auch um seine Felduntauglichkeit zu kompensieren – für den Zusammenhalt des katholischen Vereins ein. Besonders in Szene zu setzen verstand er sich auf den zumeist von ihm selbst organisierten Veranstaltungen der Unitas Sigfridia, die der vaterländischen Erbauung und der Stärkung des Glaubens dienen sollten. So hielt er schon kurz nach seinem Eintritt auf einem Vereinsfest am 24. Juni 1917 einen vielgelobten Vortrag über Wilhelm Raabe[4]. Bei anderer Gelegenheit sprach er über Kirchenkunst, und nach dem Urteil eines bekannten Bonner Professors war dies das beste Referat, das er jemals von einem Studenten gehört habe[5]. Ganz ähnlich äußerte sich 40 Jahre später auch Kaplan Mollen, der auf Drängen seines früheren Schülers nach Bonn kam, um den »Sigfriden« einen Vortrag über Kirchengeschichte zu halten. Daß er jenen anregenden Abend – so Mollen – auch noch nach langer Zeit in angenehmer Erinnerung habe, sei wohl durch die ganz besondere Freude zu erklären, die ihm sein früherer Schüler durch seine lebhafte Anteilnahme gemacht habe[6].
Zum »unitarischen Leben« gehörten, selbst in diesen Kriegszeiten, deftige Zechereien, denen sich Joseph Goebbels nicht verweigerte. Sie verschlangen aber Geld, so daß es ihm bald zur Gewißheit wurde, daß die mitgebrachten Mittel, die er noch daheim hatte beiseite legen können, trotz sparsamster Lebensführung und oftmals leerem Magen nicht einmal für ein Semester ausreichen würden. Das Dazuverdiente aus den schlecht bezahlten Nachhilfestunden, die er den Söhnen gutsituierter Beamter der rheinischen Residenzstadt gab, vermochte daran nichts zu ändern. Der Einberufungsbescheid zum militärischen Hilfsdienst[7] bewahrte ihn schließlich vor der Peinlichkeit, aus finanziellen Gründen die Universität vorzeitig verlassen zu müssen. Mit Schuldscheinen und unbezahlten Rechnungen im Gepäck kehrte er im Juni 1917 verbittert in sein Rheydter Elternhaus zurück.
Daheim floh Joseph Goebbels zunächst wieder in seine Traumwelt, die er sich unter der Überschrift Die die Sonne lieben[8] zusammendachte, ehe an die Stelle der Schwärmereien über »Liebe, Leben und Glück, die Dinge, die zusammengehören, wie Luft und Wasser« der nüchterne Dienst als Bürosoldat beim Vaterländischen Hilfswerk trat. Da seine Vorgesetzten mit dem so unsoldatisch aussehenden, schwächlichen und hinkenden Mann wenig anzufangen wußten, schickten sie ihn bald wieder nach Hause. Dort vollendete er seine begonnene »Novelle« und schrieb eine zweite, der er den Titel gab: Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell …[9]. Das seinem »lieben Leibburschen Karl Heinz Kölsch« gewidmete Stück handelte von rheinischer Studentenherrlichkeit, Liebe und Tod. Beide Arbeiten tat er bald darauf, durchaus selbstkritisch, als »schwülstig sentimental« und »kaum noch genießbar« ab, nachdem sie ihm von der Kölnischen Zeitung – wohin er sie mit der Bitte um Veröffentlichung geschickt hatte – wieder zurückgesandt worden waren[10].
Wichtiger mußte für Joseph Goebbels die Vorsorge für das kommende Bonner Wintersemester sein. Wieder war es Kaplan Mollen, der weiterwußte. Auf dessen Rat hin reichte er Anfang September 1917 beim altehrwürdigen katholischen Albertus-Magnus-Verein in Köln ein Gesuch um Studienbeihilfe ein. Er schrieb, sein Vater bekleide eine Stellung als Buchhalter, und er könne von den spärlichen Geldern, die diesem bei der heute so verteuerten Lebensweise von seinem Gehalt noch zur freien Verfügung stünden, gar nichts beanspruchen. An den Patriotismus des Adressaten appellierend, wies Goebbels darauf hin, daß diese Gelder vielmehr der Unterstützung seiner beiden Brüder dienten, von denen der ältere auf dem westlichen Kriegsschauplatz weile, während der jüngere sich in französischer Gefangenschaft befinde. Wegen eines Fußleidens sei er selbst vom Militärdienst frei. Da er seine Studien fortsetzen wolle, sei er »vollständig auf die Mildtätigkeit meiner katholischen Glaubensgenossen angewiesen«[11]. Es bedurfte noch einiger Briefe und Dokumente des Bittstellers sowie der schriftlichen Versicherung des Kaplans, daß dieser von »braven, katholischen Eltern« abstamme und »wegen seines religiösen und sittlichen Verhaltens« die beste Empfehlung verdiene[12], ehe der Albertus-Magnus-Verein sich mildtätig zeigte. Anfang Oktober, gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Wintersemesters, bewilligte man Joseph Goebbels ein Darlehen in Höhe von 180 Mark. Dieser Betrag und die 780 Mark, die ihm während der folgenden fünf Semester ausgezahlt werden sollten, wären wohl nie genehmigt worden, hätte man beim Albertus-Magnus-Verein geahnt, daß erst 1930, veranlaßt durch mehrere Verfahren und Pfändungen, der spätere Gauleiter von Berlin 400 Mark in Ratenzahlung zurückerstatten würde[13].
Zurück in Bonn, schlüpfte Goebbels in jenem Spätherbst, in dem die russische Revolution wenigstens im Osten auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen ließ, an der Seite »Pille« Kölschs wieder in die Rolle des Korporationsstudenten. Im Vereinsbericht schrieb er von »großen, fähigen Kneipen«, die sie »geschlagen« und die teilweise einen »glänzenden Verlauf« genommen hätten. Auch ist die Rede von »lustigen Fahrten ins weite, schöne, deutsche Land, die die Aktivitas fast jeden Samstag und Sonntag unternimmt«[14]. Ein Höhepunkt im Vereinsleben der Bonner Sigfriden war die Teilnahme am Stiftungsfest der Unitas in Frankfurt. Der übereifrige Goebbels reiste mit Schlägern und Wichs an und zeigte sich enttäuscht, als seine Frankfurter Bundesbrüder ihm erklärten, wegen des Ernstes der Zeit und angesichts der vielen Gefallenen aus dem Unitas-Verband wolle man diesmal auf die sonst üblichen altstudentischen Bräuche verzichten. Goebbels scheint dies jedoch nicht nachhaltig erschüttert zu haben; einem Frankfurter »Alten Herren« schrieb er am selben Abend noch ins Liederbuch: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.«[15]
Getreu diesem Motto verliebte sich Joseph Goebbels in Kölschs jüngere Schwester Agnes, die er bei einem Besuch im Elternhaus des Kommilitonen in Werl kennengelernt hatte. Der hagere, nicht unsympathisch wirkende Mann mit der sonoren Stimme war dort herzlich aufgenommen worden. Der großzügige Lebensstil der Familie, die Liebenswürdigkeit der Dame des Hauses, die sich darin gefiel, sich als sein »Mütterchen Nr. 2« zu betrachten[16], vor allem aber deren Tochter Agnes hatten es ihm angetan[17]. Goebbels verbrachte in der zweiten Hälfte des Wintersemesters fast mehr Zeit in Werl als an der Universität in Bonn. Dort teilte er unterdessen mit »Pille« Kölsch das Zimmer. Als dieser sich im Frühjahr 1918 entschloß, fortan in Freiburg weiterzustudieren, folgte Goebbels seinem »Ideal« in das entfernte Universitätsstädtchen am Fuße des Schwarzwaldes.
Nicht nur Agnes Kölsch, auch die Sigfriden bedauerten den Weggang der beiden zutiefst. In den Berichten der Unitas heißt es über sie: »Mit nie erlahmender Kraft hielten sie die Zügel des Vereins straff in ihren Händen, verstanden es, die Mitglieder zu immer wieder neuem Mitwirken anzufeuern und während der Zeit ihrer gemeinsamen Tätigkeit ein blühendes Vereinsleben zu entfalten.« Wie sehr doch Goebbels die studentische Frohnatur hervorgekehrt hatte, zeigt der Fortgang des Berichts: »Sie haben durch ihr geselliges Wesen und ihren sonnigen Humor viele neue Mitglieder für den Verein zu gewinnen gewußt (…). Auf der Abschiedskneipe in Römlinghoven konnte man an der großen Zahl der Erschienenen sehen, (…) wie viele Herzen sie sich in den beiden Semestern im Sturme erobert hatten (…). An dieser Stelle sei ihnen der Dank abgestattet für alles, was sie an Zeit und Arbeit für die Sache des Vereins geopfert haben, und es sei ihnen auch die Versicherung gegeben, daß die Erinnerung an sie für immer in uns wurzeln wird.«[18]
Im Mai 1918 – zur gleichen Zeit erstarrte die letzte große Offensive des kaiserlichen Heeres, die im Westen die Entscheidung bringen sollte – reiste Joseph Goebbels nach Freiburg. »Eine wunderbare Fahrt den ganzen Süden. Um 6 h Ankunft. Kölsch umarmt mich. Ich wohne mit ihm zusammen. Breisacher Straße.«[19] Er engagierte sich neben seinem Studium sogleich wieder an der Seite des Kommilitonen tatkräftig im Unitas-Verein[20]. Ihre Freundschaft sollte jedoch bald zerbrechen. Der Werler hatte sich mit der Volkswirtschafts- und Jura-Studentin Anka Stalherm angefreundet, die den Kommilitonen seiner Eloquenz und Bildung wegen bewunderte. Während der Vorlesungen des Archäologen Thiersch über Winckelmanns Leben und Werk war sie Goebbels aufgefallen, und als sie ihm von Kölsch vorgestellt wurde, war er ebenfalls begeistert. Sein Interesse galt fortan ganz der jungen Frau mit dem »ungemein schwärmerischen Mund« und dem »blondbraunen Haar, das in schweren Knoten auf diesem wunderbaren Nacken« lag[21]. Allmählich kamen sie sich näher. »Anka und ich lachen uns immer an.« Aus dem Habenichts und der Tochter aus reicher Recklinghausener Familie wurde schließlich ein Paar. »In mir ist eine Erfüllung ohne Maß und Ziel geworden.«[22]
Zwischen Kölsch und Goebbels kam es infolgedessen zu »schrecklichen Szenen«, und die enttäuschte Agnes Kölsch empörte sich aus der Ferne, sie habe ihn »leider viel zu hoch, zu edel und zu reif eingeschätzt«. Ihr »so leb denn wohl, es hat nicht sollen sein«[23] kümmerte Goebbels wenig. Die Liebe zu Anka Stalherm ließ den »armen Teufel«, wie er sich selbst bezeichnete, das Ende seiner Freundschaft mit den Kölschs, seine ewige Geldknappheit und sogar seinen Klumpfuß vergessen. Sechs Jahre später schrieb er über jenes Freiburger Sommersemester, es sei vielleicht die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Erst der nächtliche Angriff französischer Doppeldecker auf das verschlafene Universitätsstädtchen erinnerte ihn wieder daran, daß noch immer Krieg war[24].
Der kümmerte die beiden Liebenden auch nicht, als sie sich gegen Ende des Sommersemesters trennen mußten. Anka Stalherm fuhr nach Recklinghausen zu ihren Eltern, und auch Joseph Goebbels mußte, da er allein kaum hätte durchkommen können, seine Zelte in Freiburg abbrechen. Was er von dort mitnahm, als er am 4. August 1918 in Richtung Heimat aufbrach, war die aus zwei Semestern und auch im Umgang mit der wohlhabenden Anka Stalherm gewonnene Erkenntnis, daß er sich zwar als Sohn der Alma mater in einer gehobenen Gesellschaftsschicht befand, »aber ich war doch in ihr ein Paria, ein Verfemter, ein nur Geduldeter, nicht etwa weil ich weniger leistete oder weniger klug war als die anderen, sondern allein weil mir das Geld fehlte, das den anderen aus der Tasche ihrer Väter so überreichlich zufloß«[25].
Die Ungerechtigkeit, die er darin sah, inspirierte Joseph Goebbels zu einem Drama, das er noch in Freiburg konzipiert und begonnen hatte; daheim in Rheydt zog er sich in seine Kammer zurück und arbeitete daran wie ein Besessener. In täglichen langen Briefen berichtete er darüber Anka Stalherm, die ihm, wie er meinte, die Kraft dazu gab. Schon am 21. August konnte er ihr mitteilen, daß der letzte Strich an seinem Judas Iscariot, der »biblischen Tragödie«[26] getan sei. Sie sollte ihr »all das erzählen, was mein übervolles Herz in diesem Augenblick durchzieht«[27]. Auf mehr als 100 Seiten, beschrieben in kleiner, steiler Sütterlin-Schrift, las Anka Stalherm, der er das Manuskript sogleich geschickt hatte, die Geschichte des Judas, des »Außenseiters« und »Schwärmers«, der dem folgen will, von dem er glaubt, er errichte ein »neues, schier unermeßliches Reich«. Als Judas der Jünger Jesu geworden ist, muß er zu seiner Enttäuschung feststellen, daß dessen Vaters Reich nicht von dieser Erde ist: »Und da in dieser Stunde fromme Sprüche/ einem bedrängten Volk ins Ohr zu blasen/ Zu reden von dem Reich in anderen Welten,/ daß Herrlichkeit ohn’ Ende sei und Grenzen,/ Das zeichnet mir den kleinen Kopf und Geist«[28], läßt Goebbels seinen Helden über Christus sagen. Der verrät schließlich seinen Meister, um selbst, an Jesu Stelle, das Reich Gottes auf dieser Erde zu errichten. Nach der Tat offenbart sich für Judas die ganze Tragik seines Handelns, das ausschließlich der Verwirklichung einer gerechten Welt dienen sollte. »Und doch, der Himmel ist mein Zeuge, Judas / Ward nicht um des Geldes Willen zum Verräter.«[29] Judas bleibt schließlich nur, sich durch den Freitod von der Schuld zu erlösen.
Die unter dem Einfluß der Lektüre von Nietzsches Also sprach Zarathustra entstandene Schrift[30], die Joseph Goebbels’ Zweifel weniger an der Existenz Gottes als an der Prämisse widerspiegelt, daß aus dem katholischen Glauben die ersehnte Gerechtigkeit erwachsen könnte, stieß auf Widerspruch. Er kam von Kaplan Mollen, der von der Arbeit Goebbels’ erfahren und ihn deshalb zu einem Gespräch zu sich gebeten hatte. Da Goebbels ahnte, was ihn erwartete, machte er sich Mut, indem er Anka Stalherm schrieb, er wolle Mollen »den Marsch blasen«[31]. Das Treffen verlief jedoch ganz anders. Sein Respekt vor dem Kirchenmann gebot ihm dann doch, sich außerordentlich zusammenzureißen, als dieser ihn auf »das Verderbliche« seiner Schriftstellerei hinwies. »Denk Dir mal, das Verlangen der Kirche geht soweit, daß ich sogar gezwungen bin, mein eigenes Exemplar in einem festgesetzten Zeitraum zu vernichten«, schrieb er nach Recklinghausen und bedeutete der Adressatin, daß er seinen Judas in tausend Fetzen gerissen, wenn er ihn nur zur Hand gehabt hätte[32]. Seine durch den Zuspruch des früheren Deutschlehrers Voss genährte Hoffnung, es fände sich ein Verleger für seinen Judas Iscariot, war damit begraben, denn er wollte »unter keinen Umständen mit meiner Kindheit Glauben und Religion brechen«[33].
Daß er es bald dennoch tat, dafür sollten Ereignisse sorgen, die das Weltbild des Joseph Goebbels zertrümmerten. Nicht nur für ihn völlig unerwartet ging der Krieg verloren, zerflossen jäh seine mit dem siegreichen Ausgang verknüpften Erwartungen. Am 11. November 1918 unterschrieb der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der anstelle eines Militärs der Dritten Obersten Heeresleitung der deutschen Delegation vorstand, in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, ein paar Kilometer nordöstlich von Paris, einen Waffenstillstand, der einer Kapitulation gleichkam. Die Tatsache, daß doch gerade noch vom Sieg gesprochen worden war, daß niemals ein Schuß auf deutschem Boden gefallen war, vielmehr das deutsche Heer im Osten gesiegt hatte und im Westen tief in Feindesland stand, machte diese Vorgänge für viele Menschen in Deutschland schwer verständlich.
Und noch schwerer faßbar war das, was sich nunmehr im Inneren des Reiches ereignete. Nichts war geblieben von der Einigkeit, die Wilhelm II. zu Beginn des Krieges mit der Formel beschworen hatte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Dieser Kaiser dankte am 11. November 1918 ab. Schon in den Tagen zuvor hatten an den Küsten die Matrosen rebelliert. Überall in Deutschland – auch in Goebbels’ Heimatstadt Rheydt – waren Soldaten- und Arbeiterräte gebildet worden. In Berlin hatte am 9. November der Sozialdemokrat Scheidemann die Republik ausgerufen, und kurz darauf war vom Spartakistenführer Liebknecht die »freie sozialistische Republik« proklamiert worden.
Joseph Goebbels erlebte diese Tage in der mainfränkischen Residenz- und Universitätsstadt Würzburg, wo er und Anka Stalherm seit Ende September ihr Studium fortgesetzt und einen »wundervollen Herbst« erlebt hatten. In seinen Erinnerungsblättern notierte er: »Revolution. Abscheu. Rückkehr der Truppen. Anka weint.«[34] Zunächst tat er die Ereignisse als das Toben einer »blinden, rohen Masse« ab, die eines Tages sicherlich wieder eines »leitenden Geistes« bedürfe[35]. In einem Brief vom 13. November fragte er seinen alten Rheydter Klassenkameraden Fritz Prang: »Meinst Du nicht auch, daß die Stunde wiederkommt, in der man wieder schreit nach Geist und Kraft in dem niederen, nichtssagenden Massentrubel? Lassen wir auf diese Stunde warten und nicht ablassen, uns durch beharrliche geistige Schulung zu diesem Kampfe zu rüsten. Es ist ja bitter, diese schweren Stunden unseres Vaterlandes miterleben zu müssen, doch wer weiß, ob wir nicht doch noch Gewinn daraus ziehen. Ich glaube, Deutschland hat den Krieg verloren und für unser Vaterland ist er doch gewonnen. Wenn der Wein gärt, kommen alle schlechten Bestandteile an die Oberfläche, doch sie werden abgeschöpft, und Köstliches bleibt nur zurück.«[36]
Joseph Goebbels verstand die Ursachen nicht. Die Kriegsjahre, die Jahre der nationalen Solidarität, mit der er groß geworden war, hatten ihm die Sicht dafür verstellt, daß die gegenwärtigen Erschütterungen nicht zuletzt auch das Resultat einer Entwicklung waren, die schon weit vor der Jahrhundertwende mit der Industrialisierung ihren Anfang genommen hatte. So wie die jungen Soldaten in den »Stahlgewittern«, kannte der »Heimatfrontler« nichts anderes als jene überzogen-pathetische Form des Miteinanders. Um so schockierender war für ihn der Zerfall dieser trügerischen Vision, als er tatsächlich an die »wahre Volksgemeinschaft« geglaubt hatte.
Joseph Goebbels, der an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität Vorlesungen bei dem völkischen Althistoriker Julius Kaerst und dem Germanisten Hubert Roetteken besuchte[37], reagierte auf die Ereignisse wie die meisten seiner Generation, einem destruktiven Zug seiner Person entsprechend aber vielleicht heftiger; er war verzweifelt, wo seine Altersgenossen nur Unbehagen spürten. Entsprechend überspitzter, radikaler sollte er auf das »deutsche Schicksal« reagieren, das ihm allmählich mit dem eigenen zu verschmelzen schien. Es gehe doch alles darum, meinte er in diesen Tagen, zu lernen und es später besser zu machen; dies sei die Lehre dieses Krieges. »Wenn ich leben könnte, ich wollte mit Deutschland leben, lernen und wiederauferstehen, wenn nicht zu politischer, so doch zu moralischer Höhe«, schrieb Goebbels auf der Suche nach dem Sinn des Weltkrieges, dessen vermeintliche Essenz er erhalten wissen wollte[38].
Was er zunächst jedoch einsehen mußte, war, daß sich seine Deutung der Ereignisse vom November 1918 zusehends als unzulänglich erwies. Die selbstregulierenden Kräfte, auf die er in seinem Brief an Fritz Prang gesetzt hatte, blieben aus. Statt dessen schien sich die in des Freundes Antwortschreiben unter dem Eindruck des »Heldentodes« von dessen Bruder zynisch propagierte Zukunftslosung »Vive l’anarchie« zu bewahrheiten[39]. Seit dem 4. Januar 1919 kämpften nämlich Liebknechts und Rosa Luxemburgs Spartakisten gegen diejenigen, die sich zur Nationalversammlung und damit zum demokratischen Parlamentarismus bekannten. Ein Sozialdemokrat, Gustav Noske, rückte schließlich an der Spitze eines Freikorps, das sich wie die meisten jener militärischen Verbände aus dem Strandgut des Weltkrieges zusammensetzte, in Berlin ein. Der Aufstand der Spartakisten wurde niedergeschlagen und deren Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet. Obwohl die Lage in der Hauptstadt sich stabilisierte, bildeten die Berliner Januar-Kämpfe erst den Auftakt der revolutionären Wirren in Deutschland.
In diesen schwierigen Zeiten sorgten sich die Eltern Goebbels’ um ihren in der Ferne studierenden Sohn. Auch dessen körperliche Verfassung gab dazu Anlaß, denn Joseph, der bis auf die Knochen abgemagert war, wurde von ständigen Kopfschmerzen geplagt und war durch einen offenbar nur schwer behebbaren Schaden an seiner orthopädischen Apparatur noch mehr als sonst beeinträchtigt. Schon Anfang Oktober hatte Vater Fritz seinen Sohn gebeten, ihm »ferner jede Woche zweimal eine, wenn auch kurze Mitteilung zukommen zu lassen«[40]. Im November schrieb er, wenn es in Würzburg »zu gefährlich« werde, »dann wird auch wohl die Universität geschlossen werden, und dann kommst Du eben nach Hause«[41]. Aber der Dahlener Straße teilte der Sohn im Dezember mit, daß er selbst Weihnachten nicht am elterlichen Herde verbringen werde, obwohl doch der Vater ihm in einem guten Dutzend Briefen immer wieder Geld und gutgemeinte Ratschläge für die nicht eben unproblematische Heimreise in das inzwischen von Franzosen und Belgiern besetzte Rheinland gegeben hatte. Fritz Goebbels schrieb nach Würzburg, auch schon früher sei er der Ansicht gewesen, daß eine Universitätsstadt in der Nähe, in der Heimat, vorzuziehen gewesen wäre[42]. Immer wieder ermahnte er seinen Sohn, dafür zu sorgen, mit Semesterschluß möglichst rasch nach Hause zu kommen, »damit Deine Sachen, wie Maschine etc. in Ordnung kommen und daß Du wieder durchgefüttert wirst. Auch würden durch längeres Verbleiben zu viele Kosten entstehen.«[43]
Am 24. Januar 1919 kehrte Joseph Goebbels, nachdem er sich zwei Tage zuvor beim Würzburger Einwohnermeldeamt ordnungsgemäß abgemeldet hatte – sein Kollegheft hatte er mit einem viermal unterstrichenen »Deo gratias« abgeschlossen –, dann endlich nach Rheydt zurück. In Köln hatte er im Zug den Rhein überquert und damit besetztes Gebiet betreten. »Ein blutjunger Engländer im Stahlhelm kommt herein, sehr liebenswürdig, sieht, daß ich ein Papier in der Hand halte: ›All right!‹ dafür die ganzen Umstände die Tage zuvor.« Auf dem Bahnhof, wo er bei einer »Mordskälte« eine ganze Nacht auf den Anschluß warten mußte, boten ihm die vielen Engländer und Franzosen ein »buntes, eigenartiges Bild«[44]. In seiner Heimatstadt mutete ihn die Besatzung dann kaum noch bunt an. Die Belgier hatten eine nächtliche Ausgangssperre verhängt und führten ein rigoroses Regiment. Selbst Briefe unterlagen der Zensur und durften nicht in der gängigen Sütterlin-Schrift abgefaßt werden. Ihm »grause« davor, dies jetzt drei Monate aushalten zu müssen, schrieb er Anka Stalherm in akkuraten lateinischen Lettern nach Recklinghausen[45]. Ein paar Tage später, als er der täglichen Unbill des Besatzungsregimes zur Genüge ertragen zu haben glaubte, meinte er, daß er hier nicht mehr zu Hause sei: »Ich bin in Deutschland nicht mehr in Deutschland.«[46]
Joseph Goebbels’ Heimkehr stand auch unter dem Eindruck eines anderen Ereignisses. Im Reich hatten soeben die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung stattgefunden. In Würzburg hatte er widerwillig, aber der Tradition seines katholischen Elternhauses verbunden, die bayerische Landesorganisation der Zentrumspartei, die Bayerische Volkspartei, gewählt[47]. Einige seiner aus dem Krieg heimgekehrten Klassenkameraden, mit denen er sogleich zusammengekommen war, sowie sein Bruder Konrad hatten ihre Stimmen den Deutschnationalen gegeben[48]. Auch Joseph fühlte sich ihnen am nächsten, hatte sie jedoch nicht wählen können, da sie in Bayern nicht angetreten waren[49]. Litt er schon darunter, daß nicht alle Deutschen so vernünftig waren und zum Wohle des Vaterlandes »richtig« gewählt hatten, so war ihm der Gedanke, daß die Parteien angesichts der allgemeinen Not in wechselnden Konstellationen miteinander wetteiferten, geradezu unerträglich. Als aus S.P.D., linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (D.D.P.) und Zentrum die Reichsregierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, der einen »schmählichen Eindruck« auf ihn machte[50], gebildet wurde, stellte er fest, »wie wenig das Volk zur Republik reif ist«[51].
Einen Beweis dafür sah Joseph Goebbels in den zentrifugalen Kräften, die jetzt, in der Zeit des schmachvollen Waffenstillstandes und der inneren Wirren, die Einheit des Reiches zu gefährden schienen. Ob man bei ihnen »viel von einer rheinisch-westfälischen Republik« rede, fragte er Anka Stalherm und mahnte sie, sich keinen Sand in die Augen streuen zu lassen; »das ist alles vaterlandsverräterische Mache von diesen gewissenlosen schwarzen Brüdern im Glauben. Es gibt ein altes Wort, das sagt, wenn das Schiff im Sinken ist, verlassen es die Ratten. Und ich glaube, daß nur eine Gemeinschaft diesen wackeren und glückbringenden Spruch so herrlich verstanden hat, wie unser biederes Zentrum (…) Die Leute wären wirklich imstande, ein süddeutsches Reich mit Österreich zu bilden, und den Papst zum ersten Präsidenten auszurufen. Man kann es ja den Katholiken nicht verdenken, daß sie Preußen nicht nachtrauern, unter dessen Regime sie tatsächlich doch nur Menschen zweiter Klasse waren«. Es sei ihm vor Wut und Ingrimm zum Weinen, »aber was soll man machen! Wir sind ein armes Volk, und wer noch einen Funken Liebe zu seinem deutschen Vaterlande in sich fühlt, dem bleibt nichts anderes übrig, als eine Faust in der Tasche zu machen und zu schweigen.«[52]
Bezeichnenderweise lastete Joseph Goebbels dieser Republik auch die sozialen Gegensätze an. Um so gewichtiger schien ihm dieser Aspekt zu sein, wenn er, der »arme Teufel« mit dem stets leeren Portemonnaie, die gesellschaftliche Barriere sah, die zwischen ihm und Anka Stalherm stand. Nur schwer war es für ihn zu ertragen, daß die junge Frau, in deren unmittelbarer Nähe er in Würzburg zur Untermiete gewohnt hatte, ihn häufig aushalten mußte; daß sie ihm, dem an Körper und Seele Erkrankten, anbot, eine dringend erforderliche Kur zu finanzieren, was sein Stolz freilich nicht zuließ. Besonders schmerzlich war ihm, daß Anka Stalherm von ihrer Familie ständig ermahnt wurde, sich nicht zu sehr mit dem behinderten Habenichts einzulassen. Nach Recklinghausen heimgekehrt, wurde sie von ihrer Mutter zum Beichten geschickt, damit sie sich ihrer mit ihm begangenen Sünden entledigte. Sie betete aber für ihn, »damit der liebe Gott Dich sehr bald wieder gesund werden läßt und alles so schön wird, wie Du es Dir träumst«. Obwohl Anka ihm beistand, war es der sozialen Unterschiede wegen im Februar zu einem schweren Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen, woraufhin er ihr schrieb, sie solle ihrer Mutter sagen, daß dies sein letzter Brief gewesen sei, »vielleicht wird sie Dir doch verzeihen«[53]. Nachdem sie sich wieder versöhnt hatten, klagte er ihr, es sei doch so bitter, daß sie seine Mittellosigkeit in ihren Betrachtungskreis aufgenommen hätten, »aber Du weißt ja, daß Du mich damals (…) dazu gedrängt hast, Dich in dieser Frage mitdenken und dadurch auch mitleiden zu lassen«[54].
Auch wenn er sich noch als einen Konservativen bezeichnete, so waren doch jene, die vorgaben, für eine gerechtere Welt zu kämpfen, bald nicht mehr nur »die blinden, rohen Massen«. In Rheydt diskutierte er jetzt sogar mit organisierten Arbeitern. »Man kommt auf diese Weise doch wenigstens dazu, die Bewegungen in der Arbeiterschaft zu verstehen«. Wenngleich er sie »ja nie und nimmer« gutheißen könne, wie er der Bürgerstochter zurückhaltend schrieb, eröffneten ihm diese Unterhaltungen »so manches Problem (…), das wirklich wert wäre, einmal näher unter die Lupe genommen zu werden«[55].
Dies hatte Joseph Goebbels in den Februartagen des Jahres 1919 wiederum auf seine Weise getan. Er beendete nämlich ein zweites Drama, Heinrich Kämpfert[56], in dem er wiederum seinen eigenen Konflikt problematisierte. Sein Protagonist ist der »stille Held« Heinrich Kämpfert. »Arbeiten und weiterkämpfen!« lautet dessen Motto, doch »der Kampf war schwerer, denn zu dem geistigen Kampfe kam jetzt noch der Kampf um das tägliche Brot«. Der Not des resignierenden Heinrich Kämpfert ist eine reiche Aristokratenfamilie gegenübergestellt, deren Tochter der Held liebt. Sie bekennt sich zu ihm und mahnt die Ihren: »In dem Reichtum liegt auch eine ungeheure Verantwortung, eine Verantwortung gegen die Klassen, die darben und hungern. Und wenn man diese Verantwortung ignoriert, so beschwört man die Geister herauf, die nie mehr zu bremsen sein werden: die soziale Gefahr.«[57] Heinrich Kämpfert leidet daran, daß Gerechtigkeit ihm versagt geblieben ist, ist jedoch nicht imstande, sie sich durch Unrecht zu erkämpfen. Diese »klaffende Wunde zwischen Wollen und Können«[58] vermag er nicht zu schließen. Er bleibt, wie Dostojewskijs Raskolnikoff in Schuld und Sühne[59], mit dem sich Heinrich Kämpfert im dritten und letzten Aufzug auseinandersetzt, ein Gefangener seines christlichen Seins in einer »verderbten Welt«.
Goebbels erschien der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Katholizismus unüberbrückbar[60]. Schon in Würzburg hatte er daraus die Konsequenzen gezogen und war aus dem katholischen Unitas-Verein ausgetreten[61], dem er zunächst auch dort angehört hatte. An Heiligabend 1918, den er mit Anka Stalherm in deren schlecht beheizter Studentenbude in der fränkischen Residenzstadt verbracht hatte[62], war er erstmals in seinem Leben der Christmette ferngeblieben. Seitdem lehnte er Kirchgang und Beichte strikt ab. Seine vor kurzem noch einigermaßen gefestigte Sicht der Dinge wich nun dem Eingeständnis, sich in der Welt nicht mehr auszukennen[63].
Halt gab ihm in dieser Situation sein früherer Schulkamerad Richard Flisges, ein Bauernsohn aus der Umgebung Rheydts. Bei ausgedehnten Spaziergängen schmiedeten sie Pläne über ihre und der Nation Zukunft – einer Nation, der gerade das Versailler Diktat eben jene Zukunft zu rauben schien. »Ein früherer Mitschüler von mir, Flisges, der bis jetzt den Leutnant gespielt hat und nun auch Germanistik und zwar in derselben Weise wie ich studieren will (…), ist mein täglicher Begleiter.«[64] Der hochgewachsene Mann mit dem Eisernen Kreuz und dem zerschossenen Arm – für den kleinwüchsigen, hinkenden Kriegsverwendungsunfähigen eine Heldenfigur – faszinierte Goebbels mit seinen Anschauungen über Gott und die Welt. Goebbels überredete daher den neugewonnenen Freund, mit dem Studium in Freiburg zu beginnen, wohin er zum Sommersemester 1919 wieder seiner Freundin Anka Stalherm folgte.
Flisges, der »königlich frei und erhaben (…) war über alles, was heute ›Kultur‹ heißt und im Grunde nur Unnatur ist«[65], riet ihm, sich mit Marx und Engels auseinanderzusetzen. Er denke, notierte er, nunmehr über die soziale Frage nach und diskutiere mit Flisges nächtelang über Gott[66], der ihm zunehmend zum Synonym für Brüderlichkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit wurde. In seinem Wirken sah er die Gegenkraft zur ungerecht, menschenverachtend und seelenlos-materialistisch empfundenen deutschen Wirklichkeit. Angeregt wurde Goebbels dabei wiederum von Dostojewskijs Werk und dessen Vision von einem mystisch-religiös begründeten sozialistischen Rußland – sozialistisch in dem Sinne, daß der Glaube an Gott das große Integrationsmoment des Volkes ist, die »synthetische Persönlichkeit des gesamten Volkes«, »der Körper Gottes«[67].
Die Kraft für solche selbstquälerischen Auseinandersetzungen gab ihm abermals Anka Stalherm. Sie war es, die seine düsteren Gedanken nicht minder mitunter aufhellte, wenn sie während der gemeinsam besuchten Vorlesungen mit ihrem »lieben, süßen Fratz« flirtete, der sich in jenem Freiburger Sommer auch durch romantisch-schwärmerische Gedichte zu zerstreuen suchte[68]. Eine Bestätigung erfuhr seine Dichterseele, als der Leipziger Xenien-Verlag sich bereitfand, unter dem Titel Nemt, Fruwe, disen Kranz einen Sammelband herauszugeben. Paragraph 7 des Vertrages, den ihm Mitte Juni 1919 die Post brachte, machte die Freude des Studenten mit einem Schlage zunichte[69]. Dort hieß es nämlich, daß an Kosten für die Verlagsübernahme etc. seitens des Herrn Joseph Goebbels bei Unterzeichnung des Vertrages 860 Mark in bar an den Verlag zu zahlen seien. Wenngleich er noch in den Semesterferien seinem früheren Deutschlehrer Voss von einer bevorstehenden Veröffentlichung erzählte[70], schlug er doch verbittert die finanzielle Hilfe seiner Freundin aus, da sie ohnehin schon oft genug für ihn bezahlte[71].
Im August 1919, in einem schäbigen Zimmer im westfälischen Münster – im nahegelegenen Anholt verbrachte Anka Stalherm bei Verwandten die Ferien –, schrieb der 22 Jahre alte Joseph Goebbels »aus dem Herzblut« seine »eigene Geschichte«. Mit Michael Voormanns Jugendjahre[72]entstand die erste und einzige kritisch-ehrliche Selbstspiegelung, in der Goebbels – auf dem Wege zur psychischen Stabilisierung – sein »ganzes Leiden« hersagte, »ohne Schminke, so, wie ich es sehe«[73]: Seinen Haß auf die Menschen, seinen krankhaften Ehrgeiz, mit dem er sein Gebrechen in der Schule zu kompensieren trachtete, und wie er immer »hochmütiger und tyrannischer« wurde, als ihm Erfolg beschieden war. »So war er auf dem Wege, an Stelle eines ganzen gefestigten Charakters ein tyrannischer Sonderling zu werden.«[74] Anka Stalherm, der er »Heft für Heft« nach Anholt schickte, prophezeite er seine Zukunft als die eines tragischen Ausnahmemenschen, wenn es von »Michael« heißt: »Du wirst ein Mann, Michael, wie Du in Deiner Jugend ein Knabe gewesen bist, einsam und weltfremd und der Sehnsucht voll nach dem, das Du nicht kannst und nach dem Du vergebens streben wirst bis an Dein Ende.«[75]
Im Winter 1919/20 studierten Joseph Goebbels und Anka Stalherm in der bayerischen Hauptstadt. Das Nachkriegs-München war eine gärende, ja brodelnde Stadt. Im Frühjahr 1919 hatte eine linksradikale Minderheit die Räterepublik ausgerufen. Romantische Visionen hatten groteske Blüten getrieben, wenn zum Beispiel in einem Erlaß die Arbeit, die Unterordnungsverhältnisse und das juristische Denken für abgeschafft erklärt und den Zeitungen befohlen worden war, auf ihren Titelseiten Gedichte von Hölderlin oder Schiller neben den neuesten Revolutionsdekreten abzudrucken. Den Schwärmern waren sich nach Moskau orientierende harte Berufsrevolutionäre gefolgt. In blutigen Auseinandersetzungen beendeten Truppen, die der Reichsregierung treu waren, die kurze Zeit der Münchener Räteherrschaft. Von rechts bedrohten nun Heerscharen entwurzelter, perspektivloser Weltkriegsteilnehmer die junge Republik. In Kampfbünden und Freikorps organisiert, bezogen sie ihre Weltanschauung aus den zahlreichen völkisch-antisemitischen Zirkeln, Vereinen und Organisationen mit teils okkultistischem Beiwerk, wie etwa der Thule-Gesellschaft. Eine dieser Gruppen war die während des sogenannten Spartakistenaufstands gegründete Deutsche Arbeiterpartei, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Nation und Sozialismus miteinander zu versöhnen. Zu ihr war eine verkrachte Existenz namens Adolf Hitler gestoßen. Am 16. Oktober 1919, etwa drei Wochen nachdem Joseph Goebbels »ganz draußen in Neuhausen auf der Romanstraße« und Anka Stalherm in der Münchner Innenstadt ihre Zimmer bezogen hatten, sprach dieser Hitler erstmals auf einer Veranstaltung der Deutschen Arbeiterpartei und »elektrisierte« die Menschen.
Wie alle deutschen Universitäten, deren Hörsäle nunmehr die Heimkehrer aus dem Weltkrieg bevölkerten, bot auch die Münchener ein Abbild der politischen Situation. Vielgestaltig, bunt und zerrissen mußte den Zeitgenossen dieser Umbruch auf allen Ebenen erscheinen. Als im Februar 1919 der Student und Reserveleutnant Anton Graf von Arco-Valley den bayerischen Ministerpräsidenten, den Sozialdemokraten Kurt Eisner, ermordet und damit das Signal für die Ausrufung der Räterepublik gegeben hatte, war er von den völkischen Studenten als »Tyrannenmörder« und »Befreier Bayerns« wie ein Held gefeiert worden. Den Prozeß gegen den Attentäter, der im Januar 1920 begann, verfolgte auch Joseph Goebbels mit aufgeregter Parteinahme für Arco-Valley. Als die Richter das später in lebenslange Festungshaft umgewandelte Todesurteil verkündeten[76], war der Student vom Niederrhein erschüttert, schien ihm Arco-Valley doch nur gegen die Ungerechtigkeit gekämpft zu haben[77].
Joseph Goebbels weilte illegal in München, da der Stadtrat für »nichtbayerische Studierende« ein Zuzugsverbot verhängt hatte[78]. Schon nach wenigen Tagen waren ihm in jenem Winter 1919/1920 die Geldmittel ausgegangen. Um nicht allein auf Kosten Anka Stalherms leben zu müssen, versteigerte er seine Anzüge, verramschte seine billige Armbanduhr. Als die junge Frau über die Weihnachtstage mit betuchten Freunden in die Berge fuhr, verbot es ihm sein Stolz mitzukommen: An Heiligabend irrte er ziellos durch München[79] und sann verbittert darüber nach, in »welch ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis, geistig sowohl als materiell«, er mit der Zeit zu ihr geraten war. Hinzu kam, daß Anka Stalherms Mutter wieder einmal gegen die Verbindung ihrer Tochter intrigierte. »Haben andere Leute ein Recht, mich zu verachten und mit Schmach und Schande zu behandeln, weil ich Dich liebe«[80], haderte er mit seinem Schicksal.
Wenn Joseph Goebbels sich mit seiner Außenseiterrolle quälte, dann grübelte er immer auch über den »gerechten Gott« nach. So setzte er sich unter anderem mit Ibsen auseinander, dessen naturalistische Gesellschaftsstücke die Brüchigkeit der bürgerlichen Weltordnung aufdecken. Er las Strindbergs Werke mit ihrer mitunter mythisch und magisch gefärbten Religiosität. Er studierte Stücke des expressionistischen Dramatikers Georg Kaiser, die das durch Geld und Maschine beherrschte Leben thematisierten, und beschäftigte sich mit den Schriften des romantisch-okkultistischen Dichters Gustav Meyrink. Tief beeindruckt war er von Tolstojs Drama Und das Licht leuchtet in der Finsternis, dessen Held zwar der offiziellen Kirche entsagt, da sie nicht nur die Unantastbarkeit von unrechtmäßig erworbenem Besitz garantiere, sondern auch Militärdienst und Krieg sanktioniere, dennoch aber ein Gefangener dieser »schrecklichen, verderbten« Welt bleibt. Dieses Suchen nach einer Orientierung faßte Goebbels in seinen Erinnerungsblättern später mit der lapidaren Eintragung zusammen: »Chaos in mir.«[81]
Schon Ende Oktober 1919 hatte er davon nach Hause geschrieben und seinen Vater gebeten: »Sage mir, daß Du mich nicht verfluchst als den verlorenen Sohn, der seine Eltern verließ und in die Irre ging!« Er fand Trost bei Fritz Goebbels, der ihm antwortete, »wenn Du nun weiter schreibst: ›Wenn ich meinen Glauben verliere …‹, so darf ich wohl annehmen, daß Du ihn noch nicht verloren hast, und daß es nur Zweifel sind, die Dich quälen. Dann kann ich Dir zur Beruhigung sagen, daß kein Mensch, besonders in den jungen Jahren, von diesen Zweifeln verschont bleibt, und daß die, die am meisten unter diesen Zweifeln leiden, bei weitem nicht die schlechtesten Christen sind. Auch hier kommt man nur durch Kampf zum Sieg. Dich dieserhalb von den Sakramenten fernzuhalten, ist ein großer Fehler, denn welcher Erwachsene könnte behaupten, stets mit dem kindlich-reinen Herzen zum Tisch des Herrn zu treten, wie er es bei der Ersten Heiligen Kommunion tat? Ich muß jetzt nun einige Fragen an Dich stellen, denn wenn unser Verhältnis die frühere Zutraulichkeit bekommen soll, die keiner mehr wünscht wie ich, dann müßte ich diese Sache schon beantwortet haben. 1. Hast Du, oder beabsichtigst Du Bücher zu schreiben, die mit der katholischen Religion nicht zu vereinbaren sind? 2. Willst Du vielleicht einen Beruf ergreifen, in den kein Katholik paßt? Ist dieses alles nicht der Fall, und Deine Zweifel anderer Art, dann sag’ ich nur das Eine: bete Du, und ich bete auch, und unser Herrgott wird Dir helfen, daß alles gut geht.«[82]
Der gutgemeinte Zuspruch des Vaters bewahrte Joseph Goebbels nicht vor schweren Depressionen. Der Gegensatz zwischen seinen Vorstellungen von einer »gerechten, guten Welt«, in der auch für ihn ein angemessener Platz wäre, und der so düster empfundenen Wirklichkeit seines Daseins schien ihm bedrohlich. Wie schon oft zuvor verschaffte ihm das Schreiben Erleichterung. Wohl auch unter dem Einfluß seines Freundes Richard Flisges, der zur gleichen Zeit in Freiburg studierte und ihm regelmäßig schrieb, entstand zur Jahreswende 1919/1920 ein in ein Schulheft gekritzeltes »Fragment eines Dramas«: Kampf der Arbeiterklasse[83], oder, wie er es später in seinen Erinnerungsblättern nennen sollte: Die Arbeit. Das Stück ist eine in das Milieu der Fabrikarbeiter projizierte Anklage gegen die soziale Ungerechtigkeit, teils gesteigert zur Haßtirade. Goebbels’ Held fragt: »Warum hassen Sie nicht alle die, die Ihre Jugend vernichtet haben, die jetzt wieder die Jugend der neuen Generation vernichten, die schon ihre Hände gierig nach ihren Kindern ausstrecken (…): Weil sie Euch die Fähigkeit geraubt haben zu hassen, zu hassen mit der ganzen Glut des starken Herzens, zu hassen alles, was böse und schlecht. Denn sie haben Euch den Verstand geraubt, haben Euch zum Tier gemacht, das weder hassen noch lieben kann. (…) Ich aber will hassen können, (…) und ich hasse alle, die mir das rauben wollen, das mir gehört, weil Gott es mir schenkte. (…) Oh, ich kann hassen und ich will es nicht verlernen. Oh, wie schön ist es, hassen zu können.« Goebbels’ Protagonist schöpft Kraft aus seinen Haßgefühlen, von denen er hofft, daß auch die anderen sie wieder empfinden werden. Goebbels schlußfolgert in zeittypisch-vitalistischer Naturmetaphorik: »Ich weiß es, ich fühl’s. Und dann wird ein Sturmwind über Euch hinwegfegen, und dann zerbricht alles, was faul und morsch ist.«[84]
Ende Januar 1920 kehrte Joseph Goebbels, zerstritten mit Anka Stalherm, an Körper und Seele krank, nach Rheydt zurück. Im Kreis der Familie hoffte er, »Ruhe und Klärung« zu finden. Wenn er daheim allmählich wieder genas, dann bewirkte dies die vertraute Umgebung, die Fürsorge seiner Mutter und das gute Verhältnis zu seinem Bruder Hans, dessen Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft ihn tief bewegte. Anka Stalherm, mit der er sich bald wieder versöhnte, berichtete er darüber: »Die Begrüßung kann ich Dir gar nicht schildern. Mir traten die Tränen in die Augen, als ich ihm die Hand gab. Das Wiedersehen nach fünf Jahren werde ich nie vergessen. Das erste Mal wieder, daß sich die Familie vollzählig um den alten, trauten Tisch versammelte (…). Nur eins will ich Dir sagen. Die sogenannte ›Grande Nation‹ verdient vom Erdboden vertilgt zu werden. Mein Bruder hat’s gesagt.«[85] Der verbitterte Hans Goebbels sagte noch mehr, nämlich, daß er zwar den Krieg verabscheue, er aber, wenn es noch einmal gegen Frankreich gehe, vom ersten Tag an dabeisein wolle. Seine Äußerungen bereiteten Joseph und der Familie die Sorge, er könnte mit den belgischen Besatzungssoldaten in Händel geraten[86]. Auf andere Gedanken schien ihn lediglich der Plan zu bringen, das Abitur nachzuholen, um anschließend zu studieren. Joseph Goebbels unterstützte den Bruder darin gegen den Widerstand des Vaters und des ältesten Bruders Konrad, die den Heimgekehrten zur Stellensuche drängten, »damit er ans Geldverdienen komme«[87].
Auch Joseph Goebbels, der wie immer während seiner Ferien mit Nachhilfestunden ein paar Mark für das kommende Semester dazuverdiente, schrieb – schon mit Blick auf das noch nicht absehbare Ende seines Studiums – Bewerbungen. So bemühte er sich um die Stelle eines Erziehers in Ostpreußen[88]. Auf ein Schreiben, in dem er sich seiner niederländischen Sprachkenntnisse wegen in Holland für einen ähnlichen Posten beworben hatte[89], erhielt er sogar Anfang März einen Zwischenbescheid. Schon träumte er, daß er wohl in Holland bleiben werde, wenn es ihm gefalle[90].
Aus solchen Plänen rüttelte Joseph Goebbels, der sich auch daheim mit Dostojewskij, Tolstoj und der russischen Revolution beschäftigte, am 13. März 1920 »sensationelle Neuigkeiten aus Berlin«. Die Marine-Brigade Ehrhardt und andere Freikorps-Formationen, deren Auflösung von der Reichsregierung verfügt worden war, hatten das Regierungsviertel besetzt und den Alldeutschen Kapp zum Reichskanzler ausgerufen. Goebbels kommentierte die Ereignisse gegenüber seiner großbürgerlichen Freundin als »großen Erfolg« der »radikalen Rechten«, »wie es ja (…) wohl kaum anders zu erwarten war«. Es sei fraglich, »ob eine rechtsstehende Regierung für uns etwas Gutes ist«, spekulierte er und stellte die aus seiner Verachtung für das »System« von Weimar resultierende rhetorische Frage, was denn heute nicht faul sei im Staate Dänemark[91].
Als der Kapp-Putsch scheiterte, was im Reich und in den Ländern Unruhen nach sich zog – im Ruhrgebiet kämpften bald 50 000 Mann in einer deutschen Roten Armee gegen die Republik –, notierte er zu den Ereignissen, von denen er in der von ihm abonnierten Kölnischen Zeitung las: »Rote Revolution im Ruhrgebiet. (…) Ich bin aus der Ferne begeistert.«[92] Wohl diese Begeisterung für den systemüberwindenden Kampf der atheistischen Kommunisten, von dem er sich gleichwohl die erhoffte göttliche Gerechtigkeit versprach, inspirierte Joseph Goebbels, sich in jenen Rheydter Wochen abermals mit dem Kampf der Arbeiter auseinanderzusetzen. Das Ergebnis war ein überzogen pathetisches »Geschehen in drei Akten« mit dem Titel Die Saat[93]. Wiederum ist darin von einer »angefaulten« und »morschen« Welt die Rede, die ein der »Glut der Seele« – als Gegensatz zur materialistisch empfundenen Ordnung – entspringender »jubelnder heller Frühlingssturm« hinwegfegen werde. Denn die »Welt ist gut, muß gut sein, und wenn sie es jetzt nicht ist, dann muß sie es wieder werden. Eine neue Welt soll sich aus der alten erheben, eine strahlende, prächtige, und alle, alle sollen in dieser Welt glücklich werden«. Hierzu bedürfe es des »neuen Menschen« – auch dies eine der damals vorherrschenden ideologischen Muster –, der wisse, daß »wir alle Glieder einer Kette sind. (…) Glieder gleich groß und gleich klein«. Wenn die Arbeiter erst erwachen und sich gegen Knechtschaft und Unterdrückung auflehnen, legen sie die Saat für das »Geschlecht, das heranreift, dem starken, schönen des neuen Menschen«.
Richard Flisges, mit dem Joseph Goebbels Ostern 1920 in Rheydt häufig zusammentraf, war begeistert, als er Die Saat las. Wohl auch, weil er auf Anka Stalherms Anerkennung immer weniger bauen konnte, wurde Flisges nun sein »bester Freund«, und als sich die junge Frau, die »entrüstet« auf Die Saat reagierte, von Goebbels abzuwenden begann, war es wiederum Flisges, der ihm beistand. Hatte schon die unterschiedliche Herkunft beider häufig zu euphorisch überwundenen Zerreißproben geführt, so war die Kluft zwischen ihnen jetzt durch Goebbels’ sozialistisch inspirierte Anschauungen kaum mehr überbrückbar. Die Bürgerstochter war ungeachtet der revolutionären Wirren, die das Reich erschütterten, ganz Bürgerstochter geblieben. Die Welt, aus der sie kam, bot ihr sämtliche Privilegien. Ein Freund, der von der roten Revolution begeistert war und der sich freute, daß die Wohlbehütete jetzt endlich den Terror kennenlernte, mußte ihr zunehmend fremder werden[94].
Mitte April schrieb Goebbels ihr einen Brief, der nicht nur zu einer Anklage der sozialen Mißstände geriet, als deren Opfer er sich begriff, sondern auch die vermeintlich Schuldigen und ihr »internationales Zusammenspiel« benannte: »Es ist faul und öde, daß eine Welt von so und soviel hundert Millionen Menschen von einer einzigen Kaste beherrscht wird, die es in der Hand hat, dazu Millionen zum Leben oder zum Tod, ja nach Willkür, zu führen (siehe den Imperialismus in Frankreich, den Kapitalismus in England und Nordamerika, vielleicht auch in Deutschland u.s.w.). Diese Kaste hat ihre Fäden ausgesponnen über die ganze Erde, der Kapitalismus kennt keine Nationalität (siehe die entsetzlichen und geradezu himmelschreienden Verhältnisse innerhalb des deutschen Kapitalismus während des Krieges, dessen Internationalität einen Zustand schaffen konnte, daß deutsche Kriegsgefangene – Beweis kann erbracht werden – während der Kämpfe, in Marseille deutsche Geschütze mit Fabrikmarken deutscher Firmen ausluden, die dazu bestimmt waren, deutsches Leben zu vernichten). Dieser Kapitalismus hat nichts aus der neuen Zeit gelernt, und will nichts lernen, weil er seine eigenen Interessen vor die Interessen der anderen Millionen setzt. Kann man es da den Millionen verdenken, wenn sie für ihre Interessen, und auch nur für ihre Interessen eintreten? Kann man es ihnen verdenken, wenn sie eine internationale Gemeinschaft anstreben, deren Ziel der Kampf gegen den korrupten Kapitalismus ist? Kann man es verurteilen, wenn ein großer Teil der gebildeten Stürmerjugend dagegen angeht, daß die Bildung käuflich ist und nicht dem zuteil wird, der die Befähigung dazu hat? Ist es nicht ein Unding, daß Leute mit den glänzendsten geistigen Gaben verelenden und verkommen, weil die anderen das Geld, das ihnen helfen könnte, verprassen, verjubeln und vertuen? (…) Du sagst, die alte besitzende Klasse habe sich ihr Besitztum in schwerer Arbeit errungen. Zugegeben, daß dies in vielen Fällen wahr ist. Weißt Du aber auch, wie der Arbeiter zu der Zeit lebte, als der Kapitalismus sein Besitztum ›errang‹?«[95]
Anka Stalherm setzte im Sommersemester 1920 ihr Studium in Freiburg fort und nicht, wie Joseph Goebbels, in Heidelberg. Dort ging letzterer – psychisch und materiell gestärkt durch die Ferien daheim – wieder optimistischer ans Werk. »Mein Vertrauen auf die Zukunft ist ungebrochen«[96], schrieb er ihr, der in seinen fast täglichen, wichtigtuerischen Briefen detailliert über sein Studium Auskunft gab, das er nun zu Ende bringen wollte. Er setze sich mit Gundolfs Goethe und dessen Shakespeare und der deutsche Geist, mit Tolstojs Anna Karenina sowie Wölfflins Kunst Albrecht Dürers auseinander[97]. Er lese Wilhelm Meister, von dem sein früherer Deutschlehrer Voss gesagt habe, daß alles darin stehe. Er studiere die Kunstberichte der Frankfurter Zeitung, arbeite an einer »sehr ausgedehnten« Seminararbeit über Goethes Anteil an den Rezensionen der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und schreibe auch hie und da einen Vers[98]. »Ja man kann wohl dichten, wenn man in Heidelberg ist und keine Sorgen hat.«[99]
Die Sorgen ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Nachdem ihn Anka Stalherm zu Pfingsten besucht hatte, wurden ihre Briefe rarer. Bald erfuhr Goebbels, daß ein Freiburger Kommilitone ihr offenbar nicht ohne Erfolg den Hof und ein Rechtsanwalt namens Dr. Georg Mumme ihr obendrein noch Anträge machte. Goebbels ergriff die Flucht nach vorn und bot ihr die Verlobung an. »Fühlst Du Dich nicht stark genug, ja zu sagen, dann müssen wir auseinander.«[100] Sie ließ sich jedoch nicht darauf ein. Er notierte: »Schwere Tage. Ich werde einsam. Ich bitte um letzte Aussprache.«[101] Zu dieser Aussprache kam es, ohne daß es die letzte war. Joseph Goebbels drohte mit Selbstmord. Anka Stalherm ließ sich, nachdem er ihr einen dramatischen Brief geschrieben hatte – »ich habe genug gelitten, und wieviel werde ich noch leiden?«[102] –, wohl aus Mitleid noch einmal umstimmen und versprach ihm die Treue, die sie jedoch nicht hielt.
Am 1. Oktober 1920 verfaßte er sogar ein Testament[103], in dem er seinen Bruder Hans – im festen Glauben an die Bedeutung seiner nach dem Zerwürfnis mit Anka Stalherm nur noch von Flisges gewürdigten Schriften – zu seinem »literarischen Nachlaßverwalter« bestellte. Auch seine sonstigen Habseligkeiten – ein Wecker, eine Zeichnung und ein paar Bücher – wies er penibel Freund und Familienangehörigen zu. Außerdem verfügte er, »seine Garderobe und sonstige nicht andersweitig disponierte Besitztümer« zu verkaufen und von dem Erlös seine Schulden zu begleichen. Anka Stalherm sollte aufgefordert werden, seine Briefe und alles Schriftliche zu verbrennen. »Sie mag glücklich werden und meinen Tod verschmerzen. (…) Ich scheide gern von diesem Leben, das für mich nur noch eine Hölle war.« Goebbels schied dann doch nicht, sondern erlitt einen Nervenzusammenbruch. Was er aber mit der Ankündigung seines Selbstmordes hatte erreichen wollen, nämlich die besondere Fürsorge der Seinen auf sich zu lenken, war ihm gelungen. Während seine Mutter ihn zu trösten versuchte, versprach Vater Goebbels seinem ewig unter Geldnot leidenden Sohn, eine über das ohnehin schon schwer genug Aufbringbare hinausgehende Unterstützung bis zum Studienende. Joseph Goebbels’ jüngerer Bruder Hans schrieb an Anka Stalherm, um die beiden wieder zueinanderzubringen; sein Brief blieb ohne Antwort. Richard Flisges hörte sich während langer Spaziergänge geduldig das Liebesleid seines Freundes an, der dann auch über ihn sagte: »Flisges ist der einzige, der mich versteht; (…) er fragt nichts, tut alles für mich und weiß genau, was ich denke und fühle.«[104]
Als das Wintersemester 1920/21 nahte, begleitete Richard Flisges den labilen Freund für einige Tage nach Heidelberg, um gemeinsam mit ihm Anka Stalherm zu suchen. Da sie dort nicht aufzufinden war, reiste er in Goebbels’ Auftrag und von diesem finanziert nach München weiter, um sie dort ausfindig zu machen. Nach wenigen Tagen, Ende Oktober, schrieb er Goebbels, daß er sie zusammen mit einem »Geld-Aristokraten im Cutaway mit vielen goldenen Knöpfen und Nadeln« gesehen habe[105]. Flisges forderte seinen Freund auf, nur recht bald zu kommen, wenn er mit ihr sprechen und sie wiedersehen wolle. Goebbels folgte ihm nach München. Gemeinsam fuhren sie zu dem Haus in der Amalienstraße, in dem Anka Stalherm wohnte. Der vorgeschickte Freund mußte schon nach kurzer Zeit dem Wartenden die »Hiobsbotschaft« überbringen, daß die junge Frau mit »ihrem Bräutigam« nach Freiburg abgereist sei. Der verzweifelte Goebbels machte sich nach einem langen Abend im Café Stadt Wien wieder auf den Weg zurück nach Heidelberg. Von dort schrieb er ihr zunächst einen Drohbrief, den er später bedauerte, dann einen »Reuebrief«, der auch nichts mehr zu ändern vermochte: Anka Stalherm heiratete bald Rechtsanwalt Mumme, nicht aber den theatralischen, von ständigen Zweifeln gepeinigten Habenichts. Diesem gestand sie zum Abschied, daß sie »sehr unglücklich« sei, »weil ich fühle, daß Du der erste und letzte Mann warst, der mich so liebte, wie ich es wollte, und wie ich es haben muß, um glücklich zu werden«[106], und er antwortete ein allerletztes Mal, daß er nichts bereue, was er gesagt, getan und geschrieben habe. »Alles das mußte ich tuen, weil ein Dämon in mir mich dazu zwang.«[107]
Wenn je etwas aus ihm werden sollte, schrieb Goebbels später, dann würde er Anka Stalherm gern noch einmal treffen. Sein Wunsch sollte sich im Frühjahr 1928 erfüllen. Nach dem Wiedersehen mit ihr in Weimar vertraute der Gauleiter von Berlin seinem Tagebuch an, daß angesichts der Erinnerung an sie alle andere Frauenschönheit verblasse. Die zahlreichen Damen, mit denen er in Berlin verkehrte, bezeichnete er als »Spielzeug«, und die Frage, weshalb er mit den Gefühlen anderer Frauen nur spiele, beantwortete er sich selbst mit der »Rache der (von Anka Stalherm) betrogenen Kreatur«[108]. In der darauffolgenden Zeit verabredeten sich die beiden hie und da während seiner ausgedehnten Propaganda-Reisen. Sie liebten sich, »als läge zwischen 1920 und jetzt nur ein Tag«[109]. Jedem Menschen sei höchstens einmal im Leben eine Liebe gegönnt, die ihn ganz ausfülle[110], schrieb er nach solchen sehnlich herbeigewünschten Treffen schwärmerisch in sein Tagebuch. Dennoch wandte er sich Anka innerlich nicht mehr zu, akzeptierte er doch bereitwillig den Gang der Dinge, der beider Situation so verändert hatte: Die damals voller Zuversicht im Leben stehende Studentin quälte sich in einer unglücklichen Ehe, er, der Habenichts von früher, war auf dem Weg nach oben. »So nimmt die Vergeltung späte, aber um so grausamere Rache. Aber es ist gut so. Wir durften nicht zueinander kommen. Ich mußte den Weg zum Handeln gehen.«[111] Als er Magda Quandt, seine spätere Frau, kennenlernte, rissen die Kontakte zu Anka Mumme ab. Erst einige Jahre später, im Herbst 1933, hörte er wieder von ihr. Die inzwischen geschiedene und in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebende Frau wandte sich jetzt mit der Bitte um Hilfe an den mächtigen Propagandaminister, worauf ihr dieser einen Posten in der Redaktion der Berliner Frauenzeitschrift Die Dame verschaffte.
Im Winter 1920 war Goebbels jedoch weder Gauleiter von Berlin noch Reichspropagandaminister, sondern ein armseliger Heidelberger Student, der unter dem Eindruck des ihm Widerfahrenen im Menschen die »Canaille« schlechthin sah. Goebbels versuchte seiner Verzweiflung Herr zu werden, indem er sich, wie er später festhielt, »dem Suff« hingab oder sich hinter Büchern verkroch. Seine persönliche Verfassung bestätigte auf allgemeiner Ebene die Lektüre von Spenglers Untergang des Abendlandes[112]. In der Geschichtsmorphologie des Nietzsche-Epigonen las Goebbels, daß alle Kulturen ewigen Daseinsgesetzen vom Werden und Vergehen unterworfen seien; er las vom seelenlosen, materialistischen Zeitalter der Industrie, der »Zivilisation«, die der Anfang vom Ende aller »Kultur« sei. Und er sah – wie ein Großteil seiner Generation – das schon vor dem Weltkrieg Geschriebene durch die deutsche Gegenwart bestätigt. Spengler durchkreuzte mit diesem Buch genau jene Vision von der »gerechten Welt«, der Goebbels’ Hoffnung noch immer gegolten hatte; denn gestaltend mußte angesichts dieser ewigen Gesetzmäßigkeiten vom Werden und Vergehen dann nichts anderes sein, als das Stärkere. Über die Wirkung dieser Lektüre schrieb er: »Pessimismus. Verzweiflung. Ich glaube an nichts mehr.«[113]
Ein Gefühl der Hoffnungs- und der Sinnlosigkeit, verstärkt noch durch eine Krankheit, muß auch aus Goebbels’ Briefen gesprochen haben, die er in jenen Tagen nach Hause schrieb. So riet ihm der Vater Anfang Dezember, er dürfe das Studieren nicht übertreiben, denn nicht alles lasse sich erzwingen. Seine Sorgen, was die Zukunft anginge, seien grundlos. »Mit Gottvertrauen in die Zukunft blicken, das ist das Beste. Seine Pflicht tun und unseren Herrgott (…) walten lassen, damit kommt man am weitesten.«[114] Die gutgemeinten Zeilen des Vaters und vor allem dessen Geldanweisung ermöglichten es Joseph Goebbels, das Weihnachtsfest bei den Seinen in Rheydt zu verbringen. Dies ließ ihn auch wieder etwas Zuversicht schöpfen. Im Frühjahr 1921 stürzte er sich in die Arbeit, galt es doch, das Studium zu einem Abschluß zu bringen und damit seine Eltern finanziell zu entlasten. Er strebte den Doktortitel an. Das Staatsexamen hätte ihm zwar den Zugang zum öffentlichen Dienst und damit auch in unsteten Zeiten eine gesicherte Existenz ermöglicht, nicht aber die Reputation des Titels, nach der er – gleichsam als Kompensation für seine körperlichen und sozialen Defizite – strebte. Während seines ganzen Lebens – ob als Berliner Gauleiter oder Reichsminister – sollte ihn das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit besonderen Wert darauf legen lassen, »der Doktor« zu sein. Er ließ sich stets als »Herr Doktor« anreden und selbst als Paraphe schrieb er »Dr. G.«
Schon während des Münchener Wintersemesters 1919/20 hatte er beabsichtigt, bei dem später berühmt gewordenen Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler Artur Kutscher, bei dem unter anderen auch Brecht hörte, mit einer Dissertation über die Pantomime zu promovieren[115]. Goebbels besuchte zwar Kutschers Sprechstunde, verwarf jedoch das Projekt, das offenbar eher aus der Laune seiner Münchener Theaterbesuche geboren worden war. Er beschloß daraufhin, bei dem seinerzeit bekannten Heidelberger Literaturgeschichtler und Goethe-Biographen Friedrich Gundolf zu promovieren, der Jude war. Der Professor, bei dem Goebbels im Sommersemester 1920 das vierstündige Kolleg über Die Begründer der romantischen Schule besucht hatte, war Meisterschüler Stefan Georges, von dem Gottfried Benn sagte, er sei »der Kern (gewesen), um den Spengler, Curtius, Troeltsch, Frobenius … kreisten«. Sie alle und freilich auch Gundolf waren von George geprägt, der glaubte, daß die bürgerliche Epoche ihrem Ende entgegengehe und an deren Stelle etwas Neues treten müsse.
Goebbels schwärmte von Gundolf, er sei ein »außerordentlich liebenswürdiger« und »zuvorkommender Mann«[116], besuchte des Professors Sprechstunde und bedrängte ihn mit dem Wunsche nach einem Dissertationsthema. Da dieser nach Ablehnung eines Rufes nach Berlin von der Verpflichtung entbunden worden war, Seminare zu halten und Prüfungen abzunehmen, verwies er Goebbels an seinen Kollegen, Geheimrat Professor Dr. Freiherr von Waldberg. Von diesem, einem Schüler des Germanisten Scherer, bekam der Student im Wintersemester 1920/21 die Aufgabe gestellt, über Wilhelm Schütz zu arbeiten, einen wenig bekannten Dramatiker der romantischen Schule aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Versehen mit umfangreicher Literatur, begann Joseph Goebbels im April 1921 im elterlichen Hause in Rheydt, wo man ihm sein altes »Büdchen« als Studierzimmer hergerichtet hatte, mit der Arbeit.
In gerade vier Monaten, den ganzen Sommer hindurch, schrieb er seine Dissertation über den Konvertiten der Romantik nieder[117]. In seinem Geleitwort zitierte Goebbels, einem Glaubensbekenntnis gleich, aus Schatoffs berühmter Rede aus Dostojewskijs Dämonen: »Vernunft und Wissen jedoch haben im Leben der Völker stets nur eine zweitrangige, eine untergeordnete Rolle gespielt – und das wird ewig so bleiben. Von einer ganz anderen Kraft werden die Völker gestaltet und auf ihrem Wege vorwärts getrieben, von einer befehlenden und zwingenden Kraft, deren Ursprung vielleicht unbekannt und unerklärlich bleibt, die aber nichtsdestoweniger vorhanden ist.« Diese »befehlende und zwingende Kraft« sah Goebbels sowohl in der Romantik als auch in der Gegenwart in besonderem Maße wirken. So schrieb er in der Einleitung: »Hier wie dort eine fast bis ins Krankhafte gesteigerte Geistigkeit, eine fast bis zur Siedehitze hinauf gesteigerte Glut und Sehnsucht nach etwas Höherem und Besserem, als das, was wir leben und erstreben. Ein Überschwang der Gefühle, nicht immer frei von einer gewissen Sentimentalität, ein Durcheinanderwogen von neuen Gedanken und Ideen, die vielfach gegeneinander ankämpfen, und doch denselben Elementen entsprungen zu sein scheinen; aber nirgendwo zeigt sich Erfüllung, Ausgleich, Harmonie, Ruhe. In beiden Fällen ernste, schwere Zeiten im Völkerleben, man kann beinahe von europäischen Krisen sprechen. Jeder fühlt das Drückende in der Luft, atmet mühsam in dieser Atmosphäre (…). Hier wie dort macht sich eine seichte Aufklärung breit, die in plattem, geistlosem Atheismus ihr Endziel und ihren Zweck findet. Aber dagegen kämpft die junge Generation der Gottsucher, der Mystiker, der Romantiker an. Sie sprechen von Idealismus und Liebe, verehren einen Gott, der vom Einzelnen mystisch erlebt wird, glauben an eine Welt, die gut ist.« Doch nirgendwo sei ein »starkes Genie, das aus dem Chaos der Zeit auf neuen Wogen zu neuen Zeiten führt«[118].
In dem Österreicher, der sich in München gerade die kleine Deutsche Arbeiterpartei unterworfen hatte, sah Goebbels das herbeigesehnte »starke Genie« freilich noch nicht. Das Wenige, das er den begeisterten Erzählungen seines in München studierenden ehemaligen Klassenkameraden Fritz Prang über den Biertischredner und seine Anhänger hatte entnehmen können, beeindruckte ihn offenbar ganz und gar nicht. In jenem Sommer 1921 faßte Joseph Goebbels eine »tiefe Zuneigung«[119] zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft, Maria Kamerbeek, die ihm seine Arbeit tippte, und als im Herbst sein Bruder Konrad Marias Verwandte Käthe heiratete, lieferte er für die Hochzeitszeitung einen Beitrag, mit dem er sich wohl über anwesende Hitler-Anhänger lustig machte. Er zeichnete ein auf einem Nachttopf sitzendes Kind, darunter schrieb er den Zweizeiler: »Seh ich nur ein Hakenkreuz, krieg ich schon zum Kacken Reiz.«[120]
Wenige Tage nach der Hochzeit reichte Joseph Goebbels die Arbeit, die er seinen Eltern gewidmet hatte, beim Dekan der Heidelberger Universität ein. Schon zuvor hatte er von Waldberg noch einige Auflagen erhalten, wollte diese jedoch nicht mehr ins fertiggeschriebene Manuskript einarbeiten. Auch mit der Erforschung der Quellen hatte es Goebbels nicht sonderlich genau genommen; wichtige Rezensionen seines Autors waren ihm entgangen. Wenngleich er bei der Interpretation der Schützschen Schriften ganz dem üblichen Schema folgte und mit seiner Geringschätzung der Aufklärung ganz der vorherrschenden Lehrmeinung entsprach, bewertete Professor von Waldberg das 215 Seiten lange, wohlformulierte, mit emotionalen Begriffen wie »Schicksal«, »Volk«, »Vaterlandsliebe«, »Enthusiasmus« und »Geistesgröße« gespickte Traktat mit einem »rite superato«, wie es auf der erhalten gebliebenen Urkunde der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität zu lesen ist[121].
Am 16. November 1921 erhielt Joseph Goebbels für den 18. desselben Monats die Vorladung zum Rigorosum, der mündlichen Prüfung. »Nach Heidelberg. (…) Besuch bei den Professoren. Im Zylinder. Richard (Flisges) steht mir bei. Die letzte Nacht durchgepaukt. Ein starker Mokka. Und dann ins Examen.«[122] Wenn auch nicht alles so günstig lief, wie er es sich vorgestellt hatte, bestand Goebbels die mündlichen Prüfungen bei den Professoren von Waldberg, Oncken, Paum und Neumann. Er bekam ein vorläufiges Doktordiplom ausgehändigt und war – wie er später stolz notierte – glücklich, als ihn Waldberg zuerst als »Herr Doktor« anredete. Nachdem er den Eltern telegraphiert hatte, durchzechte er die Nacht mit Richard Flisges in einem Heidelberger Gasthof. Zusammen machten sie sich am nächsten Vormittag auf den Weg nach Bonn, wo einige seiner Rheydter Freunde studierten. Zwei Tage lang feierte Goebbels mit ihnen in den Stammkneipen, in denen er als »Fuchs« und »Fuchsmajor« während seiner beiden Bonner Semester manch feucht-fröhliche Stunde erlebt hatte, ehe er weiter nach Rheydt fuhr. Der Empfang dort blieb ihm unvergeßlich: »Alle an der Bahn. Zu Hause geschmückt, viel Blumen.«[123]
In der Familie war man stolz auf den jüngsten Sohn. Was war es doch für ein Aufstieg, auf den Vater Goebbels Ende November 1921 zurückblicken konnte. Er selbst hatte als armseliger Hilfsarbeiter angefangen und sich durch zähen, zielstrebigen Fleiß bis zum Prokuristen hochgearbeitet. Jeden Pfennig hatten er und seine Frau zusammengehalten, um das bescheidene Häuschen in der Dahlener Straße abbezahlen und gleichzeitig den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen zu können. Für Konrad und Hans hatte es zur Mittleren Reife gelangt. Während Maria, das jüngste der vier Goebbels-Kinder, ins Gymnasium eintrat, hatte Joseph nun sogar ein Studium erfolgreich beendet und war mit dem Doktortitel heimgekehrt. Mit Stolz, Genugtuung und manchem Dankgebet nahmen es die Eltern auf, daß sich ihre Wünsche für das Sorgenkind nun doch mehr als erfüllt hatten. Meinte es die Natur mit Joseph Goebbels schon nicht so gut, so sollte er es wenigstens, was Ansehen und Auskommen anging, einmal besser haben. Daß dem jungen »Herrn Doktor« nunmehr Tür und Tor offenstünden und er bald auch im Berufsleben seinen Weg machen würde, daran zweifelten die Eltern nicht.
Auch Joseph Goebbels hatte der erfolgreiche Universitätsabschluß manches, was ihn so quälte, verdrängen lassen. Er genoß es, wenn die Verwandten dem frischgebackenen Doktor im elterlichen Hause die Aufwartung machten, wenn ihm die Nachbarn in der Dahlener Straße ihren Respekt zollten, indem sie beim Gruße dem Namen unüberhörbar den Titel beifügten, oder wenn er im Café Remges, wo er schon als Pennäler gesessen hatte, etwas zum Besten gab, und man ihm merklich aufmerksamer zuhörte als früher. Selbst seine Herzensnot infolge der Trennung von Anka Stalherm wurde durch die sich alsbald anbahnende Beziehung zu einer anderen Frau, der Rheydter Lehrerin Else Janke, verdrängt. Kurzum: Die düstere Weltsicht des Joseph Goebbels schien jetzt der Hoffnung auf eine lichtere Zukunft zu weichen.