1
Warum hatte Gott ihn so gemacht, daß die Menschen ihn verlachten und verspotteten?
(1897 – 1917)
Im Jahr 1897, als Paul Joseph Goebbels geboren wurde, stand das deutsche Kaiserreich in seiner Blüte. Seit seiner Gründung nach dem Sieg über Frankreich zweieinhalb Jahrzehnte zuvor war es mit atemberaubender Geschwindigkeit zur Großmacht aufgestiegen. Politisch wetteiferte es mit den großen Kolonialmächten um den »Platz an der Sonne«: »Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel«, hieß die von Militär und Wirtschaft dafür ausgegebene und von Teilen des Groß- und Kleinbürgertums begeistert getragene Losung, die Deutschland zur französisch-russischen Entente auch noch in Konflikt mit dem britischen Empire gebracht hatte. In Goebbels’ Geburtsjahr trug Kaiser Wilhelm II. diesem Weltmachtstreben in besonderem Maße Rechnung. Er beauftragte den Staatssekretär im Reichsmarineamt, Tirpitz, mit dem Aufbau einer großen deutschen Flotte.
Diese Flotte sollte nicht nur Ausdruck imperialer Größe sein, sondern auch Garant neuer überseeischer Rohstoffquellen und Absatzmärkte. Das Deutschland des ausgehenden Jahrhunderts konnte nämlich vor allem auf eine rasante wirtschaftliche Entwicklung zurückblicken. Schon lag das junge Reich beim Welthandel an zweiter Stelle hinter England; in der industriellen Gesamtproduktion überflügelte es bereits die bislang führende Wirtschaftsmacht. Da sich die Herrschaft über die Natur mit jedem Tage erweiterte, die Horizonte des Wissens jeden Tag von neuem überschritten wurden, schienen dem Wachstum keine Grenzen gesetzt zu sein.
Und doch haftete dieser schnellentfalteten Blüte etwas Endliches an, das sich in den Widersprüchen der Zeit ausdrückte: So spielte Wilhelm II. mit den Formen und Farben des Großen Kurfürsten und des großen Friedrich, während längst die organisierten Interessen die Politik in die Hand genommen hatten; und wenn auch das Wirtschafts-, Finanz- und Bildungsbürgertum die Signatur des Zeitalters bestimmte, seine intellektuellen Kritiker von Marx bis Nietzsche, von Wagner bis Freud sahen das Ende dieser bürgerlichen Welt schon gekommen.
Wenngleich sich die neue Zeit insbesondere in den Metropolen ankündigte, so war dafür doch überall im Reich der Boden bereitet, auch am Niederrhein, der Region, aus der die Goebbels stammten. In der beschaulichen, vom Katholizismus geprägten Welt mit ihren alten bäuerlich-handwerklichen Traditionen hatte die Moderne schon Fuß gefaßt; aus den seit langem ansässigen Webereien und Spinnereien hatte sich eine Textilindustrie entwickelt. Die Arbeit in den Zentren lockte die Menschen aus den Dörfern an, eröffnete sie doch Perspektiven auf ein besseres Leben – Hoffnungen, die dann für viele im quälend-grauen Alltag eines immer größer werdenden städtischen Proletariats zerstoben.
Einer, der seinem Dorf den Rücken gekehrt hatte, um in Rheydt, jenem aufstrebenden Industriestädtchen »in der Nähe von Düsseldorf und nicht allzuweit von Cöln«, sein Glück zu machen, war Joseph Goebbels’ Großvater Konrad[1]. Der Landwirt aus Gevelsdorf bei Jülich (er schrieb sich noch mit »ö«)[2], der die Schneiderstochter Gertrud Margarete Roßkamp aus Beckrath geheiratet hatte, blieb jedoch zeitlebens ein einfacher Arbeiter in einer der zahlreichen Fabriken. Als armer Leute Kind mußte sein am 14. April 1867 geborener Sohn Fritz[3] – Joseph Goebbels’ Vater – schon früh mitverdienen. Er begann als Laufbursche bei der Rheydter Dochtfabrik W. H. Lennartz. Da auch in diesem Betrieb Leitung und Verwaltung immer aufwendiger wurden, boten sich für fleißige Arbeiter Aufstiegschancen. Fritz Goebbels, von dem sein Sohn Joseph später schrieb, er habe sich seiner Aufgabe, »so klein sie auch sein mochte«, ganz hingegeben[4], nutzte sie. Er brachte es zum kleinen Angestellten, besorgte als sogenannter »Stehkragenproletarier« Schreibarbeiten, ehe er im Weltkrieg zum Buchhalter avancierte. In den 20er Jahren erteilte ihm der Inhaber der Firma Lennartz, die inzwischen »Vereinigte Dochtfabriken GmbH« hieß, sogar Prokura, womit die Familie des Betriebsleiters endgültig einen Platz im Kleinbürgertum erobert hatte[5].
Im Jahre 1892 hatte Fritz Goebbels Katharina Odenhausen geheiratet. Sie war in Übach auf der holländischen Seite des Grenzflusses Wurm geboren worden und hatte ihre Jugend in Rheindahlen verbracht. Ihr Vater, der Hufschmied Johann Michael Odenhausen, war – noch nicht 60jährig – an einem Herzversagen gestorben. Seine Witwe, Johanna Maria Katharina geb. Coervers, besorgte, um auch die jüngsten der sechs Kinder, die aus der Ehe hervorgegangen waren, durchzubringen, einem entfernt verwandten »Oberpfarrer«, den sie ehrfurchtsvoll den »Här« nannten, den Haushalt. Da jeder Esser, der im Pfarrhaus weniger am Tisch saß, ihre schwierigen Lebensumstände nur erleichtern konnte, hatte sich ihre Tochter Katharina schon früh als Magd auf einem Bauernhof verdingen müssen, bis sie der Arbeiter Fritz Goebbels ehelichte.
Die Goebbels lebten sehr einfach und bescheiden in ihrer kleinen Etagenwohnung in der Odenkirchener Straße 186, der heutigen Nr. 202[6]. Nach Konrad, Hans und Maria, die schon früh starb, wurde hier am 29. Oktober 1897 ihr dritter Sohn Paul Joseph geboren. Zusammen mit seinen jeweils um zwei Jahre älteren Brüdern sowie den beiden nach der Jahrhundertwende geborenen Schwestern Elisabeth (1901) und Maria (1910) wuchs er in einer intakten Familie auf. Der Vater, Fritz Goebbels, war ein pflichtbewußter Mann von »preußischer Geradheit«[7], der seine Kinder liebte, »wie er Lieben verstand. Seine Frau liebte er fast noch mehr. Deshalb hatte er immer das Bedürfnis, sie durch kleine Finessen und Schikanen zu quälen, wie es wohl Menschen tuen, die fühlen, daß sie mehr lieben als geliebt werden.«[8] So sehr Joseph und seine Geschwister die »spartanische Zucht«[9] ihres Vaters fürchteten, so sehr schätzten sie die Güte ihrer zu Schwermut neigenden, schlichten Mutter. Mit ihr verband Joseph eine besonders innige Beziehung, und auch sie war ihrem Viertgeborenen sehr zugetan. Vielleicht habe sie ausgerechnet ihn so »abgöttisch« geliebt, weil sie bei seiner Geburt beinahe ihr Leben verloren hätte, meinte er später; sie habe wohl die Liebe, »die sie ihrem Manne schuldig geblieben« sei, diesem Sohn geschenkt. Die Mutter, die er später ihrer »rätselhaften Einfachheit« wegen geradezu verklärte[10] war ihm die »beste und treueste Bewunderin«[11]. Sie blieb zeitlebens sein Bezugspunkt im Elternhaus, das ihm bis Mitte der 20er Jahre eine Art Fluchtburg sein sollte.
Die Goebbels waren ernste Menschen. In ihren Adern floß das »schwere Blut«, das oft mit der Monotonie der Landschaft am Niederrhein und dem tief verwurzelten Katholizismus in Zusammenhang gebracht wird. Für die einfachen Leute, also auch für die Goebbels, war dieser Katholizismus ein bildhafter Glaube, dem zufolge der über allem thronende Herrgott im Diesseits straft und belohnt, und, je öfter man ihm den Rosenkranz betet, sich desto wohlgesonnener zeigt. Da man seinen Zorn fürchtete, hatte man ihm und seinen schwarzgewandeten Dienern auf Erden untertänigsten Respekt zu zollen. Der tägliche Kirchgang, die Beichte und das gemeinsame Gebet daheim, bei dem die Mutter den knieenden Kindern mit geweihtem Wasser das Kreuzzeichen auf die Stirn machte, gehörten zum Leben der Goebbels wie das tägliche Brot, für das der Vater bei der Dochtfabrik Lennartz schuftete.
Etwa zwei Jahre nach Josephs Geburt sahen die Goebbels wieder allen Anlaß, dem Herrgott zu danken. Fritz Goebbels war zum Handlungsgehilfen aufgestiegen und verdiente nunmehr 2100 Mark im Jahr zuzüglich eines einmaligen Festbetrages von 250 Mark[12], so daß die Familie in eine komfortablere Wohnung in die Dahlener Straße umziehen konnte. Als zur Jahrhundertwende das vierte Kind, Elisabeth, zur Welt kam, wurde auch diese Wohnung zu eng. Sparsamkeit und Fleiß ermöglichten den Goebbels noch im gleichen Jahr den Kauf eines der für die Region typischen kleinen Reihenhäuser, ebenfalls an der Dahlener Straße, etwas näher in Richtung Stadtmitte. Dieses »unscheinbare« Häuschen mit der Nummer 140, der späteren 156, das die stürmischen Zeiten bis auf den heutigen Tag überdauert hat, betrachtete Joseph Goebbels als sein Vaterhaus, denn hier »erwachte« er »eigentlich zum Leben«[13].
Dieses Leben ließ sich für Joseph schwierig an. Als Kleinkind wäre er beinahe an einer Lungenentzündung »mit grausigen Fieberphantasien« gestorben: Er kam durch, blieb aber ein »schwächliches Kerlchen«. Kurz nach der Jahrhundertwende erkrankte Joseph an einer Knochenmarkentzündung[14], einem »der richtunggebenden Ereignisse« seiner Kindheit, wie er selbst meinte[15]. Am rechten Bein, schrieb er in seinen Erinnerungsblättern, habe sich nach einem ausgiebigen Spaziergang im Kreise der Familie wieder sein »altes Fußleiden« unter größten Schmerzen bemerkbar gemacht. Zwei Jahre lang bemühten sich Hausarzt und Masseur, die Lähmungen am rechten Bein zu beheben, die schon überwunden zu sein schienen. Doch dann mußten sie den verzweifelten Eltern eröffnen, daß Josephs Fuß »fürs Leben gelähmt« sei, im Wachstum zurückbleiben und sich allmählich zum Klumpfuß entwickeln werde. Fritz und Katharina Goebbels wollten sich damit nicht abfinden und sprachen mit Joseph sogar bei Bonner Universitätsprofessoren vor, was für einen kleinen Angestellten zu Beginn des Jahrhunderts weiß Gott keine Selbstverständlichkeit war. Doch auch den Kapazitäten blieb nur ein »Achselzucken«. Später, als er schon eine Zeitlang mit einer unansehnlichen orthopädischen Apparatur, die den gelähmten Fuß geradehalten und stützen sollte, durchs Leben gehumpelt war, operierten die Chirurgen des Maria-Hilf-Krankenhauses in Mönchengladbach den inzwischen zehn Jahre alten Jungen[16]. Der Eingriff mißlang, weshalb die Hoffnung, dem Knaben würde der Klumpfuß erspart bleiben, endgültig aufgegeben werden mußte.
Joseph Goebbels’ Schicksal wurde von seinen Eltern, besonders aber von der Mutter, als Heimsuchung empfunden, die auf der Familie lastete, verbanden sich doch im katholisch geprägten, einfachen Denken der Leute damit düstere Assoziationen. Immer wieder nahm Katharina Goebbels daher »ihr Jüppchen« an der Hand und führte ihn in die Rheydter Marienkirche, wo sie, neben ihm knieend, den Herrgott leise anflehte, er möge dem Kind Kraft geben und das Übel von ihm und der Familie wenden. Aus Angst vor dem Gerede der Nachbarschaft behauptete sie sogar, Josephs Leiden sei nicht auf eine Krankheit, sondern auf einen Unfall zurückzuführen. Sie habe nicht bemerkt, daß das Kleinkind mit dem Fuß in einer Bank hängengeblieben sei, als sie es herausgehoben habe[17]. Dennoch hieß es über den kleinen Joseph schon bald nach seiner Erkrankung, er sei »aus der Art geschlagen«[18].
Der Junge selbst konnte wohl die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen seinem Gebrechen und den Dingen des Glaubens nicht verstehen. Dies, vor allem aber die verletzenden, mitleidigen Blicke der Erwachsenen und die Hänseleien der Spielgefährten ließen ihm den körperlichen Makel als Abnormität der Person erscheinen, die alles überschattete[19]. So sah er sich bald als minderwertig an, mied die Straße und verkroch sich immer häufiger in seinem engen Zimmer im ersten Stockwerk des kleinen Hauses in der Dahlener Straße. In der Rückschau auf seine Jugend schrieb er als 22-Jähriger, er habe immer gedacht, die Kameraden schämten sich seiner, »weil er nicht mehr so laufen und springen könnte wie sie, und nun wurde ihm wohl manchmal seine Einsamkeit zur Qual. (…) der Gedanke, daß die andern ihn nicht bei ihren Spielen mochten, daß sein Alleinsein nicht sein eigener Wille nur sei, der machte ihn einsam. Und nicht nur einsam machte er ihn, er verbitterte ihn auch. Wenn er so sah, wie die anderen liefen und tollten und sprangen, dann murrte er gegen seinen Gott, der ihm (…) das angetan hatte, dann haßte er die andern, daß sie nicht auch waren wie er, dann lachte er über seine Mutter, daß sie solch einen Krüppel noch gern haben mochte.«[20]
An der Not des schmächtigen, linkisch wirkenden Jungen mit dem überproportional großen Kopf und dem verkümmernden Fuß änderte sich nichts, als er ab Ostern 1904 die Volksschule in unmittelbarer Nähe des Elternhauses besuchte. Die Kameraden mochten ihn nicht, weil er verschlossen war und sich absonderte; die Lehrer, weil er ein eigensinniger, »frühreifer Knabe« war, dessen Fleiß zudem zu wünschen übrigließ. Wenn er wieder einmal seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte oder wenn er sie einfach nur provozierte, schlugen sie ihn mitunter. Wohl auch deshalb verband er mit seiner Elementarschulzeit, vor allem aber mit seinen Lehrern, vorwiegend schlechte Erinnerungen. Den einen bezeichnete er als »Schubiak und Lump, der uns Kinder mißhandelte«, den anderen als »Lügenfritze«, der »allerlei dummes Zeug« ausgepackt habe. Nur ein Lehrer, der »mit rechter Begeisterung erzählen konnte«[21], war ihm lieb, verstand er es doch, die Phantasie des Jungen anzuregen.
Als er infolge der Fußoperation drei Wochen im Krankenhaus verbringen mußte, las er von morgens bis abends Märchenbücher, die er von einem Klassenkameraden erhalten hatte. »Diese Bücher weckten erst meine Freude am Lesen. Von da ab verschlang ich alles Gedruckte einschließlich Zeitungen, auch die Politik, ohne das Mindeste davon zu verstehen.«[22] Ausführlich beschäftigte er sich mit der veralteten zweibändigen Ausgabe eines Konversationslexikons, dem Kleinen Meyer[23], das sein Vater einmal erstanden hatte. Bald begriff er, daß er auf dem Gebiet des Wissens seine körperliche Benachteiligung auszugleichen imstande war. Das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit trieb ihn zu ständiger Überkompensation. Er habe es nicht ertragen können, daß einer »seine Sachen besser wußte als er, denn er hielt die anderen alle für schlecht genug, ihn auch geistig aus ihrer Gemeinschaft ausschließen zu wollen. Und dieser Gedanke gab ihm Fleiß und Energie.« In seiner Klasse war er schließlich einer der Besten[24].
Fritz Goebbels und seine Frau, von dem Willen beseelt, daß ihre Kinder es einmal besser haben sollten als sie, registrierten Josephs Lerneifer mit Genugtuung. Sie taten alles, um dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Und das fiel ihnen nicht leicht, denn der soziale Aufstieg der Familie war mit Aufwendungen verbunden, die das Mehrverdiente sogleich wieder verschlangen. Als Angestellter mußte Fritz Goebbels einen steifen weißen Kragen und auch alltags einen steifen Hut tragen. Die Familie war es ihrer sozialen Stellung nunmehr schuldig, eine »gute Stube« vorweisen zu können, die mit Plüschsesseln, Sofa, Vertiko, zwei goldgerahmten Bildern von Großmutter und Großvater und einer stattlichen Anzahl von Nippessachen ausgestattet war – und die freilich nur bei ganz besonderen Anlässen benutzt wurde[25].
Obwohl Fritz Goebbels jeden ausgegebenen Pfennig in einem blauen Kontoheftchen verbuchte[26], um am Ende des Monats zu überprüfen, wo vielleicht der ein oder andere Groschen eingespart werden könnte, mußten die Goebbels durch Heimarbeit dazuverdienen. »Wir machten Lampendochte, eine sehr mühselige Arbeit, bei der Augen und Rücken bald zu schmerzen begannen. Auch Vater beteiligte sich daran, wenn er abends aus dem Büro nach Hause kam und die Zeitung gelesen hatte. Diese Arbeit brachte natürlich nur Pfennige ein. Aber jeder Pfennig wurde gebraucht, um die nächsthöhere Sprosse auf der Stufenleiter des sozialen Aufstiegs zu erklimmen«[27], wobei das Hauptaugenmerk der Eltern Goebbels der guten Ausbildung ihrer Kinder galt.
Bei Joseph, dem intellektuell Begabtesten, verstand es sich von selbst, daß er wie seine beiden Brüder Konrad und Hans die städtische Oberrealschule mit Reformgymnasium in der Rheydter Augustastraße besuchen würde. Noch bevor es Ostern 1908 soweit war[28], hatte Fritz Goebbels eine Änderung des letzten Volksschulzeugnisses bewirkt: Die Zahl der wegen seines Gebrechens versäumten Tage innerhalb des vergangenen Schul-Tertials wurde verringert und alle Noten von »Gut« auf »Sehr gut« angehoben.
Joseph Goebbels freute sich, die höhere Schule besuchen zu dürfen, vor allem deshalb, »weil er jetzt über seine Kameraden, die ihn verlachten und verspotteten, triumphieren zu können glaubte«[29]. Wenn seine neuen Mitschüler ihn, wie er sich selbst einredete, wegen seines Gebrechens schmähten, dann sollten sie ihn ihrerseits doch auch »fürchten lernen«; durch seine schulischen Leistungen wollte er alle übertreffen, und dafür arbeitete er vom ersten Schultag an verbissen. Seine Mitschüler mußten ihn schon bald um Hilfe bitten. Er ließ sie seine Überlegenheit spüren und »freute (…) sich in seinem Inneren, denn er sah, daß der Weg, den er ging, der richtige war«[30].
Keine Anstrengung war Joseph Goebbels zu schwer. Überall tat er sich hervor, wurde Bester, ob in Latein, Geographie, Deutsch oder Mathematik[31]. Auch in den musischen Disziplinen, Kunsterziehung und Musik, entwickelte er einen geradezu krankhaften Ehrgeiz, der durch die gutgemeinte Förderung des Vaters noch verstärkt wurde. Im Jahr 1909 wurde für den gelehrigen Sohn sogar ein Klavier gekauft. Mehr als 30 Jahre später erzählte Joseph Goebbels seinem Adjutanten, wie er zum Vater gerufen worden sei und dieser ihm seine Absicht eröffnet habe. »Wir gingen zusammen, es uns anzusehen. Es sollte 300 Mark kosten und war natürlich gebraucht und schon ziemlich klapprig.« Aber es war zugleich der »Inbegriff von Bildung und Wohlstand, Wahrzeichen einer gehobenen Lebensführung, Symbol des Bürgertums«[32], an dessen Schwelle die Goebbels am Ende des ersten Dezenniums des Jahrhunderts standen. An diesem Klavier übte Joseph Goebbels unter der strengen Aufsicht des Vaters nach einem schon reichlich zerfledderten Exemplar der Dammschen Klavierschule.
Eine besondere Begabung entwickelte Joseph Goebbels für das Theaterspielen. Schon als Kind hatte er daheim »Schauertragödien« verfaßt. Bei den alljährlichen Schulaufführungen bestach er jetzt durch sein schauspielerisches Talent. Das effektvolle Sichmitteilen, Gesten und Gebärden waren seine Stärke. Aber er setzte sich nicht nur auf der Laienbühne, sondern auch im Alltag in Szene; eingebildet und arrogant, war er häufig gar nicht mehr er selbst, denn alles war auf Wirkung abgestellt[33]. Mitunter log und schwindelte er, und dies belastete ihn dann schwer. Erleichterung verschaffte er seinem Gewissen, wenn er sein Gebetbuch nahm, in die Kirche ging und ihm der Priester die Beichte abnahm[34].
Entsprechend wichtig waren ihm auch die Religionsstunden, die Kaplan Johannes Mollen gab, peinigte ihn doch immer wieder die Frage: »Warum hatte Gott ihn so gemacht, daß die Menschen ihn verlachten und verspotteten? Warum durfte er nicht wie die anderen sich und das Leben lieben? Warum mußte er hassen, wo er lieben wollte und lieben mußte?« Er haderte daher mit seinem Gott. »Oft glaubte er gar nicht, daß dieser überhaupt da sei.«[35] Und doch setzte er seine ganze Hoffnung in ihn, denn nur Gott ließ ihn hoffen, auch er fände einmal Anerkennung und Liebe.
Anfang April 1910 ging Mollens gelehrigster Schüler mit seinen Klassenkameraden, denen er kein guter Kamerad war, bei dem verehrten Kaplan zur Ersten heiligen Kommunion. Auf dem Faltblättchen, das Maria mit dem Kind zeigte, heißt es aus dem Hohelied 3.4: »Ich habe gefunden, den meine Seele liebt.«[36] Diesem Spruch wollte der 13 Jahre alte Pennäler, in der Hoffnung, ihm widerführe dann Gerechtigkeit, fortan sein ganzes Leben widmen. Er träumte davon, dereinst als »Hochwürden« die heilige Messe zu zelebrieren oder der Rheydter Fronleichnamsprozession im prächtigen Ornat voranzuschreiten. Die Eltern bestärkten den Jungen in dem Streben, Theologie zu studieren, nicht allein aus Überzeugung und Prestigegründen, sondern auch, weil das Theologiestudium noch am ehesten in Betracht kam, da für dessen Kosten die Kirche aufkam.
Ebenso prägten den Knaben die zeittypischen Auffassungen, wie sie etwa der Geschichtsunterricht vermittelte. »Da saßen wir und ballten die Fäuste und hingen mit glänzenden Augen an seinen Lippen«[37], schrieb Goebbels später in verklärender Rückschau über Oberlehrer Bartels, in dessen Geschichtsstunden die Eroberungszüge des großen Alexander durchgenommen wurden. Es war die Geschichte von den Heldentaten großer Männer, die große Zeiten machten, und der Makedone versinnbildlichte die Größe, die sich des Kaisers Deutschland soeben anschickte zu erlangen. Der entscheidende Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71, für den der Name »Sedan« zum Symbol geworden war, stand für Preußen. Deutschlands Aufstieg. Historiker wie Heinrich von Treitschke, Max Lenz oder Erich Marks, ebenso wie die Geschichtslehrer, sahen nunmehr in der Rivalität mit England die Fortsetzung dieser Entwicklung, die Deutschland alsbald zur Weltmacht führen sollte. Sie begründeten diese Haltung, wie es der Zeit entsprach, mit den Lehren Darwins, nach denen die politische Expansion die Bestätigung der eigenen Vitalität und zugleich eine nationale Mission war, die der Ausbreitung der höher bewerteten eigenen Kultur zu dienen hatte.
Wenngleich Joseph Goebbels glaubte, sein Herrgott habe ihn gestraft, weil er ihn als Krüppel in einer Welt leben ließ, die dem Typus des Kraftmenschen huldigte, waren doch Vaterland und Glaube Konstanten seines Denkens. Zu seiner Hoffnung auf Gott traten Träumereien, die ihn der Wirklichkeit entrückten. Bücher, denen er den größten Teil seiner Zeit widmete[38], eröffneten sie ihm. Oft versetzte er sich dabei in die Rolle des Helden, der er im Leben nicht sein konnte. »Dann empfand er es nicht mehr so bitter, daß er nicht mehr wie die anderen herumtollen konnte, dann freute er sich, daß es auch noch für ihn, den Krüppel, eine Welt des Genießens gäbe.«[39]
Er begann diese Empfindungen zu kultivieren, griff selbst zur Feder und schrieb 1912 sein erstes Gedicht, dessen Anlaß der Tod des Unternehmersohns Lennartz war, der während einer Operation gestorben war. Joseph Goebbels reimte darüber, von der Fiktion beseelt, er habe einen »wahren Freund« verloren: »Hier steh’ ich an der Totenbahre, / Schau deine kalten Glieder an, / Du warst der Freund mir, ja, der wahre, / Den ich im Leben liebgewann. / Du mußtest jetzt schon von mir scheiden, / Ließest das Leben, das dir winkt, / Ließest die Welt mit ihren Freuden, / Ließest die Hoffnung, die hier blinkt.«[40]
Neben solch »typische Pennälerklage«, wie er später selbstkritisch anmerkte, traten bald ähnlich schwülstige, dabei durchaus dem Zeitgeist entsprechende Gedichte – etwa ein Frühlingsgedicht[41]–, in denen er seine Empfindungen zum Ausdruck brachte. Mitunter meinte er jetzt, er gehöre durch sein Dichtertum zu den Ausnahmemenschen, die Gott mit einer besonderen Gabe ausgestattet habe: »Wohl weil Gott ihn an seinem Körper gezeichnet hatte.«[42]
Die Fertigkeit, die er allmählich im Umgang mit der Sprache erlangte, sein Interesse für Literatur und Lyrik förderte sein Deutschlehrer Voss. Ihm gelang es, die Mauer des Mißtrauens, die Joseph Goebbels um sich aufgerichtet hatte, zu durchbrechen. Auch Voss hatte in seiner Jugend »zu kämpfen gehabt«. Wohl deshalb – so spekulierte Goebbels später – habe er ihn zu verstehen versucht. Der Lehrer lud den behinderten Jungen zu sich nach Hause ein, empfahl ihm Bücher und unterhielt sich mit ihm. »Manchmal konnte es den Anschein haben, als wenn der Lehrer seinen sonderbaren Schüler ob seiner Eigenheiten bewunderte«, mutmaßte Goebbels über den »ersten Freund in seinem Leben«[43], der in seiner Schulzeit den »größten Einfluß« auf ihn ausübte[44].
Voss half auch, als Joseph Goebbels’ Vater für das Schulgeld und die anderen Ausbildungskosten seines Sohnes nicht mehr aufkommen konnte. Er vermittelte ihm Kinder wohlhabender Eltern als Nachhilfeschüler. »Sein Lehrer hatte für ihn geredet, und so wurde er überall sehr lieb und freundlich aufgenommen.«[45] Es entsprach dem ausgeprägten Bedürfnis des Pubertierenden nach Liebe und Anerkennung, daß er sogleich die ihn umhegende und verwöhnende Mutter eines der ihm anvertrauten Nachhilfeschüler anhimmelte. Zum ersten Male begann er jetzt auf sein Äußeres zu achten, wurde etwas weniger verschlossen, ja mitunter sogar ausgelassen. »Und daß niemand davon wußte, selbst der Gegenstand seiner Liebe nicht, das machte ihn doppelt so glücklich (…). Wenn er wach in seinem Bette lag und seine Geschwister schliefen, dann machte er Verse, trug sie sich laut vor und meinte, sie hörte ihm zu und lobte ihn. Das war seine höchste Freude.«[46]
Bestimmend für seine Jugendjahre blieb dennoch die Kluft zwischen der bitteren Wirklichkeit und der fiktiven Existenz, in die er auswich. Mitunter wurde ihm dies allzu schroff deutlich gemacht, so, als er die der Mutter seines Nachhilfeschülers zugeeigneten Gedichte unter seinem Pult liegengelassen hatte und diese am darauffolgenden Tag vor versammelter Klasse unter allerlei Anspielungen auf sein Gebrechen rezitiert wurden[47]. Nicht minder katastrophal muß der Junge dann auch seine ersten Versuche, sich dem anderen Geschlecht zu nähern, empfunden haben. Ziel seines Strebens war dabei ausgerechnet der Schwarm seines Bruders, eine gewisse Maria Liffers, die wie er die Oberrealschule besuchte. Als er ihr eindeutige Anträge machte und obendrein Liebesbriefe an sie fälschte, wurde die Sache ruchbar, und es kam zum Eklat. Daheim, wo die Eltern des Mädchens vorstellig geworden waren, ging Bruder Hans mit dem Rasiermesser auf ihn los; an der Oberrealschule wurde ihm ein städtisches Stipendium verweigert, mit dem Fritz Goebbels sicher gerechnet hatte. Obwohl es dem Vater nicht leichtfiel, für die weitere Ausbildung seines Sohnes aufzukommen, sollte dieser trotz seiner schweren Verfehlung, anders als seine beiden älteren Brüder, auch die drei Klassen des der Oberrealschule angeschlossenen Reformgymnasiums bis zum Abitur besuchen, der Voraussetzung für das Theologiestudium.
Nach den Osterferien 1914 wurde Joseph Goebbels in die Obersekunda versetzt. Von dem »schweren Alpdruck«, der – wie Hitler zehn Jahre später in Landsberger Festungshaft schreiben sollte – »brütend wie fiebrige Tropenglut« damals auf den Menschen gelegen habe[48], spürte der halbwüchsige Pennäler wenig. Sicher aber registrierte auch er die Diskussionen darüber, ob der Krieg wohl käme, der die innenpolitischen Spannungen hinwegfegen würde. Denn längst paßten die neuen mechanisierten Arbeitsweisen und die sich mit ihnen verändernden sozialen Strukturen nicht mehr zur Ordnung dieses Kaiserreiches. Unüberbrückbare Gegensätze und rasante Veränderungen prägten die Epoche, der aus der Sicht vieler Zeitgenossen etwas allzu Rational-Nüchternes, »Seelenloses« und damit Angsteinflößendes anhaftete, das düster über der Epoche zu lasten schien. Wie eine Erlösung von all dem empfanden deshalb die meisten den heraufziehenden Krieg.
Als am 28. Juni in Sarajewo die Schüsse auf den österreichischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, fielen und bald darauf mit den Mobilmachungen ein unaufhaltsamer, tödlicher Mechanismus in Gang gesetzt wurde, als die Menschen, wie überall im Reich, auch in dem kleinen Industriestädtchen am Niederrhein begeistert dem Krieg entgegentaumelten, stimmte Joseph Goebbels in den vaterländischen Chor ein, der des Kaisers Truppen bereits über die elysischen Felder in Frankreichs Hauptstadt paradieren sah; dies schien die Erfüllung dessen, was er in seinen Geschichtsstunden gelernt, was der Kaplan von der Kanzel gepredigt hatte und was auch vom Kleinbürgertum, dem er entstammte, begeistert propagiert wurde.
Das Gemeinschaftserlebnis jener Tage verfehlte auf den jungen Goebbels seine Wirkung nicht. Denn für den 16jährigen barg der Krieg die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Von Kindheit an hatte er sich gewünscht, »dazuzugehören«, nun spürte er endlich das Geborgenheit vermittelnde Gefühl der Solidarität, wenn er nach der Mobilmachung Anfang August in der Menge stand und den im Gleichschritt Vereinten zujubelte; niemand achtete dabei auf sein Gebrechen. Es war ihm dann wie während des Gottesdienstes, nur, daß er nicht in der Kirche kniete, sondern am Straßenrand stand und anstelle des »Lobet den Herrn« das »Deutschland, Deutschland über alles« mitanstimmte.
Gerne wäre er bei denen gewesen, die wie sein älterer Bruder Hans, sein Schulkamerad Fritz Prang oder ein gewisser Richard Flisges, den er soeben kennengelernt hatte, sogleich für das Vaterland ins Felde ziehen durften, denn »der Soldat« – so schrieb er in einem Aufsatz –, »der für Weib und Kind, für Herd und Haus, für Heimat und Vaterland hinauszieht, um sein frisches junges Leben dahinzugeben, leistet dem Vaterland den vornehmsten und ehrenvollsten Dienst«[49]. Aber das von ihm schon so oft verfluchte Gebrechen degradierte ihn einmal mehr zum Außenseiter, woran auch das »Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst«[50] nichts zu ändern vermochte, das er sich noch Ostern hatte ausstellen lassen. Vielleicht um nicht ständig mit diesem Defizit konfrontiert zu sein, interessierte sich Joseph Goebbels, der während des ersten Kriegswinters einige Wochen eine Art Ersatzdienst bei der Reichsbank tat, nur wenig für den detaillierten Verlauf der Kampfhandlungen. Er begnügte sich statt dessen mit allgemeinen Informationen, ob die Dinge an den Fronten gut oder weniger gut ständen, denn schlecht konnten sie ja ohnehin nicht stehen.
Da nicht allein das tapfere Heer »zum endgültigen Sieg« führe, wie er in einem anderen Schulaufsatz schrieb[51], sah er nunmehr seinen Beitrag darin, in der »tüchtigen Schar« der nicht minder entbehrlichen »Nichtkämpfer« mitzuwirken. Er achtete genau, wie es die vielerorts plakatierten Weisungen des Generalkommandos für die Zivilbevölkerung verlangten, auf Verdächtige an der Heimatfront oder entwickelte besondere Geschäftigkeit, als der Direktor der Schule den Auftrag erteilte, die »Weihnachtsliebesgaben« der Stadt Rheydt für ihre Söhne im Felde zu verpacken und mit Adressen zu versehen[52]. So hatte sich auch Joseph Goebbels eine Aufgabe geschaffen, die ihm in diesen Tagen das Gefühl gab, dazuzugehören, wenn er schon nicht »vorne« dabeisein konnte.
Er öffnete sich nun auch seinen Klassenkameraden mehr und gewann in Hubert Hompesch und Willy Zilles Freunde. Als sie einrückten, schrieb er ihnen regelmäßig die Neuigkeiten aus der Heimat, insbesondere von der Schule, wo sich die oberen Klassen zunehmend zu leeren begannen. Sie wiederum berichteten ihm, »dem Urwaldbewohner (…) im fernen Nordwesten«[53], begeistert von ihren Erlebnissen beim Militär. Tausendmal besser gefalle ihm sein jetziges Leben als vorher die Schulzeit, schrieb der von Joseph Goebbels beneidete Füsilier Willy Zilles[54], der wie alle »Feldgrauen« davon träumte, einmal mit dem Eisernen Kreuze als Held in die Heimat zurückzukehren.
Die nationale Euphorie, die besonders die junge Generation erfaßt hatte, kaschierte auch die Herkunft des Joseph Goebbels, die in Friedenszeiten dem fast erwachsenen Sohn des »Stehkragenproletariers« an der gymnasialen Oberstufe unter den Kindern von Kaufleuten, Beamten und Ärzten sicherlich mehr zu schaffen gemacht hätte als nun im Kriege. Nicht zuletzt auch deshalb konnte in dem Jugendlichen die Vision einer »wahren Volksgemeinschaft« reifen, zu der die einfachen Leute, die »Lüt« – zu denen er sich selbst kraft seiner hervorragenden schulischen Leistungen freilich nicht mehr zählte –, genauso gehörten wie die Reichen. »Wohl niemals« – so schrieb er im Juli 1915 an den inzwischen in einem schlesischen Lazarett liegenden Willy Zilles – werde er in den Ruf aus dem Horaz einstimmen können »Odi profanum vulgus« (Ich hasse das niedere Volk). Statt dessen wolle er sich von einem Wort des Schriftstellers Wilhelm Raabe leiten lassen, der das Volk verstanden habe wie kein zweiter. Dessen »Hab’ acht auf die Gassen!« verstehe er als Hinwendung zum niederen Volk, ohne dabei aber »unsere höhere Aufgabe«, das »Streben nach oben« zu vergessen, das anklinge in Raabes Worten »Sieh’ auf zu den Sternen!«[55]
Raabe war ihm, anders als Gottfried Keller oder Theodor Storm, die er neben den Klassikern sehr schätzte[56], vor allem deshalb ein »leuchtendes Vorbild«[57], weil der Dichter in dem zitierten alten Ulex aus dem Roman Die Leute aus dem Walde Goebbels’ Meinung zufolge das »Urbild des deutschen Idealisten und Träumers«[58] geschaffen habe. Da sich Goebbels sowohl im Helden als auch in dessen Schöpfer wiederzuerkennen glaubte, schrieb er über letzteren und seine Vision einer deutschen Volksgemeinschaft, Raabe habe stets hinaufgeschaut in seinem Leben: »so hat er die jahrelange Zurücksetzung ertragen können, ohne seinen Humor, seinen Lebensmut zu verlieren, so hat er rastlos weitergearbeitet an seinem Lebenswerk, gewürdigt nur von wenigen Freunden, verkannt fast von ganz Deutschland, aber überzeugt von seinem hohen Beruf. So hat er weiter gestrebt, wenn nicht für seine Mitmenschen, so doch für eine spätere Generation. Sind wir diese Generation?«[59]
Da der Krieg Joseph Goebbels aus dem kleinen Haus in der Dahlener Straße eine bessere Welt oder jedenfalls einen Teil dessen, was ihm bislang versagt geblieben war, zu bescheren schien, empfand er ihn letztlich als Ausdruck göttlichen Wirkens. Die flammenden Aufsätze, die er in den ersten Kriegsmonaten während der Deutschstunden bei Voss verfaßte[60], spiegeln dies wider. Da zitierte er die alten Weisen der Befreiungskriege vom »Gott, der Eisen wachsen ließ«, beschwor die Mythen längst vergangener Zeiten, als die Vorfahren derer, die bei Langemarck zum Sturmangriff antraten, »mit Gesang und Jubel in die Schlacht zogen«. Der anonyme Tod im Felde mutete dem Daheimgebliebenen »schön und ehrenvoll« an, wurde zum sakralen Akt, zum Opfer auf dem »Altar des Vaterlandes« verklärt, zum Opfer, wie es einst Christus auf Golgatha für die Menschheit gebracht hatte. Religion und Patriotismus schienen in der Weltsicht des Joseph Goebbels zu verschmelzen.
Unter seinen Lehrern glaubte er – mit Ausnahme von Voss und Bartels, der soeben mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war – eine »allgemeine Drückebergerei« feststellen zu müssen, und ausgerechnet Kaplan Mollen teilte die vaterländische Hochstimmung nicht. Schon vor dem August 1914 hatte er sich pessimistisch gegeben und seinen Schülern die Schrecken des noch Bevorstehenden vor Augen geführt[61]. Da er weiterhin wider den Zeitgeist sprach, nahm Joseph Goebbels ihm gegenüber eine zunehmend skeptischere Haltung ein, ohne jedoch dessen Autorität dadurch grundsätzlich in Frage zu stellen.
Bald mußte der Pennäler jedoch erfahren, daß Mollens Mahnungen durchaus angebracht gewesen waren; an der Oberrealschule in der Augustastraße war immer wieder der »Heldentod« eines »Ehemaligen« für Kaiser und Vaterland zu beklagen. Angesichts der Opfer stand man im Hause Goebbels der Einberufung Konrads zum 1. August 1915[62] nicht mehr mit dem uneingeschränkten Hochgefühl des Vorjahres gegenüber, sondern mit eher gemischten Empfindungen. Einerseits war man stolz, daß nun auch er in des Kaisers Rock für Deutschland ins Felde ziehen durfte, andererseits schauderte man vor dem, was ihm dann möglicherweise drohte.
Zusätzlichen Kummer bereitete der Familie im Herbst 1915 eine Krankheit Elisabeths. Zu Allerseelen wurde aus dem Kummer Schmerz. Die Schwindsucht, wie man die Lungentuberkulose damals zu nennen pflegte, hatte das Mädchen hinweggerafft. Joseph und Fritz Goebbels beteten an ihrem Bett das Vaterunser[63], und Oberlehrer Voss, der vorübergehend nach Aachen zum Militärdienst eingezogen worden war, schrieb seinem begabten Zögling, daß es wohl in diesen Tagen keinen gebe, »der nicht ein Liebes verliert (…), und so müssen wir uns, der eine an dem anderen trösten und den Kopf hochhalten. Denn noch sind wir nicht am Ende, und wir wissen nicht, was wir noch durchzumachen haben werden, bis endlich die große, glückliche Stunde des Friedens schlägt.«[64]
Zum Schmerz über den Tod seiner jüngeren Schwester, den er wiederum in Verse faßte, sollte im Frühsommer des darauffolgenden Jahres die quälende Sorge um das Leben seines auf dem westlichen Kriegsschauplatz kämpfenden Bruders Hans treten, von dem man wochenlang kein Lebenszeichen erhalten hatte[65]. Hinzu kam der ohnehin triste, durch den sich verlängernden Krieg vielfach belastete Alltag. Auf dem »Pennal«, wo nur noch wenige in den oberen Klassen saßen und ihm die Ansprechpartner fehlten, kreisten die Themenstellungen der Schulaufsätze nur noch um die Frage »Warum müssen, wollen und werden wir siegen?«. Der zurückgekehrte Voss ließ jetzt auch schon einmal über die Kraft der Hoffnung schreiben, von der Joseph Goebbels meinte, sie sei es, »die uns diese gewaltige, von Blut und Tränen reiche Zeit ertragen (läßt)«, um dann aus dem Uhlandschen Werk zu zitieren: »Oh, armes Herz, vergiß die Qual, Bald muß sich alles, alles wenden.«[66]
Obwohl die Goebbels in der Dahlener Straße die beruhigende Nachricht erhielten, daß Hans sich unversehrt in französischer Gefangenschaft befinde, war bei Joseph von der anfänglichen Euphorie wenig übriggeblieben. Die Meldungen über deutsche Siege, die jedoch niemals zum Sieg führten, hatten auch ihm klargemacht, daß noch ein langer und schwerer Weg zurückzulegen war, ehe die Entscheidung fallen und die an sie geknüpften Erwartungen und Hoffnungen Wirklichkeit werden würden. Die Briefe, die er jetzt von seinen Kameraden aus dem Felde erhielt, schienen ihm dies zu bestätigen. Die allzu pathetischen Floskeln waren nüchternen Schilderungen des entbehrungsreichen Lebens gewichen, das nach wie vor von einer strengen Pflichtauffassung gegenüber dem Vaterland geprägt war, wenn ihm zum Beispiel sein Klassenkamerad, der Unteroffizier Hompesch, schrieb, er wolle lieber »bis zum Letzten« aushalten, ehe »der Feind ins innere Land dringt, ehe unsere Familien zu Hause, unser Hab und Gut in der Heimat in Gefahr kommt«[67].
Allmählich entfremdeten sich die Briefschreiber einander, lebten sie doch in zu verschiedenen Welten. Ein Gutteil dazu beigetragen hatte auch die sich seit Ostern 1916 – zur Zeit der »Hölle von Verdun« – zwischen Joseph Goebbels und einem Mädchen aus dem benachbarten Rheindahlen anbahnende erste Liebesbeziehung[68]. Lene Krage, wie sie hieß, sei zwar »nicht klug«, aber sehr schön für ihre Jahre gewesen[69]. Als sie sich erstmals auf der Rheydter Gartenstraße näherkamen, sei er, wie er später schrieb, der »glücklichste Mensch auf Erden« gewesen, konnte er es doch kaum fassen, daß er, »der arme Krüppel (…) das schönste Mädchen geküßt (hatte)«. Lene wiederum bewunderte ihren »Herzensbub« seiner Intelligenz wegen: »Wie klein ich im Gegensatz zu Dir bin. (…) Ja anbetungswürdig scheinst Du mir. Ich könnte in eine Vergötterung ausarten«, schrieb sie in einem ihrer vielen Briefe[70]. Er jedoch fragte sich schon bald, weshalb er ein Mädchen lieben konnte, das er für dumm hielt, und kam zu dem Schluß, daß »dieser Liebe, so harmlos sie auch war, etwas Unreines anhafte«[71]. Sein »dunkles«, wie er meinte, nur der Triebhaftigkeit verschriebenes Sehnen, ja Sexualität überhaupt, hielt er für verwerflich, war sie doch für ihn die Versuchung des Bösen schlechthin. Er »kämpfte« deshalb mit »dem Geschlecht« und glaubte schließlich, krank zu sein, weil er in diesem Kampf zu unterliegen drohte. Als er sich mit Lene Krage nachts im Rheydter Kaiserpark einschließen ließ und sie zum »liebenden Weib« wurde, hätte er ihn endgültig verloren und mit ihm sein reines Gewissen.
Im März des Hungerjahres 1917 bestand Joseph Goebbels das Abitur. Sein Reifezeugnis konnte sich, wie schon die vorangegangenen Zeugnisse, sehen lassen. »Sehr gut« in Religion, Deutsch und Latein; »Gut« in Griechisch, Französisch, Geschichte, Erdkunde und sogar in Physik und Mathematik, Fächern, für die er nach eigenem Bekunden »keine Begabung« hatte. Vom »Mündlichen« war er damit befreit, und weil er den besten Deutschaufsatz geschrieben hatte, durfte er die Abgangsrede seines Jahrgangs halten – formvollendet und über den ohnehin schon von allzu pathetischer Vaterlandsliebe geprägten Geist seiner Zeit noch hinausschießend. In dem, was der schmächtige Joseph Goebbels an jenem 21. März[72] hinter dem Katheder in der Aula dem Lehrerkollegium, der Schulleitung und den Pennälern vortrug, fanden sich all jene Vorstellungen wieder, die das Weltbild seiner Generation, das er ganz besonders verinnerlicht hatte, bestimmten. Mit aufgeregter Stimme rief er den Zuhörern zu, daß sie »die Glieder jenes großen Deutschland sind, auf das eine ganze Welt mit Schrecken und Bewunderung sieht«. Da beschwor er die »globale Mission« des Volkes »der Dichter und Denker«, das jetzt beweisen müsse, »daß es mehr ist als dieses, daß es die Berechtigung in sich trägt, die politische und geistige Führerin der Welt zu sein«. Martialisch sprach er von Bismarck, dem Mann »so hart wie Stahl und Eisen«, von »unserem Kaiser«, der »unbefangen gegen Gott und die Welt« das Schwert gezogen habe. Am Ende gipfelte dann alles in göttlicher Erhöhung: »Und Du Deutschland, starkes Vaterland, Du heiliges Land unserer Väter, steh fest, fest in Not und Tod. Du hast Deine Heldenkraft gezeigt und wirst auch aus dem Endkampf siegreich hervorgehen. (…) Uns ist nicht bange um Dich. Wir trauen auf den ewigen Gott, der will, daß das Recht siegreich sei, in dessen Hand die Zukunft liegt. (…) Gott segne das Vaterland.«[73]
Nach diesem Vortrag soll ihm sein Schulleiter auf die Schulter geklopft und gesagt haben, er sei zum Redner leider nicht geboren[74]. Doch Redner beabsichtigte Joseph Goebbels nicht zu werden, und auch von der Kanzel wollte er nicht mehr predigen. Zur Enttäuschung der Eltern hatte er längst seinen Plan verworfen, Theologie zu studieren. Schon 1915 hatte ihm Voss geraten, unter anderem Deutsch zu studieren und gleichsam als Ergänzung dazu Niederländisch zu lernen. Wohl mit Blick auf zukünftige Annexionen hatte Voss damals die Auffassung vertreten, daß sein Schüler auf diesem Wege nach dem Kriege »in ganz kurzer Zeit« Staatsexamen machen könne. Obwohl Joseph Goebbels durch einige Ferienaufenthalte in der Nähe Aachens, wo seine Mutter aufgewachsen war, bereits gute Fortschritte beim Erlernen der niederländischen Sprache gemacht hatte[75], erwog er vorübergehend ein Medizinstudium, das ihm Voss dann allerdings wieder ausredete. Auf dessen Drängen hin entschied er sich doch für Altphilologie, Germanistik und Geschichte.
Die »langersehnte Stunde«, »die uns frei macht«, war nun da. Doch so wie sie Goebbels in der Abiturrede zelebriert hatte, sah sie gewiß nicht aus. Weder lag die Welt »im jungen, frischen Morgenrot des ersten Maientages« vor ihm, noch war ein Grund gegeben, »trunkenen Auges« in »alle Schönheit und alles Glück der Erde« hineinzuschauen und »in all die Herrlichkeit« hinauszujubeln: »O, Welt, du schöne Welt du, man sieht dich vor Blüten kaum!« Hinter dem Motto, das Goebbels und die anderen Abiturienten in »trotzigem Optimismus« dem Festakt gegeben hatten[76], verbargen sich aus der Not geborene, überschäumende Träume – Sehnsüchte nach drei auch für die Zivilbevölkerung entbehrungsreichen Kriegsjahren.
Wenn in dieser schwierigen Zeit Fritz Goebbels für seinen Sohn dennoch an etwas anderes als an ein Theologiestudium zu denken wagte, dann auch deshalb, weil das Familienoberhaupt in diesem Jahr 1917 zum Buchhalter der Dochtfabrik Lennartz aufgestiegen war und ein paar Mark mehr verdiente. Mit der bescheidenen Unterstützung des Vaters und dem aus Nachhilfestunden Ersparten werde er schon durchkommen, hoffte Joseph Goebbels, bis sich nach dem erwarteten Sieg Deutschlands im Weltkrieg die Dinge auch für ihn maßgeblich verbessern würden.