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Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes?
(1924 – 1926)
Seit seiner Heimkehr im Oktober 1923 lebte Goebbels zurückgezogen im elterlichen Haus in der Dahlener Straße. Er ging den Menschen aus dem Wege, haderte mit seinem Los, das er mit dem der Nation gleichsetzte, und flüchtete sich dabei immer mehr in seinen Glauben an eine »gerechte Welt«, die ebenso kommen müsse wie deren Bahnbrecher. Im Juni hatte er sich einen »Florian Geyer unserer Zeit« herbeigesehnt, »der der deutschen Zwietracht den Dolch mitten ins Herz hineinstößt«[1], und auch in seinem Michael hatte er soeben nach einer Persönlichkeit gesucht, die einen Weg weisen könnte[2]. Jetzt – zu Beginn des Jahres 1924 – begann Goebbels diese Rolle einem Mann zuzuordnen, einer realen Person, Adolf Hitler.
Das auslösende Moment hierfür war der Münchener Hochverratsprozeß vom Februar, während dessen der gescheiterte November-Putschist, ermutigt durch die überaus wohlwollende Haltung des Gerichtshofs, die Anklagebank als Rednertribüne benutzte. Er verteidigte den Putsch als eine patriotische Tat, die mit dem »schändlichen Verrat« der linken Revolutionäre von 1918 nichts gemein habe. Mit jedem Prozeßtag gewann Hitler so neue Anhänger, und als die Richter Ende des Monats ihr überaus mildes Urteil – fünf Jahre Festungshaft – verkündeten, gehörten die Sympathien in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit dem Hauptdarsteller Hitler.
Solche Sympathien hegte auch Joseph Goebbels, auch wenn er nicht viel vom Anführer der Münchner Putschisten erwartete. Am 13. März 1924 notierte er: »Ich beschäftige mich mit Hitler und der Nationalsozialistischen Bewegung.« Zwei Tage später ergänzt er, daß letztere »mit allen schwierigen Problemen des Abendlandes« verquickt sei und er »mit Ernst drangehen« wolle. Am 20. März schien dann auch Goebbels allmählich in den Bann Hitlers zu geraten, wenn er festhielt: »Hitler ist ein Idealist, der Begeisterung hat. Ein Mann, der dem deutschen Volk einen neuen Glauben bringt. Ich lese seine Reden und lasse mich zu den Sternen tragen[3]«. Hitler habe ihm »aus der Seele« gesprochen, schrieb Goebbels zwei Jahre später, denn er habe mehr zum Ausdruck gebracht »als eigene Qual und eigenen Kampf. Da nannten Sie die Not einer ganzen Generation, die in zerfahrener Sehnsucht nach Männern und Aufgaben sucht. (…) Was Sie da sagten, das ist der Katechismus neuen politischen Glaubens in der Verzweiflung einer zusammenbrechenden, entgötterten Welt. Sie verstummten nicht. Ihnen gab ein Gott zu sagen, was wir leiden. Sie faßten unsere Qual in erlösende Worte, formten Sätze der Zuversicht auf das kommende Wunder.«[4]
Im Frühjahr 1924 war Goebbels jedenfalls neugierig geworden, was sich hinter diesem Mann und seiner Partei verbarg. Er schloß sich deshalb hie und da seinem früheren Schulkameraden Fritz Prang an. Der Unternehmersohn, der sich etwas um den arbeitslosen Habenichts kümmerte, half, die Sache der N.S.D.A.P. in der Illegalität voranzutreiben. Das nach dem Hitler-Putsch im Rheinland durchgesetzte Parteiverbot hatte die Nationalsozialisten zur Improvisation gezwungen. So bildeten sie mit der seit Februar 1924 wieder zugelassenen Deutschvölkischen Freiheitspartei (D.V.Fr.P.) unter Hintanstellung nicht weiter ausgetragener ideologischer Differenzen für die Reichstagswahl am 4. Mai 1924 die Vereinigte Deutschvölkische Freiheitspartei und N.S.D.A.P.[5], die im Rheinland als Völkisch-Sozialer Block antrat. Grundlage dieses Wahlbündnisses, in dem die Deutschvölkische Freiheitspartei als eigene Organisation fortbestand, war ein am 16. März 1924 verabschiedetes Kompromißprogramm aus 59 Punkten mit strikt antisemitischer Ausrichtung und dem Aufruf zum Kampf gegen Parlamentarismus, »Mammonismus« und »Marxismus«. Am 8. April 1924 fand in Wuppertal-Elberfeld, fünf Tage später im Ortsteil Barmen mit dem Schlageter-Kampfgefährten, dem Eisenbahnbeamten Erich Koch, als Redner eine konstituierende Versammlung des »Völkisch-Sozialen Blocks« statt, der bei den Wahlen mit 6,5 Prozent im Reichsdurchschnitt mehr als einen Achtungserfolg erzielte[6]. In Rheydt errangen die Völkisch-Sozialen immerhin 738 Stimmen und konnten, da mit der Wahl des Reichstages die der Stadtverordneten verbunden war, einen Vertreter ins Rathaus entsenden[7].
An den Diskussionsabenden des Blocks nahm nunmehr hin und wieder auch Goebbels teil, so im Juni 1924, als er Prang zu einem Treffen der D.V.Fr.P. nach Wuppertal-Elberfeld begleitete. Enttäuscht hielt er in seinem Tagebuch fest: »Das sind also die Führer der völkischen Bewegung im besetzten Gebiet. Ihr Juden und ihr Herren Franzosen und Belgier, ihr braucht keine Angst zu haben. Vor denen seid ihr sicher. Ich habe selten eine Versammlung mitgemacht, in der soviel geschwafelt wurde.«[8] Wenn er sich während der Veranstaltung mit Kritik zurückhielt, dann deshalb, weil der Elberfelder Stadtverordnete und Parteiführer Friedrich Wiegershaus ein Kampfblättchen mit dem Titel Völkische Freiheit herausgab, in dem Goebbels einige Artikel unterbringen wollte. Auf Prangs Vermittlung willigte Wiegershaus ein, hatte er doch Schwierigkeiten, die unregelmäßig erscheinende Zeitung zu füllen. So kehrte Goebbels aus Elberfeld mit dem Auftrag zurück, fünf Artikel zu schreiben, ohne daß ihm freilich dafür ein Honorar in Aussicht gestellt worden wäre. Was er darüber hinaus von Elberfeld an diesem Tage mitnahm, war die Gewißheit, wohin er gehen werde, nämlich nicht zu den »Alten«, die konkrete Politik im Sinne des kaiserlichen Deutschlands besser machen wollten, sondern zu denen, die zunächst gar keine konstruktive Politik betreiben wollten, sondern erst einmal »tabula rasa«, also »zu den Jungen, die tatsächlich den neuen Menschen wollen. (…) Ich muß viel eher nach München, denn nach Berlin.«[9]
Nur wenige Kilometer von München entfernt, in Landsberger Festungshaft, saß nämlich der Mann, der fortan immer stärker in Goebbels’ Bewußtsein Platz greifen sollte. Seiner Rolle haftete etwas von einer Erscheinung an, hatte er doch die politische Bühne so schnell wieder verlassen, wie er sie vorher betreten hatte. Gerade weil er Goebbels fremd war, weil man nichts von ihm aus der Haft hörte, weil über ihn weniger gesprochen als gerätselt wurde, weil vieles verklärt wurde, begann Goebbels seine Sehnsucht nach der rettenden Idee und dem Mann der Tat auf jenen Hitler zu projizieren. »Wenn Hitler doch frei wäre«, artikulierte er sie am 30. Juni 1924 in seinem Tagebuch und fuhr wenige Zeilen weiter fort, er müsse bald einen völkischen Führer kennenlernen, »damit ich mir wieder etwas neuen Mut und neues Selbstvertrauen hole. So geht’s nimmer.«[10]
Einen völkischen Führer – wenn auch nicht Hitler – sollte Goebbels schon bald kennenlernen. Prang kündigte ihm nämlich Anfang August an, ihn zum Treffen der völkischen Gruppen und Parteien aus dem ganzen Reich nach Weimar mitzunehmen. Schon Mitte Juli waren dort die Führer der D.V.Fr.P. mit denen der Nachfolge-Organisationen der seit dem Hitler-Putsch verbotenen N.S.D.A.P. zusammengekommen, um die endgültige Vereinigung zu beschließen. Das Vorhaben scheiterte, es sollte aber auf dem für den 17. und 18. August in Weimar anberaumten Treffen ein neuerlicher Versuch unternommen werden.
Als der von Goebbels herbeigesehnte Tag gekommen war, mußte Prang dem Reisefertigen auf dem Bahnsteig eröffnen, daß er das Fahrgeld für diesen wider Erwarten doch noch nicht habe beschaffen können. Während der Freund alleine in Richtung Weimar abfuhr, half sich der Enttäuschte darüber hinweg, indem er sich einredete, daß ein Parteikongreß ohnehin »etwas Schreckliches« sei[11]. Als das Fahrgeld dann doch noch eintraf, änderte er seine Meinung ebenso schnell wieder und folgte Prang begeistert nach Weimar. Es sollte eines der wegweisenden Erlebnisse werden, führte es den jungen Goebbels, der so lange vergeblich gehofft hatte, als freier Schriftsteller oder als unabhängiger Journalist sein Leben fristen zu können, doch nun endgültig in die Politik und damit zu Hitler.
Erstmals in seinem Leben reiste Goebbels in das Herz des Reiches, dessen mächtiger Propagandaminister er in nicht einmal neun Jahren sein sollte. Da er für kurze Zeit sein graues, armseliges Dasein hinter sich gelassen hatte, stieg dann auch für ihn, als er sich nach stundenlanger Zugfahrt dem Ziele näherte, ein »prachtvoller Tag auf«: »Bebra. Kaffee. Weiter. Eisenach. Die Wartburg versteckt sich im Nebel. Weiter. An Straßen und Dörfern vorbei … Zug saust in einen Kessel hinein. Eine rote Stadt leuchtet: Weimar« – ein »Platz der gesegneten Kultur einer schöneren Zeit«[12]. Sogleich eilte er durch die Straßen in Richtung Nationaltheater, wo die überaus bescheidene Tagung stattfand. Er denke mit jedem Schritt an Goethe. »Weimar ist Goethe«, schwärmte er; als er schließlich angekommen war, sei ihm das Herz aufgegangen unter der »gesegneten Jugend«, die mit ihm kämpfe.
Im Nationaltheater, wo er Prang traf, stockte ihm kurz darauf das Blut in den Adern, sah er doch den »großen Mann«, der im Kriege über das Schicksal von Millionen geboten hatte: General Erich Ludendorff. Von Geschichte fühlte sich Goebbels durch dessen Gegenwart umgeben. Bald habe auch er in der Gruppe »junger deutscher Idealisten« dem »großen Manne« des Weltkrieges »Auge in Auge« und in strammer Haltung gegenübergestanden. »Er hört alle an. (…) Auch ich spreche. Lege ihm die Verhältnisse dar. Er hört zu und nickt mir Beifall. Gibt mir dann Recht. Er mustert mich einmal scharf. Auf Herz und Nieren. Er scheint nicht unzufrieden.« So war der für Anerkennung empfängliche Goebbels sogleich voller Bewunderung für den alten Feldherrn. »Viele skeptische Einwände« habe er bei ihm beseitigt und ihm den »festen, letzten Glauben« gegeben. Den »geborenen Führer« der deutschen Jugend sah Goebbels in dem fast 60-Jährigen gleichwohl nicht. Wenn überhaupt, dann konnte dies in Goebbels’ Augen nur der auf der Festung Landsberg Inhaftierte sein.
In Weimar begegneten Goebbels auch andere Männer der »Bewegung«, wie zum Beispiel der Reichstagsabgeordnete und Gründer der D.V.Fr.P., Albert von Graefe. Er sei ein »waschechter Völkischer«, ein geborener Aristokrat im schwarzen Diplomatenrock. Da waren auch Gregor Strasser, »der gemütliche Apotheker aus Bayern. Groß, etwas plump, mit tiefer Hofbräuhausbaßstimme«, einer der wichtigsten Männer der N.S.D.A.P., sowie deren Mitbegründer Gottfried Feder, der »Korpsstudent«, der »der finanzpolitische Völkische« sei. Goebbels lernte außerdem Julius Streicher kennen, der das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer ins Leben gerufen hatte. Er sei »der Fanatiker mit den eingekniffenen Lippen. Berserker. Vielleicht etwas pathologisch. Aber er ist gut so. Auch die haben wir nötig. (…) Hitler soll ja auch etwas davon weg haben.« Schließlich waren da auch noch die »hohen Herren« aus dem Rheinland, Koch und Ernst Graf zu Reventlow, der »gescheite, sarkastische Graf und Weltpolitiker der Bewegung«, der – glaubt man Zeitungsberichten – 1923 mit führenden Vertretern der K.P.D. über ein Zusammengehen beider Parteien verhandelt haben soll[13].
Neben »Hitlers Gardisten« standen in Weimar die Männer aus dem besetzten Gebiet im Mittelpunkt. »Man feiert uns Rheinländer wie Helden. Frontkämpfer von der Westmark«, schrieb Goebbels, der sich dadurch auf besondere Weise hervorgehoben sah. Es war ihm wohl wie damals im Jahre 1914 zumute, war er doch in diesem Kreis endlich nicht mehr der eigenbrödlerische Außenseiter. Hier in Weimar konnte er mit seinen Anschauungen, denen gerade noch Ludendorff beigepflichtet hatte, glänzen. Unter der »Elite der Ehrlichen und der Treuen«, zu der die Anwesenden für ihn sogleich avancierten, fühlte er sich geborgen. »Wie in einem großen Haus mit vielen Kindern. (…) Das tut so wohl und gibt eine große Sicherheit und Befriedigung. Gleichsam eine große Verbrüderung. Im Geiste des Volkes. (…) Kämpfer in einer Front. Unter dem Zeichen des Hakenkreuzes.« So lief es ihm »eiskalt den Rücken herunter«, als er während der Schlußveranstaltung vor dem Nationaltheater stand, wo die Männer aus allen Teilen des Reiches mit den Hakenkreuzfahnen an den Führern vorbeimarschierten, wo die Lieder der »Bewegung« erklangen und markige Abschiedsreden gehalten wurden, die von »brausenden Heilrufen« unterbrochen wurden, wenn Hitlers Name fiel. Nachdem sich die Völkischen und Nationalsozialisten zur überaus brüchigen, ideologisch zerstrittenen Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands (N.S.F.B.) unter der Reichsführerschaft Graefes, Ludendorffs und Gregor Strassers vereinigt hatten, schrieb Goebbels, gleichsam als Fazit seines Weimarer Aufenthalts: »Die völkische Frage verknüpft sich in mir mit allen Fragen des Geistes und der Religion. Ich fange an völkisch zu denken. Das hat nichts mehr mit Politik zu tun. Das ist Weltanschauung.«