3

Fort mit dem Zweifel, ich will stark sein und glauben

(1921 – 1923)

Dr. Joseph Goebbels, der nun der kleinbürgerlichen Enge seines Elternhauses zu entfliehen suchte, hatte sich bislang noch nicht ernsthaft mit seiner beruflichen Zukunft auseinandergesetzt. Schriftsteller oder freier Journalist wollte er werden. Daß ihn eine solche Tätigkeit kaum würde ernähren können, spielte bei seinen Überlegungen kaum eine Rolle, glichen sie doch ohnehin eher Träumereien. Vorübergehend sah er sich auch mit Richard Flisges nach Indien auswandern. Schon in Freiburg hatten sich beide mit indischer Philosophie beschäftigt und von einem Leben unter südlicher Sonne geschwärmt. Nachdem Joseph Goebbels nach Rheydt zurückgekehrt war, holte ihn der Alltag wieder ein – und der indische Traum war passé. Daran änderte auch Richard Flisges’ Aufforderung nichts, Indien doch noch im Auge zu behalten, »denn schlechter als hier in unserem Vaterland kann es nirgendwo sein«[1]. Tatsächlich bot das ausgehende Jahr 1921 denkbar ungünstige Bedingungen für Berufsanfänger. Arbeitslosigkeit und Not als Folgen des verlorenen Weltkrieges lasteten immer noch schwer auf Deutschland. Zwar hatten die Siegermächte mit dem Londoner Vertrag soeben ihre in Versailles dem Reich diktierten Reparationsforderungen verringert; die jetzt geforderten 132 Milliarden Goldmark ließen einen wirtschaftlichen Aufschwung jedoch ebenfalls nicht erwarten.

Das Glück, das Richard Flisges »für jeden Fall« seinem Freunde wünschte, schien Goebbels zu Beginn des Jahres 1922 dennoch wohlgesonnen zu sein. Er, der sich darin gefiel, abgehoben über Gott und die Welt, vor allem aber über die gegenwärtige Zeit zu plaudern, erfuhr eine öffentliche Bestätigung. »Viel Aufsehen«[2], wie er später stolz festhielt, erregten nämlich sechs Aufsätze von ihm, die die Westdeutsche Landeszeitung zwischen Januar und März in »zwangloser Folge« veröffentlichte. Die Schriftleitung der Zeitung teilte zwar keineswegs seine darin vertretenen Ansichten, sah sie aber dennoch – wie es im Vorspann zum zweiten Artikel zu lesen war – »als ernsten Versuch« an, »das rätselvolle Sphinxgesicht unserer dunklen Zeit zu deuten«[3].

Einmal mehr stellte Goebbels darin fest: Schuld an der »politischen, geistigen und moralischen Verwirrung unserer Tage« sei der Materialismus. Unter dem Einfluß der Spengler-Lektüre schrieb Goebbels in dem Vom Geiste unserer Zeit betitelten Aufsatz, der Materialismus sei »eine Folge, vielleicht schon eine Schlußerscheinung eines gewaltigen Prozesses (…), dessen Wurzeln in den Jahrzehnten nach 1870, in den Gründerjahren der ›deutschen Saturiertheit‹ zu suchen sind«. Dem stellte Goebbels – gleichsam als Allheilmittel – in Anlehnung an Dostojewkij die Besinnung auf eine »deutsche Seele« entgegen, die Fiktion einer irgendwo im Mystischen wurzelnden Kraft, die die Geschicke des Volkes lenke. Damit verband er die Vorstellung eines »organischen Volkskörpers«, den er – so schien es ihm in der Rückschau – im Zusammenstehen des deutschen Volkes zu Beginn des Weltkrieges bereits erfahren zu haben glaubte. Von sich selbst behauptete er, »mein Deutschland aus dem tiefsten Grunde meines Herzens« zu lieben[4], und in sakraler Verklärung des Politischen folgern zu können: »Vaterlandsliebe ist Gottesdienst«, und »Deutsch sein heißt heute still sein und warten und im Verborgenen an sich selbst arbeiten«[5].

In seinem Aufsatz Vom Sinn unserer Zeit[6] wandte sich Joseph Goebbels gegen jene »braven Deutschen, die da meinen, das Heil müßte uns von außen kommen«. Er forderte sie auf, alles »Wesensfremde« abzustoßen und die »eigene Seele« zu neuem Leben zu erwecken. Den Leser bestärkte er schließlich darin, es sich angesichts des »Systems« von Weimar und der dem Reich aufgebürdeten schmachvollen Gebietsabtretungen und Reparationsforderungen nicht »aufreden« zu lassen, »daß die deutsche Seele tot sei. Sie ist nur krank, gewiß, schwerkrank, denn man hat sie mißhandelt, geknechtet und getreten.«

Joseph Goebbels verstand nicht die Teilkapitulationen Weimars, die auch nach dem Friedensschluß erzwungen wurden, so daß ihm das »System« von vornherein mit Schuld beladen schien. Da er sich mit Spenglers pessimistischen Prognosen nicht abfinden wollte[7], gab er sich davon überzeugt, wie er in seinem Aufsatz Vom wahren Deutschtum schrieb[8], daß auch diesmal, wie immer in Notzeiten, die Reaktion der »deutschen Seele gegen das uns Wesensfremde« nicht ausbleiben werde. Im Frühjahr 1922 glaubte er bereits zu ahnen, wo die »deutsche Seele« erstarken werde. Sicherlich nicht in der verderbten Reichshauptstadt. »Nein, nein, aus Berlin kann uns das Heil nicht kommen. (…) Manchmal scheint es, als wenn im Süden eine neue Sonne aufgehen wollte.« Mit der »neuen Sonne« meinte Goebbels die sich im Schmelztiegel München tummelnden völkischen Gruppierungen, unter denen Hitlers N.S.D.A.P. zunehmend von sich reden machte. Hatte er sich noch vor wenigen Monaten über die Nationalsozialisten lustig gemacht, so begann er sie nun als Ausdruck der rebellierenden »deutschen Seele« zu begreifen, weshalb er ihr Erstarken interessiert verfolgte.

Zuversichtlich konnte Goebbels bald auch noch aus anderem Grund sein. Durch die Fürsprache eines Bekannten, der ihm schon bei der Veröffentlichung seiner sechs Aufsätze zur Seite gestanden hatte, wurde er im Herbst als Volontär stundenweise beim Feuilleton der Westdeutschen Landeszeitung angestellt. Die damit verbundenen Hoffnungen auf eine spätere Vollanstellung machte jedoch schon nach wenigen Wochen ein Brief des leitenden Redakteurs Müller zunichte. Weil eine holländische Morgenzeitung mitgedruckt werden müsse und ihr Redakteur unterzubringen sei, müsse er ihn leider bitten, seine Stundenarbeit abzubrechen[9].

Seinem »Gastspiel« bei der Westdeutschen Landeszeitung[10], in dessen Verlauf er ein paar belanglose mit »Dr. G.« gezeichnete Kurzberichte veröffentlichte, folgten wieder Tage selbstquälerischen Müßiggangs. Ende Oktober wurden sie durch seinen Vortrag in der Aula der Rheydter Handels- und Gewerbeschule unterbrochen. Goebbels sprach über die deutsche Literatur der Gegenwart[11]. Wenngleich die Eintrittskarten, die noch vor gar nicht so langer Zeit dreißig Pfennig gekostet hatten, infolge der Inflation nunmehr schon 30 Mark kosteten[12], war die Veranstaltung, während der er sich vor allem über Spengler ausließ, gut besucht und brachte so dem Redner neben den Erträgen aus seinen Nachhilfestunden, die er hie und da gab, ein paar zusätzliche Geldscheine. Überdies half der Vortrag seinem strapazierten Selbstwertgefühl. Stolz erinnerte er sich, daß der Abend ein ganzer Erfolg und seine Freundin Else Janke »selig« gewesen sei.

Mit Else Janke, der Lehrerin von der Elementarschule gleich neben dem elterlichen Hause in der Dahlener Straße, verband Goebbels inzwischen eine feste Beziehung. Nachdem sie ihm auf einem Fest der Katholischen Kaufmännischen Vereinigung vorgestellt worden war, hatte er zielstrebig um ihre Gunst geworben. Es hatte langer Spaziergänge und Aussprachen bedurft, ehe die junge Frau, die mit beiden Füßen auf der Erde stand, dem »lieben Herrn Doktor« zu erliegen begann, der sein Inneres einmal mehr hinter charmantem und abgehobenem Geplauder zu verbergen wußte. Auf der Nordsee-Insel Baltrum – dort hatte sie im Spätsommer ihren Urlaub verbracht, und Joseph Goebbels hatte sie für ein paar Tage besuchen können – wurden sie schließlich ein Paar. Else Janke schwärmte in den Briefen, die sie ihm nach seiner Abreise schrieb, von der »wundersamen Zeit, die uns das Baltrum beschieden«[13], und auch er war angetan.

Doch es war nicht die Liebe, die ihn mit Anka Stalherm verbunden hatte. Das Verhältnis war eher das zweier Kameraden. Goebbels blieb dabei nicht verborgen, daß sein Klumpfuß sie trotz aller Sympathie und Bewunderung für seine Intelligenz daran zweifeln ließ, ob er auch der richtige Vater ihrer Kinder sein könnte. Lange Zeit achtete sie wohl deshalb sorgsam darauf, ihr Verhältnis zu ihm vor der Rheydter Nachbarschaft zu verbergen[14]. Nicht selten kam es deshalb zu Auseinandersetzungen, die Goebbels besonders schmerzen mußten, da sie ihm sein Gebrechen wieder allzu deutlich bewußt machten. Derlei Konflikte wurden dann meist mit pathetischen Liebesschwüren überwunden, die letztlich der Einsicht entsprangen, gemeinsam der Unbill des Lebens besser gewachsen zu sein.

Schließlich war es »Elslein«, wie er sie nannte, die sich für ihren Verlobten auf die Suche nach einer Beschäftigung machte. Immer wieder zog sie Joseph Goebbels, der einmal euphorische Pläne über seine Zukunft als Schriftsteller entwarf und dann wieder in tiefe Depression verfiel, in den nüchternen Alltag zurück. »Wir müssen wohl etwas bescheidener werden und uns dahin bringen, daß wir drum doch nicht gleich alles über Bord werfen.«[15] Solchem Wirklichkeitssinn war es wohl zu verdanken, daß sie schließlich erfolgreich war. Ein entfernter Verwandter stellte für ihren »Verlobten« einen Posten bei einer Kölner Filiale der Dresdner Bank in Aussicht. Goebbels war davon ganz und gar nicht begeistert, und es bedurfte – als sich im Dezember 1922 die Angelegenheit konkretisierte – drängender Worte Else Jankes: »Wir wollen uns freuen, daß es so gekommen ist, und ich glaube auch, daß es das Richtigste ist – wenn es Dir nicht allzu schwer wird – Du nimmst die Stelle an.«[16] Eine klärende Aussprache im Elternhaus des Unwilligen folgte. Da sich Goebbels gegenüber Else Janke und seiner Familie, auf deren Kosten er im wesentlichen lebte, letztlich verpflichtet sah, jeder sich bietenden Möglichkeit des Broterwerbs nachzugehen, versprach er – wie er es zum Weihnachtsfest den Seinen noch einmal versicherte –, bei der Bank anzufangen, wenngleich er noch einige kurzatmige und auch vergebliche Versuche unternahm, zuvor »eine anständige Stellung« zu finden.

Der Bank-Posten kam für Goebbels einem Verrat an seinen diffusen »Idealen« gleich, in die er sich immer mehr hineinsteigerte. Er, der an die Rückbesinnung auf »die deutsche Seele« glaubte und keine Gelegenheit ausgelassen hatte, dies unter seinen Rheydter Bekannten schon fast messianisch zu verkünden, mußte nun in einen »Tempel des Materialismus« ziehen. Entsprechend deprimiert schrieb der verhinderte Schriftsteller Weihnachten 1922 an Else Janke: »Die Welt ist ein Narrenhaus geworden, und die Besten selbst schicken sich jetzt an, mitzutanzen in dem wüsten Tanz um das goldene Kalb. Und das Schlimmste dabei ist, sie gestehen es nicht ein, suchen es zu bemänteln oder gar zu verteidigen, die neue Zeit fordere andere Menschen, man müsse sich den Verhältnissen anpassen. Ja, die werden in diesem Jahr mit Begeisterung und Freude von Christus, dem Friedensbringer singen. Ich kann es nicht, denn ich sehe keinen Frieden, weder in der Welt noch in mir. Draußen ist’s öd und leer, und in meinem Inneren da sind die festlichen Altäre umgestürzt, und die Bilder der Freude zerschlagen. Weltlichkeit beginnt einzuziehen in die Wohnungen, wo sonst nur der Geist und die Liebe thronte: man nennt das der neuen Zeit Rechnung tragen. Großes Schicksal, wie kann ich vor Dir bestehen? Ich kann nicht mehr Dein treuer Diener sein. Alle haben Dich verlassen, die Letzten und Besten haben Deinen Fahnen abgeschworen und sind in die Welt gegangen. Nun ist die Reihe an mir.«[17]

Am 2. Januar 1923 nahm Goebbels seine Arbeit bei der Filiale der Dresdner Bank auf. Jeden Morgen um halb sechs fuhr er mit dem Zug von Rheydt nach Köln. Abends gegen acht, wenn er zurückkehrte, holte ihn Else Janke an der Bahn ab. Nach einigen Tagen fand er in der Siebengebirgsallee in Klettenberg, im Süden der Domstadt, ein Zimmer, das er von seinem »kläglichen Gehalt« gerade bezahlen konnte. Ansonsten reichte das Verdiente nicht einmal für die Kost, so daß er immer noch auf die Lebensmittelpakete und Geldanweisungen von daheim angewiesen war[18]. Trotz Studium und Doktortitel war er auch im Berufsleben der »arme Teufel« geblieben. Durchhalten ließ ihn angesichts solch bitterer Erkenntnis offenbar nur der Zuspruch seiner Verlobten, die ihren »Lieb«, wie sie ihn nannte, anflehte, er möge aushalten[19] und »ganz einfach fest annehmen, daß wieder bessere Tage kommen«[20]. An vielen Nachmittagen besuchte sie ihn, und die Wochenenden verbrachten sie dann im heimatlichen Rheydt.

Dies war seit dem 11. Januar 1923 erschwert worden, denn die politischen Ereignisse hatten an Rhein und Ruhr die Infrastruktur zusammenbrechen lassen. Unter dem Vorwand, Deutschland sei seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachgekommen, hatte eine belgisch-französische Armee an diesem Tag den Rhein überquert und das Ruhrgebiet besetzt. Von allen deutschen Parteien unterstützt, reagierte die Reichsregierung darauf mit der Einstellung der Reparationsleistungen und wies ihre Beamten an, Anordnungen der Besatzungsmächte nicht auszuführen. Auch die Bevölkerung legte die Arbeit nieder, weshalb Gruben, Fabriken und Bahnen weitgehend stillgelegt wurden. Mit dem passiven Widerstand sollten die Besatzer davon überzeugt werden, daß sich ihre Politik der »produktiven Pfänder« bezahlt mache. In diesen von Goebbels als »scheußlich« empfundenen Wochen, in denen er »verzweifelte Gedichte« schrieb, sah er einmal mehr den Beweis für die »Verkommenheit« der sich auf bloße Deklamationen beschränkenden »System«-Politiker und des »Systems« schlechthin erbracht. Um so erwartungsvoller verfolgte er anhand mehrerer Zeitungen die Entwicklung im Süden Deutschlands. Dort hatte der bayerische Lokalagitator Hitler in aufpeitschenden Reden die Idee eines »Führertums« beschworen und vollmundig verkündet, der deutschen Ohnmacht alsbald ein Ende bereiten zu wollen. Im April 1923 versammelten sich in München vaterländische Verbände aus ganz Bayern, um zum Monatswechsel loszuschlagen. Doch der Versuch, die Mai-Kundgebung der Linken auf der Theresienwiese zu sprengen und gleichzeitig die bayerische Regierung zu stürzen, scheiterte kläglich. Die verhinderten Putschisten fügten sich den Anordnungen von Reichswehr und Polizei und gaben sich so dem Gespött der ganzen Nation preis.

An die Stelle der Hoffnung, daß sich vom Süden ausgehend die Dinge im Reich einmal zum Besseren wenden würden, trat bei Joseph Goebbels nun die Erkenntnis, daß alles nur noch schlechter werden würde. Franzosen und Belgier hatten es inzwischen verstanden, sich mit eigenen Technikern und Ingenieuren, Eisenbahnern und einem Heer von ausländischen Arbeitern im Ruhrgebiet einzurichten. Sie setzten Zechen und Bahnen für sich wieder in Gang. Die Folge war, daß sich das wirtschaftlich darniederliegende Reich mit seinen fortgesetzten Hilfeleistungen für das besetzte Gebiet vollends verausgabte und die Inflation weiter stieg. Die Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende Not nahmen insbesondere in den Städten bedrohliche Ausmaße an. Anklagend schrieb Goebbels: »Hier in Cöln sterben monatlich etwa hundert Kinder an der Hungerschwindsucht«, und »am grünen Tisch sitzen sie und beraten, was unter passivem Widerstand zu verstehen sei und ob man das Ruhrgebiet etappenweise räumen soll«. Über die katholische Kirche empörte er sich, sie besitze im Domschatz eine kostbare Monstranz, die einen Wert von zwölf Millionen Goldmark gehabt habe. Dies seien umgerechnet heute 280 Milliarden Mark. »Davon könnte man 560 000 hungerkranke Kinder für zwei Monate aufs Land und ins Sanatorium schicken und so dem tätigen Leben wiedergewinnen.«[21]

Als Unrecht mußte der wieder einmal körperlich und nervlich heruntergekommene Goebbels auch empfinden, was er täglich in der Bank erlebte: Kleinbürger verloren ihre Ersparnisse durch die Inflation, Schuldverpflichtungen jedoch, die auf Boden und Sachwerten lagen, wurden praktisch hinfällig und ihre ohnehin vermögenden Besitzer damit noch vermögender; skrupellose Spekulanten häuften durch Devisengeschäfte und billigen Grunderwerb von in Not Geratenen unermeßliche Reichtümer an, während draußen vor der Bank unschuldige Menschen darbten. »Ihr sprecht von Kapitalanlage; aber hinter diesem schönen Wort verbirgt sich doch nur der tierische Hunger nach mehr. Ich sage tierisch: das ist beleidigend für das Tier; denn das Tier frißt nur, bis es satt ist«, kommentierte Goebbels das Finanzgebaren jener Kreise[22].

Auch unter seinen Kollegen war es offenbar nicht ungewöhnlich, den rasant fortschreitenden Verfall der Mark – kostete der Dollar im April 1923 etwa 20 000 Mark, so waren für ihn Anfang August bereits 1 Million Mark zu entrichten – für fragwürdige Geschäfte zu nutzen. Else Janke berichtete er von einem »charakteristischen Vorgang«: Die Aktien der Dresdner Bank an der Kölner Börse seien von 1 000 000 Mark auf 2 000 000 Mark gestiegen. Um ein Uhr seien die Vorkurse in der Effektenabteilung angekommen. Kurz darauf hätten sich einige junge Herren aus der Effektenabteilung bei ihm in der Depotbuchhaltung, wo man den neuen Kurs noch nicht gekannt habe, danach erkundigt, wer von den Beamten im Hause noch Dresdner-Bank-Aktien besitze und diese für 1 200 000 Mark verkaufe. »Als ich heute nachmittag einem der jungen Lümmels erklärte, ich hielte seine Handlungsweise für eine ganz gemeine, lumpige Betrügerei, da hatte er für mich nur ein mitleidiges Achselzucken. Und kein einziger von denen, die unsere Auseinandersetzung mitanhörten, pflichtete mir bei. Jeder war der einen Meinung: Geschäft ist Geschäft.«[23]

Dieser Welt fühle er sich nicht zugehörig, gestand er Else Janke im Juni 1923, die ebenfalls zu resignieren begonnen hatte. Es sei entsetzlich, hatte sie ihm schon Ende April nach Köln geschrieben, »wie diese öde, schwere Zeit so unabläßlich mit Centnerschwere auf uns lastet, wie sie Dich so trostlos, so unglücklich macht«[24]. Wohl auch deshalb verlangte es ihn, ihr auf mehr als 30 handgeschriebenen Seiten Rechenschaft über sein verpfuschtes Leben zu geben. »Ich weiß, daß es einmal besser um mich stand. Heute bin ich ein Wrack auf der Sandbank. (…) Man läßt mir keine Ruhe zu mir selbst zu kommen. Unbefriedigtsein in seiner Arbeit ist eine schreckliche Qual.«[25] Sein Los verallgemeinernd, fragte er, ob nicht die »geistige Jugend« so zerrissen sei, weil man ihr nicht den rechten Platz einräume. »Die Greise von gestern« hätten das Wort und spannten vor »ihren Karren Welt« sie, »die wir eine neue Welt in der Brust tragen und die alte nur mit Scham und Verachtung über uns ergehen lassen«.

Seiner psychischen Verfassung entsprach es dabei, daß den Phasen tiefer Depression immer wieder Ausbrüche fanatischen Willens folgten. Dann schrieb er Else Janke, daß nicht die Wirtschaftsmänner und nicht die Bankdirektoren das neue Zeitalter heraufführten, sondern diejenigen, die »rein« geblieben seien und ihre Hände nicht mit »den Schätzen einer entgötterten Welt besudelt« hätten. Er wolle in einer neuen Welt das werden, was er heute nicht sein könne. Und komme diese neue Zeit zu spät für ihn, gut denn, es sei auch groß und schön, Wegbereiter einer großen Zeit zu sein. Er sei nicht der einzige, der so denke. Er fühle sich eins mit den Besten, mit der Jugend. »Wir werden der Sauerteig sein, der revolutioniert und neues Leben bringt. Wir werden das Recht haben, in der neuen Zeit das erste Wort zu sprechen. Und dieses Wort soll sein: Wahrheit, Kampf der Lüge und dem Betrug, Liebe.«[26]

Es sollte keine zehn Jahre dauern, bis die »große Zeit« für ihn anbrechen würde. Daß sie überhaupt anbrechen konnte, dazu trug die sich im Frühsommer 1923 zuspitzende Lage im krisengeschüttelten Deutschland bei. Während das ohnmächtige Kabinett Cuno verzweifelt nach Auswegen suchte, drohte nämlich im besetzten Gebiet der passive Widerstand zusammenzubrechen. Die Initiative ging nun zunehmend an die Radikalen über. Männer wie Leo Schlageter hatten längst Verbände aufgestellt, die Anschläge auf die Besatzer und deren Einrichtungen verübten. Die führten wiederum nur zu gnadenlosen Vergeltungsaktionen und verschlimmerten so das Los der Menschen. In der Not und dem allgemeinen Durcheinander trieb auch allerhand Gesindel sein Unwesen. Dessen Opfer wurde Joseph Goebbels bei einer Autofahrt von Köln nach Rheydt. Dramatisierend und darum bemüht, einmal mehr das ganze Chaos seiner Zeit auf das ihm Widerfahrene zu projizieren, notierte er später: »Überfall. Schwer verwundet. Im Krankenwagen heim. (…) Mutter fast Herzschlag.«[27]

Als der »schwer Verwundete« nach 14 Tagen wiederhergestellt war und nach Köln zurückkehrte, verfiel er abermals schwersten Depressionen. Da ihm die Stadt ein Ekel, die Bank eine einzige Sinnlosigkeit und sein Verdienst »gleich Null« sei, wenngleich die Nullen auf seinem Gehaltszettel ständig zunahmen, machte er wieder einmal mit Selbstmordankündigungen auf seine Nöte aufmerksam. Else Jankes Zuspruch gab ihm jedoch neue Kraft. »Fort mit dem Zweifel, ich will stark sein und glauben.«[28] Die »tollen Zeiten« registrierte er jetzt mit »heimlicher Freude«[29], schien sich in ihnen doch die Möglichkeit des Neubeginns anzukündigen. »Ja, das Chaos muß kommen, wenn es besser werden soll.«[30]

Im Juli 1923 glaubte Goebbels, es in der Bank nicht mehr aushalten zu können. Er beschloß, sich krank zu melden, spielte zwei Ärzten vergeblich ein »Theater« vor und wurde kurz darauf von einem dritten Arzt »auf sechs Wochen« krankgeschrieben, denn der Simulant war inzwischen tatsächlich krank geworden. Nach ein paar Tagen ging es ihm schon wieder so gut, daß er mit Else Janke, wie schon im Vorjahr, nach Baltrum in ihr »Eldorado« reisen konnte[31]. Die dort erlebten friedfertigen Tage, von denen er sich innere Beruhigung versprach, fanden jedoch ein jähes Ende. Sein Freund Richard Flisges, der inzwischen sein Studium abgebrochen und danach als einfacher Arbeiter in einem Bergwerk im oberbayerischen Schliersee gearbeitet hatte, war dort bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen. Auf die Nachricht reagierte Goebbels mit »Erschütterung. Ich bin meiner Sinne nicht mehr mächtig. Allein auf der Welt. (…) So habe ich denn alles verloren.«[32]

Wie keinen Zweiten verklärte Goebbels seinen »besten, liebsten und einzigen Freund«, die »andere Hälfte meines Ichs«, zur Lichtgestalt. Er sei ein »Prophet des neuen Deutschland«[33]. Um Flisges, dem »tapferen Soldaten der Arbeit«, der ihm während des Studiums so oft Halt gegeben hatte, ein »literarisches Denkmal« zu setzen, sollte Joseph Goebbels nach einem Besuch bei dessen Mutter im Dezember 1923 einen Roman konzipieren, den er Ende Februar/Anfang März 1924 innerhalb weniger Tage niederschrieb: Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern[34]. Nur der Name seines Helden ist mit der viereinhalb Jahre zuvor verfaßten Schrift Michael Voormanns Jugendjahre identisch. Anders als in dem gänzlich autobiographischen Text vom Spätsommer 1919, in dem »Michael Voormann« Synonym für Joseph Goebbels ist, gerät der Protagonist des beginnenden Jahres 1924 zur Synthese aus Richard Flisges und Goebbels.

Der Roman beginnt mit einem schwülstig-pathetischen »Präludium«, in dem es heißt: »Aus geheimnisvollen Tiefen steigen in ewigem Wechsel Kräfte jungen Lebens. Zersetzung und Auflösung in der Zeit bedeuten mehr als das; nicht Untergang sondern Übergang. (…) In den Herzen der Jungen brennt heiß und glutend der Drang zum Wiederaufbau, zum neuen Leben und zu junger Form. Mit Schmerzen warten sie auf den Tag. In den Dachkammern der großen Städte voll Hunger, Kälte und geistiger Qual wächst Hoffnung und Symbol einer anderen Zeit empor. Glaube, Arbeit und Sehnsucht sind die Tugenden, die die neue Jugend in ihrem faustischen Schöpferdrang einen. Das Letzte führt die Jungen zueinander: der Geist der Auferstehung, das Los vom Materialismus, das Hin zum Glauben, zur Liebe, zur inbrünstigen Hingabe.«[35]

Die sich an das »Präludium« anschließende Handlung dient dann fast ausschließlich dazu, Goebbels’ Sicht der Welt darzulegen. Es handelt sich dabei um ein Konglomerat von Zustandsbeschreibungen und Thesen über eine »neue Zeit«, angereichert mit Fragmenten aus der Fülle der angeeigneten Literatur. Neben der Bibel standen Goethes Faust und Wilhelm Meister, Nietzsches Werke – vor allem dessen Zarathustra – und die Schriften Dostojewskijs Pate.

Mit dem »Menschenschicksal« an der Schwelle einer »neuen Zeit«, die zu einem »neuen deutschen Menschen« führe – ausgezeichnet durch »Instinkt«, »Mut« und »Glauben« und damit Gegentyp zum angeblich seelenlosen, dem Materialismus verschriebenen Intellektuellen[36] – »zertrümmerte« der Autor endgültig seine »alte Glaubenswelt«[37]. Michael/Goebbels, der vergeblich auf die »Gerechtigkeit« des »Christengottes« gehofft hatte, meint, woran man glaube, sei gleichgültig, wichtig sei allein, daß man glaube. Er beschwört dieses Unbestimmte, von dem er sich eine bessere Welt verspricht, gleich einem Fetisch: »Du mein starker, glühender, mächtiger Glaube. Du mein Weggenosse, mein Wegbereiter, mein Freund und mein Gott!«[38] Je mehr er glaube, je fanatischer er seinem Fetisch huldige, desto lebensfähiger, desto stärker werde er selbst, schließt er folgerichtig. Nichts anderes heißt es, wenn Michael/Goebbels sagt: »Je größer und stärker ich Gott mache, desto größer und stärker bin ich selbst.«[39]

Hatte Goebbels’ Glaube an Christus von seiner und der anderen Gläubigen Tat gelebt, so lebte sein neuer Glaube nicht minder von des Menschen Tat – vom Opfer. Da nunmehr der Glaube selbst zu Gott, zum Beweger geworden war, bedurfte es nicht mehr der Erlösung der Menschheit durch das Opfer Christi. Der »moderne Mensch«, der den Glauben und damit Gott in sich trägt, erlöst seine Spezies durch das Opfer selbst. Michael/Goebbels, der »Christussozialist«, opfert sich aus Liebe zur Menschheit[40]. Goebbels gab so dem Sterben im Bergwerk und damit Richard Flisges’ Tod, aber auch seinem eigenen Leben als arbeitsloser Krüppel einen Sinn.

Obgleich Goebbels’ »moderner Mensch« sich selbst erlösen kann, sucht er den »Erlöser« in Menschengestalt. Schon in seiner Dissertation hatte Goebbels seiner Sehnsucht nach dem »starken Genie« Ausdruck gegeben. Nun ließ er seinen »Michael« fragen, ob denn niemand da sei, der den Weg in eine bessere Zukunft wisse[41]. So wie dem Autor der Sohn seines »überwundenen Gottes«, Jesus Christus, der Vermittler seiner katholischen vis spiritualis gewesen war, bedurfte es in der neuen »Glaubenswelt« des Joseph Goebbels wiederum eines ihm Halt gebenden Mittlers.

Mit den Komponenten Glauben, der Sehnsucht nach der Inkarnation dieses Glaubens und schließlich der Selbsterlösung durch das Opfer nahm Goebbels die pseudo-religiösen, pathetischen Worthülsen des nationalsozialistischen Kultes vorweg, mit dem den Menschen später suggeriert werden sollte, er sprenge die Fesseln der Wirklichkeit. 1925 schrieb Goebbels: »Wir haben gelernt, daß Politik nicht mehr die Kunst des Möglichen ist. Was wir wollen, ist nach den Gesetzen der Mechanik unerreichbar und unerfüllbar. Wir wissen das. Und dennoch handeln wir nach der Erkenntnis, weil wir an das Wunder, an das Unmögliche und Unerreichbare glauben. Für uns ist die Politik das Wunder des Unmöglichen.«[42] Immer und immer wieder sollte er dem Glauben an das Unmögliche huldigen. Im Jahre 1933, nachdem er längst im »Führer Adolf Hitler« die Inkarnation seines Glaubens gefunden hatte, würde er dann tatsächlich das Wunder des Wirklichkeit gewordenen Unmöglichen verkünden können. Auch noch zehn Jahre später, nachdem sich mit der zum nationalen Opfer, zum Preis des kommenden Triumphes verklärte Katastrophe von Stalingrad das Ende ankündigte, sollte Goebbels es wiederum beschwören. Doch diesmal blieb das Wunder aus.

Noch ehe der Michael Voormann fertiggestellt war, hatte Goebbels dem Andenken seines verunglückten Freundes einen Aufsatz in der Rheydter Zeitung gewidmet[43]. In dem »Weihnachtsgruß nach Schliersee an ein stilles Grab« zelebrierte er noch einmal dessen Tod als symbolisches Opfer für die herbeigesehnte bessere Welt. Olgi Esenwein, die Freundin des Verunglückten, der Goebbels sowohl den Zeitungsaufsatz als auch später ein Manuskript des Michael Voormann in die Schweiz schickte, meinte dazu, er sei der einzige Mensch gewesen, der Richard Flisges in seiner ganzen »Schönheit und Seelengröße« begriffen habe, die »ihn durch unsere ganze Kultur hindurch wieder zum Einfachen, Natürlichen, Göttlichen führte«[44].

Als der Michael Voormann dann im Jahre 1929 beim nationalsozialistischen Eher Verlag in München nach mehrfacher Überarbeitung unter dem neuen Titel Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern[45] erschien, war Michael/Goebbels dann konsequenterweise nur zu Beginn ein »Gottsucher«. Anders als in der Urfassung »schaut« er ihn in der eigenen Gegenwart: »Einer ist da, der den Weg weiß. Seiner will ich würdig werden.«[46] Lag der Glaube des Michael Voormann der Fassung von 1923, einer Flucht aus der real existierenden Not gleich, in einer unbestimmten Sehnsucht nach einer »besseren Welt«, so wurden nun die guten und vor allem verderblichen Kräfte, in deren Widerstreit sich Deutschlands Schicksal erfüllen sollte, konkretisiert. Der Protagonist wurde zum tief im Deutschtum verwurzelten »Arbeiter der Stirn und Faust«, kurzum zum Prototypen des neuen nationalsozialistischen Menschen. In den übrigen Gestalten spiegelt sich die Weimarer Republik, wie der Autor sie sah. Da ist Michaels Freundin Hertha Holk, die das Bürgertum verkörpert. Wie Anka Stalherm Goebbels, kann Hertha Holk Michael nicht verstehen, der neben den »Negerarmeen« am Rhein[47] die seelenlose und korrupte Herrschaft der »fetten Bäuche«, der Juden als dem »Eitergeschwür am Körper unseres kranken deutschen Volkstums«[48], beklagt und ihnen damit die Schuld am deutschen Elend zuweist. Die Figur des Iwan Wienurowsky, eines russischen Revolutionärs, war in der Erstfassung von 1923 noch durch Goebbels’ Faszination für Dostojewskijs Rußland geprägt. Jetzt läßt der Autor den sterbenden Michael im Vorgriff auf Hitlers programmatisch festgelegtes Ausgreifen nach Osten sagen: »Iwan, Du Schuft.«[49] Ohne daß es sich um eine nachträgliche Manipulation handeln könnte, stirbt »Michael« seinen symbolischen Opfertod übrigens in beiden Fassungen ausgerechnet am 30. Januar, an dem Tag, an dem sich Jahre später mit Hitlers Machtübernahme aus der Sicht des Autors die »neue Zeit« erfüllen sollte.

Der linke Publizist Heinz Pol von der Weltbühne schrieb 1931 über den Michael, er sei die »vollkommene Manifestation« dessen, was die Braunhemden »den deutschen Geist und die deutsche Seele« nennen. Er habe das Buch mehrfach gelesen, jedoch nicht einen einzigen Satz gefunden, von dem man hätte sagen können, er sei »deutsch empfunden« oder in einem »deutschen Stil« geschrieben. »Was ich aber fand – und jedes dritte Wort ist dafür ein Beleg – das war jene durchaus undeutsche, absolut pathologische Schamlosigkeit«, so Pols Urteil, »mit der hier ein literarischer Schmutzfink ununterbrochen seine Brust aufreißt und ›letzte Dinge‹ herausgrölt.«[50]

Doch zurück ins Jahr 1923. Anfang September war der von Richard Flisges’ Tod erschütterte Goebbels von Baltrum zurückgekehrt. Kurz darauf erhielt er in Rheydt das Kündigungsschreiben der Dresdner Bank, was er aber seinen Eltern verschwieg. Um den Eindruck zu erwecken, er ginge weiter seiner Beschäftigung nach, fuhr er wieder nach Köln. Tatsächlich gehörte nun auch er zu dem Heer der Arbeitslosen. Von einem Gulden mußte er eine ganze Woche lang leben, denn Arbeitslosenunterstützung erhielt er nicht. Das einzig Konstruktive, das er tat: Er begann ein Stück zu schreiben, das er Prometheus nannte. Kaum hatte er die Arbeit daran beendet, konzipierte er ein »Zeitdrama«, das er Der Wanderer nannte[51]. Es sollte »eine Art Totentanz«, ein »grandioses Gemälde des untergehenden Europa« werden.[52]

Goebbels, dessen Arbeiten niemand wollte, schien die Situation so hoffnungslos, daß er die Stellensuche wenig energisch betrieb, wenngleich er Else Janke versicherte, daß er alles versuche und sämtliche Zeitungsanzeigen nach passenden Stellen durchgehe[53]. Hans Goebbels, der doch nicht, wie er es nach seiner Heimkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft eigentlich beabsichtigt hatte, das Abitur nachgemacht hatte, um anschließend zu studieren, sondern einer geregelten Arbeit in Neuß nachging, half seinem Bruder, indem er ihm die Anschrift einer Firma mitteilte, bei der er sich bewerben sollte. Weitere Unterstützung konnte Joseph von seinem Bruder nicht erwarten, denn sein Posten warf »gerade soviel ab, daß ich mein Essen und Wohnen habe. Was will man in der heutigen Zeit mehr verlangen, wo die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Es ist doch eigentlich bewundernswert, wie die vollgefressenen Säue es immer und immer wieder verstehen, alle Not und alle Sorgen und alle Zahlungen und Schulden unseres Vaterlandes auf die Ärmsten der Armen in Deutschland abzuwälzen.«[54]

Fritz Goebbels wußte Mitte September immer noch nicht, daß sein Sohn arbeitslos war, hatte aber von dessen Stellensuche erfahren. In der Besorgnis, er gefährde dadurch seinen Bank-Posten, gab er zu bedenken, daß es angesichts der schweren Zeiten nicht so leicht sei, eine passende Stellung zu bekommen. Er riet ihm daher, es für eine Übergangszeit bei einer Rheydter Bank zu versuchen, wohin Bruder Konrad einige Beziehungen habe. »Du hättest dann wenigstens satt zu Essen und könntest in Ruhe abwarten, bis Du eine für Dich passende Stelle findest«, hieß es in dem Brief des Vaters[55], der freilich mit den Berufsvorstellungen des Sohnes nicht viel anzufangen wußte und einer soliden Beschäftigung, wie zum Beispiel bei einer Bank, allemal den Vorzug gab.

Da Joseph Goebbels selbst die aufopfernde Hilfe Else Jankes nicht vor dem Hungern bewahren konnte, schrieb er seinem Vater einen verzweifelten Brief, in der Hoffnung, dieser bäte ihn, nach Hause zu kommen. Er sei nervenkrank geworden, was wohl in der Familie läge[56]. Die Rechnung ging auf. Der sich sorgende Vater wies letzteres zwar energisch zurück, bat den Sohn jedoch ungeachtet seiner vermeintlichen Anstellung bei der Bank, ins Elternhaus heimzukehren, da er in dieser schwierigen Situation nicht auf andere Hilfe hoffen könne. Nachdem ihm der Vater sogar noch das Fahrgeld geschickt hatte, verließ Joseph Goebbels Anfang Oktober 1923 die Domstadt, um – wie schon so oft in den vergangenen Jahren – im Schoß der Familie Zuflucht zu finden.

Zu Hause, umsorgt von der Familie, erlebte er die Folgen des völligen Zusammenbruchs des passiven Widerstands in den besetzten Gebieten. Nach dem Sturz des Kabinetts Cuno war am 13. August 1923 eine Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann gebildet worden. Ausgerechnet der Führer einer nationalen Rechtspartei, wie es die Deutsche Volkspartei (D.V.P.) war, hatte außenpolitisch kapituliert, indem er am 26. September die gescheiterte Obstruktionspolitik beendet hatte. Von den Goebbels so verhaßten »System«-Parteien, die »ihr Fähnchen nach dem Winde richten«, so schrieb er, wolle jetzt keiner für den passiven Widerstand gewesen sein. »Alle haben es ja längst gewußt, daß es schief gehen mußte« – selbst die von ihm abonnierte Kölnische Zeitung.

In dieser und in anderen Blättern las er über die Aufstandsversuche der extremen Rechten und Linken im Reich, über das die Regierung Stresemann im September den Ausnahmezustand verhängt hatte. Er las, daß in Sachsen und Hamburg der Einfluß der Kommunisten rasch wuchs, er las von Hitlers Nationalsozialisten, die zunehmend von sich reden machten, traute ihnen angesichts der Erfahrungen des Frühjahrs jedoch wenig zu. Das »Chaos«, das er herbeigesehnt hatte, damit es besser werde, schien ihm nun allgegenwärtig. »Wilde Tage des Saufens aus Verzweiflung« will er deshalb – wie er pathetisch schrieb – verbracht haben, denn er glaubte jetzt »den Untergang des deutschen Gedankens« miterleben zu müssen[57].

Die Nachrichten, die im November 1923 aus München kamen, ließen Goebbels relativ kalt[58], denn die »Nationale Revolution«, die Hitler dort ausgerufen hatte, war eines von vielen Ereignissen in dem notleidenden, vom latent schwelenden Bürgerkrieg heimgesuchten Land, dessen Währung zerstört und dessen Wirtschaft weitgehend zugrundegerichtet war. Wenn sich der arbeitslose Habenichts aus Rheydt nicht weiter damit beschäftigte, dann auch deshalb, weil das Unterfangen fehlgeschlagen war. Noch ehe der 8. November 1923 vorüber war, hatten sich nämlich Hitlers vermeintliche konservative Verbündete wieder von ihm distanziert. In dem Glauben, vielleicht doch noch das Schicksal bezwingen zu können, hatten sich die »Verratenen« am nächsten Tag, angeführt von Hitler und Ludendorff, dem General des Weltkriegs, zu einem Demonstrationszug durch die Münchener Innenstadt in Richtung Kriegsministerium formiert. An der Feldherrnhalle, wo die »Oh, Deutschland hoch in Ehren« singenden Kolonnen geradewegs auf einen Polizeikordon zumarschierten, war es dann passiert: ein einzelner Schuß, dem ein kurzer, heftiger Feuerwechsel folgte. Die Bilanz: 17 Tote, zahlreiche Verhaftungen und das scheinbare Ende der Nationalsozialisten in Bayern.

Einmal mehr hatte die junge Republik einen Angriff der Radikalen abwenden können. Und auch sonst begannen sich im Winter 1923/24 die Dinge zu konsolidieren. Als Stresemann nach 100 Tagen Kanzlerschaft am 23. November zurücktrat, war die Inflation vorüber und mit der »Rentenmark« eine stabile Verrechnungseinheit der Mark geschaffen worden. Sie wurde bald durch die Reichsmark ersetzt, die durch ausländischen Kapitalfluß nach Deutschland stabil gehalten wurde. Dies zog einen langsamen Aufschwung der Wirtschaft und damit einen Rückgang der Arbeitslosigkeit nach sich.

Das Licht am Ende des Tunnels war für Goebbels noch nicht auszumachen. Für ihn blieb vorerst alles beim Alten. Seine Not ließ ihn die Arbeitsplatzsuche intensivieren. Nachdem er sich schon bei der Vossischen Zeitung beworben hatte[59], sandte er im Januar 1924 unter anderem ein langes Bewerbungsschreiben an das Berliner Tageblatt. Bei der angesehenen liberalen Zeitung bemühte er sich um einen Redakteursposten und bezifferte seine Gehaltsansprüche mit 250 Mark monatlich[60]. Auch auf eine andere Annonce des Verlagshauses Mosse hin »gestattete« er es sich, seine Dienste als Redakteur anzubieten. Um sich als universal gebildeter Mann darzustellen und seinem Lebenslauf auch die nötige Stringenz zu geben, lieferte er eine »frisierte« Darstellung seiner vermeintlichen Aktivitäten seit der Beendigung seines Studiums. Von November 1921 bis August 1922 habe er in Bonn und Berlin moderne »Theater- und Pressegeschichte« studiert. Nach einem zweimonatigen Volontariat bei der Westdeutschen Landeszeitung habe er von Oktober bis Ende 1923 »Privatstudien in Volks- und Staatswirtschaft« betrieben. »Weite Zweige des modernen Bankwesens« will er während seiner neun Monate bei der Dresdner Bank kennengelernt haben. In seinem »Nebenberuf« habe er an der Universität Köln Nationalökonomie studiert und sei gelegentlich Mitarbeiter an größeren Tageszeitungen Westdeutschlands gewesen. »Infolge von leichteren Nervenstörungen, die ich mir durch übermäßige Arbeit und einen Unglücksfall zugezogen hatte, war ich gezwungen, meine Cölner Tätigkeit aufzugeben.«[61] Die Bemühungen des »vollkommen Wiederhergestellten« blieben jedoch erfolglos.

Damit er sich angesichts all dieser Enttäuschungen seine Bitterkeit »vom Herzen« schreiben könne, hatte ihm Else Janke im Oktober 1923 ein »Buch für den täglichen Gebrauch« geschenkt. Am 17. desselben Monats begann er darin allabendlich aufzuschreiben, was ihn bedrückte. Dem Tagebuch stellte er im Sommer 1924 seine sogenannten Erinnerungsblätter voran, in denen er im Telegrammstil sein Leben bis zu jenem Oktober zusammenfaßte. Er schreibe, »weil mir mein Denken eine Qual und eine Lust ist. Früher wenn es Samstag war und der Nachmittag weiter ging, dann hatte ich keine Ruhe mehr. Dann lastete die ganze Woche mit ihrer kindlichen Qual auf meiner Seele. Ich half mir immer am besten dadurch, daß ich mein Gebetbuch nahm und zur Kirche ging. Ich dachte über alles nach, was die Woche mir Gutes und Böses gebracht hatte, und dann ging ich zu dem Priester und beichtete mir alles von der Seele herunter. Wenn ich jetzt schreibe, dann habe ich ein gleiches Gefühl. Es ist mir, als müßte ich beichten gehen. Ich will mir das Letzte von meiner Seele herunterbeichten.«[62]

Immer wieder rechtfertigte er dabei sich selbst gegenüber, daß er nicht die Verantwortung für sein Schicksal trage. Immer wieder gab er sie der »verderbten Welt«. Da er sich weigere, alles abzulegen, was man eigene Ansicht, Zivilcourage, Persönlichkeit, Charakter nenne, bleibe ihm der Zugang zu dieser materialistischen Welt versperrt[63], schrieb er und flüchtete sich in die Vision, er sei eine Ausnahmeerscheinung. All jene Tugenden, die er für sich selbst beanspruchte, bestritt er den meisten seiner Mitmenschen. So sagte er vom Typ des Rheydter »Kleinstadtbürgers«, ihm sei jegliches geistige Gespräch langweilig und unangenehm. »Selbst zum Skatspiel sind sie zu faul. – Manche behaupten sogar zum Beischlaf. Kein Wunder, daß sie dick, rund und fett werden.«[64]

Er haßte sie alle, weil er sich abgesondert fühlte; trotz oder gerade wegen des Studiums und des Doktortitels schien er ein Außenseiter geblieben zu sein, der immer noch auf Kosten seiner Eltern und seiner Verlobten lebte. »Dieses Elend des Schmarotzens. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich diesem unwürdigen Zustande ein Ende machen kann«[65], schrieb er in sein Tagebuch. An anderer Stelle bekannte er, »nichts erwartet mich, – keine Freude, kein Schmerz, keine Pflicht und keine Aufgabe. (…) Armseliges Leben, das nach dem verdammten Geld sich richten muß.«[66] Das Geld, an dem es ihm seit jeher mangelte, hatte er in besonderem Maße hassen gelernt; von ihm, meinte er, komme alles »Übel der Welt. Es ist, als wäre der Mammon die Verlebendigung des Bösen im Prinzip der Welt. Ich hasse das Geld aus dem tiefsten Grunde meiner Seele.«[67] Ebenso feindselige Gefühle hegte er denen gegenüber, deren Geldgeschäfte er während seiner Zeit bei der Bank täglich mit abzuwickeln gehabt hatte, gegenüber den Juden, zu denen ja auch Mosse und Ullstein gehörten, die ihm – so jedenfalls sah er es – den Broterwerb verweigert hatten[68].

Gegenüber den Juden hatte man im Rheydter Elternhaus nicht mehr Vorurteile als anderswo im katholischen Kleinbürgertum. Sie galten als besonders klug und befähigt im Umgang mit Geld, was jedoch nichts daran zu ändern vermochte, daß man in ihnen ganz normale Deutsche sah, nicht zuletzt deshalb, weil auch sie für Kaiser und Vaterland im Weltkrieg gekämpft hatten. Nachdem sich Vater Goebbels hochgearbeitet hatte, pflegte seine Familie freundschaftliche Kontakte zu der eines jüdischen Advokaten[69]. Man war darauf ein bißchen stolz, hob sie doch die eigene Reputation. Der Gymnasiast mit dem Klumpfuß hatte Dr. Josef Joseph – so hieß der angesehene Rechtsanwalt – manchmal besuchen dürfen, um sich mit ihm über Literatur zu unterhalten, und während der Studienzeit hatte er in dem Literaturfreund stets einen Ansprechpartner gefunden. Gegenüber Anka Stalherm hatte er seinerzeit im Zusammenhang mit der Literaturgeschichte Adolf Bartels beklagt: »Du weißt ja, daß ich dieses übertriebene Antisemitentum nicht besonders leiden mag. (…) Ich kann ja auch nicht gerade sagen, daß die Juden meine besonderen Freunde wären, aber ich meine, durch Schimpfen und Polemisieren oder gar durch Pogrome schafft man sie nicht aus der Welt, und wenn man es auf diese Weise könnte, dann wäre das sehr unedel und menschenunwürdig.«[70] Goebbels meinte damals, daß es das beste Mittel gegen ihre angebliche Dominanz sei, die Dinge besser zu machen. Darin versuchte er sich durch das Studium bei dem von ihm verehrten jüdischen Germanisten Gundolf. Nachdem er bei dem von ihm ebenfalls geschätzen »Halbjuden« von Waldberg promoviert hatte, folgte er dem Rat des nachbarlichen Freundes Dr. Joseph, das Beste aus seinem Studium bei dem jüdischen Professor in Heidelberg zu machen und Redner oder Schriftsteller zu werden[71].

Seine Haltung gegenüber den Juden begann sich erst seit 1922 – parallel zu seiner immer aussichtloser werdenden persönlichen Lage – zu ändern. Zunächst hatte ihm die Lektüre von Spenglers Untergang des Abendlandes für die nicht nur unter völkischen Intellektuellen und Rassisten diskutierte »Judenfrage« sensibilisiert. So fand er während seines Vortrages vom Oktober 1922 zwar für Gundolf noch höchste Töne, erachtete aber gleichwohl Spenglers Ansichten über das Judentum als »von eminenter Bedeutung«. Es scheine ihm, daß »hier die jüdische Frage an der Wurzel erfaßt ist. Man sollte annehmen, daß dieses Kapitel eine geistige Klärung der Judenfrage herbeiführen müßte.«[72] Ähnlich ambivalent verhielt sich der junge Mann, als er während eines Streites mit Else Janke erfuhr, daß sie die Tochter einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters sei. Goebbels gab sich zwar irritiert und meinte, der »erste Zauber« sei dahin[73], änderte aber ihr gegenüber seine Haltung nicht.

Seine »Erfahrungen« und »Einsichten« bei der Bank rückten für Goebbels die »Judenfrage« weiter in den Mittelpunkt seiner Überlegungen[74]. Wie aus seinen Erinnerungsblättern hervorgeht, las er in dieser Zeit auch Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts[75]. Der Brite hatte die Rassenlehre des Franzosen Gobineau, die dieser in seinem Traktat über Die Ungleichheit der Menschenrassen aufgestellt hatte[76], »weiterentwickelt« und war dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß der Arier »die Seele der Kultur« sei und es nur zwei reine Rassen gebe: die arische und die jüdische. Erstere, die das Vermächtnis des Altertums – die griechische Kunst und Philosophie, das römische Recht und das Christentum – in sich trüge, sei als »Herrenrasse« dazu auserwählt, den herrschenden materialistischen Zeitgeist zu überwinden und ein neues Weltalter herbeizuführen. Voraussetzung dafür sei die »Reinhaltung« der Rasse, denn »edle Menschenrassen werden durch das semitische Dogma des Materialismus, das sich in diesem Falle und im Gegensatz zum Christentum, frei von allen arischen Beimischungen erhalten hatte, für immer entseelt und aus dem ins ›Helle strebenden Geschlecht‹ ausgeschlossen«[77]. Das Gedankengut Chamberlains, über den er nach einem Zusammentreffen in Bayreuth später euphorisch schreiben sollte, er sei der »Bahnbrecher«, »Wegbereiter«, ja »Vater unseres Geistes«[78], verfehlte seine Wirkung auf die Anschauungen des 26jährigen nicht.

In seinem Tagebuch hielt er bald fest, »das Problem der Rasse ist doch das tiefste und geheimnisvollste«[79]. Die Folge war, daß die »Rassenfrage«, deren anatomische Komponente der Mann mit dem Klumpfuß aus naheliegenden Gründen stets ausklammern sollte, auch sein Verhältnis zu Else Janke weiter trübte. Einerseits glaubte er zu wissen, daß »eine verbastardisierte Rasse … steril (ist) und kaput gehen (muß)«, und leitete daraus die Gewißheit ab, bei der »Verbastardisierung« nicht mitmachen zu wollen; andererseits sah er sich außerstande, sich von ihr zu trennen[80]. Seine Lebensgefährtin wiederum versuchte das Problem, das den arbeitslosen Habenichts so umtrieb, herunterzuspielen. Nach einer der zahlreichen Auseinandersetzungen schrieb sie ihm: »Überhaupt die ganze Unterredung kürzlich über die Rassenfrage lag mir immer so deutlich in den Ohren. Ich wurde den Gedanken daran gar nicht los und sah wirklich fast in dem Problem ein Hindernis für unser weiteres Zusammenleben. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, daß Du in dieser Hinsicht ganz entschieden übertrieben denkst …«[81]

Goebbels sah »im Juden« bald nicht mehr nur den »Anti-Christen«[82] und die Verkörperung des Materialismus, sondern das Böse schlechthin und damit den Konkret-Schuldigen an seiner und des Landes Misere. Wenn er ihm aus tiefster Seele verhaßt und zuwider war, wie er es immer öfter kundtat[83], dann auch deshalb, weil sich der jüdische »Dekompositionsgeist« in Deutschland am schlimmsten in der Kunst und Wissenschaft, also in in Theater, Musik, Literatur, Hochschule und Presse auswirke. »Da verlieren wir am meisten«, konstatierte er, der von jüdischen Zeitungsverlegern und Theaterleuten Zurückgewiesene[84], und leitete aus all dem ab, daß die »Judenfrage«, die »brennendste der Gegenwart« sei[85].

Bestärkt wurde der junge Mann aus Rheydt in dieser Auffassung durch die Lektüre von Henry Fords Weltbestseller Der internationale Jude zu Beginn des Jahres 1924. Darin setzte sich der amerikanische Automobilbaupionier und flammende Antisemit mit den Protokollen der Weisen von Zion[86] auseinander, diagnostizierte deren Wahrheitsgehalt und malte das Schreckgespenst einer »jüdischen Weltverschwörung« an die Wand. Goebbels hielt Fords Traktat für äußerst interessant und heilsam, fand es aber sonderbar, daß sich ausgerechnet der reichste Mann der Welt »den jüdischen Kapitalismus als Zielscheibe« setzt[87]. Er beschaffte sich daraufhin die Protokolle, las sie und kam zu dem Ergebnis, daß »die Juden« nicht so »grenzenlos dumm« sein könnten, ihren »Plan zur Zersetzung der Welt« an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Sein Fazit: »Ich glaube an die innere, aber nicht an die faktische Wahrheit der Protokolle.«[88]

Der »jüdischen Weltverschwörung« wollte der arbeitslose Dr. Phil. bald etwas Gleichgroßes entgegengestellt wissen, nämlich die »antisemitische Idee« als »Weltidee«[89]. Getragen werden solle diese »Weltidee« vom deutschen und russischen Menschen, den stärksten Antipoden zum seelenlosen materialistischen Juden, hielt der Verehrer Dostojewskijs und Tolstojs in seinem Tagebuch fest. »Vielleicht wird Russland den Anfang (bei der Lösung der Judenfrage) machen. Was ich schon immer ahnte, – nämlich daß die russische Gegenwart nur jüdischer Seifenschaum ist, darunter die schwere nationale Lauge liegt, – das finde ich jetzt in allen authentischen Urteilen bestätigt«[90], spann sich der Mann vom Niederrhein zusammen, während drunten an der Isar völkische und nationale Sozialisten, geprägt durch die Erfahrungen der bayerischen Räteherrschaft, im Bolschewismus die furchtbarste »Sturmtruppe des Weltjudentums« erblickten.

Im Grundsatz war man sich jedoch einig, nämlich daß der Weg in eine bessere Welt über die Beseitigung der vermeintlichen Hegemonie des Judentums führte. Der Untergang des Abendlandes, den Spengler durch den Übergang von der »Kultur« zum seelenlosen materialistischen Endzeitalter, der »Zivilisation«, voraussagte, konnte demnach verhindert werden. Es liege an uns, am »neuen Menschen«, so hatte Goebbels gesagt, die Furcht vor dem Untergang zu überwinden[91]. Wenngleich solche »Erkenntnisse« dem Ganzen eine gigantische Dimension verliehen, wagte er sie vorerst noch nicht auszusprechen oder gar, sich daraus ergebende praktische Konsequenzen zu durchdenken. Er begnügte sich zunächst mit unvermittelten Haßtiraden gegen die Juden, die er sich dann von der Seele schrieb. Von »Schweinehunden«, »Verrätern« und »Vampiren« ist in seinen frühen Tagebüchern zu lesen. Mitunter befielen ihn anfangs noch Skrupel, wenn er zum Beispiel anfügte, daß man als Mensch so schlecht aus seiner Haut herauskönne, und jetzt sei seine Haut doch eine »einseitige antisemitische«[92]. Erst als ihm Gleich- und Ähnlichdenkende den Rücken stärkten und er den Führer, dem er folgen sollte, gefunden hatte, wichen seine Skrupel »der unerbittlichen Logik dessen, was sein muß und was wir zu tun gewillt sind, weil es eben sein muß«[93].