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Die psychoanalytische Charakterologie
und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie

Erich Fromm
(1932b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie in Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig 1 (1932) S. 253-277. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA I, S. 59-77.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA I, S. 59-77.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1932 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer: Seelische Störungen wurden erklärt aus der Stauung und der dadurch hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im Symptom, bzw. aus der Abwehr von im Bewusstsein nicht zugelassenen, mit libidinösen Impulsen verknüpften Vorstellungen. Die Reihe: Libido → Abwehr durch verdrängende Instanz → Symptom war der rote Faden der frühen analytischen Untersuchungen. Damit verbunden war die Tatsache, dass Gegenstand der analytischen Untersuchung fast ausschließlich Kranke und in der Mehrzahl solche mit körperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigenarten, die sich sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden finden. Hier handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprünglichen Fragestellung, um die Aufdeckung der triebhaften, libidinösen Wurzeln der psychischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung: Verdrängung → Symptom, sondern in der Richtung: Sublimierung bzw. Reaktionsbildung → Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung musste sich gleich fruchtbar für das Verständnis des kranken wie des gesunden Charakters erweisen und damit in besonderem Maß für die Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden.[1]

Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie ist, bestimmte Charakterzüge aufzufassen als Sublimierung bzw. Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud so gebrauchten Sinn) Triebregungen bzw. als Fortsetzung bestimmter in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbeziehungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung aus libidinösen Quellen und frühkindlichen Erlebnissen ist das spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie mit der Neurosenlehre teilt; während aber das neurotische Symptom (wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht geglückten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realität darstellt, handelt es sich bei dem nichtneurotischen Charakterzug um eine Verarbeitung libidinöser Regungen auf dem Wege der Reaktionsbildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaftlich angepassten Weise. Der Unterschied zwischen dem normalen und dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz fließender und in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen Unangepasstheit her zu bestimmen. [I-060]

Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktionsbildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktionsbildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprünglichen Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung tragen kann.[2] Zur Sublimierung sei nur gesagt, dass Freud darunter die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprünglichen sexuellen Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere, nicht-sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen, dass aus Sexualität auf eine geheimnisvolle, „alchimistische“ Weise Charakter oder Intellekt entsteht, sondern dass sexuelle Energien auf andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Triebkraft in einer eigenartigen, noch kaum geklärten Verbindung mit Fähigkeiten des Ichs, psychische und geistige Qualitäten aufbauen helfen. Besonders wichtig ist es, nicht zu vergessen, dass Freud das Problem der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualität im üblichen Sprachgebrauch, d.h. der genitalen Sexualität in Zusammenhang bringt, sondern vorwiegend mit den „prägenitalen“ Sexualstrebungen, d.h. der oralen und analen Sexualität und dem Sadismus.[3] Der Unterschied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesentlichen darin, dass die Reaktionsbildung immer die Funktion der Abwehr und Niederhaltung eines verdrängten Triebimpulses hat, aus dem sie auch ihre Energie bezieht, während die Sublimierung eine direkte Verarbeitung, eine „Kanalisierung“ der Triebregung darstellt.

Die Theorie der prägenitalen Sexualität, von Freud zum ersten Mal ausführlich in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud, 1905d) dargestellt, geht von der Beobachtung aus, dass, noch bevor beim Kind die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und die Afterzone als „erogene Zonen“ Träger von lustvollen, den genitalen Sensationen analogen Sensationen sind, dass sie im Laufe der Entwicklung teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben, zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktionsbildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der prägenitalen Sexualität veröffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz über Charakter und Analerotik (S. Freud, 1908b), der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet. Freud ging von der Beobachtung aus, dass man häufig in der Analyse einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten einer gewissen Körperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (S. Freud, 1908b, S. 203). Er findet drei Charakterzüge – Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigensinn – bei solchen Individuen, in deren Kindheit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders große Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im Mythos, Aberglauben, Traum, Märchen [I-061] anzutreffende Gleichsetzung von Kot und Geld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren auf, die die Grundzüge einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten. (Vgl. O. Fenichel, 1931.)

Bevor wir zur Darstellung der für den Soziologen wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soll auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verständnis dieser Untersuchungen ermöglicht: die Unterscheidung zwischen Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen Zusammenhang mit den „erogenen Zonen“[4]––––„“„“„“[I-062][5]