Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24

Mike Mignola &
Christopher Golden

Titel

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

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Für meinen Vater, der manchmal etwas von einem Golem hatte. Aber ich weiß, dass er es immer gut gemeint hat.

– Mike Mignola

Für meinen Sohn Nicholas, der bald aufs College geht. Die Jahre fliegen nur so dahin, und dafür hasse ich sie.

– Christopher Golden

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Kapitel 1

Orlov der Beschwörer träumt, ein Gespenst zu sein. Er schwebt in der Ecke eines seltsam verzierten Raumes, einer winzigen Kathedrale aus maurischen Säulen und Glasfenstern, wie in einem Aquarium. Durch diese Fenster sieht er Seegras, Rankenfußkrebse und zahllose Fische der unterschiedlichsten Arten. Die Meerestiere begegnen den grässlichen Schreien und blutigen Perversionen in dieser Kammer des Schreckens mit erhabener Gleichgültigkeit.

Der gespenstische Orlov wischt sich Tränen des Kummers aus den Augen, denn er kann der Frau nicht helfen, die grotesk verrenkt auf dem Altar aus gelbem Marmor liegt. Die Altarplatte ist von Rinnen durchzogen, durch die das Blut und andere Körperflüssigkeiten abfließen sollen. Sie strömen in zwei Fallrohre an der niedrigeren Seite des leicht abgeschrägten Altars und verschwinden in einem kleinen Loch im Dunkeln. Von dort sickern das Blut der Frau, ihr Auswurf und ihre Geburtsflüssigkeit in den Boden, um dort ein Wesen zu nähren, das hungrig ist.

Die Frau ist an Händen und Füßen mit rostigen Eisenketten gefesselt, die so gar nicht zu dem sauberen Marmor passen. Die Ketten enden an eisernen Ringen, die rings um den Altar im Boden verankert sind.

Als machtloser Schemen kann Orlov nur hilflos zuschauen, wie der Körper der Frau zuckt und sich windet. Die Ketten sollen sie nicht an der Flucht hindern, sondern vermeiden, dass die Eruptionen ihres Fleisches sie vom Altar schleudern. Ihr aufgetriebener Bauch bewegt sich grotesk unter den Bewegungen in seinem Innern, als drei Gestalten in blutroten Roben sich über sie beugen. Sie betasten den zuckenden Körper und erkunden mit klinischem Interesse die Leibesöffnungen. Sie haben die Haut der Frau mit Ockerfarbe bemalt und mit Runen bedeckt, deren Bedeutung Orlov verborgen bleibt. Immer wieder bäumt die Frau sich auf, denn die Farbe brennt wie Säure, und die magischen Runen fressen sich in ihre Haut.

Orlov hasst die rot gekleideten Gestalten. Zornig ballt er seine Phantomfäuste, doch seine Wut ist machtlos und ohne Folgen. In diesem Traum gilt er nichts, weniger als nichts. Er ist ein Schattenwesen. Er kann der Frau nicht helfen, kann nicht einmal ihre Peiniger verfluchen, denn als Schatten hat er keine Stimme.

Voller Hass betrachtet er den Irren, der wie eine Ziege umherhüpft und das grauenhafte Geschehen in dieser Kammer bestimmt. Das verfilzte Haar des Okkultisten ist mit einem rostigen Metallring nach hinten gebunden; zwei weitere Ringe halten die beiden Zöpfe, die er aus seinem Bart geflochten hat. Während seine Diener gelassen wirken, als sie nun das Fleisch der Frau bearbeiten, merkt man dem Irren seine Begeisterung und eine beinahe kindliche Freude an, vermischt mit sexueller Erregung. Er umkreist den Altar, drängt sich immer wieder zwischen die drei blutroten Gestalten und führt einen fremdartigen Gegenstand dicht über den Körper der Frau, wobei er einen kehligen Gesang ausstößt.

Irgendwoher kennt Orlov den Gegenstand, den der Verrückte in der Hand hält. Aber wie kann das sein? Ist er, Orlov, eine Art Hausgeist im Unterbewusstsein des Okkultisten? Spukt er durch den Traum dieses Irren?

Wie dem auch sei, Orlov kennt den Gegenstand. Es handelt sich um Lectors Pentajulum, einen Knoten aus Röhrchen und kleinen Kammern, der an das Herz eines Menschen erinnert, jedoch aus einer farbenprächtigen, unbekannten Substanz besteht, die in ihren Eigenschaften an Bernstein und Meerglas erinnert. Das Pentajulum wirkt unveränderlich und starr, aber schon die winzigste Bewegung verwandelt sein Aussehen. Orlov weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht ist es eine Täuschung des Auges oder eine Irreführung des Lichts. Oder es ist das Ergebnis einer fremdartigen Geometrie, die der menschliche Verstand nicht zu erfassen vermag.

Der Okkultist starrt auf das Pentajulum, als wäre es die letzte Hoffnung für ihn – und mit einem Mal begreift Orlov, dass es tatsächlich so ist. Die Frau des Okkultisten ist tot, zerfällt in ihrem Grab zu Staub, und nun glaubt dieser Wahnsinnige, das Pentajulum könne sie ins Leben zurückrufen, wenn es ihm gelingt, die Kräfte dieses Gegenstands zu wecken. Dieser Irre hält den Tod für den Schlüssel zum Leben. Wenn die Frau auf dem Altar stirbt, so glaubt er, würden ihr Schmerz, ihre Qual und die letztendliche Unterwerfung, wenn die Flamme ihres Lebens erlischt, durch die in ihr Fleisch gebrannten Runen in das Pentajulum geleitet.

Die Ketten klirren, als die Frau sich schreiend und voller Verzweiflung auf der Altarplatte windet. Der Okkultist lächelt erwartungsvoll. Jetzt ist sein Augenblick gekommen. Er hält das Pentajulum über die Brüste der geschundenen Frau. Plötzlich runzelt er die Stirn und schüttelt den Kopf. Orlov erkennt, dass der Plan des Okkultisten nicht aufgeht, aber der Verrückte weigert sich, seine Niederlage hinzunehmen.

In den dunklen Winkeln der Kammer regt sich etwas. Ungesehen hat sich ein Beobachter zu der Frau und ihren Peinigern gesellt – aber er ist kein Traumgespenst, kein geisterhafter Besucher wie Orlov. Die anderen in der Kammer merken nichts davon. Selbst der Okkultist scheint die Ankunft des Fremden nicht bemerkt zu haben. Er achtet nur auf die Schwangere.

Dann erscheint ein Ausdruck der Panik auf dem Gesicht des Okkultisten.

Der Leib der Frau klafft auf. Orlov beobachtet es mit einem solchen Grauen, dass er sich wünscht, nichts von der Finsternis der Ewigkeit zu wissen. Das geschwollene Fleisch der Frau ist weder zerrissen noch hat sie eine monströse Kreatur geboren. Vielmehr muss Orlov an blühende Blumen denken, als ihr Unterleib sich zu einer Rosenblüte aus gezahntem, von purpurnen Adern durchzogenem Fleisch entfaltet.

Der Okkultist kreischt vor Wut. Seine Schreie hallen von der Gewölbedecke wider, fangen sich in den Bögen, wettern durch die Kammer. Nur die Fische, die an den Fenstern vorbeischweben, bleiben teilnahmslos wie immer.

Der Leib der Frau blüht weiter auf, öffnet sich immer mehr, bis sie kaum noch etwas Menschliches hat. Dann welkt die Blume so schnell, wie sie erblüht ist, und färbt sich braun. Und während sie verfällt, stößt die Frau einen schwächlichen Schrei aus.

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Das Gespenst Orlovs des Beschwörers brüllt erschüttert auf. Es ist ein geräuschloser Schrei grellen Entsetzens.

Orlov ist sicher, dass er Brandgeruch wahrnimmt.

Nackte Verzweiflung packt ihn.

Dann umfängt ihn undurchdringliche Schwärze.

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Steif und mit schmerzenden Gliedern erwachte Felix Orlov und drehte sich auf seinem Bett herum. Er öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und starrte in das staubige Halbdunkel seines Zimmers. Augenblicklich verabscheute er das Gewicht seines altersschwachen Körpers und den quälenden Druck in seiner Blase. An einem anderen Morgen hätte er vielleicht eine bequemere Lage gefunden und seine Blase dazu gebracht, ihm noch eine Stunde Schlaf zu lassen, doch wozu? Heute hatte der Schlaf ihm kein Asyl geboten. Heute war der Schlaf ein Hort des Schreckens. Seine Träume schenkten Felix keine Zuflucht vor der alltäglichen trostlosen Langeweile, zu der sein Leben verkommen war.

Nicht solche Träume.

Felix schauderte bei der Erinnerung.

Aufgewühlt lag er da und wartete, dass die schrecklichen Bilder zerbröckelten und aus seinem Kopf verschwanden, so wie die meisten Träume binnen weniger Minuten nach dem Erwachen. Doch heute blieben die Bilder. Panik befiel ihn. Er riss die Augen auf. Er wollte diese Bilder nicht in seinem Kopf! Wie schmutzige Spinnweben hingen sie in den dunklen Winkeln seines Bewusstseins. Doch statt zu verblassen, als der Morgen voranschritt, wurden sie immer lebhafter.

»Hinaus mit euch«, flüsterte er und klopfte sich mit seinen von der Arthritis geschwollenen Knöcheln gegen die Stirn, als könne er dadurch einen inneren Schalter umlegen.

Schließlich schob er mit einem trockenen, freudlosen Lachen die Bettdecke zur Seite, schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Er drückte die Hände ins Kreuz und drehte den Kopf, um den Nacken zu dehnen. Das Knacken und Knirschen gemahnte ihn an alte Verletzungen und den allmählichen Verfall seines Körpers.

Mühsam erhob Felix sich vom Bett und schlurfte zur Badezimmertür. Der Einrichtung seines Schlafzimmers schenkte er längst keine Aufmerksamkeit mehr. Bewusst ließ er den Blick nicht auf den verblichenen Scharlachvorhängen aus Thailand ruhen oder auf den Plakaten, die in gesprungenen Rahmen an den Wänden hingen. Es waren alte Plakate, die die Zauberkünste Orlovs des Beschwörers priesen und die faszinierenden Auftritte jener Magier, die ihn als Jungen inspiriert hatten: Thurston und Fezzini, Blackstone und Houdini.

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Obwohl Felix diese Plakate nicht mehr gerne betrachtete – genauso wenig wie die vielen anderen Erinnerungsstücke in diesem Zimmer –, standen sie ihm immer noch vor Augen. Er wusste, dass sie nach den vielen Jahren von einer Staubschicht bedeckt waren, die sie so verschwommen und undeutlich machte wie seine Erinnerungen an die lange zurückliegende Zeit, als das Publikum ihm zugejubelt hatte, als Frauen ihn in Bars einluden und er schmerzfrei vom Bett zur Toilette gehen konnte.

An diesem Morgen wünschte Felix sich nur, dass eine ähnliche Staubschicht sich auf die grässlichen Bilder des Traumes legte, der ihm nicht mehr aus dem Kopf wollte. Was waren die Motive dieses verrückten Okkultisten gewesen, dass er die Frau so schrecklich gequält hatte? Was hatte dieser Wahnsinnige vorgehabt?

Der Traum war Felix wie eine Erinnerung erschienen, doch er wusste, dass es keine war. Es war nur ein Trugbild. Felix lächelte verzerrt. Träume und Trugbilder, Erinnerungen und Fantastereien – die Unterscheidung war eigentlich gar nicht so wichtig. Er, Felix, besaß die Gabe, in die dunklen Winkel des menschlichen Geistes blicken zu können. Außerdem verfügte er über ein gewisses Maß an spiritueller Sensibilität. Aber so etwas wie letzte Nacht war ihm noch nie widerfahren. Ihm war, als hätte er im Bewusstsein eines anderen Menschen geschlafwandelt.

Mit einem Seufzer stellte er sich vor die Toilettenschüssel und erleichterte sich. Dabei massierte er sich das Kreuz und fluchte leise vor sich hin. Wie schwer sich seine Augen anfühlten, wie schwach seine Glieder waren! Als junger Mann hatte Felix gerne Uhren repariert; es war eine Art Steckenpferd gewesen. Die Beschäftigung mit der feinen, winzigen Mechanik bewahrte ihm die Beweglichkeit der Finger, auf die kein Bühnenzauberer wie er verzichten konnte. Wie oft hatte er ein Uhrwerk auseinandergenommen, die Einzelteile gereinigt und geölt und die Uhr dann wieder zusammengesetzt, sodass sie perfekt lief und die winzigen Zahnräder reibungslos ineinandergriffen, leise und auf die Sekunde genau?

Felix lachte krächzend auf. Wenn doch auch sein Körper wie eine Uhr wäre, die ein rühriger junger Mann mit geschickten Fingern zerlegen, ölen und wieder zusammensetzen konnte, damit anschließend alles wie neu war!

»Verdammt«, fluchte er, seufzte tief und achtete darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er sich bückte und die Toilettenspülung betätigte.

Normalerweise mied Felix den Blick in den Badezimmerspiegel, seit Jahren schon. An diesem Morgen aber schüttelte er den Kopf, als könne er damit seine schlechten Träume vertreiben; dann beugte er sich über das Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht.

Schließlich betrachtete er sein Spiegelbild, auf das Schlimmste gefasst.

Zu seinem Erstaunen hielt sein Entsetzen sich in Grenzen. Seine Nase war noch dicker geworden, seine Wangen noch tiefer eingefallen, und die weißen Haarbüschel auf seinem Schädel waren dünner.

In einem Ausdruck wehmütiger Belustigung zog Felix die Mundwinkel nach oben.

Doch kein wandelnder Leichnam, dachte er. Und ganz sicher kein Gespenst.

Er reckte sich erneut und fühlte sich ein bisschen besser. Es gelang ihm sogar, ohne zu schlurfen ins Schlafzimmer zurückzukehren. Zweiundachtzig Jahre auf dieser Erde, und er konnte sich noch immer selbst um sich kümmern, mehr oder weniger zumindest. Das machte ihn halsstarrig und zugleich stolz – aber nicht zu stolz, um sich einzugestehen, dass es ihn auch einsam machte. Nur gab es niemanden, der ihm zuhörte und dem das Gehörte wichtig war.

Bis auf Molly, erinnerte er sich. Aber Molly war ein Kind, und niemals würde er sie mit seinen Altmännersorgen belasten.

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Felix nahm die abgetragene graue Hose vom Fußende des Bettes, über das er sie am Abend zuvor gelegt hatte, hielt sie sich an die Nase und sog tief die Luft ein. Nicht schlecht. Das Seltsamste am Leben in dieser versinkenden Stadt war der Umstand, dass sauberer Kleidung eher ein Modergeruch anhaftete als Sachen, die man schon ein- oder zweimal getragen hatte.

Felix zog sich rasch an. Er streifte die graue Hose über und nahm ein elfenbeinfarbenes gestärktes Hemd aus dem Schrank. Seine Finger waren noch geschmeidig genug, um die Knöpfe ohne Schwierigkeiten zu schließen. Er vervollständigte seine Garderobe mit einem grauen Jackett, das zur Hose passte, und einer tiefroten Fliege.

Natürlich war Felix nicht mehr der schmucke Mann, der ihn von den alten Theaterplakaten anblickte, doch er achtete auf sein Äußeres. Seine Kleidung kam aus zweiter Hand und war ausgefranst und fadenscheinig, aber er pflegte sie und sich selbst und begann jeden neuen Tag mit einem Mindestmaß an Würde. In einer Stadt, die in Schmutz und Elend versank und von allen aufgegeben worden war, die mehr Verstand und weniger Starrsinn besaßen als Felix, war Würde ein seltenes Gut, das stets mühsam neu erarbeitet werden wollte. Es störte ihn nicht, dass die Kleidungsstücke lose um seinen Altmännerkörper hingen. Er bezweifelte, dass ihm noch viele Jahre blieben, die Sachen zu tragen.

Als Felix sich auf die Bettkante hockte und die Schuhe anzog, verblasste der Traum allmählich. Er atmete auf, denn solche Albträume störten ihn in seiner Konzentration, und die brauchte er noch.

Felix’ Gedanken schweiften in die Vergangenheit.

Wenngleich er unter dem Namen »Orlov der Beschwörer« in bescheidenem Rahmen als Zauberer bekannt geworden war, hatte er seine Bühnenlaufbahn als Spiritist begonnen, als Medium, das in der Lage war, die Gedanken des Publikums zu lesen und mit seinen verstorbenen Liebsten zu kommunizieren.

Diese Fähigkeit war echt. Als Kind hatte Felix einen schrecklichen Unfall erlitten, der ihm die Mutter genommen hatte. Er selbst hatte qualvolle Monate der Genesung hinter sich bringen müssen, die ihm zudem eine unerwünschte Gabe beschert hatten: Die Toten flüsterten mit ihm. Manchmal scharten sie sich in Mengen um ihn; aber das kam nur selten vor. Meist hörte er ein gelegentliches Wispern, ein Flehen aus dem Jenseits, eine Nachricht an jemanden, der noch lebte. Und jedes Mal, wenn er Kontakt zu den Geistern aufnahm – bei jedem Bühnenauftritt und jeder privaten Séance –, empfand er die Trauer über den Tod seiner Mutter intensiver als zuvor, war sie doch der einzige Geist, mit dem er nicht in Verbindung treten konnte. Was für eine Ironie!

In seinen dunkelsten Stunden fragte sich Felix, ob seine Mutter ihn hörte, sich aber weigerte, ihm zu antworten. Aber so war es sicher nicht: Wahrscheinlich war sie so vollständig in das nächste Leben übergewechselt, dass sie sich außerhalb der Reichweite seiner Stimme befand. Doch in mancher langen Nacht plagte ihn diese Frage noch immer.

Orlov der Beschwörer war nie wirklich berühmt geworden. Stets hatte er um seinen Lebensunterhalt kämpfen müssen, zumal er unfreiwillig an New York gebunden war: Verließ er die Stadt nur für wenige Tage, wurde er krank. Deshalb hatte er nie die Möglichkeit gehabt, in den großen Theatern von Chicago und Philadelphia oder gar im Ausland aufzutreten – in jenen Städten, die von den Überflutungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht so schwer verwüstet worden waren. Deshalb hatte Orlov nie eine echte Chance gehabt, sich Ruhm zu erwerben.

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Er hatte sich im ertrunkenen, versunkenen New York eingerichtet, in den Überresten des Crown Theaters an der 29th Street. In dieser gespenstischen Umgebung dämmerte er dahin wie eine der Requisiten, die hinter der Bühne vergessen worden waren und mit jedem Tag mehr Staub ansetzten.

In den Jahren vor der Verwüstung hatte das Zentrum des Theaterviertels von New York City sich langsam nach Norden verschoben, vom klassenkämpferischen Astor Place Theater im Jahre 1849 zum Union Square in den 1870ern und schließlich zum Madison Square um die Jahrhundertwende. Das Broadway-Theater hatte alles Mögliche aufgeführt, vom Shakespeare-Drama bis zur Burleske, und von jeher waren dort auch Magier, Illusionisten und Spiritisten aufgetreten.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte New York sich dann zum Kreuzweg der Welt verwandelt, zu einem einzigartigen Zentrum des Handels, der Finanzen und der Unterhaltung. Dann warfen Seuchen und Aberglaube einen dunklen Vorhang über den europäischen Kontinent und beendeten den Ersten Weltkrieg, ehe Amerika zu viele seiner Söhne opfern musste, und New York schickte sich an, das schönste Juwel in der neu geschmiedeten Krone des Staates zu werden. Mehrere Jahre lang war die Stadt ein Traum von Wohlstand und Glück gewesen.

Bis zu der großen Verwüstung von 1925. Eine Katastrophe nach der anderen hatte Städte mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Springfluten heimgesucht.

Die ersten Erdstöße hatten sich im Sommer 1922 ereignet, aber sie waren bloß ein harmloses Vorspiel zur wahren Katastrophe gewesen, die begann, nachdem die Stadt Anfang 1925 die Winterkälte abgeschüttelt hatte. Der Schnee schmolz, der Regen kam, und die Flüsse schwollen an und stiegen über die Ufer. Jahre später entdeckten Admiral Benjamin Wheeler und seine Polarexpedition Veränderungen im antarktischen Schelfeis, die zahlreiche Spekulationen über den Anstieg des Meeresspiegels auslösten, doch 1925 wusste man noch nichts davon. Damals betrachteten die Einwohner New Yorks sich als Opfer göttlichen Zorns. Sie sprachen von Sodom und Gomorra, von den Sieben Plagen und den Prüfungen Hiobs, als Hochhäuser zusammenbrachen und ungeheure Wassermassen in die Stadt fluteten.

New York wurde in die reiche, glitzernde Uptown und die schmutzige, versinkende Downtown zerrissen, wo die Armen blieben und um ihr Leben kämpften, denn es gab keinen anderen Ort, an den sie gehen konnten. Statt ihre Häuser aufzugeben, passten sie sich den veränderten Bedingungen an, so gut sie es vermochten. Sie schotteten die überfluteten unteren Etagen der noch bewohnbaren Gebäude ab und gründeten eine bislang nie da gewesene Lumpensammlergesellschaft.

Die meisten Zurückgebliebenen sorgten auf eigene Faust für ihr Überleben, doch es gab auch behelfsmäßige Läden und sogar Wirtshäuser, wo die zum Bleiben Entschlossenen – oder die zum Gehen Unfähigen – wenigstens so tun konnten, als lebten sie noch in Amerika und als wüssten sie noch etwas von der Zivilisation.

Die Jahre zogen vorüber. Die Menschen in Downtown ignorierten, was sie im Norden sahen – so wie die Menschen in Uptown vorgaben, die Versunkene Stadt existiere gar nicht, obwohl sie nur einen Steinwurf entfernt war. Uptown gedieh weiterhin, erblühte mit neuen Geschäften und funkelnder, moderner Architektur, während Lower Manhattan zu einer finsteren Welt aus stinkenden Kanälen und baufälligen Brücken, gefährlichen Schatten und rebellischen Geistern wurde. »Die Versunkene Stadt«, so nannten sie einige ihrer älteren Bewohner. Für Felix war sie nach wie vor New York, sein Zuhause.

In Lower Manhattan wurde weiter Theater gespielt, doch es war eher ein derbes Spektakel, aufgeführt vor einem Publikum, das sich Ablenkung von der Trostlosigkeit des Alltags erhoffte und oft gar nicht die Bedeutung dessen verstand, was es zu sehen bekam. Felix war seit mehr als vierzig Jahren nicht mehr auf einer Bühne aufgetreten, und er versicherte sich immer wieder, dass er es nicht vermisste.

Er setzte seine Brille auf, nahm seine Taschenuhr aus dem Sekretär und ließ den Deckel aufschnappen. Viertel vor neun. Er hatte länger geschlafen als gewöhnlich, gefangen im Griff seines schrecklichen Traumes, doch vor seinem Termin heute Morgen blieb ihm noch Zeit, einen Happen zu essen.

Er ging zum Fenster und zog die scharlachroten Vorhänge zur Seite, um nach dem Wetter zu sehen. Eine Flut aus grauem Licht strömte ins Zimmer, und ein Sturm aus winzigen Staubflocken wirbelte umher, als Felix sich vorbeugte und nach draußen schaute. Ein leichter Regen sprenkelte die Scheibe, und die Wellen auf der überfluteten 29th Street kräuselten sich an der Oberfläche. Laut tuckernd beförderte ein Dampftaxi seine Passagiere durch die Kanäle der Versunkenen Stadt. Oft befuhren auch chinesische Gondolieri die Gewässer dieser Gegend, aber heute sah Felix keinen von ihnen.

Er blickte in die andere Richtung und beugte sich weiter vor, damit er an den Überresten der Leuchtreklame vorbeischauen konnte, die sein Wohnhaus einst in strahlendem Neonlicht als das Crown Theater ausgewiesen hatte. Das Theater verrottete seit Langem unter dreißig Fuß Meerwasser, dessen Salz die Bühne, die Kulissen und die Sitze zerfraß und die Tapeten von den Wänden schälte.

Vor vierzig Jahren hatte Murray Feinberg die Treppe, die hinunter zum Theater führte, mit Beton verschlossen, der den Schimmel und die Wasserratten daran hindern sollte, auf diesem Weg hereinzukommen, doch der Schimmelgeruch hing hier ebenso in den Wänden wie in fast allen anderen alten Gebäuden der Versunkenen Stadt. An den meisten Tagen half es nicht viel, die Fenster offen zu lassen. Die Meeresluft war oft mit schmierigem Ölrauch verschmutzt, den die Motoren ausstießen, die den Strom für die Versunkene Stadt erzeugten. Hinzu kam der Rauch aus den Fabriken, in denen viele jener New Yorker arbeiteten, deren Eltern und Großeltern damals dem Wasser nicht hatten weichen wollen.

New Yorker. Der Gedanke ließ Felix lächeln.

Weiter unten stampfte das Taxi, das schwarzen Qualm ausstieß, auf die Fassade des Theaters zu. Eine Klingelschnur hing dort herunter. Wenn Felix das Haus verließ oder jemanden empfangen wollte, drehte er eine Kurbel, und eine Eisenleiter senkte sich herab und überbrückte den schmalen Abgrund zwischen dem Theater und dem Nachbargebäude mit der ein Jahrhundert alten, aber noch immer stabilen Feuertreppe. Felix machte sich keine Sorgen, dass von dieser Seite aus Plünderer in Haus kommen könnten. Das Gebäude, das dort stand, war nur drei Stockwerke hoch und deshalb fast vollständig unter der Wasseroberfläche verschwunden. Bei Ebbe konnte Felix die Ruderfußkrebse auf dem Dach sehen, das halb eingestürzt war, und auch die langen, silbrigen Wesen, die dort im Dunkeln schwammen.

Wieder blickte er die 29th Street hinunter, auf die Leitern und wackligen Laufstege, die sich kreuz und quer dahinzogen, auf glitschige Planken, die Hausdächer überspannten, und auf provisorische Brücken aus Holz und Eisen, Seilen und Stahlkabeln – die einzigen Fußwege, die die Menschen von Lower Manhattan seit fast einem halben Jahrhundert kannten. Uptown in seinem funkelnden, modernen Reichtum unterschied sich nicht sehr vom New York früherer Tage, doch in Lower Manhattan und einem Großteil Brooklyns hatten die Menschen eine neue, archaische Gesellschaft errichtet. Zur Hölle mit Uptown war vor langer Zeit ein beliebter Slogan gewesen, als Felix in den besten Jahren gewesen war. Die wahre Hölle aber war die Versunkene Stadt. In dieser Welt zu überleben, war eine Kunst.

Ein nachdrückliches Pochen an der Tür riss Felix aus seinen Gedanken. Das Wassertaxi hatte er unter dem Laufsteg an der Front des Gebäudes, an der alten Leuchtreklame, aus den Augen verloren, aber er wusste auch so, wohin es fuhr.

Felix strich sich das fadenscheinige Jackett glatt und ging hinaus auf den Flur. Über dem abgeschotteten, überfluteten Theater befanden sich zwei Etagen mit Zimmern, verbunden durch eine Treppe. Felix wohnte im oberen Stock. Früher hatte er die untere Etage vermietet, aber heute nahm er kein Geld mehr damit ein.

Wieder klopfte es leise, aber drängend.

»Ich komme«, sagte Felix seufzend.

Er schloss die Tür auf und öffnete sie. Vor ihm stand die vierzehnjährige Molly McHugh, seine Assistentin. Sie arbeitete gegen Kost und Logis für ihn, bewohnte das Geschoss unter ihm und servierte ihm dort jeden Morgen das Frühstück.

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Wie immer strahlte Molly ihn auch an diesem Morgen an, ganz Sommersprossen und rotes Haar und jugendliche Spannkraft – ein Anblick, bei dem Felix sich jedes Mal lebendiger fühlte.

»Felix …«, begann sie.

»Was klopfst du immer so ungeduldig?«, unterbrach er sie. »Wann begreifst du endlich, dass ich zu alt bin, um mich so schnell zu bewegen, wie du es gern möchtest?«

»Jemand muss dich in Schwung halten!« Molly schob eine Hüfte vor, als wäre sie es, die ihn zügeln müsste. Und nicht selten tat sie es sogar. »Ich wollte dir nur sagen, dass dein Frühstück fertig ist. Aber daraus wird wohl nichts. Ich habe draußen ein Taxi gesehen. Anscheinend kommt dein Neun-Uhr-dreißig-Termin zu früh.«

»Tatsächlich?«, stellte Felix sich unwissend. Molly war so stolz auf ihre Rolle als seine Assistentin, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr zu eröffnen, dass er die Ankunft des Taxis ebenfalls bemerkt hatte. »Nun, da lässt sich wohl nichts machen. Dann muss das Frühstück eben warten.«

Ehe Molly etwas erwidern konnte, begann es im ganzen Gebäude zu klingeln, als unten am Wasser jemand am Seil zog.

Felix’ Besucher war eingetroffen.

Er konnte fast schon die Gespenster hören, wie sie in den dunklen Ecken raschelten.

Kapitel 2

Es gefiel Molly nicht, wie Felix aussah. Sie erlebte ihn nicht zum ersten Mal müde und zerstreut, aber heute war es anders. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, und die ohnehin tiefen Furchen in seinem Gesicht wirkten noch ausgeprägter als sonst. Felix bemerkte, wie das Mädchen ihn musterte, und setzte ein Lächeln auf, das ein Fremder ihm vielleicht abgenommen hätte, doch Molly, seine Assistentin und Freundin, konnte er nicht täuschen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

»Was ist mit dir, Felix?«, wollte sie wissen.

Der alte Beschwörer runzelte die Stirn und versuchte, ihre Frage mit einem Schulterzucken abzutun. »Es sind meine Träume«, sagte er – sowohl ein Geständnis als auch ein weiterer Versuch, das Mädchen vom Thema abzubringen. »Das gibt sich wieder.«

Doch Molly kannte ihn viel zu gut, als dass sie sich täuschen ließ.

Vor zwei Jahren waren sie einander in der Dunkelheit eines Kanals in TriBeCa begegnet. Molly hatte in den rußgeschwärzten oberen Etagen der Ruine von Ray’s Smokefish gewohnt, einem heruntergekommenen Fischimbiss, der einem Brand zum Opfer gefallen war. Ihren Vater hatte Molly nie kennengelernt. Gleiches hätte sie auch gern von ihrer gleichgültigen Mutter behauptet, die es kaum registriert hatte, als Molly davongelaufen war, nachdem sie beide einen endlos langen Winter in einem Haus verbracht hatten, das von Huren und Keuchern besetzt worden war. Molly wollte gar nicht erst an diese Monate zurückdenken und zog es vor, sie als schlechten Traum zu betrachten.

Sie hatte in der Brandruine des Fischimbisses Unterschlupf gefunden. Die Zeit dort war eine Erholung gewesen im Vergleich zu dem langen Winter im Hurenhaus. Molly war dort relativ sicher gewesen, denn kein noch so verwegener Keucher war dumm genug, sein Leben in einem Gebäude aufs Spiel zu setzen, das jeden Moment zusammenbrechen und im Kanal versinken konnte. So war Ray’s Smokefish Mollys erstes richtiges Zuhause geworden. Keine gleichgültige Mutter. Keine gefährlichen Keucher. Niemand, der sie anfassen oder zum Kiffen verleiten wollte. Niemand, der sie anstarrte, als wäre sie eine von ihnen und als wäre es ihr vorherbestimmt, auf das bloße Nicken eines schmuddeligen Hausbesetzers hin zu sterben.

Jeden Tag hatte Molly auf dem Dach von Sharkey’s Pub hinter einem Schild gehockt und gegessen, was sie sich von der alten koreanischen Kellnerin erbettelt hatte, die während ihrer Raucherpausen auf den Balkon an der Rückseite des Gebäudes gekommen war. Jedes Mal waren Lachen, Musik und Rauch aus der Kneipe vier Etagen über dem Wasserspiegel gedrungen; die verlassenen Stämme Lower Manhattans richteten sich in den überfluteten Ruinen ausschließlich nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit ein.

Dann, eines Tages, als Molly wieder einmal auf dem Dach von Sharkey’s Pub gewesen war, hatte sie Felix kennenlernt. Sie erinnert sich so gut daran, als wäre es gestern gewesen.

Ein Glas war zersprungen, und Molly war zusammengezuckt, weil das Klirren so nahe erschienen war. Doch es hatte an der eigentümlichen Akustik gelegen: Das Geräusch war aus den Lüftungsrohren auf dem Dach gedrungen. Dann hatte sie das Klacken von Holz und ein Knarren an den Mauern unter ihr vernommen – leise, wie aus weiter Ferne, denn die Schluchten der Stadt bildeten Echokammern, die das kleinste Geräusch verstärkten. Molly hatte sich unter das Maul des Hais im Schild von Sharkey’s Pub an die Dachkante gekauert und beobachtet, wie eine fremde Gondel durch den engen Kanal steuerte, von zwei Gondolieri gelenkt, die das kleine Boot mit langen Stangen von den Hausmauern abstießen, um es ohne Segel oder Motor voranzutreiben. Sie hatten nur einen Passagier gehabt, einen alten Mann, der im Heck der Gondel saß, die Hände aufeinandergelegt und das Kinn erhoben, als säße er Modell für ein Porträt.

So hatte Molly McHugh zum ersten Mal Felix Orlov zu Gesicht bekommen.

Ein paar Minuten später, als sie eine baufällige Brücke aus Seilen und Planken überquerte, einen halben Häuserblock von der Ruine des Fischimbisses entfernt, hörte Molly wütende Schreie und gedämpftes Gelächter. Das Krachen von berstendem Holz hallte von den umgebenden Hausfassaden wider wie ein Pistolenschuss. Molly kletterte über die Brücke, duckte sich unter einem scheibenlosen Fensterbogen im Gebäude von Oracle Publishing hindurch, rannte durch Büros voller Bücherregale, in denen Missionare aus Uptown ein Zentrum für die verlorenen Jungen und Mädchen von Midtown und Lower Manhattan eingerichtet hatten, und flitzte hinaus und zur Feuertreppe an der anderen Außenmauer des Gebäudes.

Unter ihr wurde die Gondel plötzlich von Wasserratten angegriffen. Die vier Raubmörder – junge Kerle um die zwanzig – hatten bereits einen Gondoliere getötet, als Molly geräuschlos auf das Stahlgitter über ihren Köpfen glitt. Im nächsten Moment holte eine der Ratten mit einer Gondelstange nach dem alten Mann aus, der sich im Heck des kleinen Bootes duckte. Der zweite Gondoliere ließ Boot und Passagier im Stich, sprang ins Wasser und schwamm in panischer Hast davon. Zwei der Raubmörder setzten ihm nach und überließen ihren beiden Kumpanen den alten Mann.

Der vielleicht gar nicht so alt war.

Er stand auf. Sein helles Haar leuchtete im Dunkeln wie eine Boje. Er stellte sich den Raubmördern zum Kampf, wobei er den Kopf hin und her wiegte wie eine Schlange, und sprach zu ihnen, aber so leise, dass Molly nicht verstand, was er sagte. Die linke Hand hielt er vor der Brust und bewegte sie langsam vor und zurück, sodass Molly ihn im ersten Moment für betrunken hielt.

Dann hatte er unvermittelt einen Schritt nach vorn gemacht und eine der Wasserratten mit der Handfläche gerammt. Er traf den Kerl mit solcher Wucht vor das Brustbein, dass er über Bord flog, mit dem Schädel gegen eine Hauswand prallte und lautlos im stinkenden, nachtschwarzen Wasser versank.

Der letzte der vier Raubmörder zückte ein Messer.

Molly schrie unwillkürlich auf. Sie fürchtete um den alten Mann und bejubelte zugleich seinen Mut. Aus einem Instinkt heraus huschte sie zum Geländer der Feuertreppe und schlug gegen den Hebel. Die Leiter wurde ausgeklinkt und rasselte so laut in die Tiefe, dass der Raubmörder innehielt und nach oben blickte. Er stieß einen Fluch aus, als der alte Mann seine Chance nutzte, die Leiter packte und hinaufkletterte.

Doch er hatte keine Chance, das wusste Molly. Der Raubmörder war jung und stark. Er würde den Alten nach wenigen Sekunden einholen, würde ihm das Messer in den Rücken rammen oder ihm die Kehle durchschneiden. Dann würde er ihm die Taschen ausleeren und den Leichnam ins Wasser werfen. Molly wusste aus eigener Beobachtung, wie Wasserratten vorgingen.

Sie huschte ins Gebäude zurück. Ihr Blick fiel auf eine Kiste voller alter, ledergebundener Bücher. Kurz entschlossen zerrte sie die Kiste hinaus auf die Feuertreppe. Einer der Missionare, ein gut aussehender Mann mit kaffeebrauner Haut, kam heraus und fragte sie mit französischem Akzent, was sie tue, doch Molly beachtete ihn gar nicht.

Der alte Mann stieg weiter die Leiter hinauf. Der Raubmörder verfolgte ihn, hatte aber Schwierigkeiten, weil er zu dumm war, beim Klettern das Messer wegzustecken.

Molly rief dem alten Mann zu, er solle den Kopf einziehen. Er presste sich an die Leiter, während sein Verfolger das genaue Gegenteil tat: Er lehnte sich nach hinten, starrte Molly hasserfüllt an und fragte sich, was sie vorhatte.

Das erste Buch brach dem Kerl das Nasenbein. Er sackte an der Leiter zusammen, brüllte vor Schmerz und zog sich hastig hoch, um weiteren Wurfgeschossen zu entgehen. Wieder schleuderte Molly ein Buch, doch es verfehlte den Kerl, und sie begann vor Angst zu zittern.

In dem Moment, als die Ratte die Hand nach Felix’ Bein ausstreckte, warf Molly zwei schwere Bücher auf einmal. Sie trafen den Raubmörder seitlich am Kopf, und er rutschte von der Sprosse. Mit einer Hand hielt er sich fest und strampelte mit den Beinen, suchte mit den Füßen verzweifelt nach Halt. Ächzend wuchtete Molly die gesamte Bücherkiste über das Geländer und ließ sie fallen. Sie streifte Felix’ Rücken und schleuderte den alten Mann hart gegen die Leiter. Dann traf sie mit schrecklicher Wucht den Raubmörder und riss dessen Kopf in einem grotesken Winkel nach hinten. Sein Griff um die Sprosse löste sich, und er stürzte kreischend in die Tiefe und verschwand in der stinkenden schwarzen Brühe.

Als die anderen Ratten zurückkehrten, standen Missionare auf der Feuertreppe und leuchteten auf das dunkle Wasser. Molly traute ihnen nicht, nicht einmal, als sie darauf bestanden, dass Felix und sie die Nacht in der Mission mit den verlorenen Kindern der Versunkenen Stadt verbrachten. Sosehr Felix sie beeindruckte – Molly hatte sich vor Sonnenaufgang davongeschlichen und war zur ausgebrannten Ruine von Ray’s Smokefish zurückgekehrt.

Felix brauchte zwei Tage, um Molly zu finden, da er sich bei ihr bedanken wollte. Er benötige eine Assistentin, sagte er, auf die er sich verlassen könne. Sie solle ihm helfen, sich um sein Haus zu kümmern, und seine Kunden empfangen.

Molly hätten weinen können vor Glück.

Noch nie hatte jemand sie gebraucht.

Spacebreak.tif

»Dir geht es nicht gut«, sagte sie nun und hob die Stimme, um den Lärm zu übertönen, denn die Klingeln im Haus läuteten wieder.

Erneut versuchte Felix, Molly mit einem matten Lächeln abzuspeisen, an ihr vorbeizuschlüpfen und an die Tür zur Treppe zu gelangen.

»Felix!«, rief Molly scharf.

Er seufzte tief, und alle Verstellung fiel von ihm ab. Er wirkte müde und erschöpft. Molly hatte ihn immer schon als alten Mann betrachtet, von dem Augenblick an, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber damals war sie erst zwölf gewesen. Für sie war jeder mit weißem Haar alt. Jetzt, als Felix den lang gezogenen Seufzer ausstieß, erschien er ihr so alt wie die Welt.

Molly nahm seine Hand. Felix stand ihr so nahe wie ein Verwandter, und sie wollte ihn nicht leiden sehen. »Du solltest absagen. Ich lasse mir eine Ausrede einfallen und schicke sie fort.«

Felix schnalzte mit der Zunge. »Du wirst nichts dergleichen tun. Ich habe nicht mehr viele Kunden. Wenn wir weiterhin etwas zu essen haben wollen, kann ich die wenigen Leute, die noch zu mir kommen, nicht abweisen.«

Molly drückte Felix’ Hand. Das rote Haar war ihr in die Augen gefallen, doch sie ließ sich nicht davon ablenken und konzentrierte sich ganz auf ihn.

»Ich bin deine Assistentin«, sagte sie. »Das bedeutet, ich bin für dich verantwortlich.« In ihrer Brust spürte sie ein unruhiges Stechen. »Du brauchst Ruhe.«

»Morgen«, sagte Felix. Sein Blick wurde weich, und sein Lächeln war zum ersten Mal aufrichtig. »Ich fahre nach Brooklyn, dann fühle ich mich besser. So ist es noch jedes Mal gewesen.«

»Versprichst du es?«

»Bleibt mir eine Wahl?«

Molly ließ seine Hand los und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«

»Voilà. Ich verspreche es. Morgen Brooklyn. Und heute zaubern wir ein wenig. Mal schauen, was die Geister zu sagen haben.«

Molly nickte, für den Moment zufrieden, doch noch immer machte sie sich Sorgen um den alten Mann.

»Na schön, junge Dame«, sagte Felix und wies durch die Tür auf die Stufen. »Geh du voran.«

Spacebreak.tif

Irgendetwas war schiefgegangen.

Molly stand in einer dunklen Ecke und beobachtete die Séance. Felix’ verzerrtes Gesicht gefiel ihr ganz und gar nicht. Er sah aus, als wäre er in einem Traum voller Qualen und Angst gefangen, aus dem er sich nicht losreißen konnte. Seine Kunden, die Mendehlsons, saßen mit ihm am runden Tisch. Alle drei hielten sie sich bei der Hand und bildeten die Ecken einer okkulten Pyramide. Mrs. Mendehlson – Sarah mit Vornamen – hielt die Augen geschlossen, so wie Felix sie gebeten hatte. In ihrem Gesicht stand hoffnungsvolle Erwartung. Felix war es schon oft gelungen, den Geist ihres Sohnes David herbeizurufen. David Mendehlson hatte beim Einsturz eines unter Wasser liegenden Gebäudes in Downtown, wo Narren und Adrenalinjunkies gern zwischen den Ruinen versunkener Gebäude tauchten, den Tod gefunden.

Einmal hatte Felix sogar den Geist von Sarah Mendehlsons Vater aufgespürt, der in seinem Apartment auf der East 25th Street an Krebs gestorben war, nachdem er sich geweigert hatte, die Versunkene Stadt zu verlassen und in ein Krankenhaus in Uptown zu gehen. Man hätte ihn zwar nicht mehr heilen können, aber er hätte vielleicht noch ein paar Jahre gelebt, und auf jeden Fall hätte er weniger Schmerzen erdulden müssen. Felix hatte mit dem Geist des Mannes Kontakt aufgenommen, und er hatte seiner Tochter versichert, seine Entscheidung nicht zu bereuen.

Anders als seine Frau glaubte Mr. Mendehlson nicht an Felix’ mediale Fähigkeiten. Ganz gleich, wie oft der Beschwörer seiner Frau Dinge offenbart hatte, die außer ihr nur ihre verstorbenen Angehörigen wissen konnten – Mr. Mendehlson wollte sich einfach nicht überzeugen lassen.

Als Molly ins Felix’ Dienste getreten war, hatte sie ihre eigenen Zweifel am Spiritismus gehegt, mehr als nur Zweifel sogar. Sie hatte Felix für einen alternden Bauernfänger gehalten, der sich gut darauf verstand, Narren das Geld aus der Tasche zu ziehen. Molly kannte solche Schwindler aus der Zeit, als sie auf der Straße gelebt hatte; sie hatte mehr als genug Typen von dieser Sorte kennengelernt. Doch mit der Zeit hatte sie erkennen müssen, dass Felix’ Gabe tatsächlich existierte, denn sie hatte Dinge gesehen, die einfach nicht zu erklären waren und die sie überzeugt hatten. Dadurch waren ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu Felix weiter gewachsen.

Mittlerweile hatte Molly ihm so oft bei der Arbeit zugeschaut, dass ihr Glaube an seine übersinnlichen Fähigkeiten unerschütterlich geworden war. Die Wahrhaftigkeit seines Wirkens rührte von seiner völligen Ergebenheit gegenüber den Geistern her, die mit ihm kommunizierten. Vielleicht wollte Mr. Mendehlson die Wahrheit nicht akzeptieren, weil Felix früher als Bühnenzauberer aufgetreten war und den Leuten geschickte Täuschungen dargeboten hatte. Oder schmerzte es Mr. Mendehlson zu sehr, dass der Geist seines Sohnes noch im Äther verweilte, der die Versunkene Stadt umschloss, und zum Weiterziehen noch nicht bereit war? Molly wusste es nicht.

Nachdem sie erkannt hatte, dass Felix tatsächlich mit den Geistern der Toten zu reden vermochte, ließ ihr der Gedanke keine Ruhe mehr, dass rings um sie her Geister sein konnten, immer und überall, ohne dass sie davon wusste. Es war eine Vorstellung, die ihr Unbehagen bereitete. Doch mit der Zeit hatte sie begriffen, dass es nicht die Geister der Toten waren, die sie fürchten musste. Wenn Geister Seite an Seite mit den Lebenden existierten, wenn nach dem Tod des Körpers die Seelen auf Erden verweilten, musste sie auch die Möglichkeit akzeptieren, dass es noch etwas anderes gab als die Geister der Verstorbenen.

Etwas Finsteres, Bedrohliches, Abscheuliches.

Die Fenster standen einen Spalt weit offen, und ein leichter Wind wehte in den Raum und zupfte an den Vorhängen. Die gemalten Augen Dutzender Statuen und Gemälden von Heiligen und Jungfrauen wachten über das Geschehen. Die Kunstwerke aufzustellen, war Mollys Idee gewesen; sie gehörten zu Felix’ Arbeit, mehr aber auch nicht. Als Molly klar geworden war, was Felix hier tat, hatte sie erklärt, die religiöse Symbolik würde seinen Kunden größeres Vertrauen in seine Fähigkeiten einflößen und sie dadurch gegenüber den Geistern, die sie kontaktieren wollten, aufgeschlossener machen. Für Felix war seine Gabe etwas Normales; er konnte eine Séance überall durchführen. Doch Molly hatte ihm klargemacht, dass andere Menschen den Kontakt mit der Geisterwelt nicht als alltäglich betrachteten und überzeugt werden mussten, dass das, was Felix tat, wahrhaft außergewöhnlich war.

Aus der östlichen Ecke des Séanceraums, in dem sie nun stand, blickte Molly sich um und bewunderte ihr Werk. Das Morgenlicht fiel ins Zimmer und überzog alles mit einem angenehmen, warmen Leuchten, aber rings um den Tisch schienen die Schatten sich zu verschieben und an- und abzuflauen wie der Wind zwischen den Häuserschluchten.

Das Theater knarrte und ächzte wie ein altes Segelschiff. Das Geräusch rührte von dem Wasser her, das in die unteren Stockwerke hinein- und wieder hinausströmte, sodass das ganze Gebäude zu atmen schien. Normalerweise empfand Molly die Geräusche als beruhigend, aber heute war irgendetwas anders als sonst; das hatte sie schon zu Beginn der Séance gespürt.

Sie hätte Felix darauf ansprechen können, aber der hatte von Anfang an darauf bestanden, dass Mollys Rolle die einer Assistentin sei und dass sie niemals eine Séance unterbrechen dürfe. Dass sie jedes Mal in einer Ecke des Raumes stand, diente vor allem dazu, den Kunden deutlich zu machen, dass Felix auf keine Tricks zurückgriff und dass Mollys Anwesenheit allein der Unterstützung diente. Hätte sie mit am Tisch gesessen, wäre den Kunden womöglich der Verdacht gekommen, dass sie Felix dabei half, irgendwelche Trugbilder zu erzeugen.

Obwohl Felix ihr stets versicherte, dass es nichts zu fürchten gebe, sorgte Molly sich bei jeder Séance um ihn. Doch bisher war nie etwas geschehen. Nie hatte der Kontakt zur Geisterwelt beunruhigende Folgeerscheinungen bei Felix hinterlassen, sah man von einer tiefen Traurigkeit ab, die ihm nach seinen Gesprächen mit den Toten oft lange Zeit zu schaffen machte.

Heute jedoch beobachtete Molly voller Sorge, wie blass und verhärmt er aussah und wie steif er auf seinem Stuhl saß, die Stirn gerunzelt, mit traurig herabhängenden Mundwinkeln, zuckendem Gesicht und verzerrter Miene, als wäre ihm ein ekelerregender Geruch in die Nase gestiegen. Sein Atem ging in kurzen, heftigen Stößen, beinahe so, als schluchze er.

Natürlich war auch Mrs. Mendehlson das alles nicht entgangen.

»Was ist, Mr. Orlov?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Ist etwas mit David?«

Molly hätte die Séance am liebsten auf der Stelle abgebrochen: Felix hatte keinen Kontakt zu Davids Geist hergestellt, jedenfalls noch nicht.

Felix antwortete nicht auf Mrs. Mendehlsons Frage. Auf seinem Gesicht lag ein besorgniserregender Ausdruck, den Molly noch nie gesehen hatte. Wieder erschrak sie.

»Felix?«, fragte sie leise, als er auf Mrs. Mendehlsons Frage nicht reagierte, obwohl sie damit gegen zwei eherne Regeln ihres Dienstherrn verstieß: Sie durfte keine Séance unterbrechen, und sie durfte Felix niemals vor seinen Kunden duzen oder ihn auch nur mit dem Vornamen ansprechen.

Wieder reagierte Felix nicht, obwohl er sich zumindest seine Verärgerung hätte anmerken lassen müssen. Doch wo immer Felix Orlov im Moment weilte, er konnte sie nicht hören.

»Ob mit David etwas ist?« Mr. Mendehlson rümpfte verächtlich die Nase. »Oh ja. Er ist tot.«

Mrs. Mendehlson zuckte zusammen, öffnete die Augen und bedachte ihren Mann mit einem verletzten Blick.

»Alan, du bist ein Mistkerl!«, zischte sie. »Ich weiß selbst, dass er tot ist. Das heißt aber nicht, dass er fort ist, und es bedeutet auch nicht, dass ich ihn nicht mehr lieb haben darf!«

Molly hörte kaum zu. In dem sanften goldenen Licht, das in den Raum sickerte, blinzelte sie und versuchte sich auf Felix zu konzentrie