Hans-Jürgen Rusch
Stahlsarg
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlagbild: © magdal3na – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Alexander Somogyi
ISBN 978-3-7349-9380-0
Dienstag – 24. April
Wie beinahe täglich kam Steffi Gutzeit auch an diesem Abend erst spät nach Hause. Im Korridor warf sie die Post auf die kleine Anrichte, streifte die Schuhe ab, hing ihren Mantel an die Flurgarderobe und ging ins Wohnzimmer. Geschafft fiel sie auf das Sofa, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Diese Momente der Besinnung gönnte sie sich jeden Tag. Heute währte die Pause allerdings nur kurz – ihr Handy klingelte.
Sie nahm es vom Tisch, warf einen Blick auf das Display und drückte die grüne Taste. »Hey Nils, grüß dich.«
»Hallo Steffi! Wie geht’s dir?«
Die beiden hatten zusammen bis vor fünf Jahren an der Uni in Braunschweig Kraftfahrzeugtechnik studiert. Mit dem Schritt in den Berufsalltag hatten sich ihre Wege getrennt. Während Steffi heute ihr eigenes Ingenieurbüro führte, arbeitete Nils Schulze als Anwendungsingenieur bei der CarTech, einer Firma, die Ausrüstungen für Autowerkstätten herstellte. Er war ein begnadeter Verkäufer; selbst Beduinen in der Wüste würde er Elektroheizungen andrehen.
Steffi sah auf ihre Armbanduhr, die Viertel vor zehn anzeigte. »Was verschafft mir die Ehre deines späten Anrufs?«
»Ich brauche deinen Rat.«
Steffi verstand Nils kaum. »Was ist das für ein Lärm im Hintergrund?«
»Fröhliche Zecher. Ich wollte ungestört nachdenken und das kann ich in meiner Stammkneipe am besten.« Er räusperte sich. »Du musst mir helfen.«
»Schieß los.«
»Unser Alter verbreitet Hektik. Wir haben eine neue Reparaturmethode samt Gerätetechnik entwickelt, und die soll nun mit Macht in den Markt gedrückt werden. Am kommenden Montag, gleich nach der Verbandstagung, gibt sich seine Majestät König Düring die Ehre und besucht die Firma. Ich soll unser Wunderwerk der Technik präsentieren und dessen Vorzüge gegenüber marktüblichen Praktiken anpreisen.«
Steffi hatte gerüchteweise von den Neuerungen der CarTech gehört. Angeblich erlaubte deren neues System das vollautomatische Arbeiten; ohne irgendwelche Parameter einstellen zu müssen, konnten Unfallreparaturen durchgeführt werden. Mehr wusste sie aber auch nicht.
»Was kann ich dabei tun?«, wollte Steffi wissen.
»Schau dir einige Unterlagen an und sag mir deine Meinung. Du kennst den Markt und die Praxis in den Werkstätten.«
Das Angebot klang verlockend. Steffis Ingenieurbüro entwickelte Reparaturtechniken für die Automobilindustrie. Und dafür musste sie stets die neuesten Entwicklungen kennen. Die Unterlagen von Nils interessierten sie wirklich.
»Ich kann mir eure Neuheit ja mal anschauen. Bestimmt fällt mir anschließend einiges ein, mit dem du vor Düring glänzen kannst.«
»Vorerst musst du dich allerdings mit Papier zufriedengeben. Das Projekt läuft bei uns unter absoluter Geheimhaltung. Bis zur ersten Veröffentlichung darfst du kein Wort darüber verlieren.«
»Verschwiegenheit gehört zu meinem Geschäft.«
»Ich weiß«, entgegnete Nils im Brustton der Überzeugung, »deshalb habe ich dich auch angerufen.«
»Wann bekomme ich die Unterlagen?«
»Die müsstest du dir morgen früh um sechs bei mir in der Firma abholen. Ich habe noch einiges vorzubereiten und fahre dann mit dem Alten weg. Kannst du kommen?«
»Kein Problem.« Steffi ging in Gedanken ihren Terminkalender durch. »Reicht’s, wenn ich dir meine Ausarbeitung am Freitag schicke?«
»Okay.« Nils klang erleichtert, als hätte sie ihm einen unbequemen Kunden abgenommen. »Morgen um sechs vor dem Verwaltungsgebäude.«
»Alles klar. Gute Nacht.«
Nils verabschiedete sich und legte auf.
Nachdenklich sah Steffi noch einige Augenblicke auf das Telefon und legte es dann auf den Tisch. Nils’ Unterlagen boten ihr die Möglichkeit, zukünftig lohnende Aufträge an Land zu ziehen – neue Technik für die Werkstatt zog neue Arbeitsabläufe nach sich, und die erarbeitete Steffi zusammen mit ihrem Mitarbeiter. Wenn sie jetzt frühzeitig Einblick erhielt, bekam sie einen Vorsprung vor der Konkurrenz.
Zufrieden lief Steffi in den Korridor und holte die Post. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Sie schob den Kopf näher heran und strich sanft über die Haut unter den Augen. Von den dunklen Schatten, die sich nach stressreichen Tagen dort zeigten, war zum Glück heute nichts zu sehen. Damit das so blieb, würde sie nachher gleich ins Bett gehen, morgen früh um fünf klingelte der Wecker. Prüfend drehte Steffi den Kopf hin und her. Die Lachfältchen in den äußeren Augenwinkeln gruben sich immer tiefer ein. Ob sie einmal eine Faltencreme ausprobieren sollte? Sie zuckte die Schultern – vielleicht im nächsten Urlaub, wann immer der auch kommen würde. Steffi zog das Gummiband aus den blonden Haaren, schüttelte den Kopf und lief in die Küche. Mit einem Joghurt hockte sie sich anschließend für einige Minuten vor den Fernsehapparat und ging schließlich schlafen.
*
Am nächsten Morgen kam Steffi ungehindert durch den gerade erwachenden Berufsverkehr und erreichte pünktlich zehn vor sechs das Industriegebiet am Hohentorshafen. Sie parkte ihr Auto vor der CarTech und lief auf das Betriebsgelände. Während die Fenster des Produktionsgebäudes hell leuchteten, lag das Verwaltungshochhaus dunkel und verlassen im Licht der gerade aufgehenden Sonne. Einige eingemummte Gestalten hasteten an Steffi vorbei. Die Nachzügler würden gerade noch rechtzeitig zum Schichtbeginn um sechs ihren Arbeitsplatz erreichen.
Neben Steffi hupte ein Auto. Nils winkte und bog in einer eleganten Schleife auf einen der reservierten Parkplätze ein.
»Auf dich kann man sich wenigstens verlassen«, kam er ihr lächelnd entgegen. »Wir müssen uns beeilen.« Er begrüßte Steffi mit Handschlag. »Ich hole schnell die Unterlagen und erklär dir im Vorführraum das Wichtigste.« Er schloss auf und öffnete die große Glastür am Eingang. Gemeinsam gingen sie den Korridor entlang.
»Kommst du auch zur Tagung am Freitag?«, fragte er.
»Nein.« Das kurze Wort verriet mehr von Steffis Enttäuschung, als ihr lieb war. Sie hatte es noch in keinem Jahr geschafft, eine Einladung zu der illusteren Runde zu bekommen. Nach den Osterferien trafen sich die Vertreter der führenden deutschen Automobilhersteller mit ausgewählten Fachleuten, um einen gemeinsamen Ausblick auf die bevorstehenden zwölf Monate zu werfen. Gerade in diesem Jahr hatte Steffi auf eine Einladung gehofft, da sich die Herren in Bremen trafen.
»Nimm’s sportlich. Irgendwann kommen sie um dich als Fachfrau nicht mehr herum«, gab Nils mit einem Zwinkern zurück und wandte sich der Treppe zu, die rechts abging. »Warte bitte hier, ich komme gleich wieder.« Er hastete die Stufen hinauf.
Einige Meter weiter lag der Vorführraum. Hier präsentierte die CarTech den Kunden ihre Produkte und führte Seminare durch. Steffi ging vor und betätigte die Klinke; aber die Tür war verschlossen.
Dann kam Nils wieder herunter. Er hielt einen blauen Hefter hoch. »Ist zwar nicht viel, aber ich erklär dir noch schnell einige Details.« Mit einer Chipkarte entriegelte er die Doppeltür zum Vorführraum und schaltete das Licht ein.
Als hätte ein Blitz sie getroffen, durchfuhr Steffi ein tiefer Schmerz. Gebannt starrte sie auf den dunkelroten Fleck am Boden. Ihr Kopf rebellierte, rebellierte gegen den Anblick. Sie musste die Augen abwenden, klammerte sich an Nils’ Arm und vergrub ihr Gesicht in seinem Sakko.
»Scheiße«, röchelte er und tastete nach ihrem Kopf.
Zögernd löste Steffi ihr Gesicht aus dem weichen Stoff und sah zu der riesigen Blutlache.
Nils machte sich von ihr frei, ging zwei Schritte vor, hockte sich hin und musterte den Frauenkörper am Boden. »Die Ruppert.«
Wie von einem Schlangenbiss gelähmt, konnte Steffi keinen Muskel rühren.
Nils schaute zu ihr auf. »Wir müssen die Polizei rufen.«
Mittwoch – 25. April
Im Korridor liefen zahlreiche Techniker in weißen Overalls umher, während uniformierte Polizisten den Tatort absicherten. Oberkommissarin Jessica Prix grüßte freundlich in alle Richtungen und reichte den Männern die Hand, die sie persönlich kannte.
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte sie zu sich selbst und schob eine der beiden Doppeltüren auf. Mit geübtem Blick überschaute sie die Situation in dem weitläufigen Raum: Am Boden breitete sich ein großer Blutfleck aus, mit einer weiblichen Leiche im Zentrum, an der sich ein Kriminaltechniker und dessen Chef Peter Fechner zu schaffen machten.
Jessica arbeitete oft und gern mit dem alten Hasen zusammen, der zu Silvester seinen 54. Geburtstag gefeiert hatte. Im Präsidium galten sie längst als Opa und Enkelin. Vom Alter her könnte Jessica mit ihren 32 Jahren höchstens die Tochter des erfahrenen Kollegen sein. Aber ihre zierliche Gestalt, sie wog gerade 49 Kilogramm bei 1,60 Meter Körpergröße, und ihr geflochtener Zopf - so störten die schulterlangen schokoladenbraunen Haare bei der Arbeit am wenigsten - ließen sie tatsächlich wie ein Teenager aussehen.
Ihren Großvater jetzt bei der Arbeit zu stören, empfahl sich weniger – Peter Fechner würde auf sie zukommen, wenn er erste Ergebnisse zu berichten hatte. Jessica wollte die Zeit nutzen, um den Tatort selbst in Augenschein zu nehmen.
Sie fühlte sich in eine Autowerkstatt versetzt, die in einen Seminarraum designet war. Der glänzende Parkettboden wollte so überhaupt nicht zu den beiden Hebebühnen und den zahlreichen technischen Geräten passen. Ein breites Tor führte auf den Hof, durch das offensichtlich Autos hereinfahren konnten. Zwei Schränke mit Glastüren beherbergten unzählige Zangen, Hämmer, Meißel und Schraubendreher. Die Werkzeuge lagen schnurgerade ausgerichtet und blitzsauber auf grauen Matten, wie die sterilisierten Instrumente in einem Operationssaal. Jessica trat an einen Prospektständer und nahm einen der Hochglanzflyer in die Hand. ›CarTech – Präzisionswerkzeuge für präzise Reparaturen!‹, stand in dicken Lettern auf dem Titelblatt. Langsam blätterte sie die Seiten durch. Offensichtlich produzierte die Firma eine ganze Palette von Ausrüstungen für Kfz-Werkstätten: Hebebühnen, Schweißgeräte, Diagnoseequipment und Vermessungsanlagen glänzten im Licht der Werbeaufnahmen. Jessica steckte den Prospekt ein.
»Guten Morgen, werte Kollegin.« Peter Fechner stand neben ihr.
Jessica reichte ihm die Hand. »Hallo! Was wissen Sie inzwischen?« Auch wenn sie gern mit dem erfahrenen Kollegen zusammenarbeitete, würde Jessica niemals wagen, ihn zu duzen. Das musste Fechner ihr anbieten, und er hatte es leider noch nicht getan.
»Die Tote heißt Uta Max-Ruppert. Sie arbeitete hier im Haus als Chefsekretärin.«
»Todesursache?«
»Der Doktor will sich noch nicht festlegen. Bisher geht er von Verbluten aus; nach einem Stich in die Bauchhöhle.«
Jessica nickte und blickte auf den riesigen Blutfleck am Boden. Sie zupfte sich an der Nasenspitze. Der zierliche Körper lag zusammengekrümmt auf der rechten Seite. Die Hände hatte das Opfer auf den Bauch gepresst, wie eine Schwerverletzte, die das Feuer im Leib ersticken wollte. Jessicas Magen begann zu rumoren. Sie spürte beinahe die Schmerzen, die die Frau in den letzten Augenblicken ihres Lebens hatte erleiden müssen.
Wer macht so etwas? An einem Bauchstich stirbt ein Mensch nicht sofort. Die Frau musste noch Minuten bewusst erlebt haben, bevor der Blutverlust sie in die Tiefen der Ohnmacht hatte hinabgleiten lassen, wo der sichere Tod sie erwartete. Hatte der Täter die ganze Zeit danebengestanden, um den Erfolg seiner Tat zu erleben? Oder hatte er im Affekt getötet? War er gleich nach dem Angriff davongelaufen und hatte Uta Max-Ruppert ihrem Verderben überlassen? Am Ende der Ermittlungen würden sie die Antworten kennen. Hoffentlich.
»Wie sieht’s mit der Mordwaffe aus?«, fragte Jessica.
»Ein spitzer Montagekeil, lag neben der Leiche – haben wir sichergestellt.«
»Selbstmord?«
»Eher nicht – keine Zauderwunden oder Probierstiche. Außerdem waren die Sachen durchstochen. Wir müssen von Fremdeinwirkung ausgehen.«
»Abwehrspuren?«
»Keine. Das Opfer muss den Mörder gekannt haben.«
»Oder wurde überrascht?«
»Kaum.« Peter Fechner deutete auf den Frauenkörper am Boden. »Der Stich wurde direkt von vorn ausgeführt. Sie stand ihrem Mörder frontal gegenüber.«
»Wann starb die Frau?«
»Fragen Sie das mich, den Kriminaltechniker?«
»Auf den Obduktionsbefund des Arztes muss ich warten. Sie werden sich ja ein Bild anhand des geronnenen Bluts gemacht haben.«
Fechner drohte Jessica mit dem Zeigefinger wie einer vorlauten Enkelin. »Sie lassen keinen Versuch aus, einem voreilige Informationen aus der Nase zu ziehen.«
»Bitte! Je mehr ich weiß, umso schneller komme ich voran.«
»Ich denke, die Frau starb gestern zwischen 20.00 und 22.00 Uhr.«
Jessica nickte. »Wer hat die Leiche gefunden? Die Putzfrauen?«
»Nein. Die Putzkolonne reinigt die Firma am Abend. Mit dem Vorführraum hier waren sie so gegen 19.00 Uhr fertig.«
»Dann finden Sie garantiert Spuren vom Täter.«
»Wir haben verschiedene Abdrücke und Schmutzpartikel sichergestellt, die noch auszuwerten sind.«
»Und wer fand nun die Leiche?«
»Eine Steffi Gutzeit, zusammen mit Nils Schulze. Der Schulze arbeitet hier im Hause als Anwendungsingenieur und Starverkäufer.«
»Und die Gutzeit?«
»Hat ein Ingenieurbüro. Wollte vom Schulze irgendwelche Unterlagen holen.«
»Wissen Sie, wo ich die beiden finde?«
Peter Fechner deutete zur Doppeltür, durch die Jessica vorhin den Raum betreten hatte. »Die warten wohl draußen an der Rezeption.«
»Reden aber hoffentlich nicht miteinander?« Jessica hasste es, wenn Zeugen ihre Aussagen vor ihrer Befragung absprachen.
Fechner zuckte die Schultern. »Da müssen Sie selber schauen. Ich kümmere mich um meine Arbeit.«
Jessica dankte dem Kollegen für die ersten Auskünfte, verließ den Vorführraum und lief in Richtung Haupteingang. Über ihr Handy rief sie im Präsidium an und fragte, ob eine Uta Max-Ruppert vermisst werde. Die Kollegen versprachen, schnellstmöglich zurückzurufen.
Linkerhand tauchte ein kleines Zimmer auf, das hinter einem Tresen lag – offensichtlich der Empfang. In dem Zimmer saßen eine junge Frau und ein Mann, beaufsichtigt von einem uniformierten Kollegen, der offensichtlich jegliches Gespräch zwischen den beiden Zeugen unterband. Jessica dankte ihm im Stillen für seine Umsicht. Sie trat ein, begrüßte die Anwesenden und stellte sich als ermittelnde Kommissarin vor.
»Dürfte ich Ihnen zuerst ein paar Fragen stellen«, wandte sich Jessica an die junge attraktive Frau. Die langen Wimpern über den blaugrünen Augen, ihre schmalen Lippen und das dezente Make-up verliehen dem Gesicht einen angenehmen fraulichen Ausdruck, den der volle Pferdeschwanz betonte. Sie schätzte Frau Gutzeit auf vielleicht knapp 30, obwohl sie deutlich jünger aussah. Aber die Lachfältchen in den Augenwinkeln verrieten ihr wahres Alter.
»Lassen Sie uns nach draußen gehen«, schlug Jessica vor, ging voraus und nahm hinter dem Tresen Platz. Als Steffi Gutzeit ihrem Beispiel gefolgt war, fragte sie direkt: »Sie haben die Leiche gefunden?«
Ja, zusammen mit Herrn Schulze. Der habe ihr Unterlagen ausgehändigt und anschließend noch einige Details erklären wollen. Deshalb seien sie in den Vorführraum gegangen. Mit der CarTech habe sie nichts weiter zu tun. Herrn Schulze kenne sie vom Studium her.
Unaufgefordert reichte sie Jessica einen schmalen Ordner. Darin steckten zehn A4-Blätter mit den technischen Beschreibungen.
Jessica überflog den Text und gab die Mappe zurück. »Danke.«
Wenn Steffi Gutzeit nichts mit der Firma hier verband, würde sie kaum helfen können, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Ein Gespräch mit Nils Schulze lohnte da bestimmt mehr.
»Vielen Dank erst einmal.« Jessica stand auf. »Nur der Vollständigkeit halber möchte ich noch fragen: Die Tote kennen Sie wohl nicht?«
»Doch.« Tränen kullerten Steffi Gutzeit auf einmal über die Wangen.
»Ach so?«
»Uta ist … ich meine, Uta war die beste Freundin meiner Mutter. Sie gingen zusammen zur Schule.«
»Und seither?«
Steffi Gutzeit zuckte die Schultern. Sie zog ein Tuch aus der Tasche und putzte sich die Nase. »Meine Mutter und ich haben in den vergangenen Jahren nicht mehr über Uta gesprochen. Früher spielten sie zusammen Tennis.«
»In welchem Club?«
»Keine Ahnung. Vielleicht fragen Sie meine Mutter.«
»Wo wohnt sie?«
Steffi Gutzeit gab eine Adresse in Schwachhausen an und nannte eine Telefonnummer. »Ihre Mutter heißt Burghard und Sie Gutzeit? Sind Sie verheiratet?«
»Nein. Meine Mutter lebt seit eineinhalb Jahren in einer neuen Ehe.«
Jessica nickte und notierte die Angaben in ihrem Unterwegs-Büchlein, das sie stets bei sich trug. In dem Moment klingelte ihr Handy. Die Kollegen im Präsidium teilten mit, dass zur besagten Person keine Vermisstenanzeige vorliege. Jessica dankte und wandte sich ihrer Zeugin zu. »Hat Frau Max-Ruppert keine Angehörigen? Anscheinend starb sie gestern in den Abendstunden, aber niemand vermisst sie.«
»Auch dazu sollten Sie meine Mutter befragen. Ich weiß nur von ihrer Scheidung vor gut zwei Jahren. Seither führte sie weiterhin ihren Doppelnamen – ihr Chef soll sie darum gebeten haben.«
»Kennen Sie den Ex-Ehemann?«
»Nein, nicht weiter. Er wohnt wohl in Delmenhorst.«
»Und heißt mit Nachnamen Ruppert?«
»Ja.«
Erneut notierte Jessica die Angaben. Den Geschiedenen würde sie zuerst aufsuchen. Der gab ihr sicherlich sachlichere Auskünfte zu seiner Verflossenen als deren beste Freundin, die die Verstorbene wohl auf einen Sockel hieven würde.
»Haben Sie noch weitere Überraschungen für mich?« Jessica schmunzelte, um die junge Frau ein wenig aufzumuntern.
»Nein, ich wüsste nichts mehr.«
»Dann danke ich Ihnen erst einmal. Schicken Sie mir bitte Herrn Schulze.«
Steffi Gutzeit stand auf, verabschiedete sich und verschwand. Jessica sah noch einmal ihre Notizen durch. Das Gespräch hatte zwar keine großen Neuigkeiten, aber zumindest Anhaltspunkte für ihr weiteres Vorgehen ergeben.
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung.« Der kräftige mittelgroße Mann neben dem Tresen lächelte Jessica an und schob seine randlose Brille auf die Nasenwurzel. Hinter den Gläsern funkelten grüne Augen. Die kurzen braunen Haare, sein gestutzter Oberlippenbart und das blank rasierte Kinn vermittelten einen gepflegten Eindruck. Er trug einen grauen Anzug mit weißem Hemd und dunkelroter Krawatte.
»Ah, Herr Schulze. Bitte setzen Sie sich. Schildern Sie mir zunächst den heutigen Morgen aus Ihrer Sicht.«
Schulze berichtete von der Ankunft in der Firma. Steffi sei bereits vor ihm eingetroffen. Dann habe er die Unterlagen aus seinem Büro geholt, und anschließend hätten sie gemeinsam die tote Uta im Vorführraum gefunden.
»Sie arbeiten hier?«
Ja, als Anwendungstechniker berate er Kunden, meistens die Großkunden, verkaufe an die aber auch.
»Sie haben Frau Gutzeit Unterlagen übergeben?«, fragte Jessica. »Was genau?«
Informationen zu einer im Haus neu entwickelten Technik. Der Chef habe ihn und Doktor Enders, den Entwicklungsleiter, gestern zu 19.15 Uhr herbestellt und für kommenden Montag eine wichtige Präsentation der Maschine angekündigt. Enders solle eine technische Dokumentation vorbereiten und er selbst Kundenunterlagen ausarbeiten. Da Steffi den Markt und die Praxis in den Werkstätten gut kenne, erhoffe er sich wichtige Hinweise von ihr.
»Durften Sie die Unterlagen außer Haus geben?«
Steffi sei gewohnt, mit vertraulichen Informationen vertraulich umzugehen.
»19.15 Uhr sollten Sie zu Ihrem Chef kommen? So spät?«
Schulze habe gestern eine ganztägige Schulung im Vorführraum abgehalten und sei dann gegen sechs mit den Kunden in deren Hotel gefahren. Noch im Auto habe ihn ein Anruf des Firmenchefs erreicht. Er solle zusammen mit Enders um Viertel nach sieben in die Firma kommen.
»Nach der Zusammenkunft riefen Sie Frau Gutzeit an?«
Nein, nicht sofort. Die Besprechung, die eher einer Befehlsausgabe geähnelt habe, sei halb acht beendet worden. Danach habe Schulze die Gelegenheit genutzt, um seine Mails zu checken. An Tagen mit Kundenschulungen komme er während der Arbeitszeit nie dazu. Kurz nach acht habe er die Firma verlassen. Zu Hause seien ihm die Worte des Chefs unentwegt im Kopf herumgegeistert. »Und so bin ich noch in meiner Stammkneipe eingekehrt, auf zwei Bier.«
»Wann war das?«
»Warten Sie. Kurz nach acht hier weg … halb neun zu Hause … umziehen … ’nen Happen essen und in die Kneipe? Muss gegen neun gewesen sein. Ich trank in Ruhe mein Bier und wollte bezahlen. In dem Moment kam eine junge Frau herein, die mich an Steffi erinnerte. Und da …«
»… kam Ihnen die Idee, Frau Gutzeit anzurufen.«
»Genau. Ich verlangte die Rechnung, und während ich auf die Kellnerin wartete, telefonierte ich mit Steffi.«
»Wissen Sie die genaue Uhrzeit?«
»Wann war das?« Schulze schien zu überlegen. »Warten Sie.« Er kramte in seinem Jackett, holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen kleinen Zettel. »Viertel vor zehn. Hier.« Er schob einen Kassenbon über den Tisch. »Ist um 21:44 Uhr ausgedruckt.«
Jessica betrachtete den Zettel. »Heben Sie jede Quittung auf? Ich meine, wenn ich nur ein Bier trinken gehe, lass’ ich die Rechnung meistens einfach liegen.«
Schulze lächelte. »Sehr oft gehe ich mit Kunden essen, dann brauche ich die Bewirtungsbelege. Vorsichtshalber stecke ich deshalb jeden Bon ein. Bei der Spesenabrechnung sortiere ich dann nach dienstlich und privat.«
Ah ja?, schoss es Jessica durch den Kopf. Manchmal rutscht bei der Gelegenheit sicher auch ein privater Beleg mit auf die Spesenabrechnung. Aber das sollte sie nicht weiter interessieren. »Danke.« Sie gab den Kassenbon zurück. »Wann haben Sie Frau Max-Ruppert das letzte Mal lebend gesehen?«
»Gestern Morgen, bevor die Schulung begann. Ich brachte ihr die Namensliste. Unser Chef möchte gern wissen, wer im Hause weilt.«
»Kam Ihnen Frau Max-Ruppert dabei irgendwie verändert vor?«
»Nein, sie begegnete mir freundlich wie immer. Ach, ehe ich es vergesse. Am Abend rief sie mich noch einmal an. Sie wollte im Auftrag des Chefs wissen, ob für unseren heutigen Besuch bei der Firma Moser alles vorbereitet sei.«
»Wann war das?«
»Kurz vor neun? Ich weiß es nicht mehr so genau.«
»Aber Sie hatten Ihren Chef doch erst kurz vorher gesehen? Warum ruft seine Sekretärin später noch einmal an?«
Schulze zuckte die Schultern. »Zuvor hatten wir nur über die neue Technik gesprochen.« Er sah auf die Uhr. »Verflucht, zehn vor acht. Das schaffe ich nie.« Schulze stand auf und sah Jessica an. »Der Chef wartet um acht in der Vahr auf mich. Wir wollten uns da treffen. Ich müsste jetzt losfahren.«
»Geht’s weiter weg?«
»Nein, nur zur Firma Moser in Verden – einer unserer besten Kunden. Gegen Mittag werden wir wohl wieder da sein.«
Jessica überflog ihre umfangreichen Notizen. Das reichte erst einmal. »Okay, machen wir Schluss. Geben Sie mir bitte noch Ihre Karte und die Telefonnummer von Frau Gutzeit.«
Kurz vor neun erreichte Steffi ihre Firma in Oyten, einer Gemeinde am südöstlichen Stadtrand von Bremen. Schnell lief sie die Treppen hinauf, fand die beiden Büros im zweiten Obergeschoss eines modernen Neubaus aber verlassen vor. Ein feiner Kaffeegeruch hing in der Luft. Ihr einziger Mitarbeiter Kurt Holzer schaltete jeden Tag hier oben alles ein und verschwand anschließend nach unten in die Werkstatt, die ebenfalls zum Unternehmen gehörte. Steffi holte sich eine Tasse Kaffee und überprüfte am PC ihre Mails, fand aber keine wichtige Nachricht. In einer halben Stunde kam ihre Mutter vorbei; so blieb noch genügend Zeit, Kurt zu begrüßen. Steffi machte sich auf den Weg nach unten.
Während der Fahrt zur Firma hatte sie ihre Mutter angerufen und vom Tod deren Freundin berichtet. Renate war tief bestürzt gewesen und hatte Steffi gedrängt, ihr möglichst alles zu erzählen, bevor diese Kommissarin sie vorlud. Kurzerhand hatte Steffi vorgeschlagen, die Mutter möge in ihrer Firma vorbeikommen.
Sie erreichte das Erdgeschoss und öffnete den Zugang zur Werkstatt. Gleich am Eingang schlug ihr der Geruch von Diesel und Öl entgegen; seit dem Studium eine wohlgelittene Begleiterscheinung des Berufsalltags. Neugierig sah Steffi sich um und folgte schließlich dem Klappern, das aus einer der Montagegruben kam. Sie kletterte hinunter und begrüßte Kurt mit einem Handschlag.
»Mahlzeit, Frau Chefin«, murmelte der, schüttelte den Kopf und arbeitete weiter. Die breiten Schultern und seine kräftige Gestalt, er maß gut 1,80 Meter, füllten die Montagegrube fast vollständig aus. Die robuste Figur und das sonnengebräunte Gesicht erinnerten an einen Fischer und ließen ihn jünger als 59 erscheinen.
»Heute hat mich die Polizei aufgehalten«, entschuldigte sich Steffi. Sie kannte Kurts Missmut ob ihrer gelegentlichen Unpünktlichkeit.
»Ja, ja. Warst Zeugin bei einem Mord.«
»Genau. Jedenfalls habe ich die Leiche gefunden.«
Kurt tippte sich mit einem Schraubendreher an die Stirn, um sofort seine Arbeit fortzusetzen.
Steffi hatte ihn während eines Praktikums kennengelernt. Gleich am ersten Tag war sie ihm zugeteilt worden. Nach einem schlichten »Komm, Mädchen!« hatte er ihr einen Klaps auf die Schulter gegeben und war mit ihr in die nächstgelegene Montagegrube gestiegen. Ohne ein Wort hatte er auf den abgerissenen Auspuff des über ihnen stehenden Wagens gedeutet. Steffi hatte den Schaden untersucht und den Routinefall mit geschickten Händen repariert. Der Meister hatte seiner Praktikantin für wenige Minuten zugesehen, schließlich genickt und sie dann allein gelassen.
Der defekte Auspuff war längst nicht der einzige Auftrag an diesem Tag geblieben; Steffi hatte eine Arbeit nach der anderen erledigt und jedes Mal ein anerkennendes Kopfnicken samt undefinierbarem Brummen geerntet. Diesem erfolgreichen Beginn waren unzählige weitere Stunden und Tage gemeinsamer Arbeit gefolgt, in denen der Alte sein Mädchen ins Herz geschlossen und sie in alle Tipps und Tricks aus seinem schier unerschöpflichen Erfahrungsschatz eingeweiht hatte.
Die Zusammenarbeit mit Kurt hatte Steffi auf die Idee gebracht, nach dem Studium ein kleines Ingenieurbüro zu eröffnen. Und als Kurt auch noch zusagte, bei ihr mitzuarbeiten, hatte sie ihre Pläne in die Tat umgesetzt. Heute erstellte Steffis Unternehmen Reparaturhandbücher für die Automobilindustrie, konzipierte Reparaturmethoden, empfahl Spezialwerkzeuge und bearbeitete Anfragen und Probleme aus dem gesamten europäischen Ausland. Während sie tagtäglich den Papierkram erledigte und die Kunden betreute, erprobte ihr Mitarbeiter die entwickelten Methoden in der Praxis.
»Willst du mich jetzt mit dem Tratsch über deine Leiche von der Arbeit abhalten?«, muffelte Kurt, ohne aufzusehen.
»Nein. Oben auf meinem Schreibtisch liegt die Beschreibung einer neuen CarTech-Reparaturmethode. Kannst du da heute Nachmittag mal reinsehen?«
Kurt hielt inne. »Wirklich was Neues oder nur ein schaler Aufguss von Althergebrachtem?«
»Ich denke, tatsächlich neu. Die Technik soll vollautomatisch arbeiten.«
»Vollautomatisch? Ohne etwas einstellen zu müssen?«
»So steht’s in den Papieren.«
»Na das muss ich sehen.«
Steffi spürte Erleichterung – Kurts Widerstand war interessierter Neugier gewichen. »Ich gehe die Unterlagen nachher gleich durch, und du schaust nach dem Mittagessen rein. Danach diskutieren wir die technischen Details. Morgen schreibe ich den Bericht und kann, wie versprochen, am Freitag liefern.«
In Kurts Arbeitskombi klingelte das Telefon, das er am Mann trug, wenn niemand im Büro war. Er nahm das Gespräch an, lauschte kurz und gab den Hörer an Steffi. »Für dich. Der Düring.«
»Düring?«, flüsterte sie überrascht und nahm mit klopfendem Herzen das Gerät. »Hallo, Herr Düring. Steffi Gutzeit hier. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, Frau Gutzeit«, meldete sich Christian Düring mit freundlicher Stimme. Er leitete den Bereich Aftersale-Service und Instandsetzung der DAufa, der Deutschen Autofabrikation AG. Gleichzeitig stand er dem Arbeitskreis vor, in dem die Vertreter aller Automobilhersteller ihre Arbeit bei der Fahrzeuginstandsetzung abstimmten. Sosehr sich Steffi in den vergangenen Jahren auch bemüht hatte, sie war nie bis zu Düring vorgedrungen.
»Am Freitag findet die Jahresversammlung unseres Arbeitskreises statt«, erklärte Düring. »Bestimmt wissen Sie davon.«
»Ja.« In Steffis Hals hing ein dicker Kloß. Ihr Herz raste.
»Durch ein Versehen wurden Sie nicht eingeladen, was ich sehr bedaure. Wenn es Ihr Terminkalender zulässt, würden wir uns freuen, Sie in unserer Runde begrüßen zu dürfen.«
»Natürlich … Ich meine, ich komme gern.«
»Das freut mich.« Düring hüstelte. »Vielleicht können Sie auch eine kleine Präsentation vorbereiten. Was erwartet uns in diesem Jahr an technischen Neuerungen? Sie besitzen doch einen hervorragenden Überblick.«
»Ein Vortrag? Zu Neuerungen in den Reparaturtechniken? Wäre da nicht ein Hersteller besser geeignet? CarTech zum Beispiel.«
»Hören Sie auf. Die Herren belästigen uns nur mit Werbung und leeren Versprechungen. Nein, wir brauchen Informationen aus dem Mund einer Fachfrau.«
Steffi überlegte: Auch wenn sie Nils’ Unterlagen keinesfalls direkt nutzen durfte, würden sie ihr helfen, mit aller Vorsicht einige Trends aufzuzeigen. Und sie lernte endlich einmal die wichtigsten Männer der Branche kennen.
»Frau Gutzeit? Sind Sie noch dran?«
»Ja, ja. Aber bis Freitag bleiben nur noch zwei Tage.«
»Ich weiß. Berichten Sie einfach über Ihren aktuellen Kenntnisstand. Zehn Minuten.«
»Sehr gern.«
»Ich verlasse mich auf Sie«, erklärte Düring im Ton eines Managers, der seiner Mitarbeiterin eine wichtige Aufgabe überträgt. »Am kommenden Freitag um 09:30 Uhr im Hotel Neptun.« Düring verabschiedete sich und legte auf.
»Was wollte denn der?«, fragte Kurt.
Steffi boxte ihm auf die Brust. »Der große Düring bittet mich zur Jahresversammlung und erwartet einen Vortrag von mir. Mensch, Kurt.« Sie überlegte kurz. »Heute Nachmittag müssen wir uns unbedingt zusammensetzen.«
Wie ein alter Feldwebel klappte er die Hacken zusammen und deutete eine Ehrenbezeugung an. »Zu Befehl, Chefin.«
Wenig später saß Steffi mit ihrer Mutter Renate im Büro und berichtete über das Erlebnis vom Morgen.
Immer wieder schüttelte Renate den Kopf. »Glaubt die Polizei an Mord?«, fragte sie schließlich. Ihr standen Tränen in den Augen.
»Weiß ich nicht. Die haben keine Andeutungen gemacht, nur gefragt.«
Renate nickte.
»Wie eng wart ihr befreundet?«
Renate kämpfte offensichtlich gegen ihre Gefühle an. Nach der Schulzeit in Vegesack hätten sie sich aus den Augen verloren, aber Jahre später im Tennisclub wiedergetroffen. Die Wochen nach Renates zweiter Hochzeit seien sie sich kaum begegnet. »Ich hatte damals vielleicht zu wenig Zeit für Uta gehabt. Das verging aber wieder. In den letzten Monaten saßen wir oft beisammen, auch außerhalb des Sportvereins.« Über Renates Gesicht huschte ein Lächeln. Schließlich berichtete sie von den Tennismatches mit Uta, von ihren gemeinsamen Klatschnachmittagen bei Kaffee und Kuchen, vom Humor der Freundin, von deren Gabe, das Leben allein zu meistern.
Als Renate verstummte, langte Steffi über den Tisch und streichelte die Hand der Mutter. »Fühlte sich Uta von irgendjemandem bedroht?«
Renate sah Steffi an und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Kind.« Auf einmal klingelte ihr Handy, das sie aus der Handtasche zog. Sie blickte auf das Display, schaltete das Gerät ab und steckte es wieder ein. Als habe der Anruf eine Erinnerung ausgelöst, erstarrten Renates Züge, und ihre Augen richteten sich auf einen imaginären Punkt hinter Steffi.
»Mama?«, fragte sie zögerlich. »Was ist mit dir? Wer hat da eben angerufen?«
Erst Sekunden später klapperte Renate mit den Augen, als erwachte sie aus dem Schlaf, und blickte Steffi an. »Entschuldige. Was hast du gefragt?«
»Ich will wissen, was mit dir auf einmal ist.«
»Nichts.« Renate schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Aber du bist plötzlich so komisch, so schweigsam und nachdenklich. Worüber grübelst du?«
Als habe sie ihre Meinung geändert, blickte Renate ihrer Tochter auf einmal fest in die Augen. »Uta hatte mich gestern Abend angerufen – kurz vor neun. Sie wollte mich heute treffen.«
»Warum?«
»Hat sie nicht gesagt.«
»Und wo?«
»Das wundert mich jetzt. In ihrer Gartenlaube, draußen in Blockland. In all den Jahren waren wir nie vor Pfingsten dort gewesen. Uta hatte im Frühjahr stets zuerst den Außenbereich hergerichtet und bewahrte während dieser Wochen der Einfachheit halber ihre Arbeitsgeräte in der Laube auf.«
»Das musst du der Kommissarin erzählen«, beschwor Steffi die Mutter.
»Wenn die mich fragt. Von allein dränge ich mich der Polizei nicht auf.«
»Frau Prix kommt bestimmt zu dir. Du musst ihr unbedingt von dem Anruf erzählen.«
Diesmal nahm Renate die Hand der Tochter und drückte sie. »Das merken die allein. Bestimmt fordern die Utas Anrufliste an.« Renate stand auf und gab Steffi einen Kuss auf die Stirn. »Vielen Dank für deine Auskünfte. Ich muss jetzt los.« Sie ging zur Tür.
»Ich bring dich«, bot Steffi an und folgte der Mutter. Unten angekommen steuerte die auf ihren Wagen zu.
Steffi betrachtete aufmerksam die Vorderfront des Autos und fuhr mit der Hand über das kalte Blech. »Hat Kuppke wieder gut hinbekommen«, lobte sie.
»Das darf ich wohl erwarten. Glaubt man Kuppkes Schwärmereien, pflegt er innige Beziehungen zur DAufa. Dann muss er auch die Kiste ohne sichtbare Spuren reparieren können. Hat mich eine schöne Stange Geld gekostet.«
Renate zählte eher zu den unsicheren Autofahrern. Drei Wochen zuvor war sie auf einen anderen Wagen aufgefahren.
»Die Instandsetzung zahlt doch die Versicherung …«, widersprach Steffi.
»… und stuft meine Beiträge hoch. Nein, nein, die Versicherung habe ich außen vor gelassen.«
»Dein Mann kann sich’s garantiert leisten.«
»Du mit deinen neunmalklugen Sprüchen.« Renate küsste Steffi nochmals auf die Stirn. »Machs gut, Kind.« Sie stieg ins Auto, hielt aber inne. »Was ich dich noch fragen wollte: Bist du wieder mit Roger zusammen?«
»Nein. Warum?«
»Ach, nur so. Ich traf ihn vergangene Woche und glaubte eine entsprechende Andeutung verstanden zu haben. Aber vergiss es. Tschau.« Renate schloss die Autotür und fuhr vom Parkplatz.