
Wir sitzen zu dritt um den Besprechungstisch, der Marketingleiter eines Finanzdienstleistungsunternehmens, seine Vertreterin und ich. Es geht um die Auftragsklärung für einen Coachingprozess, aber wir sind noch beim »Warm-up« und kommen auf mein Lieblingsthema zu sprechen: Komplexität. Wir plaudern über unsere Kenntnisse und Erfahrungen mit diesem Thema und der Marketingleiter fragt mich nach den wesentlichen Faktoren beim erfolgreichen Managen komplexer Organisationen. Ich erläutere ein wenig, Begriffe wie Intransparenz, Selbstorganisation und Vereinfachung fallen. Meine Gesprächspartner lauschen eine Weile und atmen dann tief ein. »Ja, wissen Sie, Frau Borgert«, setzt der Marketingleiter an, »das klingt alles ganz gut, aber das ist doch nichts für unser Unternehmen. Das geht vielleicht bei Start-ups, aber doch nicht in einem Konzern mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Und unsere Mitarbeiter sind dafür auch gar nicht geeignet.«
»Da ist sie wieder«, denke ich bei mir: diese besondere Haltung gegenüber dem Thema Komplexität. Jeder kennt sie, jeder erlebt sie, manche können sie klar benennen, aber keiner will etwas damit zu tun haben. Auf den ersten Blick scheint es oft so, als müsse sich jede Organisation erst einmal auf links krempeln, um auf die gestiegene Komplexität in unserer Welt reagieren zu können. Zu groß, zu anders, zu unbekannt klingen Begriffe wie »Vernetzung«, »Selbstorganisation« oder »Unvorhersagbarkeit«.
Komplexität ist (neben der Resilienz von Organisationen) mein Hauptthema bei der Arbeit als Coach und als Rednerin. Dabei habe ich in den letzten Jahren immer wieder festgestellt, wie gering das Wissen um Komplexität ist. Das liegt nicht daran, dass die Manager dafür nicht schlau genug wären – es kommt in den üblichen Managementtrainings und -programmen schlicht und einfach nicht vor. Dort geht es weiterhin hauptsächlich um lineare Methodik und kausales Denken. Aber genau das führt zu Missverständnissen und Fehlern in komplexen Kontexten, und auf der persönlichen Ebene sind Überforderung und Dauerstress bei Managern und Führungskräften die Folge.
Zurück zum Besprechungstisch. In dieser Situation habe ich beschlossen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte die häufigsten und ausgeprägtesten Missverständnisse rund um das Thema Komplexität, auf die ich in den letzten Jahren immer wieder gestoßen bin, in Erkenntnisse umwandeln und auflösen. Gleichzeitig will ich mit diesem Buch Ideen vermitteln und Impulse setzen, die dazu beitragen, mit (manchmal sehr) kleinen Veränderungen größere Erfolge zu erzielen. Ich möchte die Komplexität entmystifizieren und klarmachen, was sie in unseren Organisationen und Teams bedeutet und wie wir mit ihr umgehen können.
Dieses Buch habe ich für alle Manager und Führungskräfte geschrieben, weil das Thema für alle relevant ist. Aber nicht jeder wird sich wiederfinden wollen. Aus diesem Grund mache ich im Folgenden deutlich, was das Buch ist, an wen es sich richtet und wer es besser wieder weglegen sollte.
Dieses Buch beschäftigt sich auf lockere, aber ernsthafte Weise mit den größten Missverständnissen rund um das Thema Komplexität. Es klärt auf über die Entstehung dieser Irrtümer und zeigt, warum wir ihnen erliegen. Das ist oft einfach eine Frage der persönlichen Einstellung, der eigenen Prägungen, Werte und Erfahrungen. Damit setzen Sie sich in diesem Buch auseinander. Zu jedem Irrtum existieren Erkenntnisse, die es uns ermöglichen, anders mit der steigenden Komplexität umzugehen. Diese Erkenntnisse werde ich Ihnen auf den folgenden Seiten vermitteln. Nicht für alle Irrtümer ist die Komplexität ursächlich, in komplexen Kontexten sind jedoch die Auswirkungen erheblicher als in linearen Zusammenhängen. Da es in der Natur des Themas liegt, komplex zu sein, braucht es für den Umgang mit Ihren persönlichen Herausforderungen natürlich den konkreten Kontext. Sie werden ihn nicht 1:1 in den Beispielen wiederfinden, sondern müssen den Transfer auf Ihre persönlichen Herausforderungen selber leisten. Dieses Buch möchte Sie anregen, Ihnen Impulse geben, Sie zur Reflexion ermutigen, Aha-Effekte produzieren, Ideen pflanzen und Spaß machen.
Dieses Buch ist kein simpler Ratgeber, es vermittelt Ihnen keine wasserdichten »Wenn Sie das tun, geschieht jenes«-Methoden oder Rezepte! Komplexe Aufgaben sind nicht-linear, dynamisch und intransparent. Es kann also keine Best-Practice-Lösungen für komplexe Aufgabenstellungen oder Probleme geben. Konfektionierte Rezepte werden Sie in diesem Buch nicht finden. Es ist stets eine Frage des Kontexts und darauf werde ich auch immer wieder deutlich hinweisen.
Das Buch ist so aufgebaut, dass Sie die einzelnen Kapitel, die sich jeweils mit einem Irrtum beschäftigen, für sich lesen können. Damit das funktioniert, gibt es einige wenige Wiederholungen. Sollten Sie trotzdem bei der Lektüre über einen Begriff stolpern, der an anderer Stelle definiert worden ist, so schauen Sie bitte im Glossar nach. Dort sind die wichtigsten Begriffe aufgeführt.
Das erste Kapitel führt den Begriff der Komplexität ein und erläutert die wesentlichen Facetten wie Dynamik, Intransparenz, Selbstorganisation und weitere. Anschließend geht es um die neun häufigsten Irrtümer, die im Management nach wie vor weitverbreitet sind. Im Abschlusskapitel fasse ich für Sie zusammen, was an Fähigkeiten, Haltungen und Kompetenzen notwendig ist, um Komplexität zu meistern. Sie werden am Ende des Buches wissen, was es braucht, um in einem holistischen (ganzheitlichen) Sinn als Manager und Führungskraft erfolgreich zu sein – und das trotz oder gerade wegen der Komplexität. Viele der Gedanken, die hinter einem holistischen Management stehen, sind als Merksätze herausgestellt.
Merksätze erkennen Sie an diesem Symbol.
Ich habe dieses Buch für all jene Manager und Führungskräfte geschrieben, die sich mit der Komplexität unserer Welt auseinandersetzen und mit diesem Wissen erfolgreicher entscheiden, managen und führen möchten. Es richtet sich an Menschen, die offen sind für die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Sichtweisen, Stereotypen, Vorurteilen und ausgetretenen Handlungspfaden. Wenn Sie bereit sind, Neues zu erfahren, Altes zu überprüfen und Ihre Denk- und Verhaltensweisen gegebenenfalls anzupassen, dann wünsche ich Ihnen viele gute Erkenntnisse bei der Lektüre.
Menschen, die sich mit Komplexität nicht auseinandersetzen wollen (egal aus welchem Grund), sollten das Buch nun wieder aus der Hand legen. Sie werden zu viel Energie aufbringen müssen, um die Informationen und Beispiele gedanklich zu widerlegen und für unbrauchbar zu erklären. Wenn Sie auf der Suche nach einfachen Rezepten sind, werden Sie hier nicht fündig. Sollten Sie also nicht willens sein, sich selbst und Ihre Organisation gründlich zu reflektieren und zu hinterfragen, dann lesen Sie bitte nicht weiter.
Wenn Sie sich auf das Thema Komplexität einlassen, so werden Sie von Zeit zu Zeit verwirrt sein. »Was soll ich nun tun?« »Wie geht das?« »Gibt es keine Antwort?« Das passiert uns immer dann, wenn wir eine Lösung oder Antwort nicht sofort sehen oder nicht begreifen können. Und es ist auch gut so, denn aus diesem Zustand heraus entsteht Erkenntnis, wir erweitern unseren Horizont und erproben neues Denken. Es kann Ihnen also passieren, dass Sie neu zu denken beginnen, etwas anderes ausprobieren wollen, die Welt nicht mehr so betrachten wie vorher, Dinge infrage stellen und über sich selbst nachdenken. Das wünsche ich Ihnen von Herzen – und haben Sie dabei viel Spaß!

»Irgendwas ist immer.«

»Es geht alles drunter und drüber.«
»Wir versinken im Chaos.«
»Die Datenlage ist viel zu dünn.«
»Da fehlt der Durchblick.«
»Das ist zu komplex, wir müssen vereinfachen.«
»Hier macht jeder, was er will.«
»Wie sollen wir denn so eine Planung machen?«
»Ohne Informationen ist keine Entscheidung möglich.«
»Das wächst uns gerade über den Kopf.«
Welchen dieser Sätze haben Sie selber in letzter Zeit benutzt oder von Kollegen, Vorgesetzten oder Mitarbeitern gehört? Wahrscheinlich finden Sie mehr als einen wieder, der Ihnen vertraut ist. Ich höre diese Aussagen häufig bei meiner Arbeit mit Führungskräften und Projektteams. Die Liste ließe sich beliebig erweitern, denn es existieren zig Möglichkeiten, um »Chaos« (→ Glossar) zu beschreiben. Wir verwenden diesen Begriff immer dann gerne, wenn Situationen nicht mehr kontrollierbar erscheinen und wir den Überblick verlieren. Das macht auch deutlich, dass es natürlich die Umstände sind, die uns das Leben schwer machen, und nicht etwa mangelnde Kompetenz oder etwas Ähnliches.
Viele dieser Äußerungen sind mittlerweile schon beinahe zum Mantra geworden und hallen regelmäßig durch die Organisationen. Gleichzeitig suchen wir nach Erklärungen für das immer häufiger auftretende Chaos. Früher war doch alles viel einfacher und ruhiger, oder? Nun aber steigt der Stresspegel stetig, es wird alles dynamischer, Veränderung reiht sich an Veränderung und keiner blickt mehr durch.
Gut, dass uns seit einigen Jahren eine valide Erklärung angeboten wird – es ist die Komplexität. Unzählige Artikel, Bücher und Aufsätze beschäftigen sich mit diesem (angeblich) modernen Symptom unserer Gesellschaft. In Studien werden Projektmanager mit dem Statement zitiert, dass die Komplexität eines der großen Probleme im Management sei. Manager werden dazu befragt, inwieweit die Komplexität eine Herausforderung für sie ist. Es wird überlegt, wie sich die Komplexität eliminieren lässt oder wie man sie wenigstens »in den Griff« bekommt. Komplexität ist Grund, Ursache, Symptom, Problem, Herausforderung und Dämon zugleich.
Unser Wunsch nach einer Erklärung ist damit erst einmal befriedigt. Wir wissen nun, warum wir regelmäßig im Chaos stecken. Der Begriff Komplexität ist modern und wird ebenso oft wie undifferenziert verwendet. In den vielen Erklärungsversuchen und Veröffentlichungen wird nur selten erläutert, was Komplexität genau bedeutet, was sie ausmacht und wie wir mit ihr umgehen können.
      Ändern sich die Bedingungen, braucht unser Denken ein Update.
Die Komplexität der (Arbeits-)Welt, wie wir sie geschaffen haben, ist weder Problem noch Ursache. Wir können sie weder eliminieren noch reduzieren. Sie verschwindet auch nicht wieder. Unsere Welt ist komplex und wird es bleiben. Mit dem Gedanken müssen wir uns anfreunden und diese Tatsache müssen wir akzeptieren. Komplexität ist nicht unser Gegner, sondern der Zustand, in dem wir leben und agieren. Die Frage nach der Reduktion der Komplexität stellt sich nicht. Es geht also um die Frage, wie wir diese Komplexität meistern können. Wie agieren wir erfolgreich in einem komplexen Umfeld?
Auch auf diese Frage gibt es zahlreiche Antworten – die Vorschläge reichen von »Da kann man nichts machen, so ist halt das System« bis »Wir müssen eine Methode entwickeln«. Die Verantwortung auf »das System« abzuschieben, scheint einfach und vielversprechend, kommt aber dem Totstellen beim Anblick des berüchtigten Säbelzahntigers gleich. Die Suche nach Methoden, die uns Sicherheit bieten, entspringt ebenfalls dem Wunsch nach Sicherheit und Einfachheit. Außerdem kennen wir diese beiden Lösungsansätze schon. Wir greifen gerne auf Bekanntes zurück, wenn die Herausforderung vor uns neu und unbekannt ist. Und genau hier liegt der zentrale Punkt: Komplexität ist die große Unbekannte im Management moderner Organisationen. Wir wissen noch zu wenig darüber und haben keine echte Vorstellung, mit welchen Werkzeugen wir agieren können.
In meiner Beratungstätigkeit werde ich immer wieder mit Missverständnissen und Irrtümern rund um das Thema Komplexität konfrontiert. Dabei ist es weniger die mangelnde Kompetenz von Managern und Führungskräften, die zu Fehlschlüssen führt, als vielmehr fehlende Information und Reflexion auf den eigenen Kontext. Zudem neigen wir Menschen dazu, immer eine Ursache für ein Problem oder ein Verhalten benennen zu wollen. So glauben wir verstehen zu können. Wir formulieren Aussagen nach dem Schema »weil dies, deshalb das« und sind uns sicher, so immer einen kausalen Zusammenhang für jede Situation finden zu können. Und damit sind wir schon bei einem der Managementglaubenssätze, mit denen wir in der Beratung arbeiten.
»Es gibt immer eine Kausalität.« Spätestens mit dem Schulbeginn und während unserer gesamten Ausbildung werden wir darauf trainiert, in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken. Das führt zu Aussagen wie »Wir erreichen den Projekt-Meilenstein nicht, weil die Abteilung XY das Konzept nicht abnimmt« oder »Steve Jobs ist der Grund für den Erfolg von Apple«. Ganz einfach, eine Ursache und ihre Wirkung. Vor allem, wenn wir retrospektiv auf Vorgänge schauen, finden wir jede Menge Erklärungen in dieser Form, und das gilt sowohl für Erfolge als auch für Misserfolge. Das typische »Ich habe es ja gleich gewusst« ist ein Paradebeispiel hierfür. Und auch in der Vorausschau »wissen« wir schon ganz genau, wie wir zu einem Ziel kommen: »Wenn wir die richtige Botschaft auf der Webseite haben, entsteht Sogmarketing quasi von alleine« oder »Um das Vertrauen im Team zu stärken, brauchen wir ein Team-Event«.
Aber: Weder ein Projekt noch das Unternehmen Apple noch ein Team sind einfache Systeme, die sich durch Linearität auszeichnen. Im Gegenteil, sie sind komplex und lassen sich nicht in Ursache-Wirkungs-Ketten zerlegen, zumindest nicht a priori. An dieser Stelle wird Kausalität häufig mit Korrelation verwechselt. Ein komplexes System besteht aus Wechselwirkungen der Beteiligten. Um es zu verstehen, müssen wir uns auf die Beziehungen und wechselseitigen Wirkungsgefüge konzentrieren.
»Mit so vielen Beteiligten kann das nichts werden.« Gerade im Umfeld komplexer Projekte ist das eine der häufigsten Begründungen für Misserfolge. Viele Beteiligte, so heißt es dann, erhöhen die Komplexität und sorgen dafür, dass nichts mehr »gerade durchläuft«. Das ist ein Irrtum. Viele Beteiligte machen noch längst keine Komplexität. Eine Armee im Gleichschritt hat viele beteiligte Soldaten und ist gleichzeitig linear. Komplexität entsteht durch die Verknüpfung der Beteiligten, die Vernetzung (→ Glossar). Damit ergeben sich Wechselwirkungen und Dynamik und unser Ursache-Wirkungs-Denken wackelt. Wir werden diesen Punkt, der sich in weiteren Irrtümern wiederfindet, noch im Detail betrachten. So viel vorweg: Das Problem entsteht an dem Punkt, an dem wir versuchen, ein großes komplexes System genauso zu managen wie ein großes lineares.
»Wir müssen für Stabilität sorgen.« Ich kenne so gut wie keine Organisation, die sich nicht ständig im Wandel befindet. Sie alle führen mehrere Change-Projekte und -Prozesse parallel durch und reagieren so auf die sich ändernden Rahmenbedingungen. In den Köpfen vieler Führungskräfte hat sich jedoch die Idee festgesetzt, dass eines der wichtigsten Ziele Stabilität sein muss – quasi als Gegenpol zur Veränderung. Würden wir das umsetzen (können), so gäbe es über kurz oder lang keine neuen Ideen, keine Innovationen und keine neuen Lösungen mehr. Ein komplexes System, das auf Dauer in einem stabilen Zustand verharrt, zahlt den Preis der Flexibilität. Wir müssen das akzeptieren und lernen, mit der steten Veränderung umzugehen. Das gilt auch auf der Mitarbeiterebene. Natürlich gehört es zu den Aufgaben der Führungskräfte, für Momente der Erholung zu sorgen. Das hat allerdings nichts mit der Stabilität des Systems zu tun.
»Wir müssen uns einig sein.« Viele Führungskräfte halten an der Idee fest, dass das Lösen komplexer Aufgaben gleichbedeutend mit vollständiger Harmonie und hundertprozentiger Übereinstimmung ist. Nur wenn alle dieselbe Meinung und Auffassung teilten, seien Menschen bereit, schwierige Aufgaben zu meistern. Dieser Irrtum entsteht wohl aus der diffusen Ahnung, dass Komplexität und »par ordre du mufti« nicht gut zusammenpassen. Komplexe Aufgaben und Kontexte brauchen jedoch das Gegenteil totaler Übereinstimmung. Sie brauchen Diskurs, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die wirkliche Auseinandersetzung, das Einbringen verschiedener Meinungen, Sichtweisen und Kompetenzen ist wichtig und notwendig. Komplexität braucht Verschiedenartigkeit auf allen Ebenen.
»Selbstorganisation ist, wenn’s von alleine läuft.« »Arbeitet Ihr Team selbstorganisiert?« – »Aber ja, und das ist toll. Ich muss überhaupt nichts machen.« Sie glauben, ich habe diese Antwort frei erfunden? Leider nein. Um den Begriff der Selbstorganisation ranken sich mindestens so viele Missverständnisse wie um die Komplexität. Selbstorganisation ist das Gegenteil von »Ich mache nichts«. Jedes komplexe System ist selbstorganisiert, das können Sie beeinflussen, stören oder zu verhindern versuchen; trotzdem bleibt es selbstorganisiert. Wenn Sie als Manager oder Führungskraft »nichts tun« und am Ende die richtigen Ergebnisse herauskommen – Glückwunsch, da hat der Zufall Ihnen geholfen oder jemand anderes hat geführt. Die Basis für erfolgreiche Selbstorganisation besteht aus Disziplin, Regeln und Feedback. Nur ein System, das ständig überprüft, wohin es sich bewegt, und über Rückkopplungen ausregelt, hat die Chance, ein Ziel anzupeilen, ohne auf Glück vertrauen zu müssen.
Es existieren unüberschaubar viele Definitionen, Erklärungen und Missverständnisse rund um das Thema Komplexität. Im Folgenden geht es daher zunächst um eine genauere Erläuterung dieses Begriffs und um die wesentlichen Facetten komplexer Systeme. Auf Basis dieses Grundverständnisses werden dann die häufigsten Irrtümer skizziert und aufgelöst. Dazu betrachten wir jeweils die Ebene des Einzelnen (auf welcher der Irrtum entsteht) und die Systemebene (auf welcher sich der Irrtum meistens zeigt).
Ist Komplexität eigentlich ein junges Phänomen? Nein. Warum ist es dann ausgerechnet jetzt allerhöchste Zeit, sich damit zu beschäftigen? Weil der Komplexitätsgrad in den Organisationen uns die Grenzen unserer Entscheidungs- und Führungskompetenzen mehr als deutlich aufzeigt. Komplexe Systeme sind keine Modeerscheinung, aber sie sind als Managementthema in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich relevanter geworden.
Im Wesentlichen liegt das an der gestiegenen Vernetzungsdichte. Der Komplexitätsgrad ist in der Gesellschaft insgesamt, vor allem aber in der Arbeitswelt, geradezu explodiert. Das Internet, die neuen Medien und die Globalisierung sind nur einige der wichtigen Schlagwörter dazu. Heute haben wir es, anders als früher, mit Systemen zu tun, die aus vielen Komponenten (Beteiligten) bestehen, welche wiederum hochgradig miteinander vernetzt sind. Diese Vernetzung bringt Eigendynamik, nicht-lineare Beziehungen (→ Glossar) und Intransparenz als Effekte mit sich.
Die Systemtheorien erzählen uns das bereits seit Jahrzehnten, wurden aber im Management weitestgehend überhört. Lange Zeit herrschte die Meinung vor, komplex sei nur ein anderer Begriff für kompliziert (→ Glossar) und man brauche lediglich die richtigen Analysen und die passende Methode auszuwählen, um erfolgreich zu sein. Der erste Schritt raus aus diesem Denkmodell besteht darin, die Komplexität der Aufgabe, der Organisation, des Problems oder Projektes – des Systems – zu erkennen und zu akzeptieren.
► sie offen sind, im Sinne des Austauschs von Informationen (→ Glossar), Ressourcen usw. mit der Umwelt.
► viele Beteiligte unabhängig voneinander agieren, jeder auf Basis von Heuristiken (→ Glossar) und lokalen Informationen.
► nicht-lineare interne Dynamiken für »Überraschungen« sorgen.
► sie sich kontinuierlich verändern.
► ihr Verhalten nicht vorhersagbar ist.
Mit diesen fünf Punkten haben Sie einen guten Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei Ihrem System um ein komplexes handelt. Eindeutige und optimale Lösungsräume sind nicht mehr gegeben und viele Aspekte, wie Strukturen oder Prozesse, zeigen sich nur indirekt. Genau das stellt uns vor die aktuellen Managementherausforderungen, denn es bedeutet, Entscheidungen ohne Entscheidungssicherheit zu treffen. Es bedeutet, Entscheidungen zu treffen und dabei nur begrenzte Ressourcen (Informationen, Zeit, Material, Wissen) zur Verfügung zu haben. Viele Menschen fühlen sich damit überfordert, vor allem wenn Situationen turbulent oder kritisch sind.
Das alles sagt natürlich noch nichts darüber aus, wie Sie in komplexen Systemen erfolgreich managen und führen. Außerdem fehlen noch einige grundlegende Facetten der Komplexität, die bekannt und klar sein sollten, um nicht dem einen oder anderen Komplexitätsirrtum zu erliegen. Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, werden nachfolgend die wichtigsten Aspekte komplexer Systeme und deren Auswirkungen in Anlehnung an die Systemtheorien definiert. Diese Begriffe kommen auch in den späteren Kapiteln vor, ohne jedes Mal erneut erklärt zu werden. Hilfreich ist daher ein Blick ins Glossar im Anhang des Buches.
Komplexität (→ Glossar): Für die Zwecke dieses Buches nutzen wir die Definition von Komplexität über die Anzahl der Faktoren (Beteiligten) und deren wechselseitige Beziehungen. Der Grad der Komplexität ergibt sich somit über diese beiden Größen. Je mehr Beteiligte und je höher die Vernetzung, desto höher der Grad der Komplexität. Ab einem gewissen Komplexitätsgrad ist ein System kognitiv nicht mehr vollständig zu erfassen oder zu überblicken.
Interdependenz (→ Glossar): Was passiert, wenn man bestimmte Teile des Systems entfernt? Wie groß ist der Effekt? Ist der Teil systemrelevant? Diese Fragen sind die ersten Schritte, um Vernetzung und Wechselwirkungen zu verstehen.
Dynamik (→ Glossar): Aufgrund der Vernetzung existieren immer Wechselwirkungen in einem komplexen System. Das führt zu stetiger Veränderung. Somit wartet ein dynamisches System nicht auf Entscheidungen oder Ähnliches. Es entwickelt sich beständig weiter und daraus ergibt sich ein gewisser Zeitdruck für das Management. Es reicht auch nicht aus, den Ist-Zustand eines solchen Systems zu betrachten, um gute Entscheidungen zu treffen, es müssen auch die Zukunft und die damit verbundenen Handlungsoptionen berücksichtigt werden. Ansonsten entsteht ein zu stark vereinfachtes Bild als Entscheidungsgrundlage.
Intransparenz (→ Glossar): Ein komplexes System lässt sich nicht vollständig erfassen, es wird immer nur mit einem Ausschnitt gearbeitet. Das übrige System und seine Wechselwirkungen bleiben unklar und unbekannt. Dies ist eine inhärente Eigenschaft, die für Unsicherheit in Planung und Entscheidungsfindung sorgt und akzeptiert werden muss.
Feedback (Rückkopplung) (→ Glossar): Rückkopplung ist der zentrale Regelungsmechanismus in komplexen Systemen. Informationen fließen in das System und wirken verstärkend oder abschwächend. Positive Rückkopplung führt dabei zum Aufschaukeln, negative Rückkopplung zur Abschwächung. Dieser Mechanismus komplexer Systeme ist den meisten Managern und Führungskräften kaum bewusst und wird daher auch viel zu wenig genutzt.
Selbstorganisation (→ Glossar): Durch die Interaktion der Beteiligten entsteht eine Ordnung (und die Tendenz, diese zu erhalten). Das setzt die Dynamik des Systems voraus. Diese Ordnung (→ Glossar), also dieses Muster, verstehen wir nur, wenn wir die Wechselwirkungen innerhalb des Systems verstehen. Externe Einflüsse erklären nie vollständig, wie Muster entstehen. Warum beispielsweise ein Markt steigt oder fällt, lässt sich nur adäquat erklären, wenn alle Wechselwirkungen betrachtet werden. Ein System wird nicht von der Führungskraft oder sonst einer Kraft außerhalb organisiert. Selbstorganisation ist systemimmanent und wird durch Restriktionen (Regelwerk) und Dynamik ermöglicht. Viele Manager glauben, es gehöre zu ihren Aufgaben, Selbstorganisation »machen« zu müssen. Dabei sollten sie zuerst einmal aufhören, sie zu verhindern.
Stabilität (→ Glossar): Ein System, das geringen Schwankungen unterliegt beziehungsweise nach Schwankungen schnell seinen Ursprungszustand wiederfindet, nennt man stabil. Je erfolgreicher es dabei ist, desto robuster wird es sein. Robustheit ist in einem sich verändernden Umfeld nicht der höchste anzustrebende Zustand, denn er macht unflexibel. Deshalb sprechen wir im Rahmen dieses Buches von dynamischer Stabilität. Sie bedeutet, dass ein System seine Systemintegrität auch bei Störungen beibehält. Es kann sich dabei aber durchaus verändern und erneuern.
Restriktionen (Constraints) (→ Glossar): Auch komplexe Systeme operieren innerhalb ihres Rahmens, sie unterliegen Restriktionen. Diese wirken auf das System und das System wirkt gleichzeitig auf sie. Die impliziten Regeln einer Organisation beispielsweise dienen als Restriktionen. Jeder Mitarbeiter lernt sehr schnell, was in der Organisation und in seinem Team geht und was nicht geht. Das Verhalten der Menschen beeinflusst wiederum genau diese Restriktionen und kann sie verändern oder abschaffen.
Varietät (→ Glossar): Das Repertoire an Verhaltens-, Kommunikations- und Entscheidungsmöglichkeiten bildet die Varietät. Sie ist das Maß für die möglichen, verschiedenen Zustände, die ein System annehmen kann. Der Kybernetiker William Ross Ashby hat das »Gesetz der erforderlichen Varietät« (Ashby’s Law) formuliert: Um ein komplexes System zu beeinflussen (im Sinne der Regelung), muss man mindestens so viel Varietät aufweisen wie das System selbst. Komplexe Systeme brauchen komplexe Antworten. Organisationen müssen selber komplex sein, um in einem komplexen Umfeld überlebensfähig und erfolgreich zu sein. Werden komplexe Aufgabenstellungen von einem einzelnen Manager statt dem entsprechenden Team gelöst, so wird dem Problem auch nur mit der Komplexität des Managers begegnet.
Machen wir uns diese Aspekte komplexer Systeme bewusst und übertragen sie auf konkrete Situationen und Organisationen, dann ist schnell klar, warum wir manches Mal im Chaos zu versinken glauben. Es ist schwer zu akzeptieren, dass wir eine komplexe Herausforderung nicht vollständig begreifen können. Wir versuchen es oft genug trotzdem, sammeln dafür Unmengen Daten und führen viele Analysen durch – immer auf der Suche nach einem vollständigen Bild und eindeutigen Entscheidungen.
Komplexe Systeme sind zudem durch Wechselwirkungen gekennzeichnet. Das macht sie unvorhersehbar, wir können ihr Verhalten nicht voraussagen. Eine kleine Veränderung kann eine große Wirkung haben, das ist der sogenannte Schmetterlingseffekt. Die Erwartung der Vorhersagbarkeit findet sich im Management allerdings in all den Forecasts, Prognosen, Zielvereinbarungen und Projektplänen. Da treffen zwei Welten aufeinander, die so manchen Manager in ein Dilemma stürzen.
Zudem kennen wir die Lösung für ein komplexes Problem im Vorfeld nicht, eventuell existiert überhaupt keine »optimale« Lösung. Oft konkurrieren Lösungsmöglichkeiten miteinander. Es wird also noch einmal schwieriger, Entscheidungen zu treffen. Komplexität bedeutet ständige Veränderung. Die Rahmenbedingungen ändern sich aufgrund der Eigendynamik. Wer darin bestehen will, muss sich ständig flexibel an die Veränderungen anpassen, unter Unsicherheit planen und Entscheidungen treffen.
»Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.«
Lucius Annaeus Seneca
Wie komplexe Systeme in der Praxis von Organisationen aussehen, kennen Sie eventuell ausreichend aus eigener Erfahrung. Trotzdem möchte ich nachfolgend ein Beispiel für ein solches System skizzieren, denn es macht die Fallstricke, die Komplexität für Manager bereithält, sehr gut deutlich.
Im Mai 2002 erklärt das World Food Programme (WFP) Sambia und fünf seiner Nachbarländer wegen anhaltender Dürre zum Katastrophengebiet. Die Maschinerie der Nahrungsmittelhilfe läuft an und sorgt dafür, dass binnen kürzester Zeit mehr als 1000 Tonnen Nahrungsmittel nach Sambia geliefert werden. Die Lieferung kommt ausschließlich aus nichtafrikanischen Ländern, der Löwenanteil in Form von Mais aus den USA. Die Medien greifen die (drohende) Hungersnot auf und bitten weltweit um großzügige Spenden. Sie prognostizieren, dass sonst bis Ende 2002 Hunderttausende sterben werden.
Aber was war nun genau passiert? Sambia hatte im Frühjahr 2002 um Minimalhilfe bis zur nächsten Ernte gebeten. Eine der neun Provinzen war von der anhaltenden Dürre betroffen. Nach Angaben der Regierung gab es noch Vorräte und Mais von den eigenen Bauern. Die Knappheit sei lokal und temporär, von einer schweren Hungersnot könne keine Rede sein. Ob diese Aspekte nicht gehört wurden oder nicht gehört werden wollten, ist unklar. Das WFP sorgte auf jeden Fall dafür, dass Tonne um Tonne Mais aus den USA nach Sambia geliefert wurde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es sich dabei um transgenen, also gentechnisch veränderten Mais handelte.
Im September 2002 tritt der Präsident der Republik Sambia, Levy Mwanawasa, auf dem Weltgipfel in Johannesburg vor das Mikrofon und verkündet, dass die USA ihren Mais bitte wieder abholen mögen. Sambia habe beschlossen, ab sofort keinen transgenen Mais mehr anzunehmen, da es sich Sorgen um die Folgen des Konsums und Anbaus mache. 27.000 Tonnen Mais werden daraufhin von Sambia nach Malawi transportiert und dort verteilt. Die Bitte an die USA, zukünftig nicht genveränderten Mais zu liefern, löst dort Empörung aus. Das sei schließlich die technologische Ausrichtung, argumentieren die Verantwortlichen, und die amerikanische Bevölkerung esse die Produkte doch auch.
Die USA liefern 2002 rund 80 Prozent der Nahrungsmittel, die über das WFP ins südliche Afrika transportiert werden. Sie sind weltweit die Nummer eins unter den Nahrungslieferanten in Krisen- und Hungergebiete. Nach dem Zweiten Weltkrieg versorgte Amerika zunächst Europa im Rahmen des Marshallplans mit Lebensmitteln. In den 1950er Jahren, nachdem die Landwirtschaft in Europa wieder angelaufen war, produzierten die amerikanischen Bauern immer noch enorme Überschüsse und forderten ihre Regierung auf, sie beim Absatz zu unterstützen. 1954 wurde das Gesetz zur Förderung und Entwicklung des landwirtschaftlichen Handels (PL-480) verabschiedet. Es legt fest, wie und mit welchen Ergebnissen die humanitäre Hilfe in der Welt und die landwirtschaftlichen Überschüsse der USA koordiniert werden. Es sorgt unter anderem dafür, dass nur amerikanische Produkte im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe exportiert und verwendet werden dürfen.
Die Behörde USAID (United States Agency for International Development) leitet alle Maßnahmen und koordiniert sie. Sie darf nur Produkte amerikanischer Farmer exportieren, die in Verpackungen amerikanischer Hersteller, mit Aufdrucken amerikanischer Druckereien auf Transportern amerikanischer Logistikunternehmen verschickt werden. Die Gesetzgebung sieht demnach keinerlei Geldspenden vor, denn das würde die eigene Wirtschaft nicht unterstützen. Eine der großen Herausforderungen für USAID ist, nach eigenem Bekunden, vorherzusagen, wann wie viele Nahrungsmittel wo auf der Welt gebraucht werden. Schließlich hängen rund eine Million Amerikaner an dem »Markt« Nahrungsmittelhilfe.
Seit 1997 gewährt die Europäische Union Unterstützung für Katastrophengebiete hauptsächlich in Form von Geldspenden. Die Lieferung von Saatgut und Lebensmitteln ist nicht grundsätzlich untersagt, wird aber weitestgehend nicht mehr praktiziert. Die Argumentation dahinter ist die, dass die Katastrophengebiete ihre Probleme so besser lösen können und nicht nur akute Symptome gelindert werden.
Ob in Sambia oder anderswo auf der Welt – werden Katastrophengebiete mit direkten Nahrungsmittellieferungen unterstützt, bleibt das nicht ohne mittel- und langfristige Auswirkungen. Die Lieferungen gehen in Ballungsgebiete und Städte, das heißt, dass die ländlichen Regionen praktisch nicht erreicht werden. Das führt auf Dauer zur Urbanisierung. Die Menschen wandern aus ihren Dörfern ab und siedeln sich dort an, wo Nahrungsmittel zu bekommen sind. Die Infrastruktur verändert sich. Nahrungsmittelhilfe hat auch einen direkten Einfluss auf die Preise in dem jeweiligen Land. Für die Bauern wird es noch schwieriger, ihre eigenen Produkte zu verkaufen. Die Lieferungen beinhalten nicht immer Lebensmittel, die im jeweiligen Land üblich sind. Somit verändert sich mitunter das Konsumverhalten der Menschen dort.
Im Jahr 2002 entzündete sich die hitzige Debatte vor allem am Genmais. Sambia wirft den USA vor, nur eigene Interessen in Bezug auf ihre Technologien zu vertreten und keine Rücksicht auf die empfangenden Nationen zu nehmen. Die Nutzung des Mais als Saatgut, so der Präsident Sambias, könne im Laufe der Zeit zu unkontrollierten Veränderungen führen. Zudem handele es sich bei Mais um ein Grundnahrungsmittel in Afrika und die Auswirkungen und Folgen des Verzehrs für die Menschen seien noch völlig unklar. Das Maß an Unsicherheit sei ihm zu hoch.
Die Antwort der USA auf diesen Einwand: Durch Zermahlen oder Abkochen des Genmais könnten alle Bedenken bezüglich der Aussaat zerstreut werden. Die Großmacht wirft Sambia zudem vor, sich »urplötzlich« gegen die Lieferung des transgenen Mais zu wehren. Jahrzehntelang habe das Land doch gerne die Lieferungen aus den Vereinigten Staaten angenommen. Die USA vermuten, dass der Einfluss der EU dahinterstecken könnte, der die USAID wiederum rein wirtschaftliche Eigeninteressen und politisches Ränkespiel vorwirft. Können Sie noch folgen?
Die Europäische Union ihrerseits bezichtigt die USA, auf Profitmaximierung ausgelegte humanitäre Hilfe zu betreiben. Alle drei Beteiligten in diesem Gerangel sind sich darin einig, dass es Konflikte auf mehreren Ebenen gibt – Nahrungsmittelhilfe, Genmais, Wirtschaft und Politik. Der Vizepräsident Sambias, Enoch Kavindele, bringt es in einem Interview auf den Punkt: Am Beispiel der Krise in Sambia 2002 zeige sich deutlich, welcher Krieg zwischen der EU und den USA auf dem Rücken des südlichen Afrikas ausgetragen wird. Er sagt: »Wenn zwei Elefanten kämpfen, leidet das Gras.«
Dies ist zugegebenermaßen nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem System »Nahrungsmittelhilfe«; er macht jedoch die wesentlichen Aspekte komplexer Systeme deutlich. Wir erkennen an diesem Beispiel Dynamiken, die in vielen Organisationen wiederzufinden sind. Dort geht es nur um andere Themen, Rollen, Probleme und Beteiligte. Im Folgenden möchte ich einige wesentlichen Facetten und Punkte von Komplexität herausgreifen und näher betrachten. Das Thema ist grundsätzlich natürlich sehr schnell moralisch behaftet – diesen Aspekt klammere ich im Folgenden explizit aus.
Vielzahl der Faktoren: Sambia als ein Land mit (damals) neun Provinzen ist für sich allein schon ein System mit Millionen Menschen, Gesetzgebungen, inneren und äußeren Einflüssen, Ereignissen wie zum Beispiel einer Dürre und so weiter. Nehmen wir in das System »Nahrungsmittelhilfe« nun noch die weiteren beteiligten Nationen, ihre Güter, ihre Menschen, ihre inneren und äußeren Wechselwirkungen auf, dann ist dieses System, allein aufgrund des Komplexitätsgrades, längst nicht mehr überschaubar. Die Anzahl der Faktoren und die Anzahl der Wechselwirkungen dieser Faktoren machen die Nahrungsmittelhilfe hochkomplex. Zwar haben wir die Systemgrenzen für dieses Beispiel nicht gezogen, aber Sie können sich vorstellen, dass es noch weitere Einflussfaktoren »von außerhalb« gibt – die Börse beispielsweise, an der Finanzwetten auf Agrarrohstoffe die Preise beeinflussen, was wiederum eine Wirkung auf das Nahrungsmittelprogramm und die einzelnen Nationen hat. Die Beteiligten agieren zum großen Teil, aufgrund lokaler Einflüsse, unabhängig voneinander.
Unvorhersagbarkeit (→ Glossar): Die Nicht-Linearität macht eine Vorhersage über die Nahrungsmittelhilfe unmöglich. Kleine Änderungen, die ein einzelnes Element betreffen, können große Wirkungen erzeugen. Nehmen wir beispielhaft die überraschende Forderung Sambias an die USA, den transgenen Mais abzuholen und zukünftig »normalen« Mais zu liefern. Diese Wendung war nicht vorherzusehen, und es handelte sich nicht um eine kleine Änderung. Eventuell hat es schwache Signale gegeben, dass die Regierung in Sambia eine Position gegen Genmais bezieht. Diese Signale haben jedoch im System zu keinerlei Resonanz geführt.
Restriktionen (Constraints): Das Programm zur Steuerung der Agrarwirtschaft in den USA (USAID) darf nur amerikanische Rohstoffe kaufen und keine Geldspenden in Hungergebiete senden. Darüber hinaus ist es verpflichtet, auch für Dosen, Aufkleber, Paletten et cetera nur heimische Hersteller und Produkte zu wählen. Aufgrund dieser Restriktion hat sich in den Vereinigten Staaten ein großer Markt entwickelt, der stark von der humanitären Hilfe abhängt. Das System USA hat sich selbst durch diese Restriktion verändert.