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Dass meine Mutter dieser unzuverlässige Bote sein würde, hätte ich mir denken können. Sie hatte mir schon das ein oder andere Mal wichtige Nachrichten überbracht. Die erste hatte darin bestanden, mich unmittelbar nach meiner Geburt für die nächsten Jahre bei den Großeltern abzusetzen. Sie war erst wieder aufgetaucht, als ich zwölf war, und hatte mich nach Wien geholt, um, wie sie damals sagte, dort ein besseres Leben zu führen. Damit meinte sie einen groß gewachsenen Mann, mit dem sie ihr restliches Leben verbringen wollte. Zum Glück für alle Beteiligten machte sich dieser Riese nach einem Jahr aus dem Staub, was meine Mutter nicht daran hinderte, nach anderen Ersatzvätern zu suchen, die sie mir mit großer Regelmäßigkeit vorstellte.
Wir lebten damals in einer kleinen Wohnung, an der praktisch alle Autos vorbeifuhren, die es in Wien gab. Irgendwann in diesem Lärm und nach einem neuen Ersatzvater dämmerte mir, dass ich so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen sollte, wenn ich keine bleibenden Schäden an meiner Psyche davontragen oder, noch schlimmer, eins von diesen Muttersöhnchen werden wollte, die ihr Leben lang von gestörten Frauen wie von Magneten angezogen werden. Dabei war meine Mutter alles andere als gestört. Ihr Problem bestand darin, dass sie sich mit zwanzig eines unglücklichen Architekturstudenten erbarmt und ihn so gründlich getröstet hatte, dass ich neun Monate später zur Welt kam. Von diesem Studenten hörten und sahen wir beide anschließend nicht viel, was meine Mutter zu der Überzeugung brachte, dass alle Männer hinterhältig und egoistisch waren. Sie hielt daher auch mich für einen potenziellen Egoisten, dem man rechtzeitig das Handwerk legen sollte. Erst nachdem ich ausgezogen war und mich diesen Eingriffen entziehen konnte, kehrte zwischen uns wieder ein normales Mutter-Sohn-Verhältnis ein, was immer normal in diesem Fall bedeutete. Es bestand darin, belanglose Telefonate zu führen, einmal in der Woche bei meiner Mutter vorbeizuschauen, um eine bestimmte Menge von Palatschinken zu essen, die sie unter meinen Blicken zubereitete, und das Thema Vergangenheit möglichst gut zu umschiffen.
Eine Woche nach dem Zwischenfall mit dem Esel kam ich wie üblich bei meiner Mutter vorbei und nahm in der Küche Platz. Sie stand am Herd, neben ihr auf der Anrichte wuchs die Palatschinken-Pyramide. In mancherlei Hinsicht war meine Mutter eine durch und durch slawische Frau, also eine, die in ihrer Küche nicht nur kochte, sondern auch fernsah, über essenzielle Themen diskutierte und eines Tages wohl auch sterben würde. Nachdem ich die ersten Palatschinken verschlungen hatte, fragte sie mich ein wenig nach meiner Arbeit aus. Sie hielt sie bei Weitem nicht für so bedeutend wie ich, fragte aber trotzdem immer wieder nach, ob mir etwas Skurriles zugestoßen sei. Vor allem Tiere interessierten sie. Sie schaute leidenschaftlich gern Naturfilme, besonders solche, in denen es um Afrika ging, das ihr von allen Kontinenten am meisten am Herzen lag. Also berichtete sie mir auch an diesem Tag ausführlich von einer Antilopenart aus Äquatorialafrika, die eine Tränke auf hundert Kilometer Entfernung mit ihrem Geruchssinn finden konnte. Als ich schon dachte, es werde nichts mehr außer Palatschinken und Antilopen geben, wechselte sie ganz unerwartet das Thema:
»Weißt du, ich habe dich eigentlich nie gefragt, ob du dich in deiner Haut wohlfühlst«, sagte sie, während sie mir eine Palatschinke auf den Teller legte. So eine Frage sah ihr nicht ähnlich, geschweige denn die gestelzte Wortwahl.
»In meiner Haut? Wie meint Mama das?« Ich sprach meine Mutter immer in der dritten Person an. Das hatte ich schon als kleiner Junge getan, und wahrscheinlich würde ich es noch als alter Mann tun.
»Du weißt doch, was Haut ist, oder? Also, wie fühlst du dich in deiner Haut, Ludek?«
Ludek war die Koseform für meinen eigentlichen Namen Ludwik.
»Ich fühle mich gar nicht schlecht«, antwortete ich, und das stimmte auch. Allerdings ließ dieses Gefühl gerade jetzt spürbar nach.
»Ich meine nicht konkret, wie du dich als Mensch fühlst, sondern als ein Bürger eines Landes, über das in der Zeitung nur als ein Land voller Autodiebe und Krimineller geredet wird.«
Ich atmete auf. Das war nur eine Überleitung zu ihrem zweiten Lieblingsthema: der schlechte Ruf unserer polnischen Landsleute in Wien. Ich staunte nur, wie sie jetzt darauf kam. Außerdem kannte sie meine Meinung und wusste, dass sie von ihrer eigenen abwich. Aber offenbar sprang das Thema aus ihr heraus wie das Teufelchen aus der Schachtel, und sie war wie immer machtlos dagegen.
Also versuchte ich es zum hundertsten Mal: »Wie Mama weiß, leide ich darunter weniger, als ich sollte. Ich bin zwar gegen meinen Willen hergekommen, aber es ist trotzdem schon viel zu lange her, um mich noch als Emigrant zu fühlen. Meine Emigration ist verjährt.«
Sie tat so, als hätte sie meinen Seitenhieb nicht bemerkt.
»Das bestreitet auch niemand. Aber du musst zugeben, dass gerade wir es sind, die ausbaden müssen, was das Gesindel aus Radom und den anderen Löchern hier anrichtet. Ich muss schon flüstern in der U-Bahn, wenn ich polnisch rede. Du verstehst das nicht. Denn du fährst ja überallhin mit dem Rad.«
Ich gab meine Standardantwort: »Das ›Gesindel‹ ist arm. Und wenn der Westen nicht hinüberfährt und der Armut vor Ort nicht unter die Arme greift, kommt die Armut hierher und hilft sich selbst. Wenn sich also jemand schämen sollte, dann der Westen.«
»Sag das mal der Kronenzeitung. Die ist nicht so philosophisch eingestellt. Hast du gehört, was neulich diese Hinterwäldler wieder angerichtet haben? Sie wollten eine Juweliersauslage mit einer elektrischen Kreissäge knacken. Mittendrin ging ihnen der Strom aus, und sie fragten den Juwelier, den sie berauben wollten, ob sie bei ihm die Batterien aufladen dürften. Wir sind nicht nur kriminell, wir sind auch strohdumm. Sogar die Serben sind klüger. Die fahren wenigstens Vollgas mit einem Auto in die Auslage!«
»Andererseits ist eine elektrische Kreissäge ziemlich umweltbewusst. Das gibt sicher Pluspunkte von Greenpeace.«
»Das ist nicht witzig, Ludek. Ehrlich, manchmal frage ich mich, warum wir nicht als Franzosen, Italiener oder meinetwegen sogar Amerikaner auf die Welt gekommen sind.«
»Amerikaner? Also, ich weiß nicht.« Ich strich mir Marmelade auf meine Palatschinke und hob die Gabel zum Mund. »Würde Mama endlich auf den Punkt kommen? Ich fange schon zum fünften Mal die gleiche Palatschinke an.«
Meine Mutter schob die Palatschinke von mir weg. Dann sagte sie in feierlichem Ton: »Was wäre, wenn ich etwas gegen unsere Scham gefunden hätte? So, dass du dich plötzlich wohl in deiner Haut fühlen würdest?«
»Dann würde ich sagen, Mama kann zaubern. Erstens müsste das meinen Akzent auslöschen, was ich seit zwanzig Jahren vergeblich versuche. Zweitens müsste Mama die Vergangenheit ungeschehen machen. Und drittens ist es ja nicht nötig, denn ich schäme mich gar nicht.«
»Noch nicht. Weil du jung bist, obwohl wir darüber diskutieren sollten, ob vierunddreißig wirklich noch jung ist. Außerdem kannst du nicht ewig Rad fahren. Irgendwann kommt jeder auf die U-Bahn.«
»Worauf will Mama hinaus?«
»Darauf, dass ich ein Geschenk habe, das alles mit einem Schlag löst. Vielleicht nicht hundertprozentig, aber doch in großem Maße.« Sie machte ein Gesicht, als hätte sie im Lotto gewonnen.
»Was für ein Geschenk?«, fragte ich.
»Sekunde, ich hole es. Warte hier!«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand sie ins Wohnzimmer, und ich hörte sie etwas murmeln. Sie murmelte immer, wenn sie etwas suchte.
Schließlich kam sie mit einem Päckchen zurück und hielt es mir hin. »Öffne es bitte.«
Ich befreite das Geschenk von dem Papier und holte es hervor. Ich sah sie fragend an. »Ein Hemd? Aber ich habe erst in ein paar Monaten Geburtstag.«
»Das Hemd habe ich gekauft, damit du nicht wie ein Sandler aussiehst, wenn du ins Rathaus gehst.«
»Warum soll ich ins Rathaus gehen?«, fragte ich erstaunt.
»Darum.« Sie holte einen Umschlag aus der Schublade mit den Gewürzen und legte ihn vor mich hin. Er sah sehr offiziell aus. Er musste schon mindestens zwei Tage in der Schublade gelegen haben, denn er roch bereits nach Rosmarin.
Ich nahm ihn in die Hand, um ihn zu öffnen, aber das hätte ich mir sparen können. Wenn meine Mutter außer Naturfilmen noch etwas nicht widerstehen konnte, dann waren das verschlossene Umschläge, die nicht an sie adressiert waren. Das Schreiben sah offiziell aus, was die aufgekratzte Stimmung meiner Mutter erklärte. Das Schreiben war fein säuberlich auf schönem Papier gedruckt und folgenden Inhalts:
»Die Republik Österreich freut sich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde.«
Dann folgten mein Name und der Termin der Verleihung. Sie war für die nächste Woche angesetzt.
»Es löst natürlich nicht die Probleme, über die wir gerade geredet haben«, sagte meine Mutter, »und es wird genauso wenig deinen polnischen Akzent mit einem Schlag auslöschen. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.«
Es gab ein paar Worte, auf die ich schon seit meiner Kindheit allergisch reagierte. Eines davon war die »richtige Richtung«. Besonders, wenn es aus dem Mund meiner Mutter kam. Ich legte die Benachrichtigung zur Seite, als wäre es irgendeine Reklame, und sagte:
»Ist Mama eigentlich der Gedanke gekommen, mich vorher zu fragen, ob ich das will? Ganz besonders, weil es etwas ist, was mich in die ›richtige Richtung‹ bringen soll?«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, dass ich schon einmal in die richtige Richtung gebracht wurde. Als mich Mama damals von meinen Großeltern aus Polen entführt hat.«
»Wie kannst du das vergleichen?«, wehrte sie sich. »Ich habe nur meinen Sohn zu mir geholt, das würde jede gute Mutter tun.«
»Und ich habe ein Jahr lang darum gebettelt, wieder zurückkehren zu dürfen, weil ich es hier nicht aushielt.«
»Du wirst es mir nie verzeihen, oder?«, fragte sie und fing an, im Schrank nach etwas zu suchen. Sie tat es jedes Mal, wenn wir auf dieses Thema kamen. Am liebsten hätte sie sich in so einem Moment im Schrank versteckt. Ich ließ es gut sein und wandte mich wieder der Staatsbürgerschaft zu. Besonders eins ließ mir keine Ruhe. Ich hielt das Schreiben hoch und fragte:
»Wie komme ich überhaupt zu dieser Ehre? Soviel ich weiß, sind Staatsbürgerschaften keine Gutscheine, die man einfach mit der Post bekommt. Man muss darum ersuchen und eine Menge Papierkram erledigen. Und ich habe das bestimmt nicht getan, daran würde ich mich erinnern.«
»Aber ich«, gestand meine Mutter, froh über den Themenwechsel. »Und zwar, als du noch nicht volljährig warst. Ich habe damals einfach alle Papiere hingebracht und das Formular in deinem Namen unterschrieben.«
»Und warum hat mir Mama davon nichts gesagt? Von diesem Schritt in die richtige Richtung?«
»Du warst damals ein Teenager und hättest dich dafür nicht interessiert. Außerdem ging es damals bei mir drunter und drüber. Und dann habe ich es, ehrlich gesagt, vergessen. Als ich den Brief gestern aus dem Postkasten gezogen habe, musste ich auch zweimal hinschauen. Es ist alles in bester Ordnung, die im Rathaus haben mir das bestätigt. Sie haben sogar selber gesagt, dass es dir das Leben hier sehr erleichtern wird.«