Buchinfo

Ins Internat? Für ein halbes Jahr? Eine schreckliche Vorstellung für Pauline! Aber da weiß sie noch nicht, dass Schloss Amorberg kein gewöhnliches Internat ist. Denn das Schloss dient als Kulisse für Flammende Herzen, die »tollste Daily Soap aller Zeiten«, wie ihre Freundin Luisa findet. Pauline ist gespannt, was passiert. Die verrückten Fernsehleute stellen das Internat ganz schön auf den Kopf …

Autorenvita

Jenny Schuckardt

© privat

Jenny Schuckardt lebt und arbeitet als Journalistin und Autorin am Ammersee. Sie war bei verschiedenen Print- und Onlinemedien im In- und Ausland und in der Redaktion eines Fernsehsenders beschäftigt. Außerdem hat sie mehrere Reiseführer und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Unter dem Pseudonym Lisa Capelli ist sie die Autorin der erfolgreichen magischen Reihe »Sternentänzer«.

Titelseite

Einhundertzweiundachtzig Komma fünf Tage

An diesem schon fast unerträglich schwülen, wolkenlosen Spätsommersonntagnachmittag passierte etwas, das ihn zum schlimmsten Tag im Leben von Pauline Di Luca machte: Sie war auf dem Weg ins Internat Schloss Amorberg. Für ein ganzes halbes Jahr. Pauline kauerte neben ihrer Mutter Anica Di Luca in dem kleinen sonnengelben Cinquecento, starrte nach draußen, betrachtete die mächtigen, jahrhundertealten Eichen mit den wagenraddicken Stämmen, an denen sie vorbeifuhren. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto grässlicher fühlte sie sich. Ihr Magen rumorte und auch sonst ging es in ihrem Inneren drunter und drüber.

Ein letzter Versuch. »Mam.«

»Was ist denn?«

»Ich will da nicht hin. Bitte nicht!«

Ihre Mutter trat so abrupt auf die Bremse, dass Pauline mit einem kleinen Ruck nach vorne gedrückt wurde. Sie drehte sich zu ihr. »Also gut, Pauline, das hatten wir doch alles schon«, antwortete sie leicht ungehalten. »Ich kann dich nicht nach Kanada mitnehmen. Aber ich brauche diesen Job. Es handelt sich doch nur um ein halbes Jahr.«

»Mam, das sind einhundertzweiundachtzig Komma fünf Tage oder viertausenddreihundertachtzig Stunden oder unzählige Minuten!«, stellte Pauline verzweifelt klar.

»Schatz, alternativ könntest du bei Tante Herta und Onkel Heribert bleiben. Die beiden würden dich herzlich gerne bei sich aufnehmen. Wenn du dich dafür entscheidest, drehe ich augenblicklich um.«

Die Wahl zwischen Pest und Cholera. Onkel Heribert spricht mit seinen Topfpflanzen und Tante Hertas Leben dreht sich ausschließlich um ihren rothaarigen Kleinspitz namens Clementine. Nein, danke!

Pauline schüttelte nur stumm den Kopf und richtete den Blick wieder nach draußen. Ihre Mutter fuhr in Schrittgeschwindigkeit weiter durch die Eichenallee, die leicht ansteigend auf einen kleinen Hügel zuführte, auf dem ziemlich imposant ein mächtiges Schloss mit dicken Mauern, kleinen, schießschartenartigen Fenstern und einem Dornröschenturm thronte. Am Ende der Eichenallee ging es weiter über eine Brücke, unter der sich ein Bach den Weg durch dichten Baumwuchs bahnte. Durch einen schmalen, hohen Torpavillon, den ein steinernes Wappen schmückte, führte der Weg weiter über holpriges Kopfsteinpflaster in den hufeisenförmigen Wirtschaftshof. »Wir sind da.« Anica Di Luca hielt den Wagen an und stieg aus.

Pauline holte tief Luft, dann stieg auch sie aus und sah sich den Ort an, der für das nächste halbe Jahr ihr Zuhause sein sollte. Es war menschenleer. Eine gut genährte, rot getigerte Perserkatze kauerte träge im Schatten eines Mauerecks. In der Mitte des Hofes erhob sich eine alte Kastanie, die vollhing mit grünen stacheligen Kugeln. Die Fenster in den oberen Stockwerken waren alle geschlossen. Bis auf eines, in dem sich ein merkwürdig tiefschwarzer Vorhang bewegte, und Pauline meinte, für den Bruchteil einer Sekunde eine zierliche Gestalt gesehen zu haben.

Anica Di Luca öffnete den Kofferraum, holte Paulines Gepäck heraus und stellte es auf dem Kopfsteinpflaster ab: zwei dunkelgraue XXL-Reisetaschen, ein Rucksack und ein hellroter Trolley.

»Herzlich willkommen im Internat Schloss Amorberg.« Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein kleiner, hagerer Mann mittleren Alters mit lockigen braunen Haaren und blütenweißen Handschuhen vor ihnen auf. »Ich bin Reginald, darf ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich auch schon die Reisetaschen und den Trolley geschnappt. Mit einem schnellen Griff nahm Pauline ihren Rucksack an sich, in dem sie alles hatte, was ihr lieb und teuer war: Abschiedsgeschenke von ihren Freunden, das Silberarmband, das ihr ihr Vater an Weihnachten geschenkt hatte, und vor allem ihr Tagebuch – nicht auszudenken, wenn das in falsche Hände geraten würde!

»Ich erlaube mir, voranzugehen.« Reginald marschierte auf die zweite Brücke zu, die sich über einen zweiten Bach erstreckte und zum Schlosseingang führte. Pauline und ihre Mutter folgten ihm. Durch ein schweres altes Eichentor mit handgeschmiedeten Nägeln am Brückenende kam man in die riesige Empfangshalle, bis unter die Decke mit Stuckmarmor vertäfelt. Fenster- und Türnischen waren mit Holz verkleidet, bis auf die kleinen schießschartenartigen Fenster knapp unter der Decke. In der Mitte schaukelte ein überdimensional großer Kronleuchter.

»Toll, oder?« Paulines Mutter schien begeistert zu sein.

»Sieht ein bisschen aus wie im Knast«, murmelte Pauline, nicht halb so enthusiastisch wie ihre Mutter.

»Unsinn. Das ist die mittelalterliche Bauweise. So lebte man damals«, klärte Anica Di Luca ihre Tochter auf.

»Mag ja sein, aber ich lebe im 21. Jahrhundert, Mam.«

Reginald stellte Paulines Gepäck in der Halle ab und deutete auf eine rostrote Eisentür auf der rechten Seite. »Dort befindet sich das Sekretariat.«

»Ok, vielen Dank«, nickte Anica Di Luca, klopfte beherzt einmal kurz an die Tür und drückte sie dann auf.

»Herein.«

»Komm schon, Schatz!«

Pauline seufzte so schwer und gequält wie sie konnte, dann folgte sie ihrer Mutter in die kleine Kammer.

Hinter einem Holztresen saß eine zierliche ältere Dame in dunkelgrüner Hose und apfelgrüner Strickjacke an einem Computer. Laut ihrem Namensschild handelte es sich um Ottilia Walburg. Grün schien ihre Lieblingsfarbe zu sein, denn sogar die Chandelier-Ohrringe, die an ihren Ohren baumelten, schmückten kleine hellgrüne Steinchen.

»Ich bringe Pauline Di Luca«, meldete ihre Mutter.

Ich bringe … wie das klingt! Wie die Lieferung einer Internetbestellung …

»Schönen guten Tag, Fräulein Pauline.« Ottilia Walburg nickte ihr freundlich zu, checkte dann den Computer. »Nun gut. Wir sind gerade nicht ausgelastet, von daher könntest du ein Zimmer für dich allein haben, wenn du magst.«

Wenigstens etwas! Das war aber auch schon weit und breit der einzige Glücksfall an diesem bislang schlimmsten Tag ihres Lebens.

Paulines Mutter hielt nichts von langen Abschieden. Sie vergewisserte sich noch kurz, dass ihre Tochter gut untergebracht war, dann düste sie ohne größere Abschiedszeremonie davon. Kaum war sie in ihrem sonnengelben Wagen über das holprige Pflaster vom Hof gewackelt, erlitt Pauline bereits einen ersten akuten Anfall von Heimweh. Sie verkroch sich in ihr Zimmer, eingerichtet mit einem antiken Eichenholz-Kleiderschrank, einem Bett mit Baldachin und Bettkasten, einem hölzernen Sideboard, einem Holzstuhl, einem Sekretär und Bilderleisten, an denen Poster oder Fotos befestigt werden konnten, und schluchzte eine halbe Stunde lang. Anschließend skypte sie kurz, viel zu kurz mit ihrer besten Freundin, die ihr schon jetzt noch mehr fehlte als ihre Mutter. »Durchhalten, Paulchen! Die Zeit geht rum wie nix«, hatte Alex sie via Skype angefeuert. Alex war die einzige, die sie Paulchen nennen durfte. Leider hatte ihre Freundin nicht viel mehr Zeit gehabt, weil ihre drei kleinen nervigen Brüder ins Zimmer stürmten, um mit ihr zu spielen und sich penetrant weigerten, den Raum ohne die große Schwester wieder zu verlassen. Und wer skypt schon gern mit sechs Eselsohren hinter sich ...

In den nächsten Stunden steigerte sich Paulines Heimweh so weit, dass sie sogar den hochbetagten Schulhausmeister Erwin Fingerstark vermisste, der ihr immer so freundlich zulächelte, wenn sie ihn traf. Schon seltsam, was man alles vermissen konnte.

Nach einer unruhigen Nacht mit gefühlten fünfhunderttausend Hin- und Herwälzungen zeigte am nächsten Morgen Fräulein Heidelinde Asenbeck Pauline das Schloss. Schweigend trottete sie hinter der ältlichen Internatspädagogin her, bei der man aus der seitlichen Krümmung ihres schmalen Mundes nach unten herauslesen konnte, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war.

»Seit ein paar Jahren dient unser märchenhaftes Schloss Amorberg als Internat. Benannt ist es nach dem Amorbergbach, der unter der ersten Brücke fließt, oder – wie es die Legende erzählt – nach dem Liebesgott Amor, zur Erinnerung an eine in der Familie der von Jessens besonders gelungene Liebesheirat mit großer Mitgift. Die schulischen Einrichtungen sind alle im vorderen Schlosstrakt untergebracht. Der hintere Flügel mit dem herrlichen Spiegelzimmer wird derzeit anderweitig genutzt. Wir haben außerdem einen Fernsehraum und eine wunderbar ausgestattete Bibliothek. Unser bezaubernder Schlossgarten mit dem entzückenden Rosengärtchen, der Vogelvoliere und unserem idyllischen Teich, der schon berühmte Dichter inspiriert haben soll, stehen zur geistigen Rekreation zur Verfügung.«

Geistige Rekreation … Pauline verdrehte innerlich die Augen. Das kann ja heiter werden …

»Frühstück, Mittag- und Abendessen werden im Speisesaal im Erdgeschoss eingenommen. Nach dem Essen beginnt die Lernzeit. In diesen zwei Stunden soll man Hausaufgaben machen und lernen. Am Sonntag kann man auch am Tanzkurs teilnehmen, ein Schachturnier organisieren oder sich in unserem historischen Kräutergarten betätigen.«

Tanzkurs. Schachturnier. Kräutergarten. Hilfe, ich will nach Hause!

»Nun werde ich dich in deine Klasse geleiten, Josefine«, meinte Heidelinde Asenbeck, als sie nach dem kurzen Rundgang wieder in der Empfangshalle standen.

»Pauline«, korrigierte Pauline ihren Namen.

»Wie bitte?« Heidelinde Asenbeck blickte sie über den Rand ihrer dicken Hornbrille fragend an.

»Ich heiße Pauline, nicht Josefine.«

»Sicherlich, entschuldige bitte. So, hier sind wir schon.« Heidelinde Asenbeck klopfte einmal kurz und energisch an eine schwere Holztür, trat ein ohne Antwort abzuwarten und übergab Pauline ihrem künftigen Deutschlehrer Ottmar Luginsland, einem etwas älteren Mann in einem schwarzen Cordanzug, dessen Anzugärmel an den Aufschlägen schon etwas abgewetzt waren. Seine nicht mehr allzu vielen verbliebenen Haare hatte er zur rechten Seite gekämmt, seine leuchtend blauen Augen waren voller Klugheit. Er wies ihr einen Platz neben Luisa Langhorn zu. Sie hatte große braune Rehaugen und lockige kastanienbraune Haare. Vom Unterricht bekam Pauline an ihrem ersten Tag auf Schloss Amorberg absolut gar nichts mit. Wer kann sich schon auf Grammatikregeln oder mathematische Formeln konzentrieren, wenn gerade das ganze Leben gewaltsam aus den Angeln gehoben wird!

Nach dem Unterricht flüchtete sie auch gleich aus der Klasse. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Es war wieder einer dieser schwülen Sommertage und da sie keine Lust hatte, in ihrem Zimmer die vier Wände anzustarren, entschied sie sich für den Schlossgarten. Der Park war von einer mächtigen, mittelalterlichen Mauer umgeben, ein beleuchteter Kiesweg führte vorbei an Rhododendren, Säuleneiben und Schmetterlingsfliederbüschen zu einem Rosengärtchen, das von einem Gitterzaun mit goldenen Speerspitzen eingesäumt war. Pauline folgte dem zweiten Weg zu einem kleinen Teich, dessen Blau zwischen dichtem Baumbestand hervorblitzte. Der Teich war größtenteils von Schilf umgeben, eine Entenfamilie glitt gemächlich über die Wasseroberfläche. Pauline kniete nieder und hielt ihre Hand ins Wasser, das von der Sonne aufgewärmt war. Winzige Wellen tanzten über den Teich. Sie stand wieder auf, schüttelte das Wasser von der Hand, hockte sich auf die verwitterte Holzbank am Ufer und zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und tippt. Alex, wollen wir skypen? In einer Viertelstunde? Gib mir kurz per WhatsApp Bescheid.

»Hi.«

Pauline blickte auf in die braunen Rehaugen ihrer neuen Klassenkameradin.

»Darf ich?« Luisa deutete auf den Platz neben ihr.

»Klar, ist ja nicht meine Parkbank«, gab Pauline zurück, bereute aber im gleichen Moment ihren schnippischen Ton. Schließlich konnte Luisa nichts dafür, dass sie einhundertzweiundachtzig Komma fünf Tage in diesem Internat ausharren musste.

Luisa setzte sich. Eine Weile blicken beide geradeaus. Wortlos.

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst«, brach dann Luisa das Schweigen. »Mir ging’s genauso. Da muss jeder durch. Geht aber vorbei.«

Pauline sagte nichts.

»Schloss Amorberg ist gar nicht so übel.« Luisa drehte sich so, dass sie Pauline ansehen konnte. »Weißt du was, ich erzähle dir jetzt alles, was du wissen musst. Zumindest das Wichtigste.«

Pauline zuckte die Schultern. »Ok.«

»Also, kennen musst du vor allem zwei Namen: Jessica von Schwanenstein und Maxi Adler. Hier läuft nichts ohne die beiden. Gar nichts«, erklärte Luisa. »Vor ihnen muss sich jeder in Acht nehmen.«

»Und warum?«, fragte Pauline wenig beeindruckt.

»Weil sie die Chefinnen sind.«

»Was denn für Chefinnen? Lehrerinnen? Internatsleiterinnen?«

»Nee!« Luisa sah sich um, bevor sie weitersprach, um sicherzugehen, dass niemand lauschte. »Jessica von Schwanenstein ist die Chefin von den Swans. Total hübsch, lange blonde Haare. Zu den Swans gehören nur die stylischsten Mädels. Jessica kann tun und lassen, was sie will, weil ihr Vater steinreich ist und das Schloss mit Spenden unterstützt. Angeblich treffen sie sich dort oben.« Verstohlen deutete Luisa zu dem Turm, der sich über dem Schloss erhob. »Wie das abläuft und was genau sie dort tun, weiß niemand so ganz genau. Außer den Swans natürlich.« Ohne den Blick vom Turm zu wenden seufzte Luisa leise. »Jeder will dazugehören, aber es schaffen nur die wenigsten.«

»Und die andere?«

»Maxi Adler ist die Chefin von den Eagles. Die treffen sich dort, sagt man.« Diesmal deutete Luisa auf den Boden.

»Wie dort? Unter der Erde?«

»In der ehemaligen Folterkammer«, wisperte Luisa kaum hörbar. »Angeblich besitzt Maxi geheimes Druidenwissen. Von ihren Vorfahren.«

»Und zu welchem Clan gehörst du?«

Luisa sah Pauline mit großen Augen an. »Zu gar keinem. Du kannst auch nicht einfach sagen: Hi, hallo, ich möchte zu euch gehören. So geht das nicht. Du wirst auserwählt. Oder eben nicht.« Aus dem Bedauern, das aus Luisas Worten mitschwang, schloss Pauline, dass sie noch von niemandem auserwählt worden war.

»Ganz wichtig außerdem«, erklärte Luisa aufgekratzt weiter. »Freunde dich niemals auf Facebook mit Frau Asenbeck an! Sie spioniert dich aus. Komplett.«

Auf die Idee, mich mit der anzufreunden, wäre ich ohnehin nie im Leben gekommen!

Bevor Pauline antworten konnte, meldete sich Alex per WhatsApp. Wollen wir skypen, Paulchen? Wär jetzt bereit.

In zwei Minuten, schrieb Pauline zurück, entschuldigte sich bei Luisa, raste in ihr Zimmer, fuhr ihren Computer hoch und freute sich darauf, ihre beste Freundin zu sehen.

~

Eigentlich hatte Pauline in Betracht gezogen, das Abendessen ausfallen zu lassen, doch der Hunger war zu groß. Also machte sie sich auf den Weg durch den langen Schlossgang im Erdgeschoss. Es roch noch leicht nach Zitrusblüten, offenbar war gerade geputzt worden. Richtung Speisesaal traf sie auf eine Gruppe Mädchen. Eine von ihnen blieb plötzlich ziemlich abrupt vor einem hohen gemauerten Rundfenster stehen. »Wow, seht euch das an!« Mit der rechten Hand schob sie den schweren, dunkelroten Samtvorhang noch ein Stück weiter zur Seite, wirbelte dabei ein paar Staubwolken auf.

»Was ist denn da, Valentina?« Neugierig drängelte sich Luisa gleich neben sie, Pauline guckte den beiden Mädchen über die Schulter.

»Ist das krass!«, rief Valentina so laut, dass nun auch ein Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren hinter ihr einen neugierigen Blick nach draußen warf. 

Auf den hufeisenförmigen Hof von Internat Schloss Amorberg rollte gerade eine schneewittchenweiße Stretchlimousine mit pechschwarzem Dach, verdunkelten Fensterscheiben und sechs Rädern. In Schrittgeschwindigkeit rumpelte der Wagen über das holprige Kopfsteinpflaster Richtung Eingangspforte. 

»Ist das ein langes Auto!«, staunte Valentina.

»In der Regel acht Meter«, klärte sie die Blondine völlig unbeeindruckt auf.

»Was da wohl alles drin ist?«, wunderte sich Luisa.

»Computer, Videoanlage, DVD-Player, Bar mit Neonlicht, beleuchteter Boden, Sternenhimmel», ratterte die Blondine so selbstverständlich runter, als würde sie den Inhalt der nudefarbenen Designer-Handtasche aufzählen, die an ihrem Unterarm baumelte. »Nervt aber auf die Dauer, das viele Licht.«

Staunend drehte sich Valentina zu ihr um. »Und woher willst du das wissen, Jessica?«

»Bin schon ein paarmal mit so einem Teil gefahren«, klärte sie Jessica kurz angebunden auf.

»Echt?« Tief beeindruckt und mit einem Hauch von Neid musterte Luisa Jessica von oben bis unten. »Wie das denn?«

Aber Jessica hatte offenbar keine Lust darauf, das Gespräch fortzusetzen. Sie zuckte nur die Schulter und stolzierte weiter. Die spitzen Pfennigabsätze ihrer taubenblauen Pumps klackerten auf dem hellen Fischgrätparkettboden, in dem sich schon der eine oder andere Holzwurm vergnügt hatte.

»Wer war das denn?«, wunderte sich Pauline.

»Das war Jessica«, klärte sie Valentina auf. »Jessica von Schwanenstein. Hält sich für was Besseres und tut so, als würde ihr das Schloss gehören ….«

»Und ist wie erwähnt die Chefin von den berüchtigten Swans«, raunte ihr Luisa noch ehrfürchtig zu.

Bevor Pauline weiter nachfragen konnte, begann Valentina zu kreischen. »Waaaaahnsinn!« Sie wedelte hektisch mit der rechten Hand. »Schaut euch das an! Das ist doch … das ist … ich fass es nicht ...« Jetzt wedelte sie auch noch mit der linken, und bekam Schnappatmung.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Pauline. 

Doch Antwort bekam sie keine, denn Valentina und Luisa starrten wie paralysiert aus dem Fenster.

Pauline stellte sich auf Zehenspitzen, um ebenfalls einen Blick erhaschen zu können. Die hinterste Tür der Limousine war jetzt weit offen, der Kofferraum ebenso. Aus diesem lud ein Chauffeur im schwarzen Anzug gerade eine Designerreisetasche nach der anderen. Neben ihm stand eine Frau in einem roten Minikleid mit langen, brünetten Haaren, die permanent auf ihrem Smartphone herumtippte.

»Ja und? Was ist daran so aufregend?«, wollte Pauline wissen.

»Das ist Friederike Friedegold«, hauchte Luisa andächtig.

»Ja und?«

»Was? Du kennst die nicht?« Luisa sah sie so entsetzt an, als hätte sie eben zugegeben, nicht zu wissen, dass New York in Amerika liegt.

»Nein.«

»Mann, Pauline, DIE Friederike Friedegold! Die aus Flammende Herzen

»Aha. Und was ist Flammende Herzen

So, jetzt starrte Luisa Pauline endgültig an, als wäre sie ein Alien. »Sag bloß, du kennst sie nicht??? DIE Soap. Die tollste Daily Soap aller Zeiten, die ...«

»Verstehe«, nickte Pauline. »Aber was macht diese Friederike Friedegold hier bei uns im Internat Amorberg?«

»Diese Frage kann ich dir beantworten«, hörte sie eine angenehm sonore Stimme hinter sich.

Pauline drehte sich um.

Hubert von Jessen, Graf von Geburt, aber all seiner Titel enthoben, weil sich sein Vater einst nicht standesgemäß verliebte und mit Schimpf und Schande vom Schloss vertrieben wurde, stand mit einem feinen Lächeln auf den schmalen Lippen hinter ihr. »Schloss Amorberg, mein ehrwürdiges Familienschloss, Ihr hochgeschätztes Internat, wird die Kulisse für einen Filmdreh.«

So, jetzt war es um Valentina geschehen. «Sie ist es also wirklich ... Friederike Friedegold …», stammelte sie fassungslos. »Aber … wie … warum … was …«

Hubert von Jessen hob seine buschigen Augenbrauen, die ebenso auffällig waren wie seine spitze Adlernase. »Gemach, mein Fräulein! Ich werde Sie sogleich beim Abendessen mit allen Informationen versorgen. Und nun entschuldigen Sie mich, ich muss mich um unseren Neuankömmling kümmern.«

~

Punkt 18.15 Uhr war Abendessenszeit im Internat Schloss Amorberg. Der Speisesaal befand sich im unteren Bereich des Schlosses. In dem hohen Gewölbesaal standen vier lange Tischreihen, gedeckt mit blütenweißen Tischdecken. Alles lief immer nach dem gleichen Zeitplan. Nur heute nicht. Als die Mädchen zu Tisch saßen, betrat Hubert von Jessen den Speisesaal, was er zuvor noch nie getan hatte.

»Meine Damen«, begann der Schlossbesitzer. »Wie einigen von Ihnen angekündigt, werde ich nun ein paar Worte zu den aktuellen Geschehnissen auf Schloss Amorberg verlieren. Eine TV-Produktionsgesellschaft ist auf mich zugekommen und erkundigte sich nach der Möglichkeit, mein ehrwürdiges Familienschloss als Kulisse für eine Fernsehproduktion zu nutzen. Nun ja, ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, doch am Ende dem Ansinnen zugestimmt. Auf Schloss Amorberg wird von nun an Flammende Herzen gedreht.«

»Juhu!«, kreischte Valentina, sprang auf und klatschte in die Hände.

»Das ist der Oberhammer«, freute sich Luisa neben Pauline.

»Momentchen noch!« Hubert von Jessen hob die rechte Hand. »Natürlich bin ich hocherfreut über das durchaus positive Echo Ihrerseits, dennoch muss ich selbstverständlich dafür Sorge tragen, dass der alltägliche Internatsablauf in keinster Weise beeinträchtigt wird. Und nun, meine Damen, wünsche ich allerseits einen gesegneten Appetit.« Hubert von Jessen nickte seinen Zöglingen zu und verließ den Speisesaal.

»Meine Freundin stirbt vor Neid, wenn ich ihr das erzähle!« Valentina hatte inzwischen ganz rote Wangen vor Aufregung. »Sie guckt jede Folge. Jede. Und sie liebt Friederike Friedegold. Und ich auch. Ihre Looks, ihren Style.«

»Dafür sollte sie Franziska Friedegolds Stylistin lieben. Und ihren Make-up-Artist. Die sind für die Looks verantwortlich!«, warf Jessica von Schwanenstein, die neben Valentina und schräg gegenüber von Pauline und Luisa saß, trocken ein. »Bekommen wir jetzt bald mal was zu essen? Ich hab einen Bärenhunger. Ich weiß echt nicht, was an so einer Daily Soap so spannend sein soll. Ich war in L.A. beim Dreh eines Hollywoodfilms. Da geht es richtig ab. Alles andere ist doch Kindergarten.«

»Weiß jemand, wie man Hummer zerlegt?«, kicherte Valentina aufgeregt. »Ich will mich ja nicht blamieren, wenn ich jetzt Haute Cuisine bekomme.«

Jessica von Schwanenstein verdrehte die Augen. »Wie naiv kann man eigentlich sein? Die haben ihren eigenen Caterer dabei. Unseren Internatsfraß isst von denen keiner.«